The Happiness Blueprint - Ally Zetterberg - E-Book

The Happiness Blueprint E-Book

Ally Zetterberg

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Beschreibung

Clever, witzig und skandinavisch-hyggelig: ein Roman mit Herz, Charme und Frauenpower!  «Ein frischer Ton, eine originelle Geschichte und eine feingezeichnete, sehr nahbare Heldin. Bezaubernd!» Graeme Simsion (Autor von Das Rosie-Projekt) Zurück nach Schweden zu ziehen ist das Letzte, was Klara geplant hatte. Doch als ihr Vater an Krebs erkrankt und Unterstützung braucht, bleibt ihr keine Wahl. Dabei heißt «Unterstützung» nicht nur, ihn zu Krankenhausterminen zu fahren, sondern auch, sich um die kleine Fliesenfirma zu kümmern, deren drei Mitarbeiter deutlich motivierter sein könnten. Klaras fehlendes Organisationstalent, ihre leicht autistischen Züge und ihre sporadische Unterzuckerung als Diabetikerin machen die Sache nicht einfacher. Zum Glück übernimmt ihr neuer Kollege Alex die Terminplanung. Dafür synchronisieren sie ihre Smartphone-Kalender – und erfahren so auch Privates übereinander. Schon bald sieht Klara in Alex mehr als nur einen (extrem attraktiven) Mitarbeiter. Zu schade nur, dass Alex einen Ring trägt und zur Paartherapie geht, wie sein Kalender verrät. Was sie nicht weiß: Der Ring gehört Alex′ verstorbenem Bruder, und die Therapie macht er, um über den Verlust hinwegzukommen. Doch das bleibt nicht das einzige Missverständnis …

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Seitenzahl: 474

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Ally Zetterberg

The Happiness Blueprint

Liebe und andere Baustellen

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Nora Petroll

 

Über dieses Buch

Alles nach Plan, nichts unter Kontrolle

 

Zurück nach Schweden zu ziehen, ist das Letzte, was Klara geplant hat. Doch als ihr Vater an Krebs erkrankt, ist es an ihr, sich um seine kleine Baufirma zu kümmern, ohne die geringste Ahnung davon zu haben. Zum Glück übernimmt ihr neuer Kollege Alex die Terminplanung. Dafür synchronisieren sie ihre Smartphone-Kalender – was sie nicht einberechnet haben: So erfahren sie auch Privates übereinander. Schon bald sieht Klara in Alex mehr als nur einen (extrem attraktiven) Mitarbeiter. Zu schade, dass Alex einen Ring trägt und zur Paartherapie geht, wie sein Kalender verrät. Aber die Liebe ist fast immer eine Baustelle, und manchmal ändert sich der Bauplan überraschend …

 

So gefühlvoll wie Ali Hazelwood, so witzig wie Emily Henry und so skandinavisch-hyggelig, wie nur Ally Zetterberg es kann.

Vita

Ally Zetterberg arbeitete zehn Jahre lang international als Model, bevor sie Mutter wurde und sich ihren Kindern widmete. Die britisch-schwedische Autorin spricht vier Sprachen. Wie ihre Protagonistin Klara ist sie neurodivergent und legt daher großen Wert auf glaubwürdige und nahbare Figuren. Im Gegensatz zu Klara hofft sie allerdings, niemals die schwedische Baufirma ihres Vaters übernehmen zu müssen.

 

Nora Petroll, geboren 1988, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf, nachdem sie einige Jahre in Kanada gelebt hatte. Inzwischen arbeitet sie als freie Übersetzerin in Berlin. Zu den von ihr aus dem Englischen übertragenen Autor:innen gehören unter anderem Louise Penny und Andy Warhol.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «The Happiness Blueprint» bei Harper Collins, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Happiness Blueprint» Copyright © 2024 by Ally Zetterberg Literary Ltd

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01817-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.rowohlt.de/buch/ally-zetterberg-the-happiness-blueprint-9783644018174 eine Content-Note.

Für meine Großmütter:

Bodil, die Bibliothekarin, und Gunvor, die Leserin

TEIL EINS

Die durchschnittliche Mindesttemperatur im schwedischen Malmö im Februar beträgt -2 °C. Die Menge an Regen und Schnee in diesem Monat liegt im Mittel bei 36 mm. Durchschnittlich regnet es an dreizehn Tagen. Die wenigsten Menschen entscheiden sich dazu, Malmö in dieser Jahreszeit zu besuchen. Bei insgesamt 66 Sonnenstunden bekommt man die Sonne kaum zu Gesicht.

KLARA

Google: Wie leite ich eine Baufirma?

Geschwisterpaare sind ein bisschen wie Schuhe aus dem Fundbüro. Man steckt die Hand in die Kiste mit Fundsachen und kann nur hoffen, dass man zwei erwischt, die zusammenpassen, wohl wissend, dass zwei Schuhe immer noch besser sind als einer – wenigstens muss man sich dann nicht auf einem Bein fortbewegen. Was meine Eltern angeht, so haben sie mit meiner Schwester und mir einen staubigen, wenn auch völlig funktionalen und robusten Converse gezogen und dazu einen glänzenden Kitten Heel, der gerne auf den flachen Sneaker herabschaut.

Wobei ich in dem Bild der Sneaker bin.

«Ich habe auch Verpflichtungen!», melde ich mich zu Wort und versuche dabei genauso wichtig zu klingen wie meine Schwester, obwohl es mir höchstwahrscheinlich nicht gelingt. Genau diesen Satz habe ich in den letzten zwanzig Minuten mehrmals wiederholt, um bei dem Zoom-Tauziehen irgendwie die Oberhand zu gewinnen, die Poleposition und das große quadratische Fenster in der Mitte einzunehmen, das die anderen kleinen überschattet. In der aktuellen Rangliste steht meine Schwester Saga an der Spitze, dicht gefolgt von unserer Mutter.

«Ich habe Pläne», schiebe ich hinterher und blitze für einen kurzen Moment auf dem Bildschirm auf. Nun, es stimmt. Zumindest wenn Dienstagsdrinks und den Tiefkühler abtauen zählen. Ich spüre, wie mein Blutdruck steigt – nein, wahrscheinlich ist es eher mein Blutzucker. Bleib konzentriert, Klara.

«Es ist ein Familiennotfall», sagt Mum schon wieder. Danke, dass sie das Offensichtliche erwähnt. Als ob wir das nicht längst wüssten.

Ich beschließe, es mit der Taktik zu versuchen, bei der man die ganze Konversation noch mal von vorn aufrollt, in der Hoffnung, dass man die Lösung wundersamerweise übersehen hat und sie sich beim zweiten Mal – laut und deutlich – zu erkennen gibt.

«Wie lange würde seine Behandlung noch mal dauern?», frage ich, obwohl ich die Einzelheiten ganz genau kenne, schließlich war ich dem Termin meines Vaters mit dem Onkologen-Team, der heute früh stattfand, über FaceTime zugeschaltet. Drei Monate. Dad kann sich glücklich schätzen. Eine einfache Operation und anschließend natürlich eine Runde innovative lokale Strahlentherapie, um dem, was Prostatakrebs im Stadium 1 genannt wird, den Garaus zu machen. Der Tumor wurde früh erkannt, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird Dad es schaffen. Um ihn mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Krebs ist ein beängstigendes Wort, aber 1 ist eine harmlose Zahl, dünn und unscheinbar. Am Ende des Termins wurden wir gefragt, ob wir noch irgendetwas wissen wollten, und mir hätten haufenweise Fragen auf der Zunge gebrannt, doch jetzt hatte ich eine 1, und weitere Erklärungen brauchte ich nicht. Nicht mal gegoogelt habe ich es.

Saga verzichtet darauf zu wiederholen, warum sie die Aufgabe unmöglich übernehmen kann, was mich wundert. Normalerweise lässt sie keine Gelegenheit aus, um über ihre wichtige akademische Laufbahn an einer renommierten ausländischen Universität und über ihr überhaupt so erfülltes und perfektes Leben zu sprechen. Auf eine gute Work-Life-Balance kommt es an, Klara!

Gerade würde es mir reichen, einfach ein Leben zu haben. Von einem ausbalancierten müssen wir gar nicht erst anfangen.

«Es tut mir echt leid, dass ich nicht kommen kann, um Dad unter die Arme zu greifen. Ich hab einfach gerade so viel um die Ohren.» Das Gesicht meiner Schwester nimmt das gesamte Zoom-Fenster ein, nicht mal mehr Hintergrund ist zu sehen. Wenn das kein treffendes Bild von Saga ist, der Königin, die jeden Raum beherrscht, den sie betritt. Ich, ich, ich.

«Es sind nur ein paar Monate. Sieh es einfach als langen Urlaub – und du wirst sogar bezahlt! Im Ernst, es ist eine Möglichkeit für dich.» Darüber denke ich nach. Schweden ist alles andere als mein bevorzugtes Urlaubsziel. Aber ein Gehalt von der Firma meines Vaters wäre eine Verbesserung im Vergleich zu dem, was ich derzeit verdiene: nichts.

«Mal angenommen, ich mach’s», sage ich, «und das ist noch keine Zusage, aber wenn ich’s mache, wie soll das überhaupt funktionieren? Man braucht Qualifikationen und Fähigkeiten für diesen Job.»

Wir waren zunächst so erleichtert über Dads vielversprechende Prognose, dass wir alles andere völlig vergaßen. Dann erwähnte Saga die Firma. Diese klitzekleine Unannehmlichkeit im ländlichen Schweden mit drei Mitarbeitern, die irgendwie über Wasser gehalten werden müssen, während Dad sich auf seine Gesundheit konzentriert.

«Schätzchen, du arbeitest doch bereits mit Immobilien!», sagt Mum und schlürft laut einen entsetzlich grünen Smoothie.

Ich kann mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass wir diese Diskussion nicht führen würden, wenn das alles fünf Jahre früher passiert wäre, vor der Scheidung, weil Mum dann immer noch bei Dad wäre. Statt in einer Eigentumswohnung in Marbella zusammen mit einem Witwer namens Inger, den sie im Kirchenchor kennengelernt hat. Ich schiebe den Gedanken beiseite. Es ist nicht Mums Schuld. Wenn Dad ihr gegenüber keinen Groll hegt, sollte ich es auch nicht tun.

«Ich arbeite für eine Website, die Immobilien verkauft. Ich reiße keine Häuser ab, baue sie oder fliese ihre Badezimmer!» Ich meine, was genau macht Dad überhaupt? Jedenfalls nichts, womit ich mich auskenne. Nämlich Kundendienst per Service-Chat. («Nein, Sie können die Immobilien nicht in Ihren Warenkorb legen. Sie müssen den angegebenen Makler anrufen, um eine Besichtigung zu vereinbaren.») Ich tue nichts, was auch nur ansatzweise mit der eigentlichen Immobilie zu tun hat. Stellt mich euch als hilfreichen Bot vor.

«Bitte, Klara. Irgendjemand muss es machen. Wir brauchen deine Antwort so schnell wie möglich», sagt Saga. Oh nein, nicht dieser Satz. Übersetzung: Du musst es machen, du bist die Jüngere, und ich mag zwar auch einen Teil der Verantwortung tragen, aber am Ende ist es deine Aufgabe, kleine Schwester. So wie früher, wenn wir als Kinder im Wohnzimmer ein Chaos anrichteten, weil wir eine Höhle oder einen Einkaufsladen bauen wollten, und es Zeit wurde aufzuräumen. Irgendjemand muss es machen, Klara. Wenn meine Schwester je einen Mord begehen sollte, wette ich, dass die Entsorgung der Leiche mir zufallen würde, einfach wegen unserer genetischen Verwandtschaft und der Geburtenreihenfolge.

«Lasst mich sehen, ob ich es irgendwie einrichten kann», murmele ich.

«Eigentlich wollte ich ja nichts sagen, aber … ich dachte, du und deine Arbeit, ihr macht gerade eine Art Pause?» Ich kann das blasierte Lächeln meiner Schwester durch die Pixel sehen. Ihr ist natürlich klar, dass Leute Pausen in Beziehungen einlegen – nicht von der Arbeit. Letzteres hieße einfach Arbeitslosigkeit. Oder zeitweilige Beurlaubung. Lasst uns das nicht vertiefen, okay.

«Wäre es nicht schön, alte Freunde wiederzutreffen?», versucht es Mum.

Welche Freunde?, denke ich. Die, die ich vor zehn Jahren hatte, haben ihr Leben weitergelebt und sind inzwischen zwangsläufig weggezogen. Wenn ich eine alte Dame wäre, hätten wir jetzt die Art Beziehung, die sich ausschließlich in dem Austausch von Weihnachtskarten äußert. Wenn ich mutiger und lustiger wäre, auch nur der blasseste Schatten meiner Schwester, hätte ich das kommen sehen und mir neue Freunde gesucht. Aber dazu wäre es nötig gewesen, Kontakte zu knüpfen und auszugehen, und zwar mit einer Häufigkeit, an die ich nicht gewöhnt bin (ich brauche Erholungstage nach sozialen Events wie andere nach dem Fitnessstudio), und es hätte die Fähigkeit verlangt, ohne Hilfe von Alkohol eine Konversation am Laufen zu halten.

Momentan habe ich ganz genau eine Freundin. Alice, die meine Mitbewohnerin ist und so urkomische Dinge sagt wie: «Yippie, ich wurde für einen Handjob gebucht!» (Sie arbeitet nebenberuflich als Hand- und Fußmodel.) Mum und Saga wissen das beide.

«Hör mal, ich weiß, es ist nicht das, was du willst, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, was genau du eigentlich willst. Aber ehrlich gesagt wird es Zeit, dass auch du ein bisschen körperlichen Einsatz zeigst und deinen Beitrag leistest.»

Ich gucke auf meinen Hüftumfang, bevor mir klar wird, dass sie nicht von meinem BMI redet.

Dann fängt mein Neffe Harry – Sagas Hauptvorwand, dass sie die Sache mit Schweden nicht übernehmen kann – im Hintergrund an zu heulen wie ein Wolf, in einer Stimmlage, die nur ein Kleinkind beherrscht. Dieser Lärm! Schnell treffe ich eine Entscheidung. «Na gut.» Wieder ertönt die Harry-Sirene.

«Okay, das ist mein Stichwort, mich auszuklinken!», ruft meine Schwester in einer Tonlage, die nur eine Mutter beherrscht. Ich schwöre, Eltern bringen ihren Kindern bei, genau im richtigen Moment zu stören. Es ist unfair, dass sie alle einen Vorwand haben, einem langweiligen Zoom-Call zu entfliehen, während der Rest von uns bis zum Ende bleiben und zuhören muss.

«Schön. Aber du hilfst, wo du nur kannst, von da drüben aus. Das ist die Abmachung.» Ich weigere mich, das neue Heimatland meiner Schwester beim Namen zu nennen. Mir ist durchaus klar, dass das kindisch ist, egal wie sehr diese Erwachsene hier ihre Schwester vermisst.

«Natürlich. Tschüss dann! Lebensretterin!» Saga legt auf.

Die Ärzte werden Dads Leben retten, nicht ich, will ich einwerfen. Aber ich finde, es ist eine Unsitte, Unangenehmes mit dem Tod gleichzusetzen, und mir kommt der Gedanke, dass es womöglich Saga ist, die ich vor Schweden gerettet habe.

«Mum?» Keine Antwort. Sie muss irgendeinen Button gedrückt oder die Internetverbindung verloren haben. Ihr Bildschirm ist schwarz. Zurück bleibe ich, die ich auf mein eigenes Zoom-Fenster starre, ein trauriger Anblick mit zerzausten dunklen Locken und missmutig zusammengezogenen Augenbrauen. Endlich in der Poleposition.

Kurz denke ich darüber nach, sie beide noch mal anzurufen, um ihre Aufmerksamkeit einzufordern. «Auf ein Wort, ihr zwei», würde ich mit Autorität sagen. Und es wäre buchstäblich ein Wort: nein. Aber ich tue genau das: es denken und sonst nichts.

«Knulla», sage ich an den Bildschirm gerichtet. Eines der wenigen Worte, die ich früh von meiner Schwester gelernt und griffbereit in meinem Vokabular habe. Unglücklicherweise fühlt es sich an, als hätte ich es während meiner sechsundzwanzig Jahre auf dieser Welt beinahe täglich benutzen müssen.

Schätze, ich fliege nach Hause, um die Firma meines Vaters zu leiten. Super.

ALEX

Laufe von Viertel zu Viertel, wie besessen. Bin zu früh los für meinen Termin, und seit ich das erkannt habe, laufe ich einfach weiter. Möglicherweise im Kreis, denn ich komme an vielen sehr ähnlich aussehenden hippen Cafés vorbei. Merke nach einer Weile, dass ich den wuseligen Möllevångstorget mit seinem Bronzedenkmal namens Ruhm der Arbeit meide. In letzter Zeit sehe ich darin eine persönliche Beleidigung.

Es ist arschkalt, und ich balle die Hände zu Fäusten, um meine Finger vor dem Wind zu schützen. Die Jackenärmel bedecken sie gerade so. Hab nichts dagegen, dass mir kalt ist: Es erinnert mich daran, dass ich noch etwas fühlen kann.

Es ist sechzehn Uhr, als ich endlich das Psychotherapiezentrum von Malmö und Dr. Hadids Sprechzimmer betrete. Sie trägt ein hellblaues Kopftuch mit Blumenmuster. Das hebt meine Stimmung ein klein wenig; medizinisches Fachpersonal, das entspannt ist und sich farbenfroh kleidet, ist mir lieber als die Hausarztuniform aus Hemd, passender Hose und Slippern in verschiedenen Beigetönen. Ertappe mich dabei, wie ich die filigranen Blumen auf ihrem Kopf zähle. Mathe ist eine gute Ablenkung und eines der Dinge, die mir immer noch Spaß machen. Mir ist klar, dass das wahrscheinlich nicht das coolste Hobby für einen Neunundzwanzigjährigen ist. Ich komme bis sechzehn, bevor Dr. Hadid mich unterbricht.

«Wie ist es Ihnen ergangen, Alex?», fragt sie.

«Gut, schätze ich.»

«Haben Sie am Wochenende irgendetwas unternommen? Wollen Sie mir ein bisschen von Ihrer letzten Woche berichten?»

Eigentlich nicht, aber es ist eine rhetorische Frage. Wie alle, und der einzige Grund für mich, hier zu sein, ist, sie zu beantworten, also spreche ich. Es scheint viele rhetorische Fragen aufzuwerfen, wenn dein Bruder stirbt.

«Ich war beim Begräbnis meines Onkels – der ist auch gestorben. Was noch? Hab fünfmal Pizza gegessen. Capricciosa mit extra Jalapeños. Sind Jalapeños nicht die beste Würze überhaupt? Ein bisschen unanständig, als würde man einen dreckigen Witz erzählen, aber nicht so explizit, dass man sich die Ohren zuhalten müsste. Sie fordern einen heraus, schubsen einen aber nicht über die Klippe. Das mag ich an ihnen.»

Dr. Hadids Mundwinkel zucken leicht nach oben.

«Die Müllabfuhr in unserer Straße scheint jetzt schon um fünf Uhr morgens zu kommen. Ich überlege, ob ich anrufen und mich beschweren soll.»

«Haben Sie es schon mit Ohrstöpseln probiert, so wie wir es besprochen haben?»

«Ich finde, dass meine Gedanken dann lauter werden, falls das Sinn ergibt? Da höre ich lieber der Müllabfuhr zu als meinem Geist.» Auf der Fensterbank steht eine Blume; ich frage mich, wer sie am Wochenende gießt, und will gerade fragen, als Dr. Hadid das Wort ergreift.

«Ich denke, es ist Zeit, dass Sie ein paar Pläne machen. Sechs Monate sind vergangen, seit Calle gestorben ist, und vier, seit Sie das erste Mal bei mir waren. Sie sind bereit. Es würde Ihnen Struktur geben und den Fokus von Ihren unkonstruktiven Gedanken weglenken.»

Ich bemerke, dass sie den Spitznamen meines Bruders verwendet. Vielleicht glaubt sie, besser zu mir durchdringen zu können und wie eine Vertraute zu wirken, wenn sie ihn nicht Carl nennt.

«Pläne? So wie Kaffeetrinken mit einem Freund?» Das könnte schwierig werden, da meine Freunde in letzter Zeit eher in den Hintergrund getreten sind. Irgendwie scheine ich mit Jogginghose, die längst in den Wäschekorb gehört, und einem Pizzakarton und einer Tüte Chips in der Hand nicht ihrer Idealvorstellung von einem Freitagabend zu entsprechen. Oder sonst irgendeinem Abend in der Woche, um genau zu sein. Darüber und darum herum reden Dr. Hadid und ich eine Weile und über einen möglichen Ausweg aus dem faulen Netflix-und-Null-Dasein (Letzteres bezieht sich auf meinen derzeitigen Kontostand).

«Fangen wir an, indem wir To-do-Listen in Ihren Kalender eintragen. Mit diesem Ansatz habe ich schon bei anderen Patienten Erfolge erzielt. Haben Sie ein iPhone?»

Ich zucke mit den Schultern und nicke gleichzeitig.

«Wunderbar. Dann stellen Sie sich selbst der Herausforderung, drei Aufgaben pro Tag einzutragen. Es können einfache Dinge sein wie Geschirrspülen, Spazierengehen oder Ihren Lebenslauf zu aktualisieren. Wichtig ist, dass Sie es sich vornehmen – es in den Kalender eintragen – und es dann tatsächlich tun. Wie hört sich das an?»

«Ganz okay, schätze ich.» Zähneputzen, ein bisschen lesen, das Bett machen. Klingt nach einer To-do-Liste für Kinder. Als Nächstes gibt sie mir noch ein Sticker-Heft mit Belohnungssternchen. Aber man muss seine Genesung ernst nehmen, also rüge ich mich innerlich dafür, den Ratschlag der sehr qualifizierten Psychologin zu belächeln.

Dr. Hadid kann diese Gedanken natürlich nicht lesen und fährt fort, sich Notizen auf ihrem Tablet zu machen.

«Gut. Wir sehen uns zukünftig nicht mehr wöchentlich, sondern nur noch monatlich, aber bitte rufen Sie an, wenn Sie das Gefühl haben, früher einen Termin zu brauchen. Meine Tür steht immer offen.» Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Wenn etwas für die Tür eines Therapeuten gilt, dann dass sie stets fest verschlossen ist. Um das Sprechzimmer vom Warteraum abzuschirmen. Eine letzte Frage habe ich noch. Eine wichtige.

«Was ist mit dem Auto und dem Ring?» Ich fummle an dem schlecht sitzenden Stück Metall an meinem Finger herum, schiebe es hoch und runter, und durch diese Bewegung schweifen meine Gedanken ab zu etwas völlig anderem, Peinlichem – ganz ungewollt.

«Ich würde vorschlagen, beides fürs Erste zu behalten. Ein Schritt nach dem anderen. Solange diese Andenken Ihnen Trost spenden, sehe ich in ihnen keinerlei Übel.»

Wir beenden die Sitzung mit Small Talk über ihre Tochter, die mit dem Rucksack durch Asien reist, und darüber, dass es zu dieser Jahreszeit in Malmö schon um siebzehn Uhr dunkel wird, und anschließend verlasse ich die Praxis auf dem gleichen Weg, den ich gekommen bin.

Auf ihrem Kopftuch sind siebenundzwanzig Blumen.

KLARA

Google: Wo ist zu Hause?

Genau fünf Tage nach dem Telefonat mit meiner verrückten Familie schlendere ich durch den Gatwick Airport und warte auf meinen One-Way-Flug nach Kopenhagen. Ich mag One-Way-Flüge nicht, genauso wenig wie Einbahnstraßen. Hin und zurück wäre ein Kreis, also eine Form, bei der die Entfernung zu einem bestimmten Punkt konstant ist. Ein One-Way kann nur eine Linie sein, und Linien sind eindimensional und erstrecken sich potenziell ins Unendliche.

Ich hätte gerne ein Rückflugdatum, damit meine Reise eine Form bekäme und nicht unendlich wäre.

Mit einem Ping erscheint eine Nachricht von Alice auf meinem Handy.

Du wirst das schon deichseln (Wortwitz gewollt!). Ich behalte ein Auge auf deinen Blutzuckerspiegel und erinnere dich daran, was Süßes zu naschen, wenn er zu weit runtergeht. X

Ich kaufe mir bei Prêt à Manger im Terminal ein Thunfischbaguette. Es besteht immer aus Thunfisch, Mayonnaise und vier Scheiben Gurke auf einem Weißbrotbaguette. Ich weiß, dass es fünfundvierzig Gramm Kohlenhydrate enthält, und genau diese Zahl gebe ich in meine Insulinpumpe ein. Nährwertangaben sind sehr wichtig für Diabetiker. Auf der Sandwichverpackung ist alles in einer ordentlichen Tabelle aufgelistet. Am liebsten hätte ich immer eine Waage dabei, damit ich haargenau weiß, was ich esse, und das Insulin mit größter Präzision dosieren kann. Aber noch während meiner Kindheit hat Mum dem einen Riegel vorgeschoben, da sie mich «aufs Leben vorbereiten» wollte. Ihrer Meinung nach ist es die Person ohne Küchenwaage in der Handtasche, die besser vorbereitet ist.

Während ich in der Schlange stehe, drücke ich auf dem Baguette herum. Als es mal ausverkauft war, habe ich stattdessen ein Baguette mit Ei und getrockneten Tomaten genommen, aber es roch ein bisschen wie die Luft im U-Bahn-Schacht. Es muss ein anderes Brot gewesen sein, weil das Insulin nicht die vorhergesehene Wirkung hatte – noch eine Stunde später war mein Blutzucker erhöht. Außerdem ist das Ei aus dem Sandwich aufs Tablett gebröselt, und ich musste die Stückchen mit Daumen und Zeigefinger aufklauben, als wären meine Finger Stäbchen. Bei dem bloßen Gedanken wird mir ganz anders.

Früher war ich Vegetarierin, aber vor einiger Zeit habe ich angefangen, auch Fisch zu essen. Manchmal sind bestimmte Nahrungsmittel ausverkauft, und eine flexiblere Ernährung bedeutet, darauf besser vorbereitet zu sein. Es bedeutet auch, dass ich manche von Alice’ Gerichten essen kann, was mir Zeit und Mühe spart. Ich mag es nicht unbedingt, lebende Dinge zu essen, habe aber einen Kompromiss gefunden, mit dem ich moralisch leben kann. Ich verzehre ausschließlich Spezies, die eine Lebenserwartung von unter fünf Jahren haben. Kurz überlegte ich, nichts zu essen, was ein Rückgrat hat. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschien es mir als Diskriminierung gegenüber Lebewesen, deren neurologische Veranlagung sich von unserer unterscheidet.

Lebenserwartung hingegen ist fairer, wirklich; nach demselben Kriterium entscheiden auch Ärzte in der Notfallaufnahme, wen sie zuerst retten: denjenigen mit der größten Überlebenswahrscheinlichkeit oder, in anderen Worten, der am längsten vorhersagbaren Lebenserwartung. Meinen neuen Prinzipien nach kann ich eine abwechslungsreiche Ernährung genießen, ohne mich schuldig fühlen zu müssen. Ich darf unter anderem Garnelen essen (zwei Jahre) und Lachs (fünf Jahre).

Buntbarsch hingegen steht völlig außer Frage (fünfundzwanzig Jahre), genau wie Kabeljau (zwanzig Jahre).

Da ich noch etwas Zeit totzuschlagen habe, setze ich mich auf eine Bank gegenüber dem Gate und tippe Wie man ein Badezimmer fliest bei Google ein. Offensichtlich werde ich nicht selbst irgendwelche Fliesen verlegen – dafür braucht man eine Ausbildung und Geschick –, aber da ich bald die Fliesen-Chefin werden soll, erscheint es mir notwendig, zumindest eine grobe Ahnung zu haben, auch wenn ich sie mir über ein YouTube-Video aneigne. Die Unterschiede zwischen englischer und skandinavischer Architektur könnte ich aus dem Stegreif auflisten, aber mein Wissen über das Einmaleins der Handwerkskunst beschränkt sich darauf, dass ich im Alter von drei Bob der Baumeister gesehen habe. Jetzt wünschte ich, dass ich in meiner Jugend besser aufgepasst und mehr Interesse an der Tätigkeit meines Vaters gezeigt hätte, als lieber mit einem Buch oder einem Nintendo DS im Auto zu warten, wenn ich ihn zu seinen Terminen begleiten musste. «Menschen beißen nicht, Klara. Du kannst jederzeit reinkommen, wenn du deine Meinung änderst.»

In Dalby im schwedischen Skåne zu arbeiten beinhaltet unausweichlich irgendeine Art großes Fahrzeug, etliche Etappen und tägliche Interaktionen mit einer großen Anzahl Unbekannter. Mit Kunden. Echten. Lebenden Menschen mit Fragen, Ideen und ausgeklügelten, aber unbrauchbaren auf Papier gekritzelten Entwürfen, die sie einem über den Küchentisch zuschieben. Ich bin es gewohnt, mit Menschen über eine Tastatur zu kommunizieren. In einem Chat kann man nur begrenzt viel verlangen; egal wie laut man herumschreit, die Buchstaben werden nicht größer als Versalien, Schriftgröße vierzehn.

Als Nächstes rufe ich die Firmenwebsite auf, die, wie ich erkenne, in einem Standarddesign entworfen und einfach gehalten ist. Dad war nie jemand, der in Luxus badet, und es ist offensichtlich, dass er das günstigste Paket gewählt hat. Ich lese.

Wir entwerfen den perfekten Raum für Sie! Bygg-Nilsson, gegründet im Jahr 1992, ist ein renommiertes Unternehmen, das einen Großteil von Skåne bedient und auf Fliesenarbeiten spezialisiert ist, doch gerne übernehmen wir auch jeden anderen Teilbereich Ihres Bauprojekts. Wir sind stolz darauf, ein kleines erlesenes Team zu sein, das sich jedes Projekt zu Herzen nimmt und Ihnen eine persönliche Note bietet. 100 Prozent Zufriedenheitsgarantie.

Ich seufze. Auf meinem LinkedIn-Profil wird das nicht gerade herausstechen, und irgendeinen meiner einundsechzig Instagram-Follower kann ich damit auch nicht beeindrucken.

Ich klicke auf die Vorher-nachher-Bilder, von denen die meisten zu dunkel sind und entweder von zu nah oder zu weit weg aufgenommen wurden. Dads mangelndes Talent als Fotograf ist haarsträubend; selbst ein Familienfoto sollte man ihn nicht schießen lassen, weil er genauso skrupellos Köpfe abschneidet wie Ludwig XIII. Ich beschließe, dass die erste Amtshandlung darin bestehen sollte, die Website auf Vordermann zu bringen, und dass es der perfekte Job für Saga ist.

Um mich herum hat sich ein Pulk gebildet, und ein allgemeines Gefühl von Hektik hat sich ausgebreitet. Ich werde tun, was ich immer tue: sitzen bleiben, bis die letzte Person ins Flugzeug gestiegen ist und das Bodenpersonal den letzten Aufruf macht und mich dabei direkt ansieht. Ich öffne die Familiengruppe auf WhatsApp, die ich passenderweise Endlosschleife genannt habe und die das Einzige ist, was uns vier über die Länder und Unstimmigkeiten hinweg zusammenhält. Technologie: der Klebstoff der modernen Familie.

Ich: Steige jetzt ins Flugzeug.

Saga: Juhu mega du wirst das toll machen K! Denk einfach daran, was es uns allen bedeutet xxx

Mum: Schreibt …

Dad: *Daumen hoch *

Was hat es nur mit Männern und ihrer Liebe für Daumen-hoch-Emojis auf sich? Dad sollte eigentlich den hellhäutigsten benutzen, stattdessen nimmt er den zweiten von links, als dächte er, er hätte eine Sommerbräune oder einen generell dunkleren Hautton, als ihm von seiner schwedischen Abstammung mitgegeben wurde. Den Daumen-hoch schickt er ständig, sodass ich oft das Gefühl habe, mit einem Körperteil zu kommunizieren statt mit einem echten Menschen. Soll ich eine Geburtstagskarte für Oma bestellen? Daumen hoch. Ich wurde gerade befördert. Daumen hoch. Mein Haus brennt. Daumen hoch. Unmöglich, diesem minimal gebräunten Daumen abzulesen, ob Dad sich über mein Kommen freut oder nicht, seine Reaktion wird also eine Überraschung sein. Mir wird nachgesagt, keine Überraschungen zu mögen, aber das ist nicht ganz zutreffend. Wie jeder mag ich gute Überraschungen. Es sind die bösen, die ich nicht leiden kann. Andere sagen einfach «shit happens» und machen weiter wie gehabt, aber ich kann das nicht: Böse Überraschungen werfen mich aus der Bahn. Nach sieben Jahren in London zurück nach Schweden fliegen zu müssen, fühlt sich an wie eine, allerdings kann ich mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass man mich nicht so einfach von A nach B schieben könnte, wenn mein Plan die letzten Jahre über aufgegangen wäre.

Mein Blutzuckermessgerät piepst, weil es die Verbindung verloren hat, und ich schenke ihm einen wohlwollenden Blick. «Schon gut», sage ich. «Ich bin auch irgendwie verloren.»

 

Ich entdecke Dad sofort. Er wirkt, als fühle er sich unwohl, sieht gar ein bisschen nervös aus, wie er dem Strom der ankommenden Passagiere entgegenblickt, zu dem ich gehöre. Sobald er mich sieht, erscheint ein großes Lächeln auf seinem Gesicht, und er läuft auf mich zu. Er hat abgenommen, sieht aber gesund aus. Während er mich in eine feste Umarmung zieht und meinen Kopf an seine Brust drückt, denke ich an die unscheinbare 1 und lasse die Umarmung länger über mich ergehen, als mir sonst lieb wäre. Seine Jacke riecht nach Dad, was vermutlich bedeutet: nach frischer Luft, Olivenseife und billigem Aftershave.

«Du bist da. Wie war dein Flug?»

«Er hat mich hergebracht. Ich bin froh, hier zu sein, Dad.» Und in diesem Augenblick stimmt das. Dad braucht mich. Ein seltsames Gefühl überkommt mich, dass sich unsere Rollen vertauscht haben. Ich bin noch nicht ganz bereit dafür, dass mein Vater mich mehr braucht als ich ihn. Ich hätte erwartet, dass dieser Augenblick erst kommt, wenn ich sehr viel älter bin. Und weiser.

«Kaffee?» Er zeigt zu dem Flughafen-Starbucks.

«Nein danke, Dad. Ich hatte einen im Flieger.» Er sieht erleichtert aus. Mir einen Kaffee für fünfzig dänische Kronen anzubieten ist das eine, ihn tatsächlich zu kaufen etwas völlig anderes. Außerdem wollen wir beide diesen überfüllten Ort schnellstmöglich verlassen. Er lächelt und wuschelt mir durchs Haar. Als ich ein Kind war, war das akzeptabel, doch nicht mehr als Erwachsene, die sich mit Volumen, Kräuseln und all dem Kram herumschlägt, der bei, na ja, Frauenhaar unausweichlich ist. Schätze, ich könnte ihm sagen, dass er es lassen soll, aber irgendwie mag ich das Haarwuschelritual, und wahrscheinlich würde er es sowieso weiterhin tun. Mein Vater tut, was mein Vater tun will. Ein Teil von mir kann nicht glauben, dass Mum und Saga mit dieser Idee durchgekommen sind und ihn dazu überreden konnten, die Zügel jemand anderem zu übergeben. Alles muss immer nach Dads Nase gehen. Sogar Sagas Hochzeit ist seinem Mikromanagement zum Opfer gefallen. Ein Geschenk. Hätte sie nicht ein Machtwort gesprochen, hätten sie in einem schwedischen mit Heuballen dekorierten Stall geheiratet, als wären sie Cowboys. Sogar zu stur, um seine Tochter ihre eigene Hochzeit planen zu lassen.

Ich folge ihm aus dem Flughafengebäude zu etwas, das aussieht wie der hintere Teil des Frachthangars. Im Gehen mustere ich ihn, denn wir haben uns schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Er ist groß und stattlich und hat lange Arme und Beine, die beim Gehen schwingen, als müsse er das Gleichgewicht halten. Sein Rücken ist leicht gebeugt, vielleicht weil er sein Leben lang körperliche Arbeit verrichtet hat, und sein blondes Haar durchziehen weiße Strähnen, die bei einer jungen Frau aus der Fashionbranche stylish ausgesehen hätten. Ich sehe ihm nicht im Entferntesten ähnlich, anscheinend habe ich jedes bisschen DNA von meiner Mutter geerbt. Meine Schwester hingegen ist das blonde und blauäugige Ebenbild unseres Vaters. Als Saga und ich zusammen in unserer ersten Londoner Wohnung wohnten, fragten die Leute – gewöhnlich Männer – oft, ob ich bei der Geburt vertauscht wurde. Das ist natürlich Quatsch, schließlich binden sie einem diese Bänder ums Handgelenk, obwohl ich meins am Fußgelenk hatte, weil ich so winzig war. Nilsson 26. Juni 1996, stand darauf und ein w für weiblich. Ich bewahre es in einer Kiste mit Erinnerungsstücken auf, gleich neben den Glückwunschkarten von all meinen Geburtstagen.

Wir haben das Ende des Parkplatzes fast erreicht, und langsam frage ich mich, wo sein Auto steht.

«Sind gleich da», sagt er und nickt Richtung Hangar.

Ich seufze, danke mir innerlich, dass ich mich diesen Morgen für einen Kapuzenpulli entschieden habe, und ziehe mir die Kapuze über den Kopf, um meine Haare vor dem Regen zu schützen, der kein echter Regen ist, wie ich ihn aus England gewohnt bin, sondern eher wie dieser Nebel, der in Strandbars versprüht wird, um einen abzukühlen, während man an seiner Margarita nippt. Mit dem Unterschied, dass die Tröpfchen hier eiskalt sind und ich keinen Drink in der Hand halte. Es gab einen Grund, weshalb ich meine Heimat verlassen habe.

Ehrlich gesagt gab es viele Gründe.

 

Vor uns erstreckt sich der Öresund. Ich presse die Stirn gegen die Fensterscheibe des Transporters, als wäre ich ein kleines Mädchen. Wie lustig, denke ich, dass unsere Körper nie vergessen und wir bloß in der Nähe einer unserer Eltern sein müssen, um wieder in alte Muster zu verfallen.

Die Brücke, die Dänemark mit Schweden verbindet, taucht vor uns auf, und ich fühle mich, als hätte man mich ausgeschnitten und in einen skandinavischen Noir-Roman oder eine Episode von Die Brücke versetzt. Mein Teil von Schweden ist berühmt für Kriminalgeschichten. Wer weiß, vielleicht ermorde ich selbst mal jemanden, wenn ich jeden Morgen in dieser farblosen Landschaft mit ihrem niemals sich lichtenden Nebel aufwache. Mir ist es egal, wenn meine Kleidung eintönig ist, aber die Landschaft? Ich mache mir eine gedankliche Notiz: Versuche, keine Serienmörderin zu werden. Die Gegend hier scheint das hervorzurufen.

Als wir in den Tunnel fahren, der unter der Brücke und der Ostsee verläuft, halte ich den Atem an und zähle die Sekunden, bis wir auf der anderen Seite auftauchen und ich wieder Luft holen kann. Ich halte oft den Atem an. Bei jedem Tunnel, dessen Länge es erlaubt, bei jedem Fußgängerübergang, zwischen Laternenpfosten, über die Länge von Feldern hinweg, während einer Umarmung.

Sobald wir Schweden erreicht und Malmö hinter uns gelassen haben, messe ich die Zeit, um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, wie weit ich von der Zivilisation entfernt sein werde. Das Unternehmen meines Vaters ist angesehen und hat Kunden in dem weitläufigen Gebiet zwischen Malmö und Ystad an der Südküste. Seine Flotte von vier Firmentransportern ist täglich stundenlang auf den Straßen unterwegs. Wenn der Himmel grau ist, ist der Rest von Skåne in jedem Fall braun. Braun wie Matsch. Kein goldener Matsch, sondern eher von einer dunklen, graustichigen Schattierung wie Eisen.

«Du kennst dich ja aus. Ich bringe die restlichen Taschen mit rein, wenn ich geparkt habe», sagt Dad, als wir vor einem weißen Holzzaun, der einen Garten umschließt, zum Stehen kommen. Das weiße Haus sieht aus wie immer, wenn ich hierher zurückkomme, nur dass es vielleicht einen neuen Anstrich bekommen hat. Früher gehörte es zu einer Farm mit mehreren Hektar Land, aber meine Eltern kauften nur das frei stehende Haus und überließen dem Bauern den Rest. Sie hatten einen Traum vom Landidyll. Wenn ich jetzt das einfache Haus mit dem Stall betrachte, der zu einer Garage und einem Büro umgebaut wurde, inmitten von gepflügten braunen Feldern, habe ich Zweifel, ob sie ihr Idyll gefunden haben. Jetzt werfe ich einen Blick zu der schwarzen Tür, hinter der das Büro liegt, nur ein paar Schritte über den Rasen und den geschotterten Parkplatz vom Haus entfernt, und halb erwarte ich, dass sie mir zur Begrüßung zuwinkt.

Das Haus ist leer, eine seltsame Erfahrung. Natürlich wohnt Dad hier, aber er ist niemand, der ein Haus mit seiner Präsenz füllt. Das Innere, vor allem die Küchenschubladen, die ich aufs Geratewohl herausziehe, ist ein Museum meiner Kindheit. Was toll wäre, wenn meine Eltern teure Antiquitäten besäßen statt der nicht zusammenpassenden Löffel und verdächtig aussehenden Likörflaschen, die sie aus Spanien und Portugal mitgebracht haben und auf denen steht: Ein Geschenk von Tante Lynn. Das Waffeleisen erkenne ich wieder, die Ofenhandschuhe, sogar die Pfannenheber. Dad hat behalten, was Mum nicht mitgenommen hat, da ist er oldschool: Warum etwas ersetzen, das gut funktioniert? Dinge auszutauschen, um mit der Mode zu gehen, oder die Inneneinrichtung zu erneuern sind für ihn fremde Konzepte. Was er und Mum gemein hatten, bleibt uns allen ein Rätsel, sie beide inbegriffen.

Mein Zimmer ist vollgestopft mit Kisten und zwischengelagerten Gegenständen, daher beziehe ich Sagas altes Zimmer. Das Licht darin ändert sich mit der Jahreszeit: Wenn es draußen hell ist, fallen die Sonnenstrahlen durch zwei Fenster auf den Holzboden, und der Raum ist hell und freundlich, aber wenn es dunkel ist, na ja … Saga ist wegen der Schatten an der Wand immer zu mir ins Zimmer gekommen und hat sich neben mich gelegt, dicht, aber ohne mich zu berühren, ohne ein Wort zu sagen. Ich wusste, dass sie Angst vor diesen Schatten hatte, daher versuchte ich, sie mit Fakten zu trösten: «Ein Geist ist nur eine diffuse, flüchtige Form einer Person und kann keinen Schaden anrichten. Du solltest keine Angst vor den Toten haben, sondern vor den Lebenden.» Ich war nie sicher, ob es den gewünschten Effekt hatte.

Ich wühle im obersten Fach eines Einbauschranks herum. Schlage den ersten Band von Harry Potter auf. Auf der vergilbten Seite steht: Für Saga zu Weihnachten 2002. Als Nächstes nehme ich eine alte Barbiepuppe zur Hand. Angezogen mit Jeans und bauchfreiem Oberteil liegt sie da, als wäre sie Dornröschen und hätte all die Jahre auf unsere Rückkehr gewartet. Ich habe Barbies geliebt. Es geliebt, ihre Häuser zu dekorieren, sie anzuziehen, sie in den verschiedensten Positionen und Grüppchen hinzusetzen, als führten sie ein viel beschäftigtes Leben. Die Kinder spielten, die Erwachsenen unterhielten sich, wie es alle Erwachsenen tun. «Nicht anfassen!», sagte ich immer zu Saga. «Wo ist der Sinn, wenn wir sie nicht anfassen dürfen?», grummelte sie. «Ich muss erst alles fürs Spiel vorbereiten.» – «Ist es jetzt fertig?» Mehr ungeduldiges Grummeln. «Jetzt? Komm schon, Klara!» Aber es musste perfekt sein. Das Spielen war mir gar nicht mal wichtig: Es war die Vorbereitung, die ich liebte. Alles zu planen.

Ich streiche Barbies langes blondes Haar glatt und lege sie zurück, damit sie weiterschlafen kann. Die Harry-Potter-Bücher, einige CDs und eine Pferdefigur werden weggeräumt und in einer Schublade verstaut, um Platz zu schaffen für die von mir mitgebrachten Dinge. Nach Wichtigkeit geordnet sind das ein Foto meiner Familie bei einem Urlaub vor zehn Jahren, ein Laptop, meine Lieblingsduftkerze (Moschus-Vanille) und mein Täschchen voll Kundenkarten. Ich besitze nur Kundenkarten aus England, keine schwedischen, was mir ein komisches diffuses Gefühl gibt. Am Kofferboden angekommen, zögere ich und lasse den restlichen Inhalt – zwei Bücher über skandinavische Architektur – drin liegen und schließe den Koffer. Die werde ich nicht brauchen. Ich hab sie noch nie gebraucht. Wem will ich etwas vormachen?

Das Zimmer müsste sich vertraut anfühlen, weil dies das Haus ist, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Nach einem Urlaub oder einer Übernachtung bei Freunden nach Hause zu kommen, hat mich immer mit Erleichterung erfüllt. Es war mir egal, dass ich keinen Fernseher im Zimmer, keine rosa gestrichenen Wände oder kein Doppelbett hatte. Es roch nach Zuhause. Es riecht immer noch gleich, aber es ist nicht zu Hause. Verwirrend. Zu Hause ist jetzt mein Zimmer in Alice’ Wohnung, ein fast perfektes Quadrat mit weißen Wänden und einem Doppelbett, eingebautem Kleiderschrank und einem Fenster ohne Aussicht (das Zimmer liegt im Souterrain, und alles, was ich sehe, ist eine moosbedeckte Wand).

Umziehen sei eine einfache Möglichkeit, neue Freunde zu finden, sagte Google.

Ich bin losgezogen und habe Zimmer besichtigt, habe mir jedes Mal Zeit genommen, den Duschvorhang und die Garderobe zu inspizieren, dabei habe ich in Wirklichkeit die potenzielle Mitbewohnerin unter die Lupe genommen. Alice hat nur wenige Gesichtsausdrücke, genau genommen drei. In Reihenfolge der am meisten benutzten wären das: lautes Lachen, freundliches Lächeln und ein neutral ruhendes Gesicht. Wenn ich da bin, benutzt sie die ersten beiden Ausdrücke; daher weiß ich, dass wir Freundinnen sind. Ich fragte sie, ob sie im Haus mit Schuhen, Socken oder barfuß herumläuft, und ihre Antwort war: «Barfuß, weil die Haut doch atmen muss, oder?» Den ganzen Tag Socken zu tragen, erinnere sie an alte Männer mit Fußpilz. Das war vielversprechend. Noch an Ort und Stelle bezahlte ich meine Kaution. Das Gute daran, in 243A Munster Road SW6 zu wohnen, ist, dass ich meinen Kaffee bei La Bottega holen kann, wenn mir nach einem Plausch zumute ist, und bei Starbucks, wenn ich lieber bloß meinen Namen für den Becher murmeln will.

Ich möchte in keine größere Wohnung ziehen. Das bedeutet so viel Platz, der gefüllt werden will, und ich kann lediglich daran denken, wie viel Zeit es kosten muss, alles sauber zu machen. Mein Chef hat mich mal verwarnt, weil ich einem Kunden auf YourMove, der nach einer Villa mit acht Zimmern suchte (kein Landhaus: so etwas würden nur reiche Leute sagen, die bescheiden rüberkommen wollen), sagte, das sei eine schlechte Idee. «Überlegen Sie vielleicht besser noch mal, ob Sie wirklich in eine große Immobilie investieren wollen», sagte ich zu dem Kunden. «Es ist eine Menge Extraaufwand für Instandhaltung, Pflege und Reinigung, alles zusätzliche Belastungen.»

«Sie sollten sich besser noch mal überlegen, ob Sie Kunden davon abbringen wollen, Häuser über unsere Website zu kaufen», sagte mein Chef. Dann hat er mich zwei Tage zwangsbeurlaubt.

Ich lege mich auf das Einzelbett und starre an die weiße Zimmerdecke, unsicher, was ich als Nächstes tun soll, bis ich Dad durch die Haustür kommen höre.

ALEX

Persönlicher Kalender

Neue Aufgabe: Test. Wer nutzt solche Kalender überhaupt? Schätze, es funktioniert ... Schätze, Leute, die arbeiten gehen, benutzen sie ...

Neue Aufgabe: Mich mit Dan treffen (tun wir einfach so, als sei es ein «Treffen» und kein von Bier befeuertes Rumgejammer)

Neue Aufgabe: Vier Stellenangebote vom Jobcenter lesen (und wegwerfen)

Die Müllabfuhr weckt mich um 5:1-4 Uhr aus einem wirren Traum, den ich sofort vergesse. Abgesehen davon hab ich letzte Nacht gut geschlafen. So was sagt natürlich nie jemand: Wir reden nur dann über unseren Schlaf, wenn er schlecht war; an Gutem oder Neutralem sind wir nicht interessiert. Schlaf ist so verzerrt wie Google-Bewertungen.

Die Außenwelt dringt durch die einfach verglasten Fenster in meine Wohnung. Sie ist klein, hat ein Schlafzimmer und einen offenen Wohnbereich und liegt in dem belebten Viertel Möllevången mit seinem Markt voller Mangos und Kochbananen, den Cafés und veganen Szenelokalen. Allein bin ich nie, zum Glück; die bunte Mischung aus Sprachen und Gesichtern hüllt mich in eine Blase der Zugehörigkeit. Ich muss mich nur hinauswagen, um an die Welt um mich herum erinnert zu werden.

Beschließe aufzustehen und den Tag mit einem Espresso zu beginnen. Habe darüber nachgedacht, Espresso trinken in meinen Kalender einzutragen, damit ich heute nur noch zwei Dinge zu erledigen habe, mich jedoch dagegen entschieden. Ich muss den ersten Schritt des Wiederaufbauprogramms, wenn man es so nennen kann, ernst nehmen. Der Stapel Rechnungen auf der Frühstückstheke, dem einzigen Tisch, den ich habe und immer dann benutze, wenn es unangemessen ist, auf dem Sofa zu essen, muss in Angriff genommen werden, also fange ich an, ihn durchzusehen. Papierlos ist mir lieber; weniger aufdringlich und einfacher zu ignorieren, wenn sich die Schreiben in irgendeiner Cloud oder einem überfüllten Postfach befinden. Aber es sind nicht meine Rechnungen. Der erste Brief ist eine Erinnerung, dass die Leasingzahlungen für das Auto im Verzug sind. Das zu ignorieren wird immer schwieriger. Der alte Alex würde sich dem Ganzen einfach stellen, sich einen Job suchen und ranklotzen. Aber ich bin nicht mehr der alte Alex. Beweis: Der alte Alex würde an einem Samstagmorgen irgendwo Paddleball spielen. Und der alte Alex würde mit Sicherheit keinen Ring tragen, der ihm nicht gehört. Dans Antwort, als ich ihn fragte, ob ich ihn behalten könne, habe ich immer noch im Ohr.

«Ich hab selbst einen am Finger, oder nicht? Das ist meiner, der, den Calle mir angesteckt hat. Er war dein Bruder. Wenn du irgendwas willst, das ihm gehört hat, ist es deins.»

Der neue Alex ist ein Scheißkerl, ich mag ihn und seine Art nicht. Würde diesem neuen Alex nicht mal dann eine Stelle geben, wenn er der letzte Mensch auf Erden wäre, daher erspare ich dem Arbeitgeber die Mühe, ihn überhaupt zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Und meinen Freunden erspare ich die Mühe, sich mit ihm zu treffen, und der Dusche erspare ich die Freude seines Anblicks. Mir kommt ein Gedanke, der mir ganz und gar nicht gefällt: Was würde mein Bruder von dem neuen Alex halten?

 

Als ich vom Parkplatz laufe, vibriert mein Handy mit einer Kalendererinnerung. Seltsam befriedigend, dem Zeitplan voraus und bereits vor Ort zu sein. Das Areal ist menschenleer, abgesehen von ein paar Leuten, die mit ihrem Hund spazieren gehen, und Radfahrern: Dem eiskalten Ostseewind stellt man sich nur, wenn man muss. Vor mir ragt das weiß-graue Gebäude namens Turning Torso in den Himmel, ein in sich verdrehtes Hochhaus mit vierundfünfzig Stockwerken vor dem Hintergrund des offenen Meeres. Es erinnert mich an ein Twister-Eis, das die Farbe verloren hat. Das Hochhaus steht am Stadtrand, ist aber trotzdem fußläufig vom Zentrum zu erreichen und bietet als eines der wenigen Gebäude in Malmö ultramoderne Luxuswohnungen.

Der Concierge nickt mir grüßend zu. Ich fühle mich immer komisch dabei, den Gruß zu erwidern, und weiß nie, wie breit mein Lächeln sein sollte. Personal und schicke Marmorböden bin ich nicht gewohnt. Mama und Papa bedanken sich jedes Mal bei ihm, wenn sie zu Besuch kommen, und machen Small Talk. Ihnen geht einfach nicht in den Kopf, dass er für seine Anwesenheit bezahlt wird, und sie benehmen sich, als wäre es sein Haus, das sie gnädigerweise betreten dürfen.

Habe das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden, als ich zum Aufzug gehe und auf den Knopf für den zweiunddreißigsten Stock drücke. Mein Finger hinterlässt einen Fleck auf dem glänzenden Stahl, der mehrmals am Tag poliert werden muss, um diesen Glanz zu bewahren. Mit meinem Jackenärmel wische ich darüber, als hätte ich etwas Schlimmes getan. Als ich aus dem Aufzug steige, klopfe oder klingle ich gar nicht erst, sondern schiebe einfach meinen – seinen – Schlüssel ins Schloss der schweren Stahltür und drücke sie auf. Fast ist es, als wäre ich er geworden.

Dan sitzt mit einem Bier auf der Couch und hat die weich aussehenden pedikürten Füße auf dem Polster ausgestreckt. Ein Bier trinkt man am besten mit einem Lachen oder mit nachdenklichem Blick, und Dan und ich sind Meister in Letzterem. Was gibt es auch zu lachen?

Lasse den Briefstapel, den ich mitgebracht habe, auf den runden Marmorkaffeetisch fallen, behalte aber einen in der Hand als Untersetzer für die Bierflasche, die ich mir in der Küche holen gehe. Dan hilft mir jetzt schon seit Monaten bei der Lebensführung, dem Bezahlen von Rechnungen und dem Aufsetzen von Briefen. Er ist viel zu gutherzig zu mir; ich habe das gar nicht verdient. Manchmal wünschte ich, er würde mich anschreien, statt für mich den Sekretär zu spielen.

Der Kühlschrank verströmt keinerlei Geruch, als ich ihn öffne. Ketchup, saure Gurken, Senf und Heineken. Eine Teriyaki-Marinade und ein Würfel frische Hefe, die inzwischen schlecht sein dürfte. Ich schließe die Tür. Gibt es etwas Deprimierenderes als einen Kühlschrank ohne Essen? Ohne Menschen, die er ernähren muss?

Dan rutscht mit den Beinen zur Seite, um mir Platz zu machen.

«Irgendwann muss ich diese Wohnung verkaufen. Wir können nicht ewig eine Millionen-Immobilie als unseren Man Cave benutzen», sagt er. Wir haben beide unsere Überlebensstrategie gefunden – hierherzukommen war seine.

«Ich weiß.» Ob es harmlos war, auch dieses dritte Andenken zu behalten, habe ich Dr. Hadid nicht gefragt. Ich fühle mich schuldig, weil ich derjenige bin, der sich schwertut. Dan geht mit der Sache besser um als ich, obwohl er jedes Recht, sogar mehr Recht hat, am Boden zerstört zu sein. Hat sich zwei Wochen von der Arbeit freistellen lassen, viereinhalb Kilo abgenommen und eine Menge Tränen vergossen und ist funktionsfähig am anderen Ende wieder aufgetaucht. Keine Wut, keine Verbitterung. Nur diese permanente Traurigkeit in seinen Augen. Wie ein unschöner Dehnungsstreifen auf der Haut. Aber andererseits war auch nicht er derjenige, der sich weigerte, Calle an jenem Abend nach Hause zu fahren. Anscheinend ist Trauerbewältigung ohne Schuldgefühle sehr viel einfacher.

«Ich überlege, vorher ein paar Änderungen vorzunehmen. Die meisten Menschen wollen mehrere Räume, nicht nur einen großen offenen Wohnraum. Das würde den Preis hochbringen, und die Wohnung würde sich schneller verkaufen. Ich habe das Gefühl, Calle fände es nicht gut, wenn ich sie billig verkaufe, nur damit irgendjemand anderes alles verändern kann.» Aber ich mag den riesigen und nur karg möblierten Raum: eine Couch, grau wie das Wintermeer. Ein großer Teppich auf dem Holzboden und ein Esstisch neben der Frühstückstheke. Alles ist versteckt – nur Schubläden und Schränke, selbst die Schale für die Schlüssel und den Kleinkram, die sich normalerweise neben jeder Eingangstür findet, fehlt. Die Wohnung würde es in jedes Innendesignmagazin schaffen. Calle hatte Talent.

Erinnerungen kommen hoch, wie wir früher Aufgaben tauschten.

«Ich habe aufgeräumt, gelüftet und dein Zimmer neu dekoriert, während du weg warst. Jetzt bist du dran, mein CD-Regal fertig zu machen», sagte Calle immer mit ernstem Verhandlungsgesicht.

«Warum riecht es hier nach Vanille?» Ich schnüffelte argwöhnisch.

«Weil ich ein paar Vanilleschoten klein gestampft und sie mit Zimt gemischt habe. Dein Zimmer hat nach dreckigem Bettzeug gerochen, bevor ich es mir vorgeknöpft habe, Alex.»

«Ich bin dreizehn, Mann. Was interessiert es mich, wonach es riecht?»

«Das bedeutet nicht, dass dein Zimmer nicht gut riechen darf.»

Ich baute ihm Holzautos, dann CD-Regale, dann glatt polierte Holzkistchen für seine Uhren. Im Gegenzug räumte er mein Zimmer auf und ließ es nach Vanille duften.

Ich nehme den weiten Himmel und das wilde Meer in mir auf. Auf der anderen Seite des Meeresarms, den in der Ferne ein paar Frachtcontainer und eine Passagierfähre überqueren, ist Kopenhagen zu erkennen. Ich stehe auf dem Gipfel der Welt und habe reichlich Luft zum Atmen. Falls das Hochhaus im Wind schwankt, dann so sanft, dass wir es nicht bemerken. Wenn es mein Zuhause wäre, würde ich wahrscheinlich hier auf der Couch einschlafen.

«Gibt’s irgendwas Neues?», frage ich. Die Menge an Beschissenem, auf das ich momentan warte, ist endlos. Wenn man jung ist, hält man es für Folter, auf etwas Gutes zu warten. Das Ende des Schultags: Jede Minute kriecht dahin, als hätte sie ein Loch. Abendessen mit Erwachsenen: Wie kann es bitte noch einen Gang vor dem Dessert geben? Und Weihnachten – na, was glaubt ihr wohl, warum diese Schokoladenkalender erfunden wurden? Wenn man erwachsen wird und auf eine beschissene Katastrophe warten muss, sieht man seine gesamte Kindheit in einem völlig anderen Licht, und plötzlich erscheint sie einem wie das reinste Idyll.

Wir haben uns die Akten der polizeilichen Ermittlung durchgelesen, die Zeugenaussagen und den Obduktionsbericht (fünfte Fassung), uns wurde ein Staatsanwalt an die Seite gestellt, und wir haben zugehört, als das vorläufige Urteil gesprochen wurde. Alle Juristen sprechen gleich. «Es ist unmöglich vorherzusagen. Wir können nicht sicher sein. Ich würde empfehlen, dieses Dokument beizufügen, um die Chance zu erhöhen.» Für Fachleute, die mit Fakten arbeiten, sie aufbereiten, analysieren und präsentieren, sind sie ein unglaublich vages Völkchen.

«Ich wollte es dir gerade erzählen, Alex. Ich habe heute Morgen mit dem Staatsanwalt gesprochen. Der Termin für die Gerichtsverhandlung wurde festgesetzt. Zweiundzwanzigster April.» Bis dahin sind es noch Monate, aber immerhin endlich ein Termin. Das bedeutet, dass ich mich verdammt noch mal beeilen und bereit sein muss. An meiner Wirbelsäule kribbelt es seltsam. Schlimm seltsam, glaube ich.

«Also in siebenundsiebzig Tagen», sage ich sofort.

«Ich vergesse immer, wie gut du in Mathe bist.»

Meine Augen tun weh, und ich spüre Dans Blick auf mir.

«Bist du in letzter Zeit gefahren?», fragt er. Er ist der Einzige, der weiß, was ich nachts tue. Womit ich nicht aufhören kann.

«Vielleicht.» Er sagt mir nicht, dass ich ein Schwachkopf bin, weil er tief drinnen versteht, warum ich es tue, woher es kommt, dieses dringende Bedürfnis. Wenn man etwas aus Liebe tut, zählt es nicht, oder? Selbst wenn es verrückt ist.

Es gibt eine Person, die wir finden müssen, die Informationen hat, die wir brauchen, und niemand sonst sucht nach ihr.

Zweiundzwanzigster April. Mir wurde gerade eine Deadline gesetzt.

KLARA

Google: Wie fährt man einen Transporter mit Schaltung?

Mir steigt Kaffeegeruch in die Nase, als ich die Treppe hinunterlaufe, jede Stufe knarzt in einem anderen Ton, was mich an ein nicht gestimmtes Klavier erinnert. Ich gieße mir eine Tasse ein und fülle eine Schale mit Katzenfutter, das ich unter der Spüle finde. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie viele Katzen mein Vater zurzeit hat und wie sie heißen. Als wir vier Babykatzen von einem Nachbarn adoptierten, da war ich noch ein Teenager, überlegten wir uns als Namen Dinge, von denen es vier gibt. Die Jahreszeiten, die Elemente, die Himmelsrichtungen. Ich weiß noch, dass ich die vier Aggregatzustände vorschlug, aber aus irgendeinem Grund haben die anderen gegen Fest, Flüssig, Gas und Plasma gestimmt.

Ziemlich sicher, dass der rotfarbige Kater, der jetzt in die Küche stolziert kommt, Björn ist, und der schwarze, der ihm unauffällig folgt, ist Benny. Gestern im Garten habe ich eine schüchterne Dritte entdeckt. Das müsste dann Agnetha oder Frida gewesen sein. Das letzte ABBA-Mitglied ist vor ein paar Jahren in den Wald abgehauen. Benny versucht, Björn aus dem Weg zu drängen, aber der faucht und zeigt seine spitzen gelben Zähne. Benny lässt sich einen Meter entfernt nieder und guckt traurig zu, wie sein Fressen verschwindet.

«The winner takes it all», sage ich mitleidig zu ihm, bevor ich eine zweite Schüssel hervorhole und sie ihm über den Boden zuschiebe.

 

Es kommt mir vor, als wäre ich wieder siebzehn und würde für meine bevorstehende Fahrprüfung lernen. Meine Hand hält den Schaltknüppel fest umklammert, und die meines Vaters schwebt angstvoll über ihr. Seine Knöchel sind weiß, und seine Hand zittert. Wenn man bedenkt, dass ich die Prüfung erst im dritten Anlauf bestanden habe, kann ich seine Besorgnis verstehen.

«Ich habe alles unter Kontrolle.»

«Du wärst fast gegen die Mülltonne gefahren!»

«Die steht nicht da, wo sie gestern stand. Woher soll ich denn wissen, wo sie ist, wenn sie ständig woanders steht?»

«Also ist die Mülltonne schuld, dass du sie beim Zurücksetzen fast erwischt hast? Ich glaube nicht, dass das vor Gericht Bestand hätte.»

«Es fühlt sich an, als würde man einen Traktor fahren.»

«Wenn es ein Traktor wäre, wären wir wenigstens auf einem Feld, und du würdest langsam fahren, nicht auf der offenen Straße zusammen mit – Gott steh uns bei – anderen Fahrzeugen.»

Ich bin eine gute Fahrerin, bin ich wirklich. Sogar in London kann ich fahren, und manchmal nutzen Alice und ich Carsharing. Ihre Aufgabe ist es, Snacks mitzubringen (bei Roadtrips geht es hauptsächlich um Snacks und schnulzige, zu voller Lautstärke aufgedrehte Radiolieder), und ich bin normalerweise die Fahrerin. Die Route suche ich mir im Vorfeld heraus und fahre sie im Kopf ab, während ich dusche: Visualisierung heißt das. Links auf die North End Road abbiegen, sage ich dann in Gedanken zu mir selbst. Das Problem mit Schweden ist, dass die Landstraßen hier nicht normal sind, sie haben keine Beschilderung. Sie führen dahin und enden an gefühlt beliebigen Stellen, sodass ich nicht zu mir sagen kann: «Rechts abbiegen auf Kensington High Street», was mir ein Gefühl von Verlorenheit gibt.

Außerdem ist das hier kein Auto, sondern ein Monstrum. Ziemlich ähnlich wie die Autos, die ich als Kind gemalt habe. Ein großes weißes kastenförmiges Monstrum von einem Transporter, den ich irgendwie lernen muss zu fahren, bevor ich meinen Vater morgen das erste Mal zur Arbeit begleite.

Wir fahren jetzt schon seit einer halben Stunde die Schotterstraße vor dem Haus hoch und runter, haben Einparken und Zurücksetzen geübt. Wie gestern nieselt es leicht, und der Himmel sieht hormongeladen aus, unberechenbar dunkel mit dahintreibenden Wolken.

«Versuch dich einfach zu entspannen. Bleib ruhig», sagt Dad und bereitet sich auf den nächsten Einparkversuch vor. Gab es in der Geschichte der Menschheit jemals eine Person, die sich beruhigt hat, weil sie dazu aufgefordert wurde? Ich denke nicht.

Erneut setze ich zurück und hätte diesmal um Haaresbreite einen Blumentopf mitgenommen.

«Ich brauche eine Pause.»

«Grundgütiger, ich auch.»

 

Wir sitzen am Küchentisch, poliertes helles Holz und Blumenuntersetzer für unsere Kaffeetassen und Kuchenstücke. Kaffee in Schweden ist das Pendant zu Tee in England: Wir trinken ihn morgens, vormittags, nachmittags, spätnachmittags und, wer nicht an Schlaflosigkeit leidet, nach dem Abendessen. Ich nehme einen großen Schluck von dem wässrigen dunklen Gebräu, das unausweichlich kalt sein wird, bevor ich am Boden der randvollen Tasse angekommen bin.

Uns bleiben nur ein paar Tage, bis ich wie versprochen Dad als Geschäftsführer ersetze und sein erster Behandlungstag bevorsteht. Seine Krankenhaustasche ist gepackt, seine Musik downgeloadet, und ich habe ihm ein paar Trinkpäckchen mit Strohhalm untergeschoben, die gleichen, die ich bei Schulausflügen immer in meiner Brotdose hatte. Saga hat gelesen, dass es den durch die Strahlentherapie hervorgerufenen Schwindel reduzieren kann, wenn man Saft trinkt. Bisher hält sie ihr Versprechen zu helfen, schickt nützliche Informationen und Links, doch um die Website hat sie sich noch nicht gekümmert. Dad ist so bereit für seinen ersten Tag, wie er nur sein kann. Ich für meinen weniger. Ich versuche, das Gesicht eines verantwortungsbewussten Erwachsenen aufzusetzen.

«Wie sieht der Zeitplan aus?», frage ich.

«Diese Woche schaust du mir über die Schulter, und ab nächster Woche habe ich Montag bis Mittwoch Behandlung und bin dann den Rest der Woche zu Hause. Um mich auszuruhen.» Er sagt das, als sei es ein anzügliches Wort. Wie ich hat er ständig Hummeln im Hintern und mag es nicht, lange still zu sitzen.

«Ich fahre dich ins Krankenhaus und hole dich dann wieder ab», sage ich und spritze mir eine kleine Dosis Insulin, indem ich auf die klobigen Knöpfe meiner Pumpe drücke. Der Stress scheint seinen Tribut zu fordern. Seit meiner Ankunft ist mein Blutzuckerspiegel erhöht.

«Danke, aber ich komme schon klar. Du wirst genug zu tun haben, Klara. Dir ist es noch nicht bewusst, aber du wirst schwer beschäftigt sein und möglicherweise nicht die Zeit haben, mich herumzufahren. Mir wäre es lieber zu wissen, dass in der Firma alles unter Kontrolle ist. Ich kann mir ein Taxi rufen – die gibt es sogar hier, weißt du.» Ja, zu irrsinnigen Preisen und mit einer halben Stunde Verspätung, weil sie sich zwischen all den Feldern verfahren.

«Das verstehe ich. Ich gebe mein Bestes, wirklich. Wie wär’s, wenn ich dich fahre, wann immer ich Zeit habe, und die übrigen Male akzeptiere ich, dass du dich selbst um dein Taxi kümmerst.» Ich weiß, dass ich Dad meine Hilfe nicht aufdrängen sollte. Auf seine Tochter angewiesen zu sein, ist eine größere mentale Herausforderung für ihn als die Krankheit selbst, das erkenne ich an der Art, wie er die Schultern verkrampft. Er ist der Fels in der Brandung, den wir anrufen, wenn wir etwas vermasselt haben. Der uns den Arsch rettet, wenn wir bei einem Konzert in Shoreditch unser Portemonnaie verlieren und nicht nach Hause kommen, es sei denn, irgendjemand hinterlegt seine Kreditkarte auf einem Uber-Account (Saga), oder wenn die Spülmaschine kaputt ist und wir über FaceTime Hilfe bei der Fehlersuche brauchen (ich).

Langsam schwant mir auch, dass meine Arbeit hier mehr beinhaltet, als der Website einen neuen Anstrich zu verpassen, wie ich mir anfangs vorgemacht habe. Apropos Website …

«Ich habe dem IT-Typ geschrieben, dass er meine E-Mail-Adresse hinzufügen soll, aber er hat noch nicht geantwortet», sage ich.

«Warum rufst du ihn nicht an?», fragt Dad.