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Furiose Unterhaltung für Fans von »One of Us Is Lying« - demnächst auch als Netflix-Film mit Millie Bobby Brown (»Stranger Things«) Meine Hände schwitzen. Ich kralle die Finger zusammen – Gott, wie lang geht das jetzt? Zwei Minuten? Fünf? Die Zeit verhält sich seltsam, wenn du auf dem Boden liegst und ein Typ mit einer Knarre vor deinem Gesicht herumfuchtelt. Rebecca, Samantha, Haley, Katie, Ashley – Nora musste schon viele Mädchen sein. Denn sie ist die Tochter einer Trickbetrügerin, die mit ihrer Hilfe kriminelle Saubermänner ausnimmt. Mit zwölf gelingt Nora die Flucht aus diesem Leben. Doch fünf »normale« Jahre später holt die Vergangenheit sie ein, als sie mit ihren besten Freunden Wes (ihr Ex) und Iris (ihre neue Liebe) in einen Banküberfall gerät. Die brutalen Gangster erwarten keinen Widerstand. Nichts hat sie auf Nora vorbereitet – oder auf die Tricks, die sie und ihre Alter Egos auf Lager haben. Ein raffiniertes Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Diese Story hat viele Facetten: ein hochspannender Thriller zum Mitfiebern. Eine atemlose Escape-Story, die ständig Haken schlägt. Und ein vielschichtiger Coming-of-Age-Roman mit einer faszinierenden, coolen Protagonistin. »Ein fesselnder, explosiver und überzeugender Thriller.« Kirkus Reviews, Sternchenrezension
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Tess Sharpe
The Girls I’ve Been
Aus dem Englischen von Beate Schäfer
Du denkst du kennst mich? Falsch gedacht!
Rebecca, Samantha, Haley, Katie, Ashley – Nora musste schon viele Mädchen sein. Denn sie ist die Tochter einer Trickbetrügerin, die mit ihrer Hilfe angebliche Saubermänner ausnimmt. Mit zwölf gelingt Nora die Flucht aus diesem Leben. Doch fünf »normale« Jahre später holt die Vergangenheit sie ein, als sie mit ihren besten Freunden Wes (ihr Ex) und Iris (ihre neue Liebe) in einen Banküberfall gerät. Die brutalen Gangster erwarten keinen Widerstand. Nichts hat sie auf Nora vorbereitet – oder auf die Tricks, die sie durch ihre Vergangenheit auf Lager hat. Ein raffiniertes Katz-und-Maus-Spiel beginnt.
Ein Ausnahme-Thriller: vielschichtig, atemlos, cool
Wohin soll es gehen?
Buch lesen
Viten
Für die Mädchen, die mich gerettet haben:Elizabeth May, Franny Gaede und Mercedes Marks.In aller Liebe:– T/N
Erster Teil
Wahrheit ist eine Waffe
(Die ersten 87 Minuten)
1
8. August, 9.09 Uhr
Es würde bloß zwanzig Minuten dauern.
Das sagte ich mir beim Aufwachen an diesem Morgen. Zwanzig Minuten, mehr nicht. Wir würden uns auf dem Parkplatz der Bank treffen, reingehen und das Geld einzahlen, alles wäre unangenehm, furchtbar unangenehm, aber in zwanzig Minuten wären wir durch, allerhöchstens.
Zwanzig Minuten mit meinem Ex-Freund und meiner neuen Freundin, das war zu schaffen. Mit unbehaglichen Situationen kann ich umgehen. Echt, in so was bin ich Champion.
Ich habe sogar noch Donuts gekauft, weil ich dachte, das sorgt vielleicht für bessere Stimmung nach dem Fummel-Interruptus von gestern Abend, wobei die Formulierung das, was passiert ist, natürlich herunterspielt. Ofenfrische Donuts können nicht alles wiedergutmachen, das ist klar. Trotzdem liebt jeder Donuts. Besonders die mit Zuckerstreuseln … oder mit Bacon. Am besten beides.
Ich besorge also Donuts – und Kaffee, denn ohne ihre Dosis Koffein am Morgen wird Iris zum Grizzlybär – und verspäte mich dadurch natürlich. Als ich auf den Parkplatz einbiege, sind die beiden schon da.
Wes ist aus seinem Truck gestiegen und lehnt groß und blond an der zerbeulten Heckklappe, der Bankumschlag mit dem Bargeld von gestern liegt neben ihm auf der Klappe. Iris lümmelt auf der Motorhaube ihres Volvos, sie trägt ihr Wasserfarbenkleid, und ihre Locken schwingen, während sie mit dem Feuerzeug spielt, das sie bei den Bahngleisen gefunden hat. Ihre perfekten Retro-Wellen werden eines Tages noch in Flammen aufgehen, das schwöre ich.
Als ich aus dem Auto steige, sagt Wes als Erstes: »Du bist zu spät.«
»Ich hab Donuts dabei.« Ich gebe Iris ihren Kaffee und sie springt von der Motorhaube.
»Danke.«
»Können wir das einfach hinter uns bringen?«, fragt er ohne das geringste Interesse an den Donuts. Mir wird flau. Sind wir wirklich wieder da angekommen? Nach allem, was war?
Ich presse die Lippen aufeinander und verberge meinen Ärger, so gut es geht. »Okay.« Die Schachtel stelle ich zurück ins Auto. »Dann mal los.« Ich schnappe mir den Umschlag von der Heckklappe.
Die Bank hat eben erst aufgemacht, daher sind nur zwei Leute vor uns. Iris füllt den Einzahlungsbeleg aus und ich stelle mich schon an, Wes steht direkt hinter mir.
Die Schlange rückt ein Stück vor, während Iris mit dem Schein kommt, mir den Umschlag wegnimmt und beides in ihrer Handtasche verstaut. Erst beäugt sie Wes, dann mich.
Ich beiße mir auf die Lippe. Nur noch ein paar Minuten.
Iris seufzt. »Hör mal«, sagt sie zu Wes und stemmt die Hände in die Hüften. »Ich versteh ja, dass die Art, wie du’s erfahren hast, nicht so toll war. Aber –«
In dem Moment wird Iris unterbrochen.
Aber nicht von Wes.
Nein, es ist der Typ vor uns, der sie unterbricht. Denn was macht er? Er entscheidet sich, ausgerechnet in dem Moment eine Waffe zu ziehen und die verdammte Bank zu überfallen.
Das Erste, was ich denke, ist: Scheiße! Das Zweite, was ich denke, ist: Runter auf den Boden. Und das Dritte ist: Wir werden alle sterben, bloß weil ich auf die Bacon-Donuts gewartet habe.
2
9.12 Uhr (15 Sekunden in Gefangenschaft)
Der Bankräuber – ein Weißer, etwa eins achtzig, braune Jacke, schwarzes T-Shirt, rote Basecap, blasse Augen und Brauen – brüllt: »ALLEAUFDENBODEN!«, typisch Bankräuber eben. Wir werfen uns hin. Als wären alle hier in der Bank Marionetten und er hätte unsere Schnüre gekappt.
Ein kantiger Klumpen Angst drückt mir auf den Bauch, die Brust, die Kehle, eine Sekunde lang bekomme ich kaum Luft. Er brennt und presst sich in mein weiches Inneres, ich will husten, habe aber Angst, dass ich damit seine Aufmerksamkeit auf mich ziehe.
Das darfst du auf keinen Fall. Ich weiß das, weil ich nicht zum ersten Mal in dieser Lage bin. Einen Banküberfall habe ich zwar noch nie erlebt, aber manchmal habe ich das Gefühl, vom ersten Atemzug an immer in der Schusslinie gestanden zu haben.
Wenn jemand eine Knarre auf dich richtet, ist das nicht wie im Film. In den ersten Sekunden gibt es keinen Mut und keine Tapferkeit. Du hast einfach Angst, Angst bis in die Knochen, du machst dir wirklich fast in die Hosen vor Angst. Iris’ Arm drückt gegen meinen, ich spüre, wie sie zittert. Zu gern würde ich ihre Hand nehmen, kann mich aber gerade noch zurückhalten. Was, wenn der Typ denkt, ich würde nach einer Waffe greifen? Hier in Clear Creak rennt jeder Depp bewaffnet herum. Das kann ich nicht riskieren.
Wes auf der anderen Seite von mir hat alle Muskeln angespannt, und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, warum. Er macht sich bereit, auf den Bankräuber loszugehen – so ist er, mein Ex. Wes handelt instinktiv und heldenhaft, und in kniffligen Situationen hat er ein absolut mieses Urteilsvermögen.
Jetzt bewege ich mich doch. Ich muss, sonst lässt sich Wes noch abknallen. Ich packe ihn am Oberschenkel und grabe meine Fingernägel tief in seine Haut, direkt unter dem Saum seiner Shorts. Er reißt den Kopf zu mir herum, und ich funkle ihn an, mit einem Untersteh-dich-Blick. Dann schüttele ich ein Mal den Kopf und starre ihm weiter ins Gesicht. An der Art, wie er die Augenbrauen hebt, kann ich schon fast sein Aber Nora ablesen, doch dann sackt er in sich zusammen und gibt sich geschlagen.
Okay. Okay. Atme. Konzentrier dich.
Der Bankräuber. Er brüllt die Kassiererin an. Die Kassiererin – Ist da nur eine? Wieso bloß eine? – ist eine mittelalte blonde Frau mit einer Brille um den Hals, die an einer Kette aus blauen Glassteinen baumelt. Mein Hirn gibt Vollgas und registriert alles Mögliche, als könnte ich es später noch mal brauchen.
Der Kerl schreit rum, es geht um den Bankmanager. Es ist schwer zu verstehen, was er sagt, denn die Kassiererin hat jetzt einen Heulanfall mit lauten Schluchzern. Sie scheint nur noch aus zitternden Händen und roten Wangen zu bestehen, also gibt es keine Chance, dass sie den stillen Alarm ausgelöst hat, höchstens aus Versehen. Mit der Schusswaffe vorm Gesicht ist sie voll im Panikmodus.
Kann ihr keiner vorwerfen. Wie du reagierst, weißt du erst, wenn die Waffe auf dich gerichtet ist.
Niemand von uns dreien ist ohnmächtig geworden, also sind wir wohl okay. Fürs Erste. Das ist immerhin was.
Aber wenn es darum geht, die Lage zu retten, fällt die Kassierin aus. Und ohne Alarm kommt kein Sheriff. Ich schaue so weit nach links, wie ich es hinkriege, ohne den Kopf zu sehr zu drehen. Gibt es eine zweite Kassiererin, die sich versteckt hat? Wo ist der Typ von der Security? Haben die hier in der Filiale überhaupt einen?
Hinter mir Schritte. Meine Muskeln verkrampfen sich, Iris keucht leise. Ich drücke meinen Arm fester an ihren und wünsche mir, ich könnte sie durch die Haut mit Ermutigung fluten. Aber wenn eine Schusswaffe im Spiel ist, gibt es nicht viel Ermutigendes.
Moment mal. Schritte, schnelle Schritte. Als sie auf meiner Höhe sind, blicke ich so weit hoch, dass ich die abgesägte Schrotflinte in den Händen des Kerls sehe. Ein langsamer Ruck läuft durch meine Brust, in mir nur noch Grauen und wogende Übelkeit. Nicht nur einer. Es sind zwei.
Zwei Bankräuber. Beide weiß. Saubere Jeans, schwere Stiefel. Schwarze T-Shirts, keine Logos.
Ich schlucke knackend, meine Mund ist trocken wie die Wüste, mein Herz steppt im Rhythmus von Wir sterben! Verdammte Scheiße, wir sterben!
Meine Hände schwitzen. Ich kralle die Finger zusammen – Gott, wie lang geht das jetzt? Zwei Minuten? Fünf? Die Zeit verhält sich seltsam, wenn du auf dem Boden liegst und ein Typ mit einer Knarre vor deinem Gesicht herumfuchtelt – und zum ersten Mal denke ich an Lee.
Oh nein, Lee.
Ich kann mich unmöglich erschießen lassen. Meine Schwester bringt mich um. Aber vorher macht sie sich zur Lebensaufgabe, denjenigen zu erwischen, der mich getötet hat. Lee ist beängstigend, wenn sie eine Mission hat. Das weiß ich aus Erfahrung, denn als ich zwölf war, hat mich Lee von unserer Mom weggeholt, mit einem groß angelegten Täuschungsmanöver, das nicht mal die Queen des Betrugs kommen sah. Jetzt sitzt sie im Gefängnis … nicht Lee, sondern Mom.
Und ich habe geholfen, sie festzusetzen.
Ich darf mich nicht von meiner Angst leiten lassen. Ich muss ruhig bleiben und einen Ausweg finden. Es gibt ein Problem. Bearbeite das Problem, damit du es lösen kannst.
Wer war außer der Kassiererin noch in der Bank, als wir reingekommen sind? Ich gehe in Gedanken zurück. Vorne in der Schlange ist eine Frau gewesen. Der mit der roten Basecap hat sie zur Seite gestoßen und dann losgebrüllt. Jetzt liegt sie links neben mir auf dem Boden, ihre Tasche ist ein Stück weggerutscht. Der mit der grauen Cap ist erst nach uns reingekommen. Er muss vorne im Eingangsbereich gewartet haben.
Mein Magen macht einen Salto, als mir einfällt, dass da noch jemand war – ein Kind. Ich kann den Kopf nicht weit genug drehen, um zu erkennen, wo das Mädchen jetzt ist, aber ich habe sie beim Reinkommen kurz angeschaut.
Sie ist zehn, vielleicht auch elf. Gehört sie zu der Frau ganz vorne? Muss wohl so sein.
Doch die Frau liegt genau in meiner Blicklinie, und sie hat nicht mal kurz zu den Stühlen rübergesehen, wo das Mädchen vorhin war.
Okay. Fünf Erwachsene oder Fast-Erwachsene. Ein Kind. Zwei Bankräuber. Mindestens zwei Schusswaffen, vielleicht mehr.
Keine guten Zahlen.
»Wir wollen ins Untergeschoss.« Der mit der roten Basecap drückt seine Pistole ins Gesicht der Kassiererin, was aber nichts nützt. Sie gerät nur noch mehr in Panik, und wenn er so weitermacht …
»Hör auf zu brüllen.«
Es ist das erste Mal, dass der mit der grauen Cap den Mund aufmacht. Seine Stimme wirkt harsch, aber nicht weil er sie verstellt, anscheinend ist sie einfach so. Als hätten lange Lebensjahre ihr jeden Klang genommen, übrig ist nur noch eine Art Stimmenattrappe. Der Rote zieht sich sofort zurück.
»Kümmer dich um die Kameras«, befiehlt der Graue. Und der andere wuselt durch die Banklobby hinter die Schalter, wo er die Leitungen der Überwachungskameras durchtrennt, dann stellt er sich wieder neben den mit der grauen Cap.
Iris stößt mich an. Sie beobachtet die beiden genauso intensiv wie ich. Ich stoße zurück, um sie wissen zu lassen, dass ich es auch bemerkt habe.
Redcap mag den ersten Schritt gemacht haben, aber Graycap hat ganz klar das Sagen.
»Wo ist Frayn?«, fragt der Graue.
»Noch nicht da«, antwortet die Kassiererin.
»Die lügt doch«, höhnt Redcap, fährt sich dabei aber mit der Zunge über die Lippen. Der Gedanke macht ihn fertig.
Wer ist Frayn?
»Geh und guck nach«, bestimmt Graycap.
Die Schuhe des anderen bewegen sich an uns vorbei und er verschwindet aus der Lobby.
Ich nutze den Moment und drehe, sobald er außer Sichtweite ist und der Graue sich auf die Kassiererin konzentriert, den Kopf nach rechts. Das Mädchen liegt unter einem Tischchen in der Mitte des Wartebereichs und zittert so sehr, dass ich das sogar von hier aus erkennen kann.
»Das Kind«, flüstert Wes. Auch sein Blick liegt auf der Kleinen.
Ich weiß, mache ich. Wenn sie nur mal herschauen würde, dann könnte ich ihr eine Art aufmunternden Blick rüberschicken, doch sie presst ihr Gesicht fest in den scheußlichen braunen Teppichboden.
Schritte. Meine Angst vertieft sich, als der mit der roten Cap zurückkommt. »Sein Büro ist abgeschlossen.«
Vor Panik klingt seine Stimme ganz rau.
»Wo ist Frayn?«, fordert der Graue wieder.
»Er kommt später!«, quiekt die Kassiererin. »Er musste erst noch Judy abholen, die zweite Kassiererin. Ihr Auto ist nicht angesprungen. Er ist zu spät.«
Irgendwas läuft hier falsch. Was auch immer die zwei geplant haben, der erste Schritt ist verbockt. Und wenn Leute etwas verbocken, machen sie meiner Erfahrung nach eins von zwei Dingen. Entweder sie hauen ab oder sie legen sich noch mehr ins Zeug.
Für den Bruchteil einer Sekunde bilde ich mir ein, sie würden vielleicht abhauen und wir kämen mit Albträumen davon und einer Story, die uns bis an unser Lebensende Stoff für Partygespräche gäbe. Aber im nächsten Moment wird diese Hoffnung restlos zertrümmert.
Wie in Zeitlupe schwingen die Banktüren auf, und der Wachmann, an den ich vorhin dachte, schlendert herein, mit Kaffeebechern in den Händen.
Er hat keine Chance. Der Typ in Rot – impulsiv, zittrig und nervös, wie er ist – schießt schon, bevor der Wachmann den Kaffee fallen lassen und nach seinem Elektro-Schlagstock greifen kann.
Die Becher stürzen zu Boden. Dann auch der Wachmann. Auf seiner Schulter Blut, ein kleiner Fleck, der schnell immer größer wird.
Jetzt passiert alles in rasender Geschwindigkeit, wie bei einem Daumenkino. Denn jetzt wird es real. Bevor der Abzug gedrückt ist, gibt es noch eine hauchfeine Chance, dass es halbwegs okay ausgehen kann.
Aber danach? Wohl kaum.
Als der Wachmann nach vorne kippt, kreischt jemand auf – die Kassiererin. Wes wirft sich auf Iris und mich, um uns zu schützen, und wir kauern uns eng zusammen, zu einem einzigen Durcheinander aus Beinen und Armen und Angst und verletzten Gefühlen. Gefühlen, die wir, so wie die Dinge liegen, wirklich beiseiteschieben sollten … Und ich?
Ich schnappe mein Handy. Kann gut sein, dass ich keine zweite Chance kriege. Ich lasse es aus meiner Jeanstasche gleiten, als Graycap wild fluchend an unserem Knäuel vorbeiläuft, dem Wachmann seinen Stock entreißt und den Roten zusammenstaucht. Weil Wes auf meinem Arm liegt, kann ich mich schwer bewegen, trotzdem schaffe ich es, eine Nachricht an Lee einzutippen.
Olive. Fünf Buchstaben. Definitiv nichts, das ich gerne esse. Streng genommen Obst, genau wie Tomaten.
Und vielleicht unser Schlüssel zur Freiheit. Solange ich meine Schwester kenne, ist das immer unser Notfallcode gewesen. Wir sind Mädchen, die sich auf Stürme vorbereiten.
Lee wird kommen. Meine Schwester kommt immer.
Und sie bringt Verstärkung mit.
3
Telefontranskript eines Gesprächs zwischen Lee Ann O’Malley und Deputy Jessica Reynolds
8. August, 9.18 Uhr
Deputy Reynolds: Hier Reynolds.
O’Malley: Jess, hier ist Lee. Kannst du nachsehen, ob bei der Bank ein stiller Alarm ausgelöst worden ist? Die Filiale in der Miller Street, wo früher der Donut-Laden war, der letztes Jahr umgezogen ist?
Deputy Reynolds: Geht’s um einen Job? Was ist los?
O’Malley: Kein Job. Nora hat mir einen Notfallcode geschickt.
Deputy Reynolds: Ihr habt einen Notfallcode?
O’Malley: Sie ist ein Teenie. Natürlich haben wir einen. Sie hat gesagt, bevor sie ins Büro kommt, will sie noch schnell das Geld einzahlen, das die Kids gestern Abend eingenommen haben. Ich hab ihr Handy getrackt, sie ist noch in der Bank.
Deputy Reynolds: Im Funk hat vorhin jemand die Bank erwähnt, aber Alarm gab es keinen. Moment, ich schau nach … Da ist es. Der Bankmanager hatte auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall. Die haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Meinst du, Nora führt dich an der Nase rum?
O’Malley: Das würde sie nicht tun. Ich mach mich auf den Weg.
Deputy Reynolds: Wir treffen uns dort. Geh nicht rein, bevor ich da bin, okay?
[Stille]
Deputy Reynolds: Okay?
[Ende des Gesprächs]
4
9.19 Uhr (7 Minuten in Gefangenschaft)
Graycap und Redcap streiten sich. Der Rote flippt aus, als der Wachmann auf dem Rücken liegt und den Teppich vollblutet. Zum Glück ging der Schuss nur in den Arm. Wahrscheinlich kommt der Mann durch. Fürs Erste. Aber jemand muss die Wunde abdrücken und die beiden kümmern sich nicht um ihn.
»Ich hab doch gleich gesagt, die Idee ist beschissen. Du hast versprochen, dass keinem was passiert. Dass wir einfach nur Frayn nach unten schaffen müssen und ihn dazu bringen, uns dieses –«
»Schnauze«, knurrt Graycap mit einem Seitenblick auf uns.
Ich lasse den Kopf unten, achte aber auf jedes Wort.
Garantiert reden sie über die Schließfächer. Die befinden sich nämlich im Untergeschoss. Die Dinger sind eine Goldgrube an Geheimnissen. Die Leute stopfen dort alles mögliche Zeug rein, von dem keiner was wissen soll. Aber wenn der Bankmanager der Einzige ist, der Zugang zum Untergeschoss mit den Schließfächern hat …
Darum brauchen sie ihn. Und wenn er nicht da ist?
Fliegt ihr ganzer Plan in die Luft.
Kein Wunder, dass sie in Panik sind und rumballern. Jemand könnte den Schuss gehört haben, aber außer der Bank haben alle Läden dichtgemacht, die es hier mal gab. Doch auch wenn niemand was mitgekriegt hat … meine Nachricht an Lee ist durchgegangen. Sie wird jeden Moment hier sein und mit dem geballten Zorn von O’Malley Private Investigations auf diese Kerle niederfahren. Wahrscheinlich spannt sie auch die Truppe vom Sheriff mit ein. Die haben nicht besonders viel drauf, aber Waffen haben sie schon.
Wobei mehr Waffen nicht in jeder Situation gut sind. Meistens machen sie es nur schlimmer. Und die Bullen machen am Ende immer alles schlimmer. Aber was soll’s, das Risiko musste ich eingehen, als ich Lee Bescheid gesagt habe.
»Sperr die Türen ab und behalt den Parkplatz im Auge«, befiehlt der Graue. Der Rote läuft gleich los und tut, was er soll, anscheinend ist er froh, eine Aufgabe zu haben.
Er ist hier eindeutig die Schwachstelle. Die Zielperson, wenn ich eine brauche. Mein Hirn hüpft wie ein flacher Stein über einen stillen Teich, auf der Suche nach einem Plan.
»Du«, blafft der Graue. Wes erstarrt. Seine Brust liegt halb auf meinem Gesicht, und als ich die Anspannung in seinen Muskeln spüre, begreife ich, dass Graycap ihn meinen muss. »Du hast Kraft. Schaff ihn von den Fenstern weg.«
Wes wirft mir einen Blick zu, bevor er aufsteht, ein sekundenkurzer Augenkontakt, der mir signalisiert, ich soll mir keine Sorgen machen.
Was mich natürlich fast durchdrehen lässt. Was zur Hölle hat er vor? Er soll einfach bloß tun, was der Typ ihm sagt.
Während sich Wes dem Wachmann nähert, richtet der Graue die Waffe und seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn, was mir eine Gänsehaut macht. Meine Hand windet sich in der von Iris, und sie drückt zurück, will mir Mut machen, auch wenn es nicht das Geringste gibt, was einen hier zuversichtlich stimmen könnte.
Wes beugt sich vor und zögert, offenbar überlegt er, wie er den Wachmann bewegen kann, ohne ihm noch mehr wehzutun. Dann hievt er ihn mit einer einzigen Bewegung ein Stück hoch. Wes ist groß und kräftig, was ihm manchmal hilft, aber in dieser Situation macht es ihn zur größten Bedrohung für die beiden Männer. Meine Zähne graben sich in meine Unterlippe, als er sich umdreht und den Grauen ansieht.
»Wohin soll ich ihn bringen?«
»Da rüber.« Der Mann deutet mit der Waffe zum Wartebereich, wo sich das Mädchen immer noch unter dem kleinen Tisch versteckt hält.
Mir wird ganz schlecht, denn Wes zögert. Der Graue richtet seine Knarre so schnell zurück auf ihn, dass Iris neben mir keuchend nach Luft schnappt.
»War das nicht klar genug?«, fragt er und da höre ich sie. Die Wut in seiner Stimme. Darauf habe ich gewartet. Vorher war ich auf Messers Schneide vor lauter Anspannung, jetzt weiß ich, was ich wissen muss.
Nichts ist so schlimm wie ein wütender Mann mit einer Waffe. Das habe ich früh gelernt.
»Tut mir leid, Mann, das wird wehtun.« Wes packt ihn, sein Gesicht verzieht sich, als der Wachmann einen dumpfen Schrei ausstößt, voller Schmerz und Angst. Wes geht so vorsichtig mit ihm um, wie er nur kann – ich sehe, wie sehr er sich bemüht. Wes ist immer vorsichtig. Trotzdem rinnt noch mehr Blut über den Arm des Mannes, als Wes ihn ein ganzes Stück weg von den Glastüren im Wartebereich hinlegt.
Der Graue schnappt sich einen schweren Pfosten, an dem ein Werbeschild für Hypothekenkredite befestigt ist, reißt den Teil mit dem Schild ab und schiebt den Metallpfahl zwischen die Griffe der Banktüren, was es schwer macht, rauszukommen und abzuhauen, und noch viel schwerer, die Türen von außen aufzukriegen.
In Sekundenschnelle wird alles immer schlimmer. Eine richtige Polizei gibt es hier in Clear Creak nicht; der Ort ist zu klein und zu weit ab vom Schuss. Wir haben nur den Sheriff und sein Team, aber zwei von seinen sechs Deputies sind in Teilzeit, und das nächste SWAT-Kommando sitzt in … Gott, ich weiß gar nicht, wo. Vielleicht Sacramento? Das sind Hunderte von Meilen durch die Berge.
»Ihr andern, schafft euch da rüber.« Der Graue zeigt zum Wartebereich, wo der Wachmann und das Kind sind. Wir gehorchen, auch die Kassiererin kommt jetzt zu uns und schaut mit immer noch tränenüberströmtem Gesicht auf den Wachmann. Erst als sich Iris ihre Strickjacke runterreißt und sie auf die Schulter des Mannes presst, schüttelt die Kassierin ihre Erstarrung ab, nickt Iris zitternd zu und macht für sie weiter.
»Wird alles gut, Hank«, beruhigt sie den Wachmann. Sein Mund verzieht sich vor Schmerz, während sie die Blutung zu stoppen versucht.
»Bist du okay?«, frage ich das kleine Mädchen. Ihre Augen sind groß und glasig. Sie nickt, ein schnelles, kurzes Rucken.
»Das wird schon wieder«, versichert ihr Wes.
»Klappe, ihr alle. Ich will sämtliche Handys, Taschen, Schlüssel und Brieftaschen, und zwar genau hier auf einem Haufen.« Der Graue zeigt mit der Waffe auf den kleinen Tisch im Wartebereich.
Ich lege mein Telefon und das Portemonnaie auf das Tischchen, Wes tut das Gleiche.
Iris stellt ihre Korbhandtasche vorsichtig neben unsere Sachen, dabei zittern die am Griff baumelnden roten Kirschen aus Bakelit. Im Hinsetzen wirft sie mir einen Blick zu, mit einem Schimmern in den Augen, und ich spüre ein Stechen im Bauch, als mir klar wird, was fehlt auf dem Tisch. Ihr silbernes Feuerzeug hat sie immer noch. Ich habe gesehen, wie sie es vorhin auf dem Parkplatz eingesteckt hat. Es muss noch da sein, verborgen zwischen den Falten ihres Vintage-Kleids. Es hat einen Tellerrock, unter dem Iris den zweitschrillsten Petticoat trägt, den sie besitzt, und das Kleid ist so gut geschnitten, dass das Täschchen zwischen den Stofffalten unmöglich zu erkennen ist.
Solche Kleider werden heute gar nicht mehr gemacht, Nora. Das hat sie bei unserer ersten Begegnung gesagt, während sie sich in dem roten Kleid mit den goldenen Wirbeln um die eigene Achse gedreht hat. Der Rock ist schwingend hochgeflogen, wie durch Zauber, eine tanzende Flamme vor einem Inferno, und ich habe mich so danach gesehnt, dass dieses Mädchen eine Rolle in meinem Leben spielt, dass mir die Luft weggeblieben ist.
Genau wie jetzt. Iris ist meine Gegenwart und meine Zukunft, und unsere einzige Waffe ist versteckt zwischen trügerischen Lagen von Baumwolle und Tüll. Sie denkt schon alles durch, den ganzen Weg bis in die Freiheit, und das ist der Funken Hoffnung, den ich brauche.
Ich nicke ihr ein winziges bisschen zu, damit sie weiß, dass ich verstanden habe. Einer ihrer Mundwinkel zuckt kurz hoch und ihr Grübchen blitzt auf, für den Bruchteil einer Sekunde.
Asset #1: Feuerzeug
5
Die Iris von allem
Ich bin Iris Moulton nicht gleich mit großem Knall verfallen, als hätte mich die Liebe wie ein Haufen Steine erwischt.
Nein, Iris selbst war der Steinhaufen und ich bin über sie gestolpert.
Letztes Jahr war ich am Wochenende kurz im Ort, irgendwelche Papiere für Lee holen, und habe nicht groß auf den Weg geachtet. Und ehe ich weiß, was los ist, schlage ich der Länge nach hin, Unterlagen fliegen durch die Gegend, und ich bin mit diesem Mädchen verknotet, einer Brünetten mit Sommersprossen, die aussieht wie auf dem Weg zu einem Hitchcock-Cosplay.
Es war die perfekte romantische Begegnung, nur dass du als Mädchen, das Mädchen mag, noch mal eine kleine Extra-Runde einlegen musst, denn was, wenn es bei ihr anders ist? Du suchst also nicht nach roten Flaggen wie andere Mädchen, wenn sie einen Typen kennenlernen – du suchst nach Regenbogenfahnen.
Ich dachte ja, wir zwei würden einfach Freundinnen werden. Und so war es auch, zuerst. Ich redete mir ein, mehr wäre eben nicht drin. Nach der Geschichte mit Wes … ich war mir absolut sicher, das ginge nicht. Zumindest so lange, bis mir eingefallen war, wie ich das Ganze auf eine Art erklären könnte, die nicht alles ruinierte. Und weil mir das einigermaßen unmöglich vorkam, stellte ich mich auf ein Leben in Keuschheit und Elend ein, für immer zum Versteckspielen verdammt.
Dann kam Iris, mit ihren schrillen Fünfzigerjahre-Sommerkleidern und ihrer Korbhandtasche in Froschform und mit einer Fixierung auf Feuer, die absolut unheimlich wäre, wenn ich nicht wüsste, dass sie mal Brandermittlerin werden will.
Es hat sich monatelang hingezogen. Sie hat eine subtile romantische Kriegsführung eingesetzt, langsam wie ein Slow-Roll beim Poker, und ich habe nichts gemerkt, bis ich mich eines Tages auf einem Date mit ihr wiederfand, ohne irgendetwas begriffen zu haben. Es war dieses typische Mr. Darcy / Elizabeth-Bennet-Ding: Das Ganze hat sich so allmählich angebahnt, dass ich kaum weiß, wann es anfing. Dabei war ich Darcy und sie Elizabeth, auch wenn ich einen furchtbaren Darcy abgebe, ich bin einfach nicht versnobt oder gravitätisch genug. Aber so ahnungslos wie Darcy war ich schon, denn der Abend war halb vorbei, bis mir dämmerte, dass das hier vielleicht doch so was wie ein Date war. Teilweise auch deshalb, weil ich mir die ganze Zeit einredete, es könnte ja auf gar keinen Fall eins sein.
Und ich war mir immer noch nicht hundertprozentig sicher, bis sie sich auf dem Heimweg, mitten auf einer leeren Kreuzung, zu mir umdrehte und stehen blieb. Sie schlang ihren Arm um meine Taille, ihre Hüfte berührte meine, als wäre das der einzig richtige Ort für sie, und ich spürte mit jeder Faser meines Wesens, dass dieses Mädchen zu mir gehörte.
Das Letzte, was ich sah, als ihre Lippen meine berührten, war das Licht des WALK-Zeichens in ihren Augen, und sie küsste mich, als wäre ich stachlig, als hätte sie schon verstanden, als wäre ich das wert.
Der Moment funkelte. Mir war vorher nicht klar gewesen, dass Funkeln auch etwas ist, das man spüren kann. Ich dachte, das sei nur so ein Pailetten-und-Glitzer-und-Edelstein-Ding, aber dann hat mich Iris Moulton geküsst und mir gezeigt, wie falsch ich lag. Auf einmal erschien überall da, wo in mir Dunkelheit gewesen war, ein einziges großes Funkeln.
Ich bin Iris Moulton nicht mit großem Knall verfallen, als hätte mich die Liebe wie ein Haufen Steine erwischt.
Ich bin ihr verfallen, als wäre ich ein Stern und sie das Ende der Welt. Ein kataklystischer Zusammenprall zweier Menschen, die danach nicht mehr dieselben waren und sich nie mehr hochrappeln würden.
Es sei denn, sie taten es gemeinsam.
6
9.24 Uhr (12 Minuten in Gefangenschaft)
1 Feuerzeug, kein Plan
»Was ist das?«
Der mit der grauen Cap zieht den Bankumschlag aus der Tasche von Iris. Er öffnet ihn, inspiziert das dicke Bündel Geldscheine und sieht Iris an.
»Geld, das wir fürs Tierheim eingenommen haben«, sage ich schnell. Seine Aufmerksamkeit wandert von Iris zu mir, und die Erleichterung darüber klopft von innen gegen meine Rippen wie dieser bescheuerte Bienen-Türklopfer, den Lee an unserer Eingangstür angebracht hat. »Wir hatten ein Fundraising-Event. Nehmen Sie das Geld. Sind fast dreitausend Dollar.«
Er lacht, auf eine Art, die ich ebenso gut kenne wie den Anblick einer Waffe. Ein grausames, herablassendes Lachen, das sich wie eine Schlange um mich winden und bewirken soll, dass ich mich noch kleiner fühle. Als würde der Anblick der Waffe nicht schon genügen.
Aber ich bin jetzt durch mit der Angst. Verschwunden ist sie nicht, aber sie bringt uns nicht weiter. Ich kann jetzt nur noch brauchen, was uns weiterbringt.
»Du bist in Spendierlaune, was?«
Je mehr er redet, desto mehr kriege ich heraus. Also muss ich dafür sorgen, dass er weiterredet. »Es ist das, was wir haben.«
Er wirft den offenen Umschlag auf den Tisch, die Scheine rutschen aufgefächert über die blanke Oberfläche. »Aber nicht das, was ich will.«
Dann schnappt er sich den Tisch und zerrt ihn – mit allen Handys – von uns weg.
Was will er? Das ist die Frage, um die es geht. Meine Mutter hat immer gesagt: Gib einem Menschen, was er will, und er frisst dir aus der Hand. Das gilt doppelt und dreifach für Bankräuber, deren Plan sich in Luft aufgelöst hat.
Sie wollen den Bankmanager. Sie können ihn nicht kriegen. Das heißt, sie brauchen das, was ihnen der Bankmanager gegeben hätte.
Zugang zu den Schließfächern.
Wie kann ich ihnen den verschaffen? Muss ich das überhaupt? Oder reicht es, wenn sie glauben, ich könnte das?
Ein Plan flattert in meinem Hirn herum wie ein Nachtfalter um ein Verandalicht, aber ich bin nicht sicher, wie die Einzelteile zusammenpassen. Ich brauche mehr. Mehr Infos. Mehr Anhaltspunkte. Mehr Zeit, um die Dynamik zwischen den beiden zu begreifen.
Doch ich bekomme nichts davon. Der mit der roten Cap stößt einen erschrockenen, nervösen Ton aus.
»Da kommt jemand«, ruft er von seinem Aussichtspunkt an der Tür. »Eine Frau.«
Pfeilschnell richtet sich der Graue auf die Tür aus.
Wir sieben sind wie ein einziger Körper, alle in der gleichen Anspannung, während das laute Gerüttel an der Tür durch die totenstille Bank dringt. Das Geräusch prallt als Echo von den Wänden ab und hört dann abrupt auf. Qualvolle Sekunden verstreichen.
»Die geht wieder zum Auto.«
»Pass auf, dass sie dich nicht sieht«, blafft der Graue.
Alle halten die Luft an, und genau in dem Moment, als sie wieder durchatmen wollen … Eine Rückkopplung jagt über den Parkplatz. Das ist in der Bank deutlich zu hören, noch bevor die vom Megafon verstärkte Stimme durch die Wände dröhnt:
»Ich rede mit dem in der Bank, der die Waffe hat. Ich heiße Lee. In ein paar Sekunden wird da drin bei Ihnen das Telefon klingeln. Das werde ich sein. Gehen Sie dran, dann finden wir vielleicht eine Lösung für das Problem, in das Sie sich reingeritten haben. Und wenn Sie nicht drangehen? Auch eine Möglichkeit. Aber ich glaube nicht, dass Sie die wollen.«
Sobald sie aufhört zu sprechen, beginne ich zu zählen.
Zehn. Neun. Acht.
Der Rote entfernt sich von der Tür und späht aus dem Fenster.
Sieben. Sechs. Fünf.
Der mit der grauen Cap dreht sich wieder zu uns um, zu dem verletzten Wachmann, der verängstigten Kassiererin, der älteren Frau, den drei Teenagern, die miteinander im Clinch liegen, und dem Kind.
Vier. Drei. Zwei.
Er hebt seine Waffe. Öffnet den Mund. Die Wut steigt in ihm hoch. Eine gefährliche Wut.
Eins.
Das Telefon hinter dem Schalter läutet.
Es geht los.
7
Die fragliche Schwester
Ich sollte an dieser Stelle mehr über meine Schwester sagen. Denn, ja, sie ist wirklich die Sorte Frau, die mit einem Megafon daherkommt. Auch eine Schrotflinte gehört zu ihrer Ausrüstung, geladen mit Beanbag-Geschossen statt normalen Patronenhülsen, und dazu eine verdammt harte Faust – sie fühlt sich an wie aus Blei, dabei haben wir beide immer nur zu Trainingszwecken miteinander gekämpft.
Lee ist fast zwanzig Jahre älter als ich und war weg, bevor ich zur Welt gekommen bin, sie hatte Mom schon ein paar Jahre vorher abserviert. Wir haben verschiedene Väter, teilen aber die gleichen verkorksten Trickbetrüger-Gene.
Als Lee ein kleines Kind war, hat Mom noch keine krummen Dinger gedreht. Lees Vater war ein normaler Mann, aber er ist früh gestorben. Auf die Art wurde Mom zur Betrügerin: Sie wollte den Lebensstil behalten, den sie gewohnt war.
Damals fiel alles ziemlich rapide in sich zusammen. Und die beiden stürzten aus verdammt großer Höhe, was den Aufprall noch schlimmer machte. Wie es war, als sie wieder nach oben stiegen, was Mom getan hat, um wieder hochzukommen … Sagen wir so, über diese Zeit redet Lee nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie nüchtern ist.
Ich frage mich, ob sie glaubt, ich würde sie verurteilen. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, wie sie so was denken könnte. Sie weiß schließlich, was ich tun musste, um zu überleben.
Wir sind als Mädchen beide zerbrochen und wurden Frauen mit grob überputzten Bruchkanten an Stellen, die eigentlich geschmeidig und glatt sein sollten.
Anders als Lee wurde ich schon hineingeboren in die Welt des Betrugs. Ich bin mit einer Lüge auf den Lippen ins Leben getreten und konnte von Anfang an lächeln und blenden, genau wie meine Mutter. Die Leute empfinden das als Charme. Dabei ist es nur ein Mittel zum Zweck. Jemandem ins Herz sehen zu können, im gleichen Moment darauf abzuzielen und genau das zu werden, was dieser Mensch begehrt? Das ist weder ein Talent noch ein Fluch. Es ist nur ein Werkzeug.
Ich habe nie eine Zeit erlebt, in der Mom nicht irgendwen im Visier hatte. Ich habe nie erfahren, wie es ist, einen Vater zu haben, der einen liebt, egal wie kurz. Und ich habe nie ein Leben jenseits von Lügen und Betrug gekannt.
Aber ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich Lee kennengelernt habe. Ich war sechs, und sie war … so stark. Wie sie sich bewegt hat, wie sie gekleidet war, wie sie Mom angesehen hat, als die ihr Ausreden auftischte, warum ich nicht zur Schule gehe …
Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der Mom dazu bringen konnte, den Mund zu halten. Sie war diejenige, die andere verzauberte und bannte.
Lee hatte es nicht nötig zu verzaubern. Sie kommandierte.
Nie in meinem Leben habe ich mich einer Person derart schnell verbunden gefühlt wie ihr. Ich habe sie nicht gleich geliebt. Dafür war ich schon zu misstrauisch. Aber ich habe etwas in ihr gesehen, das ich auch sein wollte, selbst wenn ich es zu der Zeit nicht hätte benennen können: Sie war frei.
Ich wusste damals nicht, dass sich, schon als sie ging, ein Plan in ihr formte. Die Vorstellung, dass mich Mom in den Fängen hatte, nagte an ihr. Und Lee ist jemand, der in solchen Fällen einfach zurücknagt. Sie brauchte ganze sechs Jahre, um den Plan vollständig auszuarbeiten. Aber wenn Lee eine Mission hat, ist sie so fokussiert, dass es einem Angst machen kann. Und ihre Mission war, mich von Mom wegzuholen.
Und jetzt? Jetzt ist ihre Mission, mich aus dieser Bank zu kriegen. Nur bin ich keine zwölf mehr und sie ist diesmal nicht alleine.
Sie hat mich.
8
9.28 Uhr (16 Minuten in Gefangenschaft)
1 Feuerzeug, kein Plan
Die Waffe hält Graycap ruhig, aber nicht seinen Blick. Der rast hin und her, von uns sieben zu dem klingelnden Telefon, dann zu seinem Kumpel bei der Tür. Er ist unschlüssig, bei wem er seine Wut abladen soll.
Ich erkenne den Moment, als es bei ihm klick macht. Er stellt auf die Kassiererin links von uns scharf, richtet seine Flinte auf sie. »Hast du den Alarm ausgelöst?«
Ich bin wie ein Nora-Schinken in einem Sandwich zwischen Iris und Wes eingequetscht, also spüre und höre ich nicht nur, dass Wes erstarrt und Iris die Luft wegbleibt, sondern absorbiere ihren Stress praktisch durch die Haut. Beide wissen, es kann nur einen Grund haben, wenn Lee da draußen ist: Ich habe den Alarm ausgelöst, zumindest metaphorisch gesprochen.
»Nein, nein, hab ich nicht!«, stammelt die Kassierin.
Der Graue macht noch ein paar Schritte auf uns zu, tritt in den kleinen Warteraum, in den wir uns drängen. Wir kommen nicht schnell genug von ihm weg, es gibt keinen Platz zum Verstecken.
»Ist die in einem Streifenwagen?«, fragt er den Roten, der sich weiter gegen die Wand drückt und durch einen schmalen Fensterspalt nach draußen späht.
Er schüttelt den Kopf. »Silberner Truck. Normale Klamotten.«
»Waffe?«
Einige. Aber die holt Lee nur raus, wenn sie muss.
»Seh keine.«
Graycap würde wahnsinnig gern auf irgendwen schießen. Ich sehe es in jedem Fältchen seines Gesichts. Diesen Blick kenne ich.
Das Telefon läutet weiter. Meine Schwester ist da draußen, zwischen uns eine Wand und wer weiß wie viele Meter. Wenn mir überhaupt irgendwas das Gefühl von Sicherheit gibt, ist das seit jeher Lee. Ich sehne sie so sehr herbei, als ob ich wieder ein kleines Mädchen wäre. So dringend wie in dieser einen Nacht, in der alles vor die Hunde gegangen ist.
Ich muss mir klarmachen, dass ich inzwischen älter bin, eine fast erwachsene Frau mit Shitkicker-Boots und fransigen Haaren. Alles, was mir jemals angetan worden ist, ist vernarbt und zu Stärke geworden. Ich hasse den Spruch Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Das ist Bullshit. Manchmal ist das, was dich nicht umbringt, viel schlimmer, und du wärst lieber tot. Was dich nicht umbringt, kann dich dermaßen ruinieren, dass es für immer ein Kampf bleibt, mit dem Rest von dir klarzukommen.
Mich hat das, was mich nicht umgebracht hat, jedenfalls nicht stärker gemacht, ich wurde dadurch nur zum Opfer.
Aber ich habe mich stärker gemacht. Ich selbst habe jemanden aus mir gemacht, der weiterlebt.
Na ja, ich und Lee und meine äußerst geduldige Therapeutin.
»Vielleicht sollten Sie drangehen?« Die Stimme der Kassiererin zittert, als sie diesen Vorschlag macht. »Die Polizei – die geben Ihnen doch bestimmt, was Sie wollen.« Ihre Worte zerfallen, als Graycap sich umdreht und sie anstarrt, die Flinte auf einmal ganz nah.
»Wie heißt du?«, fragt er.
»Olivia.«
»Ich sag das nur einmal«, erklärt er und beugt sich vor. »Das ganze Zeug, das die euch eingetrichtert haben, wie ihr euch bei einem Überfall verhalten sollt und so? Vergiss es, Herzchen. Ich kenn eure Spielregeln in- und auswendig, und die von der Polizei auch.«
»Bitte«, wimmert sie.
Ich bin sicher, er wird sie erschießen, so sicher, dass ich schon aufspringen will, aber da hört das Telefon auf zu klingeln. Die plötzliche Stille lässt für einen Moment alle erstarren.
Iris’ Schulter drückt gegen meine. Graycap reißt seinen Blick abrupt von der Kassierin los und wirbelt herum. Als er seinen Partner mit dem Telefonhörer in der Hand hinter dem Schalter stehen sieht, prescht er los und entreißt ihm das Telefon.
Für einen Sekundenbruchteil zögert er. Seine Finger schlingen sich um den Hörer, als ob der ein Hals wäre, den er zudrücken kann, und seine Schultern spannen sich an, als wollte er das Telefon auf die Theke donnern.
Doch dann lässt er die Schultern wieder sinken und hebt das Telefon ans Ohr, statt es zu zertrümmern.
»Sie haben zwanzig Sekunden.«
9
Telefontranskript, erstes Gespräch zwischen Lee Ann O’Malley und Geiselnehmer #1 (GN1)
8. August, 9.33 Uhr
GN1: Sie haben zwanzig Sekunden.
O’Malley: Dann legen wir los, vorgestellt habe ich mich ja schon. Wie heißen Sie?
GN1: Tut nichts zur Sache. Zehn Sekunden.
O’Malley: Was wollen Sie?
GN1: Ich habe sieben Geiseln. Ich will Theodore Frayn. Holen Sie ihn. Sofort. Oder ich fang an zu schießen.
[Anruf abgebrochen]
10
9.34 Uhr (22 Minuten in Gefangenschaft)
1 Feuerzeug, kein Plan
»Bring sie auf die Beine«, befiehlt Graycap, nachdem er mit dramatischer Geste aufgelegt hat, statt wirklich mit Lee zu sprechen. Er behauptet, die Spielregeln zu kennen, aber es sieht nicht danach aus. Er hat seine Karten einfach ausgespielt, sie Lee offen hingeworfen, ohne irgendwas zurückzuhalten.
»Los, aufstehen! Du, Junge – nimm den Wachmann.« Der mit der roten Cap richtet seine Pistole auf uns, und weil wir ja schon wissen, wie gerne er abdrückt, gehorchen wir auf der Stelle. Ich gehe rüber und helfe Wes mit dem Wachmann, gemeinsam schleifen wir ihn den Gang entlang, während uns der Rote in die hinteren Räume der Bank scheucht, wo die Büros sind.
»Kinder in den da«, bestimmt der Graue und zeigt auf den Raum links. »Erwachsene in den andern.« Er deutet auf das Büro gegenüber.
»Aber die Kinder –« Die Augen von Olivia, der Kassiererin, weiten sich, als sie uns ansieht.
»Keine Widerworte. Schafft ihn da rein«, sagt er zu Wes und mir.
Im Büro legen wir den Wachmann auf dem Teppich ab, dann packt Wes meine Hand und zieht mich in den Raum auf der anderen Seite des Gangs.
»Keine Angst, Kinder, alles wird gut«, ruft Olivia uns vieren hinterher, klingt dabei aber derart verängstigt, dass der Satz eher wie eine zittrige Frage herauskommt. Dann schließt der Graue die Tür hinter sich, sodass wir nichts weiter tun können, als uns von dem Roten in unser eigenes abgetrenntes Büro treiben zu lassen. Er reißt das Telefon vom Tisch und klemmt es sich unter den Arm.
Iris folgt seinen Bewegungen und schiebt sich hin und her, damit ihr Körper das kleine Mädchen verdeckt.
»Haltet still«, sagt der Rote. Er verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich, dann ist ein Scharren zu hören – er zerrt irgendwas davor, um sie zu blockieren.
Die Tür hat kein Schloss und ich versuche nicht, sie aufzudrücken. Noch nicht. Der Rote könnte noch draußen sein. Ich presse das Ohr dagegen und glaube ein Klacken zu hören, als die Tür gegenüber aufgeht, aber sicher bin ich nicht. Vielleicht sind sie beide draußen auf dem Gang, und wenn sie sehen, wie sich der Türknauf dreht …
Iris atmet zittrig aus. Das Mädchen unterdrückt einen Schluchzer. Die Augen von Wes sind dunkler, als ich sie jemals gesehen haben.
»Wir brauchen einen klaren Kopf«, sage ich – Worte, um die angstvolle Stille zu durchbrechen, die uns im Griff hat. »Wir dürfen nicht zerbröseln.« Das sage ich mehr zu mir selbst als zu den anderen, aber auf sie scheint es ähnlich zu wirken wie auf mich, jedenfalls atmen wir alle drei durch. Wir sind älter, wir müssen uns zusammenreißen, denn das Kind ist so verdammt klein und hat solche Angst. War ich auch noch so klein, als ich so furchtbare Angst hatte?
»Du hast recht«, sagt Iris lebhaft und drückt die Schultern durch, als würde sie eine Rüstung tragen und nicht Wasserfarbkleckse auf Baumwolle über Tüll.
Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und scanne den Raum. Keine Fenster. Keine weiteren Türen. Ein Schreibtisch.
»Ich lenk die Kleine ab«, brummelt Wes.
»Wir nehmen uns den Schreibtisch vor«, antwortet Iris.
Wes kauert sich neben das kleine Mädchen und redet leise mit ihr, während Iris und ich uns dem Tisch zuwenden. Das Telefon fällt weg, aber vielleicht ist in den Schubladen irgendwas anderes, das uns helfen kann.
»Such nach Waffen.« Ich laufe hin und Iris folgt mir, sie nimmt die Schubladen links, ich die rechten.
»Die haben die Kameras ruiniert«, sagt Iris leise. »Und schießen jetzt schon auf Leute, von denen sie sich bedroht fühlen.«
Ich halte beim Aufziehen der obersten Schublade inne. Sehe Haftzettel und Stifte, dazu einen Tacker, der sich zur Not als Keule verwenden ließe. Aber in dem Moment sind da nur ihre Worte.
»Ich weiß«, antworte ich genauso leise.
Sie streckt die Hand aus, greift nach meinem Handgelenk und drückt es kurz. Es ist keine Berührung, die signalisiert: Das wird schon alles gut, denn was sie gesagt hat, bedeutet das Gegenteil. Stattdessen sagt die Berührung: Ich bin hier, und das genügt. Es muss genügen. Mehr haben wir nicht. Sie lässt meine Hand los, wendet sich ihrer Schreibtischseite zu und durchwühlt die Schubladen.
»Alkohol«, meldet Iris und hält drei Miniaturflaschen mit billigem Wodka in die Höhe.
»Anzünder?«
»Gut möglich.« Sie verstaut sie in der Tasche ihres Kleids.
Asset #2: 3 Fläschchen Wodka
Ich beuge mich vor und reiße die zweite Schublade auf. Nichts als Unterlagen, aber ich wühle sie durch, für den Fall, dass zwischen den Papieren doch irgendwas versteckt ist. Ist es aber nicht.
»Eine Schere!« Ich greife in die vorletzte Schublade und schnappe sie mir, aber es ist eine von diesen großen, Iris kann sie auf keinen Fall in ihrer Tasche verstecken. Das Kleid ist schließlich keine Mary-Poppins-Reisetasche, leider.
»Vielleicht kann ich …« Sie versucht die Schere in den Ausschnitt ihres Kleids zu schieben, irgendwo in ihre, na ja, herrlich komplizierte Unterwäsche, die ich so gut kenne. Vintage-Dessous sind alles andere als knappe kleine Dinger, und Iris mag es authentisch. Trotzdem schafft sie es nicht, die Schere irgendwo flach aufliegen zu lassen, nicht mal in diesem quasi-antiken Was-auch-immer-Teil, das sie heute trägt.
»Lass mich mal.« Ich nehme die Schere, die sie mir hinhält, schiebe sie in den Bund meiner Baggy-Jeans und lasse mein Flanellhemd über den Griff fallen, der über dem Gürtel heraussteht. Ich bewege mich kurz hin und her, Iris betrachtet mich. »Zeichnet sich was ab?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Okay. Gut.«
Asset #3: Schere
»Noch irgendwas?«
Ich ziehe die letzte Schublade auf, doch die ist leer.
»Nichts.«
Wir schauen uns in die Augen, ihr Braun trifft auf mein Blau, und in diesem Moment lassen wir beide zu, dass sich Panik anschleicht. Das reicht nicht. Wir haben nicht annähernd genug.
Dann fährt sie sich mit der Zunge über die Lippen, ich drücke die Schultern durch und wir sind wieder da.
»Wir brauchen Infos«, sagt Iris.
»Stimmt«, antworte ich, starre dabei aber das kleine Mädchen an. »Wo ist ihr Erwachsener?«, frage ich plötzlich.
»Was?«
»Als die uns im Wartebereich zusammengetrieben haben, ist sie zu keinem von den Erwachsenen gegangen«, sage ich und versuche mich zu erinnern. »Und keiner ist ausgeflippt, als sie die Kleine hier zu uns gesteckt haben. Das würdest du doch, wenn dich jemand von deinem Kind trennt, oder?«
Iris legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. Dann geht sie ohne ein weiteres Wort zu Wes und dem Mädchen und beugt sich mit einem sanften Lächeln vor.
»Hey, Süße«, sagt sie. »Ich bin Iris. Wie heißt du?«
»Casey«, sagt das Mädchen. »Casey Frayn.«
Mir wird kotzübel. Der Familienname des Bankmanagers. »Du wartest hier auf deinen Dad, richtig?«, frage ich und meine Stimme zittert, denn ich weiß die Antwort, schon bevor sie nickt.
»Er ist der Manager?«
Sie nickt wieder.
Ich sehe Iris und Wes an, mein Gesichtsausdruck muss ein Spiegel von ihrem sein: Verdammte Scheiße, jetzt sind wir wirklich am Arsch.
Problem #1: Der Banküberfall geht schief, weil der Bankmanager nicht da ist.
Problem #2: Die Bankräuber haben das ideale Druckmittel ihm gegenüber … sie wissen es nur nicht.
Ich schenke ihr mein bestes Bullshit-Lächeln. »Casey, kannst du mal die zweite Schublade in dem Schreibtisch da drüben durchsuchen, die mit den Papieren? Wär blöd, wenn ich was übersehen hätte.«
»Okay.«
Sie geht rüber zum Schreibtisch, und kaum dass sie außer Hörweite ist, sagt Wes: »Die wollten den Bankmanager.«
»Und sie haben nicht versucht, die Kassiererin dazu zu bringen, dass sie Geld rausrückt. Den Tresorraum haben sie nicht mal erwähnt. Nur das Untergeschoss und den Bankmanager«, ergänzt Iris. »Da läuft irgendwas Seltsames. Das hier ist kein normaler Überfall, nach dem Motto Wir schnappen uns das Geld und hauen ab.«
»Was sollen wir tun?«, fragt Wes.
Ich werfe einen Blick über die Schulter zu Casey, die über den Schreibtisch gebeugt dasteht und in den Papieren stöbert.
»Wir müssen mehr rausfinden. Die brauchen den Manager wegen irgendwas anderem als dem Tresor, wenn sie dauernd nach ihm fragen.«
»Ich glaube kaum, dass uns die Bankräuber ihren ganzen Plan darlegen werden, Nora«, sagt Wes. Die Frustration, die schon seit dem Parkplatz in ihm köchelt, springt so rasend schnell in seine Stimme, dass mein Gesicht ganz heiß wird.
Stimmt. Er ist immer noch sauer auf mich. Stinksauer. Richtig angepisst.
Und zwar mit gutem Grund. Deine Ex-Freundin beim Fummeln mit einem Mädchen zu erwischen, mit dem ihr beide befreundet seid, ist ein Schlag ins Gesicht, mit einem toten Fisch – so ziemlich die mieseste Art von Begegnung mit einer Ex, die du erwischen kannst. Aber was noch schlimmer ist: Ich habe mein Versprechen gebrochen, ihn nicht mehr anzulügen. Er und ich, wir halten uns an die Versprechen, die wir einander gegeben haben. Das ist bitter nötig, nachdem ich uns zerbrochen habe und wir uns unter Schmerzen aus lauter Einzelteilen wieder neu zusammenkitten mussten. Frankenstein-Freunde, so nennt er uns oft zum Spaß, und ich muss immer lachen, weil das stimmt … das ist genau die finstere Art von Humor, die wir – das neue Wir der Frankenstein-Freunde – brauchen, um weiterexistieren zu können.
Aber jetzt geht Wes jeder Humor ab, und wenn ich nicht sowieso schon so unter Strom stünde, weil mich jede Zelle meines Körpers mit Adrenalin flutet, würde mir das wirklich Angst einjagen. Doch da ich nicht mal weiß, ob wir die nächsten fünf Minuten durchstehen, muss ich es beiseiteschieben.
Konzentrier dich. Wie versteckst du ein Mädchen, das für jeden zu sehen ist?
Irgendwann werden die unsere Namen wissen wollen, falls sie die nicht sowieso schon haben durch unsere Ausweise. Scheiße. Ihr Ausweis.
»Casey, hattest du einen Ausweis dabei?«
Sie schaut von der Schublade auf und schüttelt den Kopf. »Ich hab meine Tasche bei meiner Mom vergessen. Sie war böse auf mich, weil sie keine Zeit hatte, noch mal zurückzufahren und die Tasche zu holen, wegen einem Termin. Mein Handy war auch da drin.«
»Gut«, sage ich und sie runzelt die Stirn.
»Hör mal, falls einer von den beiden dich fragt, sag ihnen nicht, wie du wirklich heißt«, erkläre ich. »Und sag auch nicht, wer dein Dad ist. Erzähl denen, dein Nachname wäre Moulton. Du bist die Cousine von Iris, okay?«
Ihre Stirn legt sich in tiefe Falten. Sie versteht es nicht, und für Erklärungen ist keine Zeit, ich höre schon ein Scharren vor der Tür. Einer von den Kerlen kommt zurück.
»Casey, sag mir, dass du das kapiert hast.« Ich stürze sie Hals über Kopf in dieses Schlamassel, sie reißt die Augen auf und versteht nicht, was ich von ihr will, denn im Unterschied zu mir ist ihr das Lügen und Täuschen nicht von Anfang an ins Blut, ins Hirn und in sämtliche Knochen eingeflößt worden.
»Ich –«
»Casey Moulton. Sag es.«
Der Türknauf dreht sich.
»Casey Moulton«, flüstert sie.
Die Tür schwingt auf.