The Five - Hallie Rubenhold - E-Book

The Five E-Book

Hallie Rubenhold

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Beschreibung

#saytheirnames: Polly, Annie, Elizabeth, Catherine und Mary-Jane Diese fünf Frauen wurden 1888 ermordet. Ihr Tod und noch mehr ihr Leben haben damals kaum jemanden interessiert. Hingegen wurde der unbekannte Täter, dem die Presse den Namen Jack the Ripper gab, mit viel Aufmerksamkeit bedacht. Hallie Rubenhold befreit die fünf ermordeten Frauen aus dem Schatten der Anonymität. In ihren Lebensgeschichten wird eindringlich deutlich, wie hart das Leben als Frau in der Arbeiterschicht zu jener Zeit war und wie katastrophal die Zustände im Armenhaus waren. Und vor allem, wie erbarmungslos die von der viktorianischen Moral geprägte Gesellschaft auf jede Frau blickte, die das ihr zugedachte Konzept der braven Ehefrau und Mutter hinter sich ließ. Hallie Rubenhold bietet in ihrem Buch neue Einsichten und stützt sich auf bisher ungesehenes oder unveröffentlichtes Material, wobei der Schwerpunkt erstmals ausschließlich auf den Frauen und nicht auf ihrem Mörder liegt.

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Seitenzahl: 535

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Nagel & Kimche E-Book

Hallie Rubenhold

The Five

Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden

Aus dem Englischen von Susanne Höbel

Für Mary Ann »Polly« Nichols,Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly

Inhalt

Stadtplan

Vorwort: Eine Geschichte zweier Städte

TEIL I: POLLY

1. Die Tochter des Schmieds

2. Wohnen bei Peabody

3. Ungeregelte Beziehungen

4. »Die arme Obdachlose«

TEIL II: Annie

5. Soldaten und Diener

6. Mrs. Chapman

7. Der Dämon Alkohol

8. Die Dunkle Annie

TEIL III: ELIZABETH

9. Das Mädchen aus Torslanda

10. Allmän Kvinna 97

11. Die Eingewanderte

12. Die lange Liz

TEIL IV: KATE

13. Sieben Schwestern

14. Die Ballade von Kate und Tom

15. Ihrer Schwester Hüterin

16. »Nichts«

TEIL V: MARY JANE

17. Marie Janette

18. Das Freudenleben

Schlusswort: »Einfach Prostituierte«

Ein Leben in Dingen

Anmerkungen

Bildteil

Bibliographie

Bildnachweis / Bildteil

Dank

Ich schreibe für die Frauen, die nicht sprechen,für die, die keine Stimme haben,weil sie so voller Angst sind, denn wir wurden gelehrt,die Angst mehr als uns selbst zu respektieren.Uns wurde beigebracht, dass die Stille uns retten wird,aber das wird sie nicht.

Audre Lorde

VorwortEine Geschichte zweier Städte

Von den Ereignissen des Jahres 1887 gibt es zwei Versionen. Die eine ist bestens bekannt, die andere eher weniger.

Die erste Version kann man in den meisten Geschichtsbüchern finden. Es ist die, an die sich die Menschen in Großbritannien erinnerten und die sie mit einem wehmütigen Lächeln ihren Enkelkindern erzählten – die Geschichte von Königin Victoria und einem Sommer der Festlichkeiten anlässlich ihres Goldenen Jubiläums. Sie war keine zwanzig Jahre alt, als ihr die schwere Krone ihres Königreichs aufs Haupt gesetzt wurde. Ein halbes Jahrhundert später war sie die Verkörperung des Imperiums geworden, und das sollte mit einer Reihe prachtvoller Ereignisse gefeiert werden. Am 20. Juni, fünfzig Jahre nach ihrer Thronbesteigung, trafen die Königshäupter Europas, indische Prinzen sowie Würdenträger und Vertreter aus allen Ländern des Empire – sogar die hawaiianische Königin Lili’uokalani – in London ein. Im Westend dekorierten die Besitzer ihre Geschäfte in Rot, Blau und Weiß, königliche Standarten und Union Jacks hingen vor den Gebäuden, Blumengestecke und bunte Girlanden schmückten die strengen Steinfassaden. Mit Einbruch der Dunkelheit wurden das elektrische Licht oder die Gasbeleuchtung in den Botschaften, Clubs und Hotels angeschaltet und strahlten die riesigen, an den Gebäuden befestigten Kronen sowie die Buchstaben V und R an. Die loyalen Untertanen der Monarchin pilgerten von den Vororten und aus ihren Mietkasernen ins Stadtzentrum, sie kamen mit der Eisenbahn aus Kent und Surrey und versammelten sich in den Straßen, wo sie sich einen Blick auf die königliche Kutsche oder eine mit Diamanten geschmückte Prinzessin erhofften. Wenn die lange Helligkeit der Sommertage schließlich verging, stellten sie Kerzen in die Fenster und stießen mit Bier, Champagner oder Claret, dem in England beliebten Rotwein aus Bordeaux, auf das Wohl ihrer Monarchin an.

In der Westminster Abbey fand ein Dankgottesdienst statt, in Windsor gab es eine Militärparade und im Hyde Park wurde für 2500 Kinder ein riesiges Fest ausgerichtet, mit zwanzig Kasperletheatern, acht Marionettentheatern, 86 Guckkästen, neun Hunde-, Affen- und Ponyschauen und zahlreichen Musikkapellen; die Kinder bekamen Spielsachen und Gasballons und wurden mit Limonade, Kuchen, Pasteten, Süßigkeiten und Orangen verköstigt. Den ganzen Sommer hindurch fanden anlässlich des Jubiläums Konzerte, Vorträge, Aufführungen, Regatten, Picknicks, Galadiners und sogar ein Jachtrennen statt. Da das Jubiläum mit der Londoner »Saison« zusammenfiel, wurden auch Gartenpartys und Bälle veranstaltet. Die Damen zogen sich gemäß der Mode des Sommers an: Gewänder mit Tournüren und Spitzenbesatz aus schwarzer und weißer Seide, mit Paspeln in Apricot, Flieder und Himmelblau. In der Guildhall wurde ein prächtiger Ball ausgerichtet, bei dem der Prinz und die Prinzessin von Wales ihre königlichen Verwandten sowie den Prinzen von Persien, den päpstlichen Gesandten, den Prinzen von Siam und den Maharadscha Holkar von Indore empfingen. Alles, was Rang und Namen hatte, tanzte unter den Bannern und den duftenden, von der Decke hängenden Blumenarrangements. Tiaren und Krawattennadeln funkelten in den vielen Spiegeln. Junge Debütantinnen wurden mit ehetauglichen Söhnen bekanntgemacht. Die viktorianische Gesellschaft drehte sich unablässig zu der träumerischen Melodie eines Walzers.

Und dann gibt es eine andere Version.

Jene Geschichte von 1887, die die meisten Menschen lieber der Vergessenheit überlassen würden. Auch heute wird sie in nur manchen Geschichtsbüchern erwähnt, und erstaunlich wenige Menschen wissen überhaupt, dass sie sich zugetragen hat, aber in dem Jahr, als sie sich ereignete, hat sie mehr Platz in den Zeitungen eingenommen als alle Berichte über königliche Aufmärsche, Bankette und Feste zusammen.

Der Sommer des königlichen Jubiläums war außerordentlich warm und trocken. Wolkenloser Himmel spannte sich über den Picknicks und Partys im Freien, in der Trockenheit verdorrten die Obstgärten und Felder. Wasserknappheit und ein Rückgang der saisonalen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft verschärften die schon angespannte Arbeitsmarktlage. Während die Reichen das gute Wetter unter Sonnenschirmen und Bäumen in den Gärten ihrer Villen genossen, schlugen die Armen auf dem Trafalgar Square ihre Lager auf. Viele waren in die Stadt gekommen, um als Aushilfen in Covent Garden zu arbeiten, wo die Londoner ihr Obst und Gemüse einkauften, aber aufgrund der Trockenheit gab es weniger Kisten mit Pflaumen oder Birnen zu schleppen. Da die Menschen kein Geld für eine Unterkunft hatten, schliefen sie auf dem nahen Platz, wo sich schon andere Arbeitslose und Obdachlose eingerichtet hatten, die lieber im Freien kampierten, statt sich im Armenhaus mit den abstoßenden und erniedrigenden Bedingungen abzugeben. Beobachter sahen mit Entsetzen, dass Schläfer sich und ihre »verlauste Kleidung« in den Brunnen auf dem Platz, direkt unter der Säule des milde herabblickenden Admiral Nelson, wuschen.

Mit dem Herbst kamen auch die Sozialisten, die Heilsarmee und verschiedene andere wohltätige Gruppen, die Bibeln und Adresskarten für Wohnheime sowie Gutscheine für Kaffee, Tee, Brot und Suppe verteilten. Aus Planen wurden improvisierte Zelte errichtet, und jeden Tag wurden zwischen den Tatzen der riesigen Bronzelöwen leidenschaftliche Reden gehalten. Das Gefühl von Gemeinschaft und die Verteilung von Nahrung und Getränken bewirkten, dass die Zahl der Platzbewohner ständig wuchs, was die Polizeipräsenz erhöhte und Reporter anlockte, die sich unter die zerlumpten Menschen auf dem Platz mischten und Namen und Geschichten der sonst namenlosen Masse sammelten.

»Mr. Ashville«, zum Beispiel bezeichnete sich als »Maler und Glaser von Beruf«. Er war seit einem Jahr arbeitslos und hatte 33 Nächte am Embankment geschlafen, bis es dort zu kalt wurde und er zum Trafalgar Square umzog, wo es, so hoffte er, wärmer wäre. Entmutigt und von seiner Erfahrung sichtlich mitgenommen, bemühte er sich, nicht die Hoffnung aufzugeben, dass er eines Tages Arbeit finden würde.

Eine Soldatenwitwe verkaufte auf dem Platz Streichhölzer, um sich und ihren kleinen Sohn zu ernähren, aber sie hatte nicht immer so gelebt. Nachdem sie die letzte Rate für ihre Nähmaschine nicht bezahlen konnte, verlor sie ihre Arbeit und dann auch das Zimmer, in dem sie wohnte. Im Armenhaus würde man sie von ihrem Sohn trennen, das wusste sie, und deshalb hielt sie es für die bessere Lösung, auf dem Platz unter freiem Himmel und mit dem Kind in ihrem Schal gewickelt zu schlafen.1

Ein »älteres Ehepaar«, das bisher keine Beschwerlichkeiten erlebt hatte, kampierte jetzt zusammen auf einer der steineren Bänke auf dem Platz.2 Der Ehemann war Musikdirektor bei einem Theater gewesen, doch dann wurde er nach einem Unfall arbeitsunfähig. Das Paar hatte keine Ersparnisse, kam mit der Miete in Rückstand und war bald gezwungen, im Freien zu nächtigen. Sich der Barmherzigkeit des Armenhauses auszuliefern, schien ihnen zu beschämend und beängstigend.

Hunderte suchten auf den Pflastersteinen des Trafalgar Square eine Schlafstatt, und jeder von ihnen hatte eine ähnliche Geschichte. Politische Agitatoren erkannten schnell, dass sich aus dieser Ansammlung von Gebeutelten eine Armee der Aufständischen bilden ließ, die nichts zu verlieren hatten. Bekanntermaßen lag Trafalgar Square auf der Achse zwischen dem Ostteil und dem Westteil der Stadt, er markierte eine künstliche Trennlinie zwischen Arm und Reich, die – ähnlich wie die unsichtbaren Restriktionen, mit denen den Rechtlosen die Stimme verweigert wurde – leicht durchbrochen werden konnte. Im Jahr 1887 schien die Möglichkeit einer sozialen Revolution manchen erschreckend nah, während sie anderen nicht nah genug war. Die täglichen Reden von Sozialisten und Sozialreformern wie William Morris, Annie Besant, Eleanor Marx und George Bernard Shaw mobilisierten die Menschen, die dann zu Tausenden mit Protestgesängen und Fahnenschwenken durch die Straßen zogen und, wie es unvermeidlich war, Gewalt schürten. Die Metropolitan Police und das Gericht in der Bow Street hatten alle Hände voll zu tun, um die Protestierenden zu mäßigen und die Aufrührer vom Platz zu entfernen. Aber wie die Gezeiten ließen sie sich nicht unterdrücken, und sobald sie entfernt worden waren, strömten sie auch schon wieder zurück.

Als Sir Charles Warren, der Polizeikommissar, am 8. November ein Verbot aller Zusammenkünfte auf dem Trafalgar Square aussprach, erwies sich das als folgenschwerer Fehler. Diejenigen, für die der Platz im Herzen Londons der Versammlungsort des einfachen Mannes und ein Forum für politische Aktion geworden war, verstanden das Verbot als bewusste Kriegserklärung. Für den 13. des Monats wurde eine Demonstration geplant. Die Freilassung von William O’Brien, einem irischen Parlamentsmitglied, zu fordern war dafür nur ein Vorwand, die Anliegen der Protestierenden gingen weit über das Schicksal einer Person des öffentlichen Lebens hinaus. Mehr als 40 000 Männer und Frauen kamen zusammen, um ihren Protest kundzutun. Sie standen 2000 Polizisten, der königlichen Leibwache und den Grenadier Guards gegenüber. Von Anfang an kam es zu Zusammenstößen, und die Polizei fiel mit Schlagstöcken über die Protestierenden her. Trotz aller Aufrufe zur friedlichen Demonstration waren viele Protestierende mit Bleirohren, Messern, Hämmern und Ziegelsteinen auf den Platz gekommen. Vierzig Demonstranten wurden verhaftet, mehr als 200 verletzt, und mindestens zwei getötet. Dieser Tag, der als Bloody Sunday bekannt wurde, brachte jedoch nicht das Ende der Auseinandersetzungen. Das Klirren von zerberstendem Glas und lautstarke Ausbrüche öffentlicher Unzufriedenheit waren bis ins nächste Jahr hinein immer wieder zu hören.

Während dieser Ereignisse lebten zwei Frauen, deren Leben und Sterben unsere Sicht auf das 19. Jahrhundert mitbestimmen sollten. Die eine war Königin Victoria, die der Ära von 1837 bis 1901 ihren Namen gab. Die andere war eine obdachlose Frau, Mary Ann Nichols, auch Polly genannt, die in dem fraglichen Jahr auf dem Trafalgar Square kampierte. Anders als im Fall der Monarchin geriet ihr Name in Vergessenheit, jedoch erinnerte sich die Welt mit Faszination und sogar einer gewissen Wollust an den Namen ihres Mörders: Jack the Ripper.

Gut zwölf Monate liegen zwischen dem Goldenen Jubiläum der Königin und dem Mord an Polly Nichols am 31. August 1888. Sie war das erste der fünf Opfer von Jack the Ripper, also der Frauen, die den Polizeiermittlungen zufolge in Whitechapel, einem Viertel im Eastend von London, von derselben Hand getötet wurden. Nach dem Mord an Polly Nichols wurde am 8. September in einem Innenhof der Hanbury Street die Leiche von Annie Chapman gefunden. Dann, in den frühen Morgenstunden des 30. September, schlug der Ripper gleich zweimal zu. In einem »Doppelmord« tötete er zunächst Elizabeth Stride, deren Leiche in Dutfield’s Yard, Berner Street, gefunden wurde, und anschließend Catherine Eddowes, die am Mitre Square ihr Leben ließ. Nach einer kurzen Unterbrechung seiner mörderischen Aktivitäten beging der Mörder am 9. November eine letzte Schandtat, als er Mary Jane Kelly in ihrem Bett in 13 Miller’s Court ermordete und die Leiche grausam verstümmelte.

Die Londoner Bevölkerung und die zeitunglesende Welt reagierte mit Entsetzen auf die Brutalität der Morde von Whitechapel. Allen Opfern des Ripper waren die Kehlen aufgeschlitzt worden. Vier der fünf Frauen waren zudem ausgeweidet worden. Mit Ausnahme des letzten Falles wurden die Morde im Freien, im Schutz der Dunkelheit, verübt. In allen Fällen gelang es dem Täter oder der Täterin, unerkannt zu entkommen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das rief entsetztes Erstaunen bei der Bevölkerung, der Presse und auch der Polizei hervor, zumal die Morde alle in einem dicht besiedelten Gebiet stattgefunden hatten. Der Ripper war den Ermittlungsbehörden immer einen gruseligen, gespenstischen Schritt voraus, wodurch die Taten etwas besonders Erschreckendes, ja fast Übernatürliches bekamen.

Die Polizeistation von Whitechapel, eine Abteilung der Metropolitan Police, führte die Ermittlungen nach bestem Vermögen durch, aber sie war nie zuvor mit einem Mordgeschehen diesen Ausmaßes und dieser Brutalität konfrontiert worden und von der Aufgabe schier überfordert. Sie nahm in dem Viertel Befragungen von Haus zu Haus vor, und eine große Menge forensischen Materials wurde gesammelt und untersucht. Bei der Polizei gingen massenweise Aussagen und Briefe angeblicher Zeugen ein, sowie Hilfsangebote aus der Bevölkerung und von anderen Wichtigtuern, die ihre eigenen Motive verfolgten.

Insgesamt wurden über 2000 Menschen vernommen, und gegen mehr als 300 etwaige Verdächtige wurden Ermittlungen durchgeführt. Trotz der Unterstützung von Scotland Yard und der City of London Police ergaben die Ermittlungen keine nützlichen Erkenntnisse. Vermutlich gingen echte Spuren im Wust der entstandenen Verwaltungsarbeit unter. Und währendStreifenpolizisten damit beschäftigt waren, sich Verdächtiges zu notieren und potenziellen Übeltätern in dunklen Gassen nachzugehen, verübte der Ripper weitere Morde.

Der »Herbst des Schreckens« nahm seinen Lauf, in Whitechapel wimmelte es von Reportern mit gespitzten Bleistiften, die diese sensationelle Goldader auszubeuten hofften. Es war unvermeidlich, dass die Presse zwischen die ermittelnden Polizeikräfte und die in Angst und Schrecken lebende Bevölkerung des Eastend geriet, was der Situation ein explosives Element hinzufügte. Da die Polizei mit keinen schlüssigen Erkenntnissen aufwarten konnte, verlegten sich die Zeitungen darauf, ihre eigenen Theorien über den Mörder und seine Vorgehensweise zu entwickeln. Überall fanden die Zeitungsausgaben reißenden Absatz, und die Gier nach neuen Aspekten und frischen Deutungsansätzen war unersättlich. Kein Wunder, dass Ausschmückungen, freie Erfindungen und »fake news« ihren Weg in die Artikel fanden. Allerdings ließen sich die Gemüter der Bewohner von Whitechapel nicht beschwichtigen, solange die Zeitungen voll waren mit Gerüchten, Mutmaßungen und hitzigen Kommentaren, in denen sich eine Geringschätzung der Bemühungen der Polizei ausdrückte.

Gegen Mitte September machte sich unter den Bewohnern Panik breit, und kaum jemand wagte es noch, bei Dunkelheit auf die Straße zu gehen. Vor der Polizeiwache in der Leman Street versammelten sich die Menschen und forderten lautstark die Festnahme des Mörders, während einige Ladenbesitzer des Viertels die Sache selbst in die Hände nehmen wollten und eine Whitechapel Vigilance Society gründeten. Unterdessen wurde in der Presse wild über die Identität des Täters spekuliert: Er war einer aus Whitechapel; er war ein betuchter Gentleman aus dem Westend; er war Matrose, Jude, ein Schlächter, Chirurg, Ausländer, ein Geisteskranker. Es waren mehrere, es war eine Bande von Erpressern. Die Einwohner des Viertels begannen all diejenigen, auf die eine der Beschreibungen passte, zu verdächtigen: Ärzte mit Arztkoffern wurden verfolgt, wer ein Paket bei sich trug, wurde der Polizei gemeldet. Die Menschen waren von den Ereignissen einerseits verängstigt, fanden sie andererseits auf groteske Weise spannend und faszinierend. Die Menschen versammelten sich nicht nur vor der Polizeistation, sondern auch an den Tatorten. Manche starrten auf die Stelle, wo der grausige Mord begangen worden war, in der Hoffnung, eine Antwort zu finden, andere waren von der Gräueltat fasziniert.

Da die Polizei für keinen der fünf Morde einen Verdächtigen festnahm und unter Anklage stellte, wurde der Wunsch nach einer Verurteilung, die Gerechtigkeit herstellen würde, nicht erfüllt. Lediglich die gerichtlichen Untersuchungen der Taten lieferten ein paar Antworten und gaben vielleicht die Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie wurden nach den einzelnen Morden in Whitechapel und in der City of London öffentlich durchgeführt, und die Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Mit dem Ziel, ein klares und verbindliches Bild davon zu erhalten, wie es zu dem Tod gekommen war, wurden bei einer gerichtlichen Untersuchung, ähnlich wie bei einem Prozess, Zeugen vor einem Geschworenengericht aufgefordert, ihre Sichtweise der Ereignisse zu schildern.

Die meisten Informationen über die fünf Opfer sind den Zeugenaussagen bei den gerichtlichen Untersuchungen entnommen; allerdings ist die Darstellung der Ereignisse durchaus problematisch. Die Untersuchungsmethode entbehrte der Gründlichkeit, seitens der Geschworenen gab es nur wenige Zusatzfragen, und die bei den Zeugenaussagen auftretenden Unstimmigkeiten und Ungenauigkeiten wurden nicht untersucht. Letztlich streiften die Aussagen, die im Zuge der gerichtlichen Untersuchung gesammelt wurden, nur die Oberfläche eines tiefen, trüben Abgrunds möglicher Antworten.

Wenn die Morde in Whitechapel etwas ans Licht brachten, dann die entsetzlichen, unfassbaren Bedingungen, unter denen die Armen in diesem Bezirk lebten. Die Lager und Aufstände vom Trafalgar Square waren lediglich eine sichtbare Äußerung der chronischen Missstände, die im Eastend und den verarmten Vierteln Londons herrschten. Sie waren der Auswurf von einem Husten, der dem Establishment ins Gesicht geschleudert wurde. Und das Auftreten von Jack the Ripper war ein noch lauterer und gewaltsamer Auswurf.

Während der Regentschaft von Königin Victoria hatten Reporter, Sozialreformer und Missionare die entsetzlichen Bedingungen angeprangert, die sie im Eastend beobachteten, aber in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich die Auswirkungen der »langen Depression« in der Wirtschaft bemerkbar machten, spitzte sich die Situation immer mehr zu. Die Tagelöhnerarbeit für das riesige Heer ungelernter Arbeiter in London – Näherinnen und Wäscherinnen, Maurergehilfen, Montagearbeiter, Straßenhändler, Hafenarbeiter – war schlecht bezahlt und nicht gesichert. Dockarbeiter verdienten nicht mehr als 15 Shilling pro Woche, ein Plakatträger (jemand, der mit Plakaten auf Brust und Rücken herumlief, ein »Sandwichman«) bekam vielleicht 1 Shilling und 1 Sixpence am Tag. Steigende Mieten verschlimmerten die Lage. Große Gebiete mit Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen wurden abgerissen, um Platz für die neuen Eisenbahnstrecken und breiten Durchgangsstraßen wie die Shaftesbury Avenue zu schaffen, so dass die Armen immer enger in bereits dicht besiedelte Wohnviertel gedrängt wurden.

Unter diesen Stadtteilen hatte Whitechapel einen besonders schlechten Ruf, aber es war längst nicht das einzige verelendete Viertel. In seiner umfassenden Studie von 1890 über Londons Armenviertel zeigte der Sozialreformer Charles Booth, dass es überall Nester der Verwahrlosung, Kriminalität und Verelendung gab, selbst innerhalb von ansonsten wohlhabenden Vierteln. Doch der Ruf von Whitechapel stach noch den von Bermondsey, Lambeth, Southwark und St. Pancras aus. Ende des 19. Jahrhunderts lebten bis zu 78 000 Menschen in diesem Viertel, das eng bebaut war mit Lagerhäusern, Mietshäusern, Fabriken, Schlachthöfen, Häusern mit möblierten Zimmern, Wirtshäusern, billigen Musiktheatern und Marktplätzen. Die Bevölkerung war religiös und kulturell gemischt, dazu vielsprachig. Seit mindestens zwei Jahrhunderten war Whitechapel das Ziel von Einwanderern aus allen Ländern Europas. Ende des 19. Jahrhunderts strömte eine Welle Iren auf der Flucht vor ländlicher Armut herein. In den 1880er Jahren kamen Juden, die vor Pogromen in Osteuropa flohen. In einer Zeit, als die Menschen fremden Nationalitäten, Rassen und Religionen mit Misstrauen begegneten, fand keine Integration statt. Die im Auftrag von Charles Booth durchgeführten Sozialuntersuchungen erbrachten jedoch, dass die Menschen in dem Viertel trotz der Unterschiede in ihrer Herkunft als derselben sozialen Schicht zugehörig betrachtet werden konnten. Mit Ausnahme weniger Angehöriger der Mittelschicht wurde der größte Teil der Bevölkerung als »arm«, »sehr arm« und »halbkriminell« eingestuft.

Das dunkel pulsierende Herz in der Mitte des Stadtteils war Spitalfields. Hier, in der Nähe des Obst- und Gemüsegroßmarkts und des spitzen weißen Turms von Christ Church, befanden sich die schlimmsten Wohnstraßen des Viertels, wenn nicht sogar von ganz London. Dorset Street, Thrawl Street, Flower and Dean Street und die kleineren Querstraßen waren selbst bei der Polizei gefürchtet. Entlang dieser Straßen standen billig gebaute, von Ungeziefer verseuchte Mietshäuser, in den Mauern saß der Schwamm, Putz bröckelte von den Wänden, und das Innere war in einzeln vermietete, möblierte Zimmer unterteilt. Diese Straßen und ihre verelendeten Bewohner verkörperten das, was in England verkommen war.

Wer sich aus dem Komfort der mittelständischen viktorianischen Welt in diesen Abgrund verlief, war fassungslos angesichts dessen, was er zu sehen bekam. Gehwege voller Schlaglöcher, trübe Gasbeleuchtung, der Rinnstein eine Kloake, Pfuhle mit stinkender, krankheitserregender Brühe und Berge von Abfall entlang der Straßen ließen die abscheulichen Bedingungen erahnen, die innerhalb der Häusermauern zu finden waren. In schmutzigen Zimmern, zwei Meter fünfzig im Quadrat, hausten ganze Familien. Gesundheitsinspektoren entdeckten fünf Kinder in einem Bett zusammen mit einem toten Kind, auf dessen Beerdigung gewartet wurde.

Die Menschen schliefen auf dem Fußboden, auf Unterlagen von Lumpen und Stroh. Manche hatten all ihre Kleidung versetzt und besaßen kaum genug, um ihre Blöße zu bedecken. Alkoholismus, Unterernährung und Krankheiten waren in diesem Höllenkreis allgegenwärtig, so wie auch Gewalt in all ihren Ausformungen. Kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen prostituierten sich, um Geld zu verdienen. Jungen übten sich als Diebe und Taschendiebe. Das in seinen moralischen Grundsätzen gefestigte Mittelschichtsengland musste angesichts des Ausmaßes dieser abgrundtiefen, alles abtötenden Not unweigerlich zu der Ansicht gelangen, dass alle Regungen von Mitmenschlichkeit und Rechtschaffenheit, die normalerweise in zwischenmenschliche Beziehungen einfließen, hier im Keim erstickt wurden.

Nirgendwo war das so offenkundig wie in den Wohnheimen, wo diejenigen, die sogar zu arm waren, um ein möbliertes Zimmer zu mieten, einen schmutzigen Schlafplatz für eine Nacht fanden, im Wechsel mit Nächten im Armenhaus und solchen unter freiem Himmel. Die Unterkünfte wurden von Bettlern, Kriminellen, Prostituierten, Alkoholikern, Arbeitslosen sowie von Kranken und Alten, Tagelöhnern und ausgemusterten Soldaten benutzt. Die meisten Menschen in diesen Unterkünften fielen in mehrere der genannten Kategorien. In Whitechapel allein gab es 233 solcher Häuser, die Schätzungen zufolge 8530 Obdachlosen Platz boten.3 Die Häuser in der Dorset Street, Thrawl Street sowie Flower Street and Dean Street hatten einen besonders schlechten Ruf. Für vier Pence pro Nacht konnte man eine harte, verflohte Schlafstelle in einem ungelüfteten, übel riechenden Schlafsaal kaufen, und ein Doppelbett, ähnlich verkommen, aber mit einer Bretterwand abgetrennt, kostete acht Pence. Es gab nach Geschlechtern getrennte Unterkünfte und solche, zu denen Menschen beiderlei Geschlechts Zutritt hatten, und letztere galten als moralisch völlig verkommen. Alle Bewohner durften die Küche benutzen, die den ganzen Tag und bis spät in die Nacht offen war. Hier konnten die Menschen sich versammeln, ihre kargen Mahlzeiten zubereiten und mit Besuchern Tee oder Bier trinken.

Sozialforscher, die hier mit den Bewohnern am Tisch gesessen hatten, waren entsetzt von den verrohten Manieren und der brutalen Sprache, die dort gesprochen wurde, auch von Kindern. Aber besonders abschreckend fanden sie das gewalttätige Verhalten der Menschen, die allgemeine Verschmutzung und die verstopften Aborte, sowie die Nacktheit der Bewohner, ihre sexuelle Freizügigkeit und Trunkenheit sowie die Verwahrlosung der Kinder. In diesen Unterkünften war all das, was das Leben in den Slums so abstoßend machte, unter einem Dach konzentriert.

Polizei und Sozialreformer waren besonders an der Verbindung zwischen Armenunterkünften und Prostitution interessiert. Da von einem »Penner« keine Angaben verlangt wurden, solange er die vier bzw. acht Pence für die Schlafstelle bezahlen konnte, wurden die Häuser zu Stätten der Sittenverrohung. Viele Frauen, die in der Prostitution ihr Haupteinkommen sahen, wohnten in diesen Unterkünften und arbeiteten von dort. Das war insbesondere nach dem Inkrafttreten des Criminal Law Amendment Acts der Fall, der die Schließung vieler Bordelle zur Folge hatte. Prostituierte konnten jetzt ihrer Arbeit nicht mehr von ihrem Zuhause aus nachgehen. Ein Doppelbett mit Abtrennung für acht Pence eignete sich gut für ein Treffen mit einem Mann, den eine Frau auf der Straße getroffen hatte. Andere Prostituierte mieteten die billigeren Betten für vier Pence und trafen ihre Freier an verborgenen Stellen im Freien, wo es zu sexuellen Handlungen und nicht unbedingt zum vollen sexuellen Akt kam.

Die Wohnheime boten Frauen in unterschiedlichsten elenden Umständen einigen Schutz. Auch wenn viele als »Gelegenheitsprostituierte« dem Gewerbe nachgingen, ist es grundsätzlich falsch, daraus zu schließen, dass alle das taten. Wenn es darum ging, das Geld für die Übernachtung zu finden, waren die Frauen kreativ. Die meisten nahmen schlecht bezahlte Arbeit wie Putzen, Wäschewaschen und Straßenverkauf an, und wenn das nicht reichte, borgten oder bettelten sie, versetzten Dinge oder verlegten sich aufs Stehlen. Sich mit einem Mann zusammenzutun, war wichtig, wollte man die Kosten reduzieren. Oft waren es kurzlebige, aus der Notwendigkeit entstandene Verhältnisse, andere Beziehungen hielten Monate oder sogar Jahre, ohne dass es zu einer kirchlichen Trauung kam. Beobachter aus der Mittelschicht waren gewöhnlich entsetzt, wie leicht und schnell diese Beziehungen eingegangen und wieder gelöst wurden. Ob daraus Kinder hervorgingen, schien von geringer Bedeutung. Das Moralverhalten unterschied sich stark von dem Kodex der Mittelschicht, weshalb es für Mittelschichtsbürger umso schwerer verständlich war, mit welchen Einkünften Frauen aus den verderbten Wohnheimen es anstellten, ein Dach über dem Kopf zu behalten.

In der Zeit, als der Ripper sein Unwesen trieb und die Zeitungen ihre Leser mit Skandalen und düsteren Einzelheiten vom Leben in den Slums aufpeitschten, brachten diese die Meinung in Umlauf, dass die Wohnheime in Whitechapel »im Grunde Bordelle waren« und die Frauen, die dort wohnten, mit nur wenigen Ausnahmen allesamt Prostituierte waren. Angesichts der schrecklichen Ereignisse waren die Menschen bereit, das zu glauben. Übertreibungen wurden von der Bevölkerung als Tatsachen übernommen, obwohl selbst die Polizei zu anderen Schlüssen kam. Ein Brief des Commissioner der Metropolitan Police, geschrieben zu der Zeit, als die Mordserie ihren Höhepunkt erreichte, stellte die Lage ganz anders dar. Sir Charles Warren schloss aus den vorliegenden Zahlen, dass in den 233 Wohnheimen ungefähr 1200 Prostituierte lebten. Allerdings schränkte er diese Aussage so ein: »Wir können nicht mit Sicherheit sagen, welche Frauen der Prostitution nachgingen und welche nicht.«4 Wenn selbst die Polizei diese Unterscheidung nicht treffen konnte, waren die Zeitungen erst recht nicht dazu in der Lage.

Warrens Zahlen lassen noch eine andere interessante Lesart zu. Wenn in den Wohnheimen 8530 Menschen wohnten und von denen ein Drittel, also 2844, Frauen waren, und wenn man davon ausgeht, dass 1200 Frauen als Prostituierte arbeiteten, dann hieß das, dass die Mehrheit, nämlich 1644, nicht in dem Gewerbe arbeiteten.5 Nicht nur die Aussagen über die Bewohner der Wohnheime von Whitechapel sind solchen unbegründeten Spekulationen und Gerüchten ausgesetzt, sondern auch alles, was über die Leben der Opfer von Jack the Ripper gesagt wird. Das Netz der Mutmaßungen entstand vor über 130 Jahren und ist seither kaum hinterfragt oder bezweifelt worden.

Es sind die Werte der viktorianischen Gesellschaft, die den Blickwinkel für die Geschichten von Polly, Annie, Elizabeth, Kate und Mary Jane liefern und bestimmen, Werte einer männlichen, autoritär geprägten Welt der Mittelschicht. Sie bildeten sich in einer Zeit heraus, als Frauen keine Stimme und nur wenige Rechte hatten, und als Trägheit und Verderbtheit für die wesentlichen Merkmale der Armen gehalten wurden. Beides zu sein, eine Frau und arm, war die schlechteste Voraussetzung überhaupt. 130 Jahre lang haben wir das uns hinterlassene, staubige Paket ungefragt hingenommen. Nur selten haben wir einen Blick hineingeworfen oder versucht, die dicke Umhüllung zu entfernen, um die fünf Frauen kennenzulernen und etwas über ihre wahre Geschichte zu erfahren.

Jack the Ripper hat fünf Prostituierte ermordet, so haben wir das immer geglaubt, aber im Fall von dreien der Opfer gibt es keine Beweise, dass sie je der Prostitution nachgegangen sind. Als die Leichen in abgelegenen Höfen oder dunklen Straßen entdeckt wurden, nahm die Polizei an, dass es sich um Prostituierte handelte und sie von einem Besessenen umgebracht worden waren, der sie für sexuelle Handlungen an diese Orte gelockt hat. Doch auch dafür gab es nie Beweise. Im Gegenteil, bei den gerichtlichen Untersuchungen wurde festgestellt, dass der Mörder keinen sexuellen Verkehr mit seinen Opfern hatte. Außerdem gab es in keinem der Fälle Anzeichen für Gewalt, die der Tat vorausging, und die Ermordung war offenbar lautlos vonstatten gegangen. Niemand in der Nähe hatte Schreie gehört. Die Autopsien ergaben, dass die Frauen in liegender Position getötet wurden. Über drei der Frauen war bekannt, dass sie gelegentlich auf der Straße schliefen und zum Zeitpunkt ihrer Ermordung kein Geld für eine Unterkunft hatten. Die fünfte Frau wurde in ihrem Bett ermordet. Die Polizei jedoch hielt hartnäckig an ihrer Theorie fest, so dass ihnen das Offensichtliche nicht auffiel, nämlich dass sich der Ripper schlafende Frauen suchte.

Unzuverlässiges Quellenmaterial macht es unmöglich, die Wahrheit über die Morde herauszufinden. Obwohl es auch ein paar Polizeiunterlagen gibt, ist der größte Teil der Informationen zu diesen Fällen den Akten von den gerichtlichen Untersuchungen entnommen. Leider fehlen in drei der fünf Fälle die offiziellen Berichte. Stattdessen muss das allgemeine Bild der Ereignisse aus einer Sammlung bearbeiteter, geänderter, falsch wiedergegebener und umgedeuteter Zeitungsberichte zusammengestückelt werden. Ich habe diese Unterlagen mit größter Sorgfalt durchgesehen und nichts darin als die unumstößliche Wahrheit betrachtet. Ich habe außerdem davon abgesehen, aus den Gerichtsunterlagen Aussagen von Zeugen, die die Opfer nicht persönlich gekannt hatten, hinzuzuziehen.

Meine Absicht beim Schreiben dieses Buches war es nicht, den Mörder zu jagen und zu benennen. Mein Wunsch ist es stattdessen, den Wegen der fünf Frauen nachzuspüren, ihre Erfahrungen im Kontext ihrer Zeit aufzuzeigen und ihre Leben durch Düsternis und Licht gleichermaßen zu verfolgen. Sie sollten uns mehr wert sein als die leeren menschlichen Hüllen, die sie für uns bisher waren, denn auch sie waren Kinder, die nach ihrer Mutter gerufen haben, sie waren junge Frauen, die sich verliebt haben, sie haben Kinder bekommen und den Tod ihrer Eltern erlebt, sie haben gelacht und Weihnachten gefeiert. Sie haben sich mit ihren Geschwistern gezankt, haben geweint und geträumt, sie haben Verletzungen hinnehmen müssen und sich an kleinen Triumphen gefreut. Ihre Lebensläufe ähnelten vielen anderen im viktorianischen Zeitalter und waren einzigartig allein in ihrem Ende. Für diese Frauen schreibe ich dieses Buch. Ich tue das in der Hoffnung, dass wir ihre Geschichten anhören und ihnen das wiedergeben, was ihnen, zusammen mit ihrem Leben, so brutal entrissen wurde: ihre Würde.

Polly 26. August 1845 – 31. August 1888

1 Die Tochter des Schmieds

Die Zylinder drehten sich, die Keilriemen rotierten, die Zahnräder klickten und surrten, als die eingefärbten Typen aufs Papier gepresst wurden. Der Holzfußboden vibrierte, die Lichter brannten rund um die Uhr. In manchen Räumen hingen lange bedruckte Streifen auf Trockengestellen von der Decke, in anderen standen Holzkisten gestapelt, voll mit winzigen Metalltypen. In wieder anderen waren Männer damit beschäftig, Leder zu schneiden, Goldblatt auf Einbände aufzubringen und Bögen zu heften. Es gab Schuppen, in denen Kupferplatten geätzt und Buchstaben geschmiedet wurden. Es gab Werkstätten, in denen Bücher und Zeitungen und Zeitschriften lagerten und der wunderbare Geruch von frischem Papier und scharfer Tinte die Luft durchzog. Das Druckereigewerbe erstreckte sich in der Fleet Street und dem Gewimmel der davon abgehenden Straßen und Gassen. Jeder Arbeiter dort trug eine Ausrüstung aus Segeltuch; Hemden und Schürzen voller Druckerschwärze waren an der Tagesordnung – je schwärzer und tintiger, desto eifriger der Arbeiter. Druckergehilfen auf ihren Botengängen waren von Kopf bis Fuß mit Tintenstaub bedeckt. Kaum jemand im Verlagsviertel von St. Bride hätte sich sauberer Finger rühmen können, aber das wollte man auch gar nicht. Dies war das Viertel der Autoren, Drucker, Zeitungsmenschen und Buchhändler, und aller anderen Berufe, in denen das geschriebene Wort im Mittelpunkt stand.

In der Fleet Street und den dicht besiedelten, in sie einmündenden Straßen wälzten sich die Menschenmassen. Ein Schriftsteller schrieb, wenn man von Ludgate Hill nahe der St. Paul’s Cathedral in die Fleet Street hineinsehe, erblicke man »eine einzige dunkle, wirre, sich schnell bewegende Masse, bestehend aus Menschen, Pferden und Karren«, nirgendwo sei auch nur »ein Meter Pflaster sichtbar – lediglich Köpfe, sowohl auf den Gehwegen als auch auf der Straße, ein Meer von Köpfen.« 1 Zwischen dieser breiten Durchgangsstraße und der parallel dazu verlaufenden Straße High Holborn standen in einem Geflecht von Gassen und schmalen Gehwegen lauter windschiefe Holzhäuser und feuchte Backsteingebäude, seit dem 17. Jahrhundert die Wohn- und Werkstätten von Druckern, Denkern und verarmten Schriftstellern. So dicht gedrängt lebten die Menschen hier, dass nichts verborgen blieb, kein Niesen, kein Ausruf, nicht einmal ein Seufzer. Im Sommer, wenn die Fenster offen standen, war das Stampfen und Dröhnen der Druckerpressen, ob mit Dampf oder von Hand betrieben, in fast jeder Straße zu hören.

Inmitten dieser Kakophonie brachte Caroline Walker ihr zweites Kind, Mary Ann, zur Welt. Das Baby wurde am 26. August 1845 geboren, an einem Tag, der den Zeitungen zufolge »sonnig und trocken« war. Das Haus, in dem sie zur Welt kam, ein 200 Jahre altes, halb verfallenes Gebäude, hatte eine Adresse, die jeder Heldin eines Romans von Dickens ebenbürtig gwesen wäre: Dawes Court, in der Gunpowder Alley, Shoe Lane. Tatsächlich hatte der Autor von Oliver Twist diese düsteren Gebäude und stinkenden Gassen in seiner Jugend, als er sein Brot als Schuhputzer verdiente, genauestens gekannt, und später, als Schriftsteller, bewohnte er ein Zimmer in der Nachbarschaft. Polly, wie Caroline Walkers Tochter gerufen wurde, lebte in ihren ersten Jahren in einem ähnlichen Haus wie der fiktive Fagin und seine Bande von Taschendieben.

Die Walkers waren nie wohlhabend gewesen und würden es auch, in Anbetracht des Berufs von Pollys Vater, nie zu Wohlstand bringen. Edward Walker war in Lambeth, auf dem anderen Ufer der Themse, zum Schmied ausgebildet worden, dann lockte ihn ein Arbeitsangebot ins Druckerviertel über den Fluss. Zunächst hatte er als Schlosser gearbeitet, später wurde er Schriftgießer, die in der Gegend vermutlich gesucht wurden.2 Obwohl das Schmiedegewerbe gute Fachkenntnisse erforderte und anerkannt war, konnte man als Schmied nicht viel verdienen. Ein Schmiedgeselle am Anfang seines Berufslebens konnte zwischen 3 und 5 Shilling am Tag verdienen, was für einen Handwerker mit fester Stelle auf 6 Shilling und 1 Sixpence pro Tag stieg, und dieser Lohn musste für eine wachsende Familie gestreckt werden.3

Dieses Einkommen ermöglichteEdward und Caroline und ihren drei Kindern – Edward, der zwei Jahre vor Polly geboren wurde, Polly und der vier Jahre jüngere Frederick – ein einfaches und solides Leben. In den ersten Jahrzehnten von Königin Victorias Regentschaft war das gar nicht so leicht, denn kam es zu Krankheit oder Arbeitsverlust, konnte die Familie schnell mit der Miete in Rückstand geraten, und schon war sie nur einen Schritt vom Armenhaus entfernt. Die durchschnittlichen Kosten für eine Familie mittlerer Größe wie die der Walkers wurden auf 1 Pfund, 8 Shilling und 1 Pence geschätzt. Im Zentrum von London betrug die Miete für ein großes Zimmer oder zwei kleinere zwischen 4 Shilling oder 4 Shilling und 1 Sixpence. 20 Shilling wurden für Lebensmittel ausgegeben, und die Kosten für Kohle, Holz, Kerzen und Seife beliefen sich auf mindestens 1 Shilling, 9 Pence.4 Ein qualifzierter Handwerker wie Edward Walker würde außerdem erwarten, ein paar Pence pro Woche zu sparen und ungefähr 1 Shilling und 3 Pence für die Schulbildung seiner Kinder zurücklegen zu können.

Die allgemeine Schulpflicht wurde erst 1876 eingeführt, aber schon vorher schickten besser situierte Eltern der Arbeiterschicht ihre männlichen Kinder – manchmal auch die Mädchen – zu einer Freischule oder einer gebührenpflichtige Schule. Das traf besonders auf Handwerkerfamilien zu, die in der Druckerindustrie beschäftigt waren, wo Lesekenntnisse nicht nur als erstrebenswert, sondern als wesentlich betrachtet wurden. Manche Arbeitgeber wie zum Beispiel Spottiswode & Co., einer der größten Verleger dieser Zeit, bot innerhalb des Werks Unterrichtsstunden für Jungen unter fünfzehn an und richtete zudem eine Leihbücherei für seine Arbeiter ein, um Lesekundigkeit in der Familie zu fördern. Zwar hatten Polly und ihr Bruder nicht unbedingt Zugang zu solchen Einrichtungen, aber wahrscheinlich gingen sie entweder auf eine konfessionelle National School oder eine British School, die nicht-konfessionsgebunden war.

National Schools, wie die City of London National School in der nahe gelegenen Shoe Lane, waren Einrichtungen der anglikanischen Kirche und ermöglichten es Kindern, die am Tage einer Arbeit nachgehen mussten, trotzdem eine Schulbildung zu erwerben. British Schools hingegen wurden von denjenigen bevorzugt, die sich für besser als die Ärmsten in ihrem Viertel hielten, und hatten strengere Lehrmethoden. Unter Aufsicht einer Lehrperson unterrichteten hier ältere Kinder die jüngeren. Offenbar war Edward Walker ein großer Befürworter von Schulbildung, denn Polly durfte, für ein Mädchen ihrer Schicht eher ungewöhnlich, bis zum Alter von fünfzehn Jahren zur Schule gehen. Obwohl es damals üblich war, Schülern der Arbeiterschicht das Lesen, nicht aber das Schreiben beizubringen, lernte Polly in der Schule beides. Den Walkers selbst mangelte es sicherlich an Geld für Luxuswaren, trotzdem hatte Polly Zugang zu gedrucktem Material – womöglich der einzige Vorteil für ein Mädchen, dass in der Nähe der Fleet Street aufwuchs.

Ansonsten gab es in den Häusern, wo sie aufwuchs, kaum irgendwelchen Komfort. Die Walkers wohnten immer entweder in der Nähe der Shoe Lane oder der High Holborn Street. Von Dawes Court zogen sie in die Dean Street, dann in den Robinhood Court und in die Harp Alley. Nirgendwo gab es in den Wohnhäusern entlang der engen mittelalterlichen Gassen der Gemeinden von St. Bride’s und St. Andrew’s genügend Platz oder so etwas wie eine Privatsphäre. Eine 1844 erstellte Untersuchung der Viertel Londons mit der dichtesten Besiedlung ergab, dass die Lebensbedingungen in den um einen Innenhof gebauten Wohnblocks und sowie den Wohnäusern entlang der engen Gassen, wo die Walkers lebten, »die schlimmsten … im ganzen Viertel« waren, »schlecht belüftet5 und schmutzig«. Meistens lebten Familien in einem Zimmer mit einer Grundfläche von 2,50 bis 3 Meter mal 3 Meter und einer Deckenhöhe von 1,80 Meter bis 2,50 Meter.

Dawes Court, eine Holzrahmenkonstruktion, bestand aus drei separaten Wohnhäusern, wo die Zimmer einzeln vermietet wurden und insgesamt 45 Personen lebten. Ein Bett musste für die gesamte Familie reichen, die Ausziehbetten für die kleineren Kinder wurden amTage unter dem großen Bettgestell verstaut. Ein Tisch mit ein paar Stühlen diente als Wohn- und Esszimmer sowie als Kleiderablage. In jeder Ecke des Zimmers stand etwas: Besen, Töpfe oder Eimer, Säcke mit Zwiebeln und Kohlen. Besorgt betrachteten Sozialreformer diese Lebensbedingungen und deren Auswirkung auf Anstand und Moral der schwer arbeitenden Handwerker. Eltern, Kinder und die erweiterte Familie hatten für Aktivitäten wie Anziehen, Waschen, Geschlechtsverkehr keinerlei Privatsphäre und, wo es an einem Abort im Flur fehlte, spielten sich Toilettengänge vor der ganzen Familie ab. Während ein Familienmitglied das Essen vorbereitete, übergab sich womöglich ein fiebriges Kind in einen Eimer, andere standen halbnackt dabei. Ehepaare zeugten neue Kinder, während sie neben den älteren lagen. Es gab kaum Aspekte des menschlichen Lebens, die hier privat bleiben konnten.

Trotz einer Miete von 4 Shilling pro Woche hatten diese Wohnungen keinen hohen Standard. Mieter wohnten in Zimmern mit Feuchtigkeit in den Wänden und bröckelndem Putz, mit rußigen Decken und morschen Fußböden, mit schlecht schließenden Fenstern, durch die Regen und Wind hereindrangen. Durch verstopfte Schornsteine wurden Ruß und Rauch ins Zimmer gedrückt und trugen zu den unterschiedlichsten Atemwegserkrankungen bei. Die Flure und Treppenhäuser waren keineswegs in besserem Zustand und manchmal sogar ausgesprochen gefährlich. Es sei, so hieß es von einem Block, »der Handlauf aus der Wand gebrochen«, und auf der Treppe habe »ein schwerer Stiefel eine Stufe durchgetreten, so dass nicht viel fehlte, um das ganze Treppenhaus zum Einsturz zu bringen«.6

Zugang zu sauberem Trinkwasser, eine Abwasserversorgung und ordentliche Belüftung war für die Bewohner jedoch viel dringender, das Leben in der drangvollen Enge baufälliger Behausungen nahmen sie eher hin. Besonders schlechte Bedingungen herrschten in den Innenhofhäusern, wo es lediglich eine Wasserstelle für eine Vielzahl von Haushalten gab. Fast alle Wassertanks waren verschmutzt, und »schmutzige Rückstände sammelten sich auf der Oberfläche«. In manchen Fällen mussten Bewohner zum Kochen und Saubermachen Abwasser aus Sammelbecken nehmen, in denen das stehende Wasser im Sommer stank. Da es in vielen dieser Wohnhäuser keine Sickergruben gab, wurden Toiletteneimer in den Höfen oder die Gosse entleert, »wo erst der nächste Regenschauer die Fäkalien fortschwemmte«.7 Kein Wunder also, dass es zu Ausbrüchen von Cholera und Typhus kam, und, wie die Gesundheitsinspektoren es nannten, zu »Fieberausbrüchen«, besonders in den Sommermonaten.

Die arbeitende Klasse Londons erfuhr am eigenen Leib, dass schmutzige und beengte Behausungen einzig und allein Krankheitserregern ein komfortables Zuhause boten. Von Kohlefeuern verräucherte Zimmer und der gefürchtete gelbe Nebel der Hauptstadt beeinträchtigte die Gesundheit der abgearbeiteten und unterernährten Bevölkerung noch zusätzlich. Polly erfuhr das noch vor ihrem siebten Geburtstag. Im Frühling 1852 wurde ihre Mutter krank. Anfangs waren es Grippesymptome, aber dann wurde der Husten schlimmer und entwickelte sich zu einer Tuberkulose mit blutigem Auswurf. Vom Fieber geschwächt siechte Caroline dahin und starb am 25. November.

Bei ihrem Tode hinterblieben ihr Mann und drei Kinder, von denen das jüngste, Frederick, keine drei Jahre alt war. In einer Zeit, als es von arbeitenden Familienvätern nicht erwartet wurde, die Sorge für ihre kleinen Kinder zu übernehmen, ist es ein Zeugnis von Edward Walkers Familiensinn, dass er das dennoch tat. Statt seine beiden Söhne und seine Tochter bei Verwandten unterzubringen oder, schlimmer noch, ins Kinderheim zu geben, war Walker entschlossen, ihnen ein Zuhause zu geben. Er heiratete nicht wieder, und es scheint, dass seine Schwägerin, Carolines ältere Schwester Mary Webb, die Kinder versorgte und den Haushalt führte.8

Bei ihrem Tod konnte Caroline nicht gewusst haben, dass sie Frederick mit ihrer Krankheit angesteckt hatte und ihre Nähe zu den Kindern eine Gefahr für diese bedeutete. Bis zum Ende des Jahrhunderts war über Tuberkulose nur wenig bekannt. Die Infektion wurde durch Tröpfchenübertragung ausgelöst und war im viktorianischen Zeitalter, besonders innerhalb des Familienverbands, eine der größten Todesursachen. Oft trugen Frauen, die kranke Verwandte und Nachbarn pflegten, den Krankheitskeim unwissentlich in die eigene Familie. Weniger als anderthalb Jahre nach dem Tod der Mutter wurde Frederick krank. Da Edward und Mary um das Überleben des Jungen fürchteten, ließen sie ihn am 14. März 1854 taufen. Einen Monat später wurde er neben seiner Mutter im Friedhof der Kirche St. Andrew’s in Holborn beigesetzt.

Obwohl nach dem Tod von Pollys Mutter die Tante ihre Hilfe angeboten hatte, war es für Polly unerlässlich, rasch erwachsen zu werden. Ihr wurde die Rolle als weiblicher Familienvorstand in jungem Alter übertragen, ungeachtet, ob sie sich ihr gewachsen fühlte. Von der Tochter eines verwitweten Mannes wurde erwartet, dass sie, wie es in Sozialstudien hieß, »ihrem verwitweten Vater zur Seite stand«, »ihm den Haushalt führte und die Familie versorgte«. Wo die Mutter fehlte, war die Familie, und nicht die eigene Schulbildung, die oberste Pflicht der Tochter. Diese Erwartung machte es für das Mädchen außerdem unmöglich, eine bezahlte Arbeit anzunehmen, schon gar nicht als Hausmädchen, da dies ihren Wegzug von zu Hause bedeutet hätte.9 Mit neun Jahren hatte Polly sicherlich die Grundzüge der Haushaltsführung gelernt und konnte Mahlzeiten für ihren Vater und ihren Bruder zubereiten. Da Edward Walker für den Unterhalt seiner kleinen Familie sorgen konnte, blieb Polly zu Hause, wo ihre Tage zwischen Hausarbeit und dem Privileg einer verlängerten Schulbildung aufgeteilt waren.

Aufgrund des frühen Verlusts der Mutter bildete sich offenbar ein starkes Band zwischen Polly und ihrem Vater, das praktisch bis an Pollys Lebensende Bestand hatte. Von Polly wurde nicht nur erwartet, dass sie innerhalb der Familie die Rolle der Mutter übernahm, sondern auch, dass sie, wie von der Gesellschaft verlangt, ihrem Vater emotionale Unterstützung gab. Die Literatur der Zeit stellt Töchter verwitweter Männer als Paradebeispiele selbstloser Hingabe dar: von vorbildlichem Verhalten, frei von jeglichen kindlichen Wünschen, umsichtig, sanftmütig, unschuldig. Florence Dombey in Charles Dickens’ Dombey and Sons, geschrieben ein Jahr nach Pollys Geburt, war eine tugendhafte Tochter dieser Art. Nach dem Verlust ihrer Mutter ist Florence stets bemüht, durch eigene moralische Stärke und Selbstaufopferung die Liebe ihres verwitweten Vaters zu gewinnen. Im Fall von Polly und Edward Walker scheinen Hingabe und moralische Stärke zwischen beiden gleichermaßen verteilt gewesen zu sein. Ihr Leben lang blieb Polly in der Nähe des Vaters, selbst als sie sich für einen Ehepartner entschied.

1861 wohnte der neunzehnjährige William Nichols in der Bouverie Street in einem Wohnheim für Männer und hatte eine Stelle als Lagerarbeiter, wahrscheinlich in einer Druckerei. Nichols war der Sohn eines Schildermalers, der Wappen für Kutschen und Schilder malte, doch im Laufe des 19. Jahrhunderts verlegte er seine Arbeit auf Exlibris, mit denen in Büchern gekennzeichnet wurde, wer der Eigentümer war. William war 1861 aus seiner Geburtsstadt Oxford aufgebrochen, um in London Drucker zu werden. In der Bouverie Street war er mitten im Druckerviertel gelandet. Sieben Zeitschriften und Zeitungen hatten ihre Büroräume zwischen den Hausnummern 10 und 25, darunter die Daily Mail, deren Herausgeber zuvor Charles Dickens gewesen war, und Punch, begründet unter anderen von dem Sozialforscher Henry Mayhew. Das London in der Darstellung dieser beiden Autoren war die Stadt, in der William Nichols und die Walkers lebten. So wie Dickens hatte auch Mayhew Armut und Verschuldung erlebt, er hatte die Unbilden des Lebens kennengelernt und sich dann der Druckerzunft angeschlossen. Die Welt der »Grub Street«, wie sie seit dem 17. Jahrhundert genannt wurde, war ein enger Verbund von Männern unterschiedlichster Herkunft, die schrieben, lasen, Texte produzierten und verkauften, die zusammen tranken, sich untereinander Geld liehen und in ihre jeweiligen Familien einheirateten.

In dieser Geschichte im Stil Dickens’ lernte die mutterlose Tochter eines Schmieds, die pflichtbewusst für Vater und Bruder den Haushalt führte, William Nichols kennen, einen jungen Mann mit offenem, hellem Gesicht und blondem Haar. Nichols war gleichaltrig mit Pollys Bruder, der als Mechaniker arbeitete, und es ist möglich, dass Edward ihn mit der Familie bekanntmachte. Die kleine Polly mit dunklen Haaren und braunen Augen wurde von zwei Wächtern beschützt, und William muss sich in dem kleinen Kreis beliebt gemacht haben.

Sein Heiratsantrag kurz vor Weihnachten 1863 wurde angenommen. Das Aufgebot wurde bestellt, und am 16. Januar 1864 heirateten die achtzehnjährige Polly und ihr Verlobter in St. Bride’s, der Kirche der Drucker. Im Trauregister gab William seinen Beruf stolz mit Drucker an.

Die Heirat von Polly und William bedeutete für die ganze Familie eine Veränderung. Ihr Vater und ihr Bruder hatten sich bisher auf Polly gestützt, jetzt mussten sie einen neuen Mann im Haushalt willkommen heißen und sich auf eine Schar von Kindern einstellen. Die erweiterte Familie Walker-Nichols zog in eine Unterkunft in der 17 Kirby Street, einer ärmlichen Gegend, bekannt als Saffron Hill und nördlich der High Holborn Street gelegen. Die beiden als ein Haushalt lebenden Familien hätten zwei, wenn nicht drei Zimmer bewohnen wollen, was dem frisch verheirateten Paar eine Privatspähre gewährt hätte, aber das Haus in der Kirby Street – drei Geschosse, mit einer Familie auf jeder Etage – stellte keine große Verbesserung gegenüber der früheren Wohnung dar.

Wie nicht anders zu erwarten, war Polly drei Monate nach der Hochzeit schwanger. Am 17. Dezember 1864 waren die Schreie von William Edward Walker Nichols in den Räumen der 17 Kirby Street zu hören.10 Im Herbst 1865 war Polly abermals schwanger, und die Notenwendigkeit, eine größere Wohnung zu finden, wuchs im gleichen Maße wie Pollys Umfang.

In den 1860er Jahren wäre ein Arbeitereinkommen ergiebiger gewesen, wenn die Familie südlich der Themse, in Southwark, Bermondsey, Lambeth, Walworth und Camberwell wohnte statt in der Umgebung der Fleet Street, in den Vierteln Holborn und Clerkenwell. Für 4 bis 5 Shilling pro Woche konnte man dort ein kleines Haus mit drei oder vier Zimmern und vielleicht sogar einem kleinen Hof mieten. Das hieß jedoch nicht, dass die Häuser hier von besserer Qualität waren als die nördlich der Themse, auch war es nur dann eine ökonomisch sinnvolle Entscheidung, wenn es in der Nachbarschaft gut bezahlte Arbeit gab. Im Sommer 1866 zog die Familie Walker-Nichols nach Walworth, dem Viertel, in dem Edward Walker seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Die inzwischen sechsköpfige Familie mietete in der Trafalgar Street, einer »Reihe von zweistöckigen Backsteinhäusern«, ein Haus mit der Nummer 131. Die Häuser, kurz nach 1805 gebaut, hatten die 60 Jahre ihres Bestehens nicht besonders gut überstanden. Die unersättliche Nachfrage nach günstigem Wohnraum hatte dazu geführt, dass Häuser, die während der Regentschaft von George III. für die Mittelschicht gebaut worden waren, jetzt unterteilt wurden, damit mehrere Familien darin wohnen konnten. Die Nachbarn von William und Polly waren Schreiner, Mechaniker, Ladenbesitzer und Lagerarbeiter, und ihre Familien hatten kaum mehr Platz zur Verfügung als ähnliche Familien in Holborn. Die Walker-Nichols-Familie mit drei männlichen Verdienern hatte zunächst das Glück, dass sie alle vier Zimmer in dem Haus mieten konnte. Das sollte sich jedoch bald ändern.

In einem Arbeiterhaushalt des viktorianischen Zeitalters schwankte das Familieneinkommen mit jeder Geburt und jedem Tod. Während die Kinderschar der Nichols’ wuchs, musste das Einkommen immer weiter gestreckt werden. Kinder kamen zur Welt und starben. Das älteste Kind der Nichols’ wurde nur ein Jahr und neun Monate alt, aber bald wurden andere Kinder geboren. Edward John war der erste Sohn, der in der Trafalgar Street am 4. Juli 1866 zur Welt kam. Zwei Jahre später, am 18. Juli, wurde George Percy geboren, im Dezember 1870 eine Tochter, Alice Esther. Bisher hatte Polly in ihrer Ehe das Glück gehabt, in einem Haushalt mit mindestens zwei Verdienern und wenigen Kindern zu leben, aber diese Konstellation veränderte sich mit der Zeit. Kurz nach der Geburt von Alice Esther zog Edward, Pollys Bruder, aus und gründete seine eigene Familie. Mit dem Verlust seines Beitrags zum Familieneinkommen und der Ankunft eines weiteren Kindes wurden die Finanzen knapper, und die Familie Nichols sah mit Sorge in die Zukunft.

2 Wohnen bei Peabody

Im Januar 1862 war London für Amerikaner kein sehr angenehmes Pflaster. Zu Beginn des Bürgerkriegs, als sich die Bevölkerung der Vereinigten Staaten in Unionisten und Konföderierte aufspaltete, tat das auch die kleine Gruppe der in London lebenden Yankees und Südstaatler. Zuvor, im November 1861, wurde das britische Schiff Trent in die Ereignisse hineingezogen, als die unionistische Marine es enterte, um abgesandte Südstaatler auf dem Weg nach London festzunehmen. Das Parlament, die Presse und dann auch die Zeitungleser in der Stadt empörten sich angesichts dieses Übergriffs. Als Geschäftsleute aus Virginia mit Niederlassungen am Grosvenor Square ihre Freundschaft mit New Yorker Investoren aufkündigten und die Londoner den Namen Abraham Lincolns verfluchten, saß der amerikanische Investor George Peabody, voller Verzweiflung die Hände ringend, in seinem Broad Street-Büro. Kurz vor der Trent-Affäre hatte Peabody den Plan gefasst, den »Armen und Bedürftigen seiner Adoptivstadt« ein großzügiges philanthropisches Geschenk zu machen, mit dem Ziel, »ihre Lebensumstände und ihr Wohlbefinden zu verbessern«.1 Verschiedene Möglichkeiten wurden in Erwägung gezogen: Eine Spende für die Freischulen oder die Einrichtung städtischer Trinkwasserspender, doch was Peabody am meisten am Herzen lag, waren die Wohnbedingungen der Arbeiterklasse.

George Peabody stammte selbst aus einfachen Verhältnissen und hatte sich nach einer Lehre in einem Textilwarengeschäft in Massachusetts nach oben gearbeitet, bis er Besitzer eines internationalen Import-Export-Unternehmens war. 1838 hatte er den Hauptsitz seines Unternehmens nach London verlegt, und schließlich fasste er im Bankgewerbe Fuß. Als er sich 1864 zur Ruhe setzte, übernahm sein Partner J. S. Morgan aus der Bankiersfamilie Morgan die Leitung seiner Handelsbank Peabody & Co. Da Peabody unverheiratet war und keine eigenen Kinder hatte, die sein beträchtliches Vermögen hätten erben können, wollte er es für einen guten Zweck verwenden und kam auf die Idee, in London eine Arbeitersiedlung zu errichten. Als die Zeitungen eine Bekanntmachung seiner Schenkung von 150 000 Pfund vorbereiteten, warf die Trent-Affäre ihren Schatten über die britisch-amerikanischen Beziehungen, und Peabody befürchtete, dass seine Schenkung zurückgewiesen würde.

In dem Stiftungsdokument legte Peabody nur wenige Bedingungen dafür fest, wer Nutznießer seines Modells des sozialen Wohnungsbaus sein sollte. Es sollten Londoner sein, »von Geburt oder dem Wohnort nach«, außerdem »arm und von gefestigter Moral« und »gute Mitglieder der Gesellschaft«. »Niemand«, so fügte er hinzu, »sollte aufgrund seiner religiösen oder politischen Überzeugungen ausgeschlossen werden«. Die Peabody Buildings waren ein Wohnraumangebot für alle.

Nach mehreren Monaten der Ungewissheit gab Peabody seine Absichten schließlich am 26. März 1862 der Presse bekannt, und kurz darauf begannen die Arbeiten am ersten Peabody Building, das in der Commercial Street in Spitalfields errichtet werden sollte. George Peabodys Stiftung mit einer Summe von ursprünglich 150 000 Pfund wuchs auf 500 000 Pfund an, eine Summe, die heute ungefähr 45,5 Millionen Pfund entsprechen würde. Mit Demut nahm die britische Öffentlichkeit diese Großzügigkeit zur Kenntnis, die außerdem zu einer Entspannung der britisch-amerikanischen Beziehungen führte und Königin Victoria Anlass zu einem persönlichen Dankesbrief gab. Darüberhinaus bot sie 30 000 Londonern die Gelegenheit, ihre Slumbehausungen zu verlassen.

Bevor der Wohnblock in der Commercial Street 1864 fertiggestellt wurde, gingen bei den Peabody Trustees über einhundert Bewerbungen für die 57 Wohnungen ein. Die Nachfrage war groß – genau wie George Peabody sich vorgestellt hatte. Neue Bauplätze wurden erworben, und der Bau weiterer Mietblocks in Islington, Shadwell, Westminster und Chelsea wurde vorbereitet. 1874 wurde mit dem Bau eines zweiten Blocks in Lambeth begonnen, unweit der Stamford Street und in unmittelbarer Nähe der großen Druckerei William Clowes & Sons.

Da es Peabodys Anspruch war, unter den Arbeitern Gesundheit, Wohlergehen und eine gefestigte Moral zu fördern, sollte der Standard seiner Mietshäusern über dem liegen, was Arbeitern gewöhnlich geboten wurde. Anders als die üblichen Arbeiterhäuser, mit Schimmel an den Wänden und verschmutzten Zimmern, waren die Peabody Buildungs Backsteinhäuser mit Holzfußböden und verputzten Wänden. Die Ein-, Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen des Blocks in der Stamford Street waren um einen Innenhof herum gebaut und mit Gasbeleuchtung und anderen modernen Einrichtungen ausgestattet. »Es gibt mehrere Wandschränke, einen in der Küche, oben mit einem Fleischfach, das eine Klappe aus verzinktem Maschendraht hat. Im Flur vor der Wohnung gibt es einen klug konstruierten Kohlebehälter, der eine halbe Tonne Kohlen fasst«, berichtete die Daily News über eine ähnliche Wohnanlage in der Southwark Street. In den Mehrzimmerwohnungen war ein Zimmer »als Küche ausgestattet … mit einer Kochmaschine, einem Ofen, einem Heißwassergerät etc.«2 In der Stamford Street gab es sogar Bilderleisten, »damit die Bewohner keine Nägel in die Wände einzuschlagen brauchten«. Da die Küche zugleich auch Esszimmer und Aufenthaltsraum war, hatten die Bewohner in den Schlafzimmern mehr Privatsphäre, oder sie konnten sogar ein Zimmer als Wohnzimmer nutzen.3 Reporter, gewöhnlich Angehörige der Mittelschicht, machten zwar Bemerkungen über die kleinen Maße der Zimmer, aber mit ungefähr 4,50 Merter Länge mal 3,60 Meter Breite waren sie erheblich größer als das, was die meisten Peabody-Familien in den Slums gekannt hatten.

Die Einführung und Erhaltung hygienischer Verhältnisse spielte bei den Entwürfen der Peabody Buildings eine große Rolle, besonders in der Stamford Street, wo es auf den Fluren Toiletten und ein Wasserbecken gab, die jeweils von zwei Familien benutzt wurden. Im Erdgeschoss jedes Blocks gab es außerdem ein »geräumiges Bad« mit warmem Wasser, das aus dem Trust bezahlt wurde. Die Mieter konnten diese Einrichtung »umsonst benutzen, so oft sie wollten, und brauchten nur den Hausmeister um den Schlüssel zu bitten«. Für die Bewohner gebe es, schrieb ein Reporter, »keine Entschuldigung, sich und ihre Bekleidung nicht rein zu halten«, zumal es in jeder Anlage eine große Waschküche gab. In der Stamford Street gab es nicht nur »Becken mit Wasserzufuhr … und drei große Kupferkessel zum Auskochen der Wäsche«, sondern auch einen gekachelten Raum mit »acht großen Fenstern«, in dem die Wäsche zum Trocknen aufgehängt werden konnte.4 Da die Bewohner der Peabody Buildings sich selbst und ihre Bekleidung rein halten konnten, so wurde argumentiert, würden sie auch ihre Umgebung in einem guten Zustand bewahren wollen, indem sie die Wände strichen, die Wohnungen tapezierten und die Zimmer insgesamt sauber hielten. Von diesem Gedanken inspiriert, entwickelten und patentierten die Architekten der Wohnanlage in Lambeth, Cubitt & Co. eine Müllentsorgungsanlage mit einem Schacht, der durch die Mitte eines jeden Blocks führte und den Müll aufnahm, der unten in einem Müllkasten aufgefangen wurde. Eine solche Anlage sei zur Gesundheitsfürsorge notwendig, hieß es in The Circle, besonders »in Anbetracht der vielen Menschen, die in den Gebäuden wohnen würden«.

Damit ihr soziales Experiment erfolgreich war, wollten die Peabody Trustees sichergehen, dass nur »besonders geeignete Menschen der Arbeiterschicht« – sie sollten einerseits eine feste moralische Haltung haben und andererseits die Miete bezahlen können – als Mieter ausgewählt wurden. Das Auswahlverfahren war sehr streng. Haushaltsvorstände, die sich um eine Wohnung bewarben, mussten ein Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers beibringen zur Bestätigung, dass nicht nur ihre Stelle relativ gesichert war, sondern auch, »dass es in ihrem Auftreten nichts gab, was sie als Nutznießer des Projekts ausschließen würde«.5 Auf dieses Empfehlungsschreiben folgte ein Besuch der Trustees in der Wohnung des Antragstellers. Wer ein »gewohnheitsmäßiger Trinker« war oder mit dem Gesetz in Konflikt stand, wurde nicht aufgenommen. Auch diejenigen, deren Einkommen als zu hoch eingeschätzt wurde oder deren Familie zu groß für den Wohnraum war, schieden aus. Zu guter Letzt mussten die Mitglieder eines Haushalts nachweisen, dass sie gegen Pocken geimpft waren.

Bei ihrer Bewerbung 1876 erfüllte die Nichols-Familie alle Kriterien für eine Wohnung in den Peabody-Wohnungen der Stamford Street. Als die Trustees der Familie in der Trafalgar Street einen Besuch abstatteten, werden sie William, Polly und die drei Kinder frisch geschrubbt und in ihrem Sonntagsstaat vorgefunden haben, in geputzten und aufgeräumten Zimmern. Es gab keine Hinweise auf fehlende Moral oder Trunksucht, und Williams Arbeitgeber, die Druckerei William Clowes & Sons, deren Betrieb gegenüber der Siedlung in der Stamford Street lag, stellte ihm ein Führungszeugnis als fleißiger Familienvater aus. Da der Trust bestrebt war, Wohnungen für Arbeiter in der Nähe ihrer Arbeitsstelle bereitzustellen, hatte die Druckerei ihre Angestellten womöglich auf das Peabody-Projekt aufmerksam gemacht. Als William Nichols für ein Gehalt von 30 Shilling pro Woche für den Betrieb zu arbeiten begann, war William Clowes & Sons ein gewaltiges Unternehmen. Die Setzerei in der Duke Street bestand aus sechs Räumen, in denen 25 dampfbetriebene Druckmaschinen standen. Hier arbeitete Nichols. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte die Firma eine Belegschaft von 600 Arbeitern und druckte einige der wichtigsten Bücher ihrer Zeit, darunter auch die von Charles Dickens, der bis zu seinem Tod 1870 in den Räumen der Duke Street seine Fahnen korrigierte. Die Belegschaft und die Firmenleitung waren gleichermaßen stolz auf ihren Ruf als vertrauenswürdiges und achtbares Unternehmen. Und die Setzer bestanden bis Ende des 19. Jahrhunderts darauf, bei der Arbeit Zylinder und gestärkte Kragen zu tragen.

Nachdem sie bisher in minderwertigen Wohnhäusern gelebt hatten, müssen Polly und ihre Familie bei der Aussicht auf saubere und moderne Wohnbedingungen in der Stamford Street glücklich gewesen sein. Einen ordentlichen Herd zu haben, eine funktionierende Innentoilette und einen Trockenboden, wo die Wäsche nicht rußig wurde und nach Kohlerauch roch, muss ihnen wie ein Luxus vorgekommen sein. Die Kinder bekämen ein eigenes Kinderzimmer, und die Eltern hätten endlich Platz für sich. So wie der Peabody Trust es sich vorstellte, würde William nur wenige Minuten von seiner Arbeitsstelle entfernt wohnen und könnte zum Mittagessen nach Hause kommen. Arbeit, Gemeinschaft und Familie, Gesundheit, Fleiß und Moral würden zu einem Ganzen verschmelzen, gerade so wie von den Sozialreformern der Zeit beabsichtigt.

Am 31. Juli 1876 zog die Familie Nichols im zweiten Stock von Block D in die Wohnung Nummer 3 ein. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde Polly nicht mit ihrem Vater zusammenleben. Edward Walker war zu seinem Sohn und dessen Familie in die nahegelegene Guildford Street gezogen. In der neuen Wohnung – vier Zimmer und reichlich Platz – würden allein Polly und ihre Familie wohnen.

Für eine Miete von 6 Shilling und 8 Pence in der Woche hatten sie eine völlig neue Wohnsituation. Anders als in den Slumwohnungen mit privaten Vermietern gab es hier Regeln zu Sauberkeit und Ordnung, die von den Hausmeistern in der Stamford Street überwacht wurden. Die Mieter hatten dafür zu sorgen, dass die gemeinschaftlich benutzten Teile des Gebäudes gereinigt wurden. Flure, Treppen und Aborte mussten jeden Tag vor 10 Uhr gekehrt und am Sonntag feucht gewischt werden. Die Kinder durften im Hof spielen, aber es war verboten, in den Treppenhäusern und Fluren zu lärmen oder in den Waschküchen Unfug anzustellen. Mieter durften weder ihre Wohnungen untervermieten und noch Gewerbebetriebe darin einrichten. Frauen war es verboten, für einen kleinen Nebenverdienst Wäsche anzunehmen und in den Becken und Kesseln des Waschraums zu waschen. Sollten Mieter die Regeln missachten, würden sie »auf die Straße gesetzt«.6

Doch offenbar wurden die Regeln nicht immer so streng angewandt. Ein Reporter, der die Anlage in der Stamford Street besuchte, traf Kinder beim »Versteckspielen in den Fluren« an. Ihm fiel auf, dass sie fröhlich waren und »ärmlich, aber sauber gekleidet, und dass ihre Haare gekämmt waren«. Der Hausmeister erklärte dem Reporter, die meisten Familien, die neu in die Anlage einzogen, brächten zwar schlechte Angewohnheiten aus den Slums mit, begriffen aber schnell, dass schmutzige Fensterscheiben und barfüßige Kinder die Missbilligung ihrer Peabody-Nachbarn hervorriefen. »Auch die Armen wollen so gut wie ihre Nachbarn sein«, sagte er. Einem anderen Besucher fielen »Blumen in den Fenstern und glückliche Gesichter, die herausblickten«, auf. Er sah weder »streitende oder miteinander kämpfende Kinder … noch betrunkene Frauen oder zermürbt wirkende Männer«.7 Der Hausmeister erklärte, das nächste Wirtshaus läge in einiger Entfernung, weshalb die Frauen eher zu Hause blieben. »Die meisten Ehemänner«, sagte er, »seien froh, dass ihre Ehefrauen die Zeit nicht mit Klatsch und Tratsch zubrachten«, nachdem sie ein paar Gläschen Bier getrunken hatten, sondern »sich um die Kinder kümmerten und die Wohnung sauberhielten«.8

Aber natürlich gab es Klatsch, und die Regeln wurden gelegentlich durchbrochen, auch war das Leben der Peabody-Mieter nicht mehr oder minder kompliziert als das der Bewohner in den Mietblocks gegenüber der Anlage. Die Nachbarn der Familie Nichols in Block D kamen aus verschiedenen Berufen und Lebensumständen zusammen. Es lebten dort Gepäckträger von der Eisenbahn, Packer, Polizisten, Witwen, Tagelöhner, Lagerarbeiter, Putzfrauen, Schreiner und viele, die bei der Druckerei William Clowes & Sons arbeiteten. Die drei Kinder von Cornealus Ring in Nummer 2 und die Nichols-Kinder waren vermutlich Spielkameraden. Nachdem Rings Frau bei der Geburt des jüngsten Kindes gestorben war, kümmerte sich seine Schwester um die Familie und den drei Monate alten Säugling. In der Nummer 9 wuchs die Familie von William Hatches stetig weiter. Mit sechs Kindern hatte sie die Grenze dessen erreicht, was in den Peabody Buildings erlaubt war, aber offenbar hatte Williams Bruder Arthur, der Junggeselle war und in der Nummer 8 wohnte, ein paar der Kinder bei sich aufgenommen. Polly und die anderen Mütter in dem Block hatten sicherlich ein Auge auf die Witwen in ihrem Block: Anne Freeman in Nummer 7, Emona Blower mit ihren zwei Kindern in Nummer 4, und Eliza Merritt in der Nr. 1, die (was ihren Nachbarn sicherlich nicht bekannt war) eine Rente von 65 Pfund im Jahr bekam. 9

In dieser eng verwobenen Gemeinschaft,