The Monet Family – Shine Bright Like a Treasure - Weronika Anna Marczak - E-Book
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The Monet Family – Shine Bright Like a Treasure E-Book

Weronika Anna Marczak

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Beschreibung

Sie würden alles tun, um dich zu beschützen. Alles. 

Die 15-jährige Hailie Monet wächst bescheiden, aber behütetet auf, bis ihre Familie bei einem tragischen Autounfall zu Tode kommt. Plötzlich Waise, erfährt Hailie, dass sie fünf ältere Halbbrüder in Amerika hat: Vincent, Will, Dylan, Shane und Tony. In der Luxusvilla in Pennsylvania hat Hailie alles, wovon sie träumen könnte, und fühlt sich dennoch einsam. Dann stellt sie fest, dass ihre unnahbaren Brüder sie strengstens bewachen. Aber wer könnte es auf sie abgesehen haben? Und welches dunkle Geheimnis versuchen ihre Brüder mit aller Macht zu verbergen? 

Der Auftakt der Bestseller-Reihe über eine mysteriöse Familie voller Abgründe – »The Monet Family«.

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Seitenzahl: 590

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Über das Buch

Jeder kennt sie. Sie haben ein Geheimnis. Sie sind gefährlich. Und: Sie sind deine Brüder.

Hailie Monet hat alles verloren: ihre Familie, ihr Zuhause und ihr Leben in England. Sie zieht zu ihren fünf Halbbrüdern in eine Villa in den USA, und von einem Tag auf den anderen lebt sie im Luxus. Doch ihre Brüder überwachen jeden ihrer Schritte – eine Prinzessin im goldenen Käfig. Und auch außerhalb der Villa macht man einen Bogen um sie, denn jeder weiß: Die Monet-Familie ist gefährlich.

Über Weronika Anna Marczak

Weronika Anna Marczak hat Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Breslau studiert. Nach ihrem Abschluss ging sie nach Spanien, wo sie den ersten Band der »Family of Secrets«-Reihe schrieb – in den Cafés von Barcelona, stets mit schwarzem Kaffee und einem Schokoladencroissant bewaffnet. Später zog sie nach Wien, um dort in der Kryptoindustrie zu arbeiten. Heute lebt und schreibt sie in Warschau. Weronika kocht gern vegetarisch und liebt es, zu reisen. Ihre Bücher wurden in Polen zu Sensationserfolgen und sind vielfach preisgekrönt. Instagram/TikTok: @werkapisze

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Weronika Anna Marczak

The Monet Family – Shine Bright Like a Treasure

Roman

Aus dem Polnischen von Paulina Schulz

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Triggerwarnung

Widmung

1: Die Villa der Monets

2: Rapunzel

3: No way, Kleine!

4: Minderjähriger Straftäter

5: Der Name Monet

6: Nerviger Kram

7: Der Engel

8: Das Imperium

9: Keine Tarnung ist die beste Tarnung

10: Dylan rastet aus

11: Winter

12: Dieser Schwachkopf!

13: Zwei gebrochene Herzen

14: So süß wie Schokolade

15: Spiel um den höchsten Einsatz

16: Kleine Schwester

17: Tony, der Idiot

18: Eine bescheidene Aktion

19: Etwas Schönes

20: Bruder vs. Elternteil

21: Schöne Augen

22: Opa Vincent

23: Schön und intelligent

24: Eine freundliche Geste

25: Pass auf dich auf, Kleiner!

26: Ein schlechter Traum

27: Nichts zu danken

28: Dreckskerl

29: Fieber

30: Was meinst du, Hailie?

Triggerwarnung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Liebe Leser:innen,

in The Monet Family – Shine Bright Like a Treasure sind potenziell triggernde Inhalte enthalten.

Wenn Du denkst, dass Du betroffen sein könntest, findest Du hinten im Inhaltsverzeichnis unter „Triggerwarnung“ entsprechende Hinweise.

Wir wünschen Dir ein schönes Leseerlebnis.

Deine Aufbau Verlage

Für meine Lieben: Asia K., Dominika M., Sylwia W., Nikola M., Nikola G., Karolina K., Zuzia P., Basia A. Dafür, dass ich Euch habe und dass Ihr mir jederzeit das Beste wünscht.

Für meine Eltern, deren Unterstützung unersetzlich ist.

Für meine Leser:innen, denen ich es verdanke, dass mein Traum in Erfüllung gegangen ist.

1

Die Villa der Monets

Es war der Tag, an dem meine Großmutter in Ohnmacht fiel.

Sie brach einfach zusammen, eine Tasse heißen Tee in den Händen. Plötzlich herrschte Chaos. Meine Mutter schrie mich an, ich solle aufpassen, mich nicht an den Scherben der zerbrochenen Tasse zu schneiden, und kniete sich zu meiner Großmutter. Ihre weit aufgerissenen Augen und ihr gespenstisch blasses Gesicht sollten mich später bis in meine Träume verfolgen. Ich wollte so gern helfen, hielt es jedoch für besser, meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, die sich sofort zum Aufbruch fertig machte. Ich sehe noch vor mir, wie sie meiner Großmutter den Mantel um die Schultern legte, sie aus der Wohnung führte und mir in aller Eile zurief, ich solle nicht warten und am besten ins Bett gehen, weil es schon spät sei und ich ja morgen Schule hätte. Dann schob sie noch rasch hinterher, alles würde wieder gut werden, und bat mich, die Tür hinter ihnen abzuschließen. Das war das Letzte, was sie zu mir sagte.

Viele Stunden später schloss ich die Tür wieder auf. Davor standen zwei grimmig dreinblickende Polizisten, denen ich in einem abgetragenen T-Shirt und karierten Schlafshorts entgegenblickte. Müde rieb ich mir die Augen, als einer von ihnen mit angespannter Stimme erzählte, dass das Auto meiner Mutter von einem betrunkenen Fahrer gerammt worden war. Nachdem sie viele Stunden im Krankenhaus verbracht hatten, waren meine Mama und meine Oma gerade wieder auf dem Weg nach Hause gewesen.

Keine von ihnen hatte überlebt.

Mein Herz blieb für einen Moment stehen und pochte dann rasend schnell. Meine Müdigkeit schlug augenblicklich in tiefe Verzweiflung um. Ich weiß nicht mehr wann, irgendwann tauchte der Sozialdienst auf. Fremde Menschen versuchten, mich mit sanften Stimmen zu beruhigen, während ich auf dem Sofa saß und weinte. Später starrte ich nur stumpf auf den Boden und zuckte jedes Mal zusammen, wenn jemand meine Schulter berührte. Ein endloser Strom von Tränen lief mir über die Wangen und durchnässte mein Shirt. Jemand reichte mir Taschentücher, doch ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte. Einen Schmerz, wie ich ihn in diesem Moment empfand, sollte niemand fühlen, schon gar nicht ein vierzehnjähriges Mädchen. Ich hatte meine Mama und meine Oma verloren, die einzigen Menschen, die mir nahestanden. Meine Familie.

Ich war mir sicher, dass ich nun wie all die Waisenkinder, die ich aus Büchern und Filmen kannte, von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht werden würde. Doch etwas anderes geschah, etwas, das mein Leben noch viel drastischer verändern sollte.

Man sagte mir, dass ein gewisser Vincent Monet von nun an mein gesetzlicher Vormund sein würde. Einen schmerzhaften Moment lang glaubte ich, er könne mein biologischer Vater sein. Jener Mann, von dem ich rein gar nichts wusste. War er etwa gefunden worden? Es stellte sich jedoch heraus, dass es sich bei diesem Vincent um meinen Halbbruder handelte. Als ich das hörte, wurde mir ganz schwindelig. Ein Bruder. Ich hatte einen Bruder! Ich war als Einzelkind aufgewachsen, und nun erfuhr ich, dass ich einen älteren Bruder hatte, der sich bereit erklärt hatte, mich bei sich aufzunehmen.

Bald darauf saß ich in einem Flugzeug, auf dem Weg in eine neue Welt. Inzwischen hatte ich schon ein paar Infos mehr. Ich wusste, dass ich nicht weniger als fünf Brüder hatte, dass sie alle älter waren als ich und zusammen im Haus der Familie in Pennsylvania lebten. Und es gab kaum etwas, das mir mehr Angst hätte machen können, denn ich hatte in meinem Leben noch nie besonders viel mit Männern zu tun gehabt. Ich war ohne Vater aufgewachsen, hatte, zumindest soweit ich wusste, nicht mal einen Onkel. Die einzigen Erwachsenen des anderen Geschlechts, die ich kannte und einigermaßen regelmäßig sah, waren ein paar Lehrer in der Schule, mein Arzt und ein Nachbar, der so tat, als würde er mich nicht bemerken, wenn ich Kirschen aus seinem Garten mopste.

Die Reise nach Amerika dauerte weniger lange, als ich es mir gewünscht hätte; kaum acht Stunden verbrachte ich im Flieger über dem Atlantik, gerade lange genug, um meine Nervosität noch zu verstärken. Und als der Pilot ankündigte, dass wir in wenigen Minuten landen würden, begann ich unwillkürlich zu zittern. Die Frau, die neben mir saß, dachte wahrscheinlich, ich würde an Flugangst leiden, und lächelte mich beruhigend an. Tja, ich hätte viel dafür gegeben, wenn der Grund für meine Unruhe so banal gewesen wäre.

Kurz darauf stand ich in der Schlange vor der Passkontrolle. Verkrampft klammerte ich mich am Riemen meines Handgepäcks fest, der mir über der Schulter hing, hörte das panische Klopfen meines Herzens in meinen Ohren, als stünde ich kurz vorm Kollaps. Immer wieder versuchte ich, unauffällig tief einzuatmen, um mich zu beruhigen. Wenn mich jemand beobachtete, würde er bestimmt denken, dass ich etwas Illegales über die Grenze schmuggeln wollte. Was, wenn die Beamten mich nicht ins Land lassen, weil ich ihnen verdächtig vorkomme?, dachte ich plötzlich.

Ich biss mir so fest auf die Unterlippe, dass es wehtat. Ich verzog das Gesicht und fuhr mir mit der Zunge über meinen trockenen Mund. Seit das Leben, wie ich es gekannt hatte, vorbei war, heulte ich entweder durchgehend, oder ich kompensierte meinen Stress mit der unschönen Angewohnheit, mir auf der Lippe herumzukauen.

Mein Pflegestift war irgendwo in der Schminktasche, tief verborgen in dem Koffer, in den ich fast mein ganzes Leben hatte packen müssen. Ich weiß noch, wie schrecklich es sich angefühlt hatte, nach der Katastrophe durch die Tür der Wohnung zu treten, in der ich mit meiner Mutter und Großmutter so gut wie mein ganzes Leben verbracht hatte, und mir klar wurde, dass ich mein Zuhause – im wahrsten Sinne des Wortes – verloren hatte. Der Vermieter sprach mir erst sein Beileid aus, um mich gleich darauf höflich zu bitten, die Wohnung so bald wie möglich zu räumen. Es war für mich unbegreiflich, dass ich zum letzten Mal im Heim meiner Kindheit sein sollte. Ich war sehr dankbar für die Hilfe einer einfühlsamen Sozialarbeiterin, die mir mit viel Geduld und Freundlichkeit bei dieser unangenehmen Aufgabe zur Seite stand, während ich wie gelähmt war und nicht wusste, was ich tun sollte.

Ich seufzte bei der Erinnerung und blickte mich um, in der Hoffnung, unter all den Menschen um mich herum jemanden zu entdecken, der genauso einsam war wie ich. Ich sah ein paar Alleinreisende, aber keiner von ihnen schien ähnlich verloren zu sein. Ansonsten waren hier überwiegend Gruppen – Freunde, Paare und Familien mit Kindern, bei deren Anblick mir die Brust eng wurde.

Ich holte mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Keine Nachrichten, keine Anrufe. Niemand fragte, ob ich gut angekommen war. Dann wisperte mir die harte Stimme Realität den grausamen Grund für diese Funkstille ins Ohr: Hailie Monet, du hast niemanden zurückgelassen, der sich für dich interessieren würde.

Als ich endlich an der Reihe war, warf der zuständige Beamte einen Blick auf mein Passfoto und stellte mir dann eine einfache Frage, die ich mit zittriger, heiserer Stimme beantwortete. Glücklicherweise war er nicht übermäßig misstrauisch und hieß mich mit einem freundlichen Lächeln in den Vereinigten Staaten willkommen.

Am Gepäckband musste ich eine ganze Weile warten, bis mein riesiger Koffer auftauchte. Ein Mann, der mit mir im Flugzeug gewesen war, half mir, ihn vom Band zu wuchten. Ich dankte ihm und freute mich über seinen offensichtlichen britischen Akzent, als er mir antwortete. Nach einer Weile verschwand der Mann in der Menge, für immer verloren in diesem großen Land, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mit ihm meine letzte, symbolische Verbindung zu England gekappt worden war.

Mit müdem Blick betrachtete ich meinen Rollkoffer, der eigentlich eher eine dunkelgrüne Tasche auf Rädern war, die meine Oma immer zu ihrer jährlichen Kurreise mitgenommen hatte. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln und danach zu greifen. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mich einfach auf den Boden sinken lassen, an die Decke gestarrt und wäre auf ewig so liegen geblieben. In diesem Moment war mir alles so dermaßen egal … Ich überlegte schon ernsthaft, mich für eine Weile irgendwo hinzuhocken, als plötzlich mein Telefon vibrierte.

Wie mechanisch zückte ich mein Handy und versuchte, die Angst, die mich auf einmal zu überwältigen drohte, zu ignorieren. Beim Anblick der Nachricht, die von einer mir unbekannten Nummer kam, blieb mein Herz erst beinahe stehen und raste dann wie verrückt. Es war eine SMS von meinem Bruder: Ich warte in der Ankunftshalle, neben der Apotheke. Nur das, mehr nicht. Keine Begrüßung, kein kleiner Scherz zur Auflockerung, nicht einmal ein alberner Smiley.

Mit einer Hand hielt ich die Tasche auf meiner Schulter, während sich die Finger meiner anderen Hand fest um den Griff des Rollkoffers krallten. Ich begann, mit langsamen Schritten auf die Schiebetür zuzutrotten, und mit jedem einzelnen Schritt spannte sich mein Körper mehr an. Immer stärker wurde das Gefühl, direkt in das Maul eines Löwen hineinzulaufen. Ich hatte definitiv zu viele Bücher über böse Stiefmütter, strenge Stiefväter und boshafte Stiefgeschwister gelesen. Immerhin waren die Menschen, die ich heute treffen würde, meine Halbbrüder. Es gab keinen Grund, zu befürchten, dass sie gemein zu mir sein würden.

Okay, bleib locker, flüsterte ich mir im Geiste zu, Kopf hoch.

Vor dem Durchgang in die Ankunftshalle hielt ich kurz inne, mein langer Zopf störte mich, und ich warf ihn mir auf den Rücken. Dann vergewisserte ich mich noch, dass ich mein Handy auch sicher in der Tasche meines Hoodies verstaut hatte. Schließlich holte ich tief Luft und ging weiter.

Die Ankunftshalle war riesig und erfüllt von Geschäftigkeit und dem Lärm der Reisenden. Aus den zahllosen Restaurants und Cafés drangen fremde Gerüche an meine Nase. Menschen fielen sich in die Arme, lachten fröhlich, sobald sie ihre Familien sahen. Es war mir alles so was von zu viel! Am liebsten wäre ich sofort wieder in ein Flugzeug gestiegen, das mich nach England zurückbrachte.

Dann entdeckte ich neben dem Schaufenster einer Fast-Food-Kette das Symbol einer Apotheke und eilte in die Richtung. Ich suchte die Gesichter der Leute ab, die dort standen, aber ich fand niemanden, der bei meinem Anblick aufmerkte. Alle Leute sahen gleichgültig an mir vorbei, und ich wusste ja nicht einmal, nach wem ich Ausschau halten sollte. Ich hatte keine Fotos von meinen Brüdern gesehen. Also konzentrierte ich mich einfach darauf, nicht zu stolpern. Es wäre peinlich gewesen, wenn ich genau jetzt am Kofferrad oder sonst wo hängen geblieben wäre.

»Hailie.«

Ich blieb stehen und drehte mich abrupt um. Das Erste, was ich sah, war der tiefe Ausschnitt des marineblauen Poloshirts eines Mannes, der direkt vor mir stand. Ich hob meinen Kopf und sah in warme blaue Augen von überraschender Freundlichkeit.

Ich öffnete meinen Mund, um »Hallo« zu sagen, aber bevor ich auch nur ein Wort herausbringen konnte, schloss ich ihn wieder. Ich kannte nicht einmal den Namen dieses Typen.

»Wie schön, dich zu sehen«, begrüßte er mich mit unüberhörbarem amerikanischem Akzent. Dann öffnete er die Arme und drückte mich an sich, behutsam und langsam, vermutlich, weil er mich nicht erschrecken wollte – aber zugleich wirkte es ganz natürlich. Als ob ich wirklich seine Schwester wäre. Eine Schwester, die er schon ewig kennt und nach langer Abwesenheit vom Flughafen abholt.

Diese Begrüßung war eine Überraschung für mich, und ich musste zugeben, dass sie mir gefiel. Seit dem Tod meiner Mutter und meiner Großmutter hatte mich niemand mehr umarmt. Außerdem roch er so gut und frisch, und in seinen Armen spürte ich genau jenes Gefühl von Stabilität und Ruhe, an dem es mir so sehr mangelte. Vor allem jetzt.

»Ich bin Will«, stellte er sich vor, nachdem er mich wieder losgelassen hatte. Er hielt den Kopf schräg, vermutlich um meine Reaktion zu verstehen, die ich allerdings vor ihm zu verbergen versuchte. Denn mir war gleich klar, dass seine Augen nicht nur freundlich, sondern auch wachsam und clever waren.

Ich begann, die Liste durchzugehen, die ich zuvor in meinem Kopf über meine neuen Brüder erstellt hatte – und in der ich mich immer noch nicht zurechtfand. Aber wenn ich mich richtig erinnerte, war Will nicht der älteste von ihnen.

»Es ist Vince, der zu deinem gesetzlichen Vormund bestellt wurde«, beeilte er sich zu erklären, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Eigentlich sollte er dich abholen, aber ihm ist bei der Arbeit etwas dazwischengekommen. Das passiert oft, du wirst dich schon daran gewöhnen. Aber du lernst ihn auf jeden Fall heute noch kennen.«

Er winkte ab, wie um die Unwichtigkeit dieses Themas zu betonen, und ich nickte verständnisvoll. Ehrlich gesagt, war es mir völlig gleichgültig, wer von den fünf Brüdern mich abholte. Alles, was ich wollte, war, diesen überfüllten Flughafen zu verlassen. Als Will mir anbot, in einem der nahe gelegenen Lokale etwas zu essen zu besorgen, da wir gut zwei Stunden bis nach Hause brauchen würden, lehnte ich dankend ab. Ich wollte einfach nur weg hier.

Will schien erst darauf beharren zu wollen, runzelte aber schließlich die Stirn und ließ es zu meiner Erleichterung bleiben. Er warf einen Blick auf die schicke Uhr, die an seinem linken Handgelenk funkelte, und griff dann nach meinem Gepäck. Trotz meines Protests bestand er darauf, mir nicht nur meinen Koffer, sondern auch meine Umhängetasche abzunehmen. Ich folgte ihm, befreit von der Last, während er mein komplettes Gepäck mit Leichtigkeit trug.

Als wir nach draußen kamen, holte ich tief und hörbar Luft. Ich schloss meine Augen und spürte die leichte Brise auf meinem Gesicht. Es war das erste Mal, dass ich mich auf einem anderen Kontinent befand, und die Luft fühlte sich definitiv anders an, auch wenn ich den Unterschied schwer beschreiben konnte. Amerika roch auch anders. Irgendwie intensiver.

Will führte mich zu seinem Auto, das schwarz, groß und luxuriös war. Es musste eine Art Jeep sein, ganz sicher war ich mir allerdings nicht, da meine Autokenntnisse gegen null tendierten. Auf jeden Fall war ich noch nie in einem solchen Wagen gefahren.

Einen weiteren Moment der Verwirrung erlebte ich, als Will mir die Tür auf der rechten Seite öffnete und auf den Beifahrersitz wies. Ich hatte völlig vergessen, dass in den USA Rechtsverkehr herrscht – der erste augenfällige Unterschied zwischen meiner Heimat England und diesem für mich so neuen Land.

Will kommentierte meine Verblüffung nicht, sondern lächelte nur vage; offenbar verzieh er mir von vornherein jeden Patzer. Das ließ mich Zuversicht schöpfen. Selten hatte ich es so sehr gebraucht, sanft und mit Verständnis behandelt zu werden, wie jetzt. Noch angenehmer überrascht war ich von den kleinen Gesten meines Bruders, etwa als er sich vergewisserte, dass die Klimaanlage auf meiner Seite nicht zu kalt eingestellt war, oder als er mir eine Flasche Wasser reichte. Ich hatte nichts erwartet, noch nicht einmal ein Mindestmaß an Freundlichkeit, und empfand sofort Zuneigung für diesen Fremden, der doch meine Familie war.

Beim Verlassen des Flughafens mussten wir ein wahres Labyrinth von Straßen durchqueren, was Will offensichtlich viel Konzentration abverlangte. So konnte ich ihn in aller Ruhe ansehen, ohne zu befürchten, dass er meine Neugier bemerken würde. Doch der Anblick meines neuen Bruders machte mich einigermaßen ratlos. Natürlich hatte ich vorher nicht gewusst, was, oder genauer: wer mich erwarten würde, aber nicht eines der Bilder, die ich mir von meinen neuen Geschwistern ausgemalt hatte, entsprach auch nur ansatzweise dem Original. Es ging nicht einfach nur darum, wie gut Will aussah – schließlich war er mein Bruder –, er hatte auch eine Art natürlicher Gepflegtheit an sich, die die Perfektionistin in mir sehr zu schätzen wusste.

Sein dunkelblondes Haar war zwar zerzaust, aber irgendetwas sagte mir, dass er es extra gestylt hatte, damit es so aussah. Ich hatte gewisse Vorurteile gegen Männer mit Bärten, weil sie mir irgendwie Unbehagen bereiteten, aber Wills schicker und perfekt gepflegter Dreitagebart fiel nicht in diese Kategorie. Seine blauen Augen waren hinter einer stylishen Sonnenbrille verborgen, obwohl es bewölkt war.

Als wir auf einer Ausfallstraße angekommen waren, begannen wir ein Gespräch. Oder eher eine Art Gespräch. Will stellte höfliche und sehr allgemeine Fragen, die ich kurz und leise beantwortete – und dabei mit Bedauern feststellte, wie heiser meine Stimme klang, während seine klar und deutlich war und vor Selbstvertrauen nur so strotzte.

Ich erfuhr, dass Will vierundzwanzig Jahre alt war und dass von seinen Geschwistern nur Vincent älter, nämlich achtundzwanzig war. Der älteste Bruder war offenbar als Workaholic für seinen übervollen Terminkalender verschrien, obwohl Will sehr respektvoll von ihm sprach. Er erzählte, dass Vincent das Familienunternehmen in jungen Jahren hatte übernehmen müssen und als dessen Geschäftsführer hervorragende Arbeit leistete. Und Will bestätigte, dass alle fünf Brüder in der Familienvilla lebten, wobei die jüngeren Brüder noch zur Schule gingen.

Wie von ihm angekündigt, fuhren wir über zwei Stunden, und den größten Teil der Strecke schwiegen wir einfach. Was definitiv meine Schuld war, denn ich war total wortkarg, und Will schien mich nicht drängen zu wollen, wofür ich ihm dankbar war. Irgendwann drehte er sogar die Musik leiser. Es lief ein Mix der größten Hits von Depeche Mode, und obwohl ich ihre Songs nicht besonders gut kannte, schienen sie mir seltsamerweise die perfekte Einstimmung auf meine ersten Momente in den Staaten zu sein.

Die meiste Zeit über starrte ich aus dem Fenster und dachte nach. Noch vor Kurzem war es mein größter Traum gewesen, einmal New York zu besuchen. Doch als ich jetzt die Wolkenkratzer von Manhattan sah, die sich in der Ferne abzeichneten, wurde mir regelrecht übel. Es war nicht so, dass ich nicht hier sein wollte. Es lag vielmehr daran, dass die Umstände einfach überhaupt nicht stimmten.

Auf der nächsten Etappe begleitete uns auf beiden Seiten der Straße der zwar schöne, wenn auch auf Dauer eintönige Anblick dicht gepflanzter Bäume mit golden schimmernden Kronen. Wie sich später herausstellen sollte, umgab ein ähnlicher Wald das Haus, in dem ich mit meinen neuen Brüdern leben würde.

Wir bogen von der Hauptstraße ab und hielten vor einem großen Tor – einem sehr hohen und sehr breiten Tor, das sich automatisch vor uns öffnete, und dann fuhren wir ein Stück weiter, bis ein Gebäude hinter den Bäumen auftauchte.

Es erschien wie aus dem Nichts, und der Anblick war überwältigend. Das Haus schien fast ein Teil des Waldes zu sein, so perfekt fügte es sich in die Landschaft. Es war unmöglich, seine Ausmaße abzuschätzen, doch es war klar, dass es wirklich groß sein musste. Wie eine mächtige, orangegoldene Welle erhob sich dahinter eine massive Reihe von Bäumen. Das Haus war nicht einfach eine moderne Neubau-Villa, sondern ein viel stimmungsvolleres, erhabeneres Gebäude. Seine Fassade erinnerte mich von der Farbe her an den Sand eines paradiesischen Strandes, während das hoch aufragende graue Dach an einem bewölkten Tag wie heute fast mit dem Himmel verschmolz. Das umliegende Grundstück war weitläufig, aber ansonsten eher unscheinbar, zumindest von der Seite, von der wir kamen. Ich sah akkurat gemähten Rasen, der an einigen Stellen mit Sträuchern verziert war, sowie hier und da einen Haufen geharktes Laub. Die Zufahrt verbreiterte sich direkt vor dem Haus und mündete in einen großen Platz. Auf der linken Seite befand sich die Garage, die sich stilistisch vom Haus abhob und mich vermuten ließ, dass sie irgendwann später angebaut worden war. Sie hatte zwei breite, hellbraune Tore und war augenscheinlich sehr geräumig.

Will parkte direkt davor und zwinkerte mir wohlwollend zu, als er den Motor abstellte.

»Willkommen zu Hause!«

Ich antwortete ihm mit einem schnellen, nervösen Lächeln. Will stieg aus, und ich warf einen flüchtigen Blick auf meine schlichten, schwarzen Leggings, die aus einem Multipack stammten, das meine Mutter in irgendeinem Supermarkt für mich gekauft hatte. Dann auf meinen marineblauen Hoodie, den wir wiederum im Sale erstanden hatten. Meine dunklen Haare waren zu einem langen, lockeren Zopf geflochten, der nach der Reise völlig zerzaust war. Was soll ich sagen: Ich kam mir vor wie eine kleine, verwahrloste Streunerin. Jemand, der in dieser Umgebung völlig fehl am Platz war.

Falls ich noch Zweifel daran gehabt haben sollte, dass ich hier als Aschenputtel gelandet war, wurden sie durch den Anblick der Inneneinrichtung endgültig ausgeräumt. Auf Klassenfahrt war ich einmal in einem Museum gewesen, dessen Hallen und Gänge genauso alt und exklusiv ausgesehen hatten – und ich hätte mir niemals träumen lassen, selbst einmal in einem ähnlich eingerichteten Haus zu wohnen. Ich traute mich kaum, den glänzenden Marmorboden zu betreten, als könne ich ihn verschmutzen oder beschädigen. Das vielleicht Beeindruckendste war die breite Treppe, die sich gleich der Klaviatur eines Pianos in einem sanften Halbkreis nach oben schwang.

Ein großes Gemälde, das an einer der Wände hing, fiel mir auf. Wahrscheinlich war dafür eine ganze Palette von Farben verwendet worden, dennoch wirkte es auf seltsame Weise verblasst, was die Erscheinung des Mannes, dessen schönes Gesicht im Vordergrund zu sehen war, noch unheimlicher machte. Direkt hinter ihm lauerte ein gruseliges Schreckgespenst, in wilden Pinselstrichen gemalt, das so furchterregend aussah, dass ich erleichtert den Blick abwandte, als Will meinen Arm berührte. Er bedeutete mir, ihm zu folgen.

Auf der rechten Seite befand sich ein gewölbter Durchgang, der zur Küche führte. Wir gingen hinein; sie war gepflegt und ordentlich. Das überraschte mich, die Küche war keineswegs in einem Zustand, den man von einem Haushalt mit fünf Jungs erwarten könnte. Der Raum war groß und in Weiß gehalten. Die breiten Arbeitsplatten waren ebenfalls schneeweiß und absolut sauber. Gleich hinter der Kücheninsel befand sich ein großer Esstisch mit hübschen, schlichten Stühlen. Dieser Teil des Raumes wurde durch ein riesiges Fenster erhellt, hinter dem die intensiven Herbstfarben einen schönen Kontrast bildeten. Meine Aufmerksamkeit wurde von jemandem gefesselt, der am Tisch saß. Ein kurzer Blick genügte, und schon wusste ich, dass es einer meiner anderen Brüder war.

»Hailie, das ist Dylan. Dylan: Das ist unsere Schwester Hailie«, stellte Will uns einander vor und rückte für mich einen Stuhl zurecht, den ich aus Höflichkeit annahm – obwohl ich, wenn es nach mir gegangen wäre, einen anderen Platz gewählt hätte als den direkt gegenüber von Dylan, der wortlos von seinem Laptop aufblickte und mich mehrere Sekunden lang musterte. Ich hatte erwartet, dass er mir zumindest die Hand geben würde, aber er hatte es offenbar nicht nötig, mich zu begrüßen, und ich war zu verlegen, als dass ich ihm als Erste die Hand gereicht hätte.

Seine Augen waren dunkel und bei Weitem nicht so einnehmend wie die von Will, obwohl es durchaus Ähnlichkeiten zwischen den beiden gab: etwa die hohen Wangenknochen und die ähnlich geformte Oberlippe. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so befangen gefühlt wie in diesem Moment, abgecheckt von Dylans intensivem Blick. Er hatte etwas an sich, das mich verunsicherte. Vielleicht war ich auch eingeschüchtert wegen seiner beeindruckenden Muskeln, noch betont durch sein enges T-Shirt? Oder es war doch nur der auffallende Mangel an Höflichkeit und Herzlichkeit?

Ich begann, mich in dem Raum umzusehen, um seinem intensiven Blick zu entgehen. Mir fiel ein riesiger zweitüriger Kühlschrank ins Auge, der in unserer Wohnung einen Großteil der Küche eingenommen hätte. Auf dem Tresen in der Ecke stand eine hochmoderne Kaffeemaschine mit gefühlt einer Million Knöpfen, und direkt daneben war ein weiteres ausgefallenes Gerät, das wie eine sonderbare Saftpresse aussah. Neben der Mikrowelle, die leise vor sich hin summte, stand Will und tippte energisch auf seinem Telefon herum.

Als ich einen Moment später vorsichtig zu Dylan blickte, starrte er wieder auf seinen Laptop, wobei sich der Hauch eines unverschämten Lächelns auf seinen Lippen abzeichnete. Ich sah zum großen Fenster hinaus, hinter dem der grüne, ordentlich gemähte Rasen zu sehen war, der an einigen Stellen mit verwelktem Laub bedeckt war. Etwas weiter im Hintergrund waren Bäume zu sehen. Darunter konnte man sowohl grüne Nadelbäume als auch Laubbäume, rot und golden oder kahl und braun, erkennen. Ich spielte nervös mit meinen Fingern und starrte gedankenverloren in den Garten, bis die Mikrowelle einen Ton von sich gab.

»Unsere Haushälterin arbeitet sonntags nicht, aber sie hat gestern extra etwas für dich vorbereitet. Sag ruhig, falls es dir nicht schmecken sollte. Wir können jederzeit etwas bestellen. Was auch immer du willst«, sagte Will und stellte einen dampfenden Teller mit köstlich aussehendem Nudelgratin vor mich hin. Die beiläufige Erwähnung einer Hausangestellten war wieder so ein Ding – war das hier ein Herrenhaus, oder was? Ich griff nach der Gabel, zutiefst gestresst, weil ich allein am Tisch an einem fremden Ort vor fremden Menschen essen musste, und brauchte gefühlt ewig dafür. Es ärgerte mich, dass ich vor Nervosität einen Kloß im Hals hatte und die superleckere Mahlzeit nicht richtig genießen konnte. Was mir hingegen gelang, war, mir richtig die Zunge zu verbrennen, so dass ich noch weniger schmeckte.

Ich gab mir alle Mühe, mich so zu benehmen, wie meine Mutter es mir beigebracht hatte, aß also brav mit Messer und Gabel, saß aufrecht mit geradem Rücken und gab mir alle Mühe, nicht zu kleckern. Ich achtete sogar darauf, meine Ellbogen nicht auf den Tisch zu stützen.

Will ging hinaus, als sein Telefon klingelte, und nun war ich allein mit Dylan. Mir wurde noch unbehaglicher zumute. Ich bedauerte, nicht auf Wills Angebot eingegangen zu sein, in einem der Läden am Flughafen etwas zu essen, dann hätte ich mir die stressige Gesellschaft dieses Typen hier erspart. Nach wie vor sagte er kein Wort zu mir, ich spürte nur gelegentlich seinen Blick. Ich wusste nicht, ob mich seine unterkühlte Art enttäuschen oder ich eher froh sein sollte, dass er mich nicht blöd anmachte. Auf jeden Fall war ich erleichtert, als Will zurückkam.

»Ich zeige dir dein Zimmer, okay?«, bot er an, als ich die Gabel zur Seite legte.

Trotz bester Absichten hatte ich es nicht geschafft, alles aufzuessen. Das Schlucken hatte mir wirklich Schwierigkeiten bereitet, und die Portion, die Will mir aufgewärmt hatte, war einfach riesig gewesen. Glücklicherweise war mein neuer Bruder nicht beleidigt. Als ich aufstand und nach dem Teller griff, um ihn abzuräumen, nahm er ihn mir sofort ab und sagte, ich solle mir keine Umstände machen. Gleichzeitig schien er erfreut zu sein, dass ich gute Manieren zeigte. Das erleichterte mich, denn ich wollte wirklich den bestmöglichen Eindruck machen.

Sobald wir die Küche verlassen hatten, wurde ich lockerer, da ich mich nicht mehr mit diesem pampigen Dylan befassen musste. Offenbar gelang es mir nicht gerade gut, meine Gefühle zu verbergen, denn sofort kommentierte Will leise: »Dylan ist schwierig, aber mach dir seinetwegen keine Gedanken. Er braucht eine Weile, um sich an die Situation zu gewöhnen. Weißt du, auch für uns ist das alles völlig neu.«

In dem Versuch, das richtige Maß an Anteilnahme zu zeigen, nickte ich. Will schien das zu schätzen, denn seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Dann deutete er hinter mich.

»Dort, gleich rechts, ist das Wohnzimmer. Da hängen wir oft zusammen ab. Und wenn du geradeaus gehst, findest du das Badezimmer und daneben die Bibliothek. Liest du gern?«

»Ich liebe Bücher!«, rief ich begeistert.

Zum ersten Mal an diesem Tag gelang es mir, laut und selbstbewusst zu klingen. Ich war die größte Leseratte der Welt, und es bedeutete für mich einen wahr gewordenen Traum, Zugang zu einem eigenen Bücherzimmer zu haben.

»Na, umso besser. Wir besitzen eine ziemlich große Sammlung. Du kannst sie gern erweitern, kauf ruhig was Neues, wenn du magst. Schau einfach rein, wann immer du Lust hast.« Will deutete auf den langen Korridor, der tiefer ins Innere des Hauses führte. »Da geht es zum Gym. Wir haben dort auch eine Sauna und ein weiteres Bad. Das kannst du natürlich ebenfalls alles benutzen.«

Ich vermutete, dass Dylan häufig in diesem Teil des Hauses anzutreffen war, zumindest der Größe seines Bizeps nach zu urteilen, und nahm mir sofort vor, diesen Bereich zu meiden. Was für mich kein großes Problem darstellen würde – denn ein Sportfan war ich noch nie gewesen.

»Vom Gym und von der Lounge aus kommt man auf die Terrasse«, fuhr Will fort. »Da ist auch ein Pool, aber der ist leider schon winterfest gemacht.«

Selbst wenn ich das irgendwie hätte kommentieren wollen, hätte ich nicht gewusst, wie. Ich war einfach nur überwältigt. Also schwieg ich und folgte Will die Treppe hinauf. Ich hielt mich am glatten, schwarzen Holzgeländer fest, und als wir an dem verstörenden Porträt des geheimnisvollen Mannes vorbeikamen, sah ich schnell weg.

»Hier im ersten Stock befinden sich unsere Schlafzimmer. Am Ende des Flurs sind die Gästezimmer«, erklärte mir mein Guide, als wir am oberen Ende der Treppe angekommen waren. Der Flur war eher schlicht gehalten, mit einem Boden aus dunklem Holz und weiß gestrichenen Wänden. Von den Decken hingen geschmackvolle Kronleuchter. »Der Korridor auf der rechten Seite führt in einen anderen Teil des Hauses. Dort sind unsere Arbeitszimmer, also wäre es am besten, wenn du diesen Bereich einfach meidest, okay? Wir empfangen oft Kunden und brauchen Ruhe zum Arbeiten. Niemand sollte sich dort herumtreiben.« Wills blaue Augen blitzten bei diesen Worten auf.

Der Teil des Korridors, den er meinte, wirkte völlig unscheinbar und machte nach wenigen Metern einen Knick, so dass man nicht sehen konnte, wohin er führte, wenn man sich nicht selbst hineinwagte. Ich nickte gleichgültig.

»Klar.«

Dann machten wir uns auf den Weg zum mir zugewiesenen Schlafzimmer. Unterwegs kamen wir an einer Reihe von Türen vorbei, die sich nur dadurch voneinander unterschieden, dass etwa auf Kopfhöhe meines Bruders, der mindestens einen Kopf größer war als ich, Buchstaben angebracht waren. Will erklärte mir, dass es sich um die Anfangsbuchstaben ihrer Namen handelte. Ich bekam eine Gänsehaut beim Anblick der Tür, die mit einem großen silbernen »H« gekennzeichnet war.

»Das hier ist dein Zimmer. Willkommen!«

Meine Finger zitterten leicht, als ich sie um den blank polierten Griff legte. Ich hielt den Atem an und fühlte mich, als wäre ich kurz davor, Narnia zu betreten. Es fehlte nur noch, dass ich von einem geheimnisvollen schimmernden Licht aus dem Inneren geblendet würde.

Als ich mein neues, kleines und sehr helles Reich betrat, musste ich tatsächlich blinzeln. Für die Helligkeit sorgten cremefarbene Wände und Fenster, die vom Boden bis hinauf zur Decke reichten. Sie verliefen parallel zum Bett und fluteten den Raum mit Licht, selbst an einem wolkenverhangenen Tag wie heute. Die weißen Musselinvorhänge wurden an den Seiten von Bändern in blassem Grün gehalten, die zu großen, hübschen Schleifen gebunden waren. Es gab nur wenige Möbel, und der Raum wirkte alles andere als vollgestopft. Ein weißer Schreibtisch mit geschwungenen Beinen im viktorianischen Stil stand nah am Fenster, so dass die leere Tischplatte perfekt beleuchtet wurde. In der Nähe des Fensters befand sich außerdem ein großer Sessel, und schon bei seinem Anblick bekam ich Lust, mich mit einer Wolldecke und einem Buch hineinzukuscheln. Auf dem niedrigen Tisch, der direkt danebenstand und mit einem Rosenmuster verziert war, würde ich eine Tasse Tee oder Kakao platzieren, um es mir so richtig gemütlich zu machen. Neben dem Bett stand der obligatorische Nachttisch und darauf eine Lampe mit einem breiten, weißen Schirm, der mit goldenen Blumen übersät war.

Ich fragte mich gerade, wo ich meine Klamotten verstauen sollte, da es offenbar keinen Kleiderschrank gab, als mir zwei Türen auffielen. Sie waren direkt nebeneinander in eine Wand integriert, und noch bevor Will sich daranmachte, mir die restlichen Räume zu zeigen, ahnte ich bereits, was sich dahinter befand. Die eine Tür führte in das Ankleidezimmer. Es war einfach perfekt – wenn auch immer noch zu groß für mich und meine wenigen Klamotten. Gegenüber der Tür befand sich ein Spiegel mit einem schmalen, feinen Goldrahmen, in dem ich mich von Kopf bis Fuß betrachten konnte; während an den Wänden Stangen mit gefühlt Dutzenden von Kleiderbügeln sowie mehrere Regale, Schachteln und sogar ein paar kleinere Schatullen für Schmuck und Accessoires bereitstanden.

»Das hier sind deine Schuluniformen«, informierte mich Will, als er bemerkte, dass ich auf eine Reihe identischer Kleidungsstücke starrte, die fein säuberlich nebeneinander in einer Ecke des begehbaren Kleiderschranks hingen. »Außerdem hast du hier einen Schlafanzug, etwas Bequemes für zu Hause, einen Hoodie, falls dir kalt werden sollte …«, zählte er auf. »Sagen wir, es ist eine Art Willkommenspaket. Quasi die Basisausstattung. Keine Sorge, wir können dir jederzeit Kleidung online bestellen oder kaufen fahren. Du musst nur Bescheid sagen.«

»Danke«, erwiderte ich höflich und blickte auf die steifen dunklen Blazer, die mich an eine weitere Veränderung in meinem Leben erinnerten. Allein der Gedanke an eine neue Schule ließ meine Nervosität wiedererwachen. Ich schüttelte ihn schnell ab; später war noch genug Zeit, sich darüber Sorgen zu machen.

Der Raum nebenan war etwas größer und entpuppte sich als Badezimmer. Es war mit großen, grau glänzenden Fliesen ausgekleidet. Eine Glaswand trennte die offene Dusche ab, in der es eine edle Ablage für Duschgels und Shampoos gab. Außerdem hing dort ein weißer Bademantel, der wahnsinnig weich und flauschig aussah. Natürlich gab es auch eine Toilette, schlicht und weiß; und ein in die Wand eingelassenes Regal, in dem bunte Handtücher lagen. Daneben war eine runde weiße Schüssel angebracht, die offenbar als Waschbecken diente; darüber ein Spiegel.

Es beruhigte mich, in einem Haus voller Männer ein eigenes Bad zu haben. Ab und zu kommentierte Will, was ich sah. Er teilte mir zum Beispiel mit, dass die Haushälterin alles sauber halten und die Handtücher wechseln würde, dass ich verschiedene grundlegende Badezimmerutensilien im Schrank finden könne – und versicherte mir erneut, dass sie alles, was ich sonst noch brauchte, selbstverständlich kaufen würden.

Ich nickte, um zu zeigen, dass ich zuhörte und begriff, was er sagte, in meinem Kopf jedoch ratterte nur ein Gedanke: Wahnsinn. Der pure Wahnsinn! Ich wohne in einer Art Luxushotel – eigenes Bad, Handtuchwechsel, Bademantel!

Während ich noch darüber nachdachte, wie schnell sich meine Lebensrealität verändert hatte, standen Will und ich plötzlich wieder in der Mitte des Schlafzimmers.

»Ich bringe dir gleich dein Gepäck. Du kannst dich ja schon mal frisch machen oder dich noch ein bisschen hinlegen … Worauf auch immer du Lust hast. Vergiss nicht: Das ist jetzt dein Zuhause. Mach es dir gemütlich.« Mit diesen Worten ließ mich mein neuer Bruder allein.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Dieses Haus, das direkt aus der Sendung »MTV Cribs« stammen könnte, sollte jetzt mein neues Zuhause sein. Ein Ort, an dem ich mich wohlfühlen und fallen lassen sollte. Ich bezweifelte ernsthaft, dass mir das je gelingen würde. Ich sah mich noch einmal um. Bei dem bloßen Gedanken, dass ich jeden Tag in diesem Zimmer einschlafen und aufwachen würde, fühlte ich mich für einen kurzen Augenblick wie eine Prinzessin, doch anstatt mich darüber zu freuen, überkamen mich düsteres Unbehagen und ein Gefühl der Fremdheit. War ich womöglich hier, weil ich unbewusst irgendeinen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte?

Plötzlich begann ich zu zittern.

Puuh, du musst dich beruhigen, redete ich mir gut zu.

Ich schloss mich im Badezimmer ein, um zu duschen, nahm das erstbeste Duschgel aus dem Schrank und brauchte ganze fünf Minuten, um zu kapieren, wie die Dusche überhaupt funktionierte. Danach wickelte ich mich frisch und wohlriechend in den wunderbar weichen Bademantel und tapste barfuß ins Ankleidezimmer nebenan. Ich fand eine unglaublich gemütliche Jogginghose, und als ich schließlich auf der superbequemen Matratze zusammensackte und mir ein flauschiges Kissen unter den Kopf schob, fiel mein Blick auf meine Taschen, die Will an der Wand abgestellt hatte. Das hier war alles einfach unfassbar. Ich musste unbedingt meiner Mutter davon erzählen.

Zum Glück schlief ich ein, bevor ich mich daran erinnern konnte, dass ich gar keine Mutter mehr hatte.

Als ich erwachte, war es dunkel. Ich blinzelte, stützte mich auf den Ellbogen und versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, was mit mir geschehen war. Eine Welle von Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse überkam mich, die ich erst einmal verarbeiten musste; dann rollte ich mich aus dem Bett und tastete in der Dunkelheit nach meinem Handy. Es war nach neun Uhr abends. Ich war ganz schön lange weg gewesen!

Will hatte gesagt, ich würde heute Abend Vincent kennenlernen, und obwohl ich nicht das geringste Verlangen hatte, mein Zimmer zu verlassen und weiteren Brüdern zu begegnen, wusste ich, dass es unhöflich wäre, diesem Treffen aus dem Weg zu gehen.

Ich steckte meine Nase aus der Tür und betrat den leeren, dunklen Hausflur. Mithilfe der Taschenlampenfunktion meines Handys huschte ich schnell zur Treppe, denn ein so stiller und dunkler Korridor in einem fremden Haus regte meine ohnehin schon überbordende Phantasie nur noch mehr an. Zum Glück war es unten heller. Ich ging ein paar Treppenstufen hinab und hörte Stimmen. Sie klangen ziemlich aufgeregt, und ich fühlte mich schlagartig unwohl. Ich machte die Taschenlampe aus, blieb mitten auf der Treppe stehen und fragte mich, ob gerade wirklich ein guter Zeitpunkt war, ins Wohnzimmer zu gehen.

»Wir hängen nirgendwo rum«, sagte eine empörte Stimme.

»Und schon gar nicht nachts«, fügte eine andere Stimme hinzu, die der ersten ähnelte, aber deutlich mürrischer klang.

»Hm, ihr seid unvorsichtig, und das gefällt mir nicht«, sagte der dritte Mann, der am gelassensten, dafür aber umso reservierter schien.

Ich schluckte schwer und zog schon in Erwägung, ins Schlafzimmer zurückzukehren, als ich plötzlich hinter mir ein Flüstern hörte.

»Spionierst du uns nach?«

2

Rapunzel

Mit vor Schreck aufgerissenen Augen drehte ich mich um und sah Dylans Gesicht vor mir. Seine Lippen waren zwar zu einem spöttischen Lächeln verzogen, doch immer noch ging etwas Dunkles von ihm aus.

Erst jetzt erkannte ich, wie massiv er gebaut war. Allein seine Statur verunsicherte mich dermaßen, dass ich völlig vergaß, gar nichts falsch gemacht zu haben.

Ich schüttelte den Kopf, unfähig, ein Wort herauszubringen. Dylan lachte leise und schlenderte gemächlich an mir vorbei die Treppe hinunter. Ich starrte ihm regungslos nach, bis er um die Biegung des Flurs verschwunden war. Wahrscheinlich würde er als Erstes seinen Brüdern davon erzählen, dass Hailie in den Ecken lauerte und die Gespräche anderer belauschte. Was ihnen sicher nicht gefallen würde und ganz und gar nicht der Eindruck war, den ich bei meinen neuen Geschwistern hinterlassen wollte – also lief ich ihm rasch hinterher, entschlossen, mich zu verteidigen.

»Ihr seid ganz schön unvorsichtig. Wollt ihr unsere neue kleine Schwester etwa gleich in eure Geheimnisse einweihen?«, sagte Dylan und ließ sich auf eine Couch in der Ecke des Wohnzimmers fallen, aus der die Gesprächsfetzen gedrungen waren. Mit seinem Eintreten war es sofort still geworden.

Ich blieb an der Türschwelle stehen. Das Wohnzimmer in einem so großen Haus hätte ich mir gigantisch vorgestellt, aber dieser Raum war überraschend klein und gemütlich. Neben dem Ecksofa, auf das Dylan sich nun fläzte, umfasste die Sitzgruppe noch eine kleine Couch an der Seite und einen Ohrensessel. In der Mitte stand ein niedriger Couchtisch, auf den Dylan seine Füße gelegt hatte. Dahinter ragte ein moderner, schlanker Kamin empor, in dem fröhlich eine elektrische Flamme tanzte. Die Fenster waren riesig, und die schweren, grauen Vorhänge dienten offensichtlich nur der Dekoration, denn obwohl es draußen stockfinster war, hatte sie niemand zugezogen.

Was mir jedoch am meisten ins Auge stach, war der monströse Fernseher. Er hing in einem dicken, geschnitzten Goldrahmen an der Wand wie irgendein altes Gemälde. Das PlayStation-Logo war auf dem Bildschirm erschienen, als ich den Raum betreten hatte.

Mein Blick wanderte schnell zu den drei mir unbekannten Personen, die neben dem Kamin standen. Auch wenn ich sie noch nicht richtig gesehen hatte, war mir klar, dass sie meine anderen Brüder sein mussten. Sie hatten etwas an sich, das ich noch gar nicht benennen konnte und das mir schon bei Will und Dylan aufgefallen war.

Offenbar waren noch alle dabei, Dylans Spruch zu verdauen. Zwei der Jungs sahen fast identisch aus. Ich wusste zwar, dass die jüngsten meiner Brüder Zwillinge waren, hatte jedoch nicht erwartet, dass sie sich so sehr ähneln würden. Sie hatten beide kurzes, dichtes und ziemlich zerzaustes dunkles Haar, stark ausgeprägte Kieferknochen, kräftige Augenbrauen und helle Augen. Obwohl sie nicht gleich gekleidet waren, waren ihre Outfits in ähnlich lässigem Stil gehalten. Zu meiner Erleichterung bemerkte ich bei einem der beiden ein kleines schwarzes Piercing in der Augenbraue. Das würde mir helfen, sie voneinander zu unterscheiden.

Der Dritte war offensichtlich der älteste der Anwesenden. Er stand mit dem Rücken zu mir, drehte sich jedoch bei Dylans Worten um und bedachte mich mit einem eisblauen Blick, der mich meinen Entschluss, das Schlafzimmer zu verlassen, sofort bereuen ließ.

Sein dunkles Haar trug er ordentlich nach hinten gekämmt, bekleidet war er mit einem klassischen schwarzen Hemd und einer Hose in der gleichen Farbe. Er war groß und gut gebaut, was offenbar alle Monet-Brüder gemeinsam hatten. Außerdem strahlte er eine natürliche Eleganz sowie eine gewisse Überheblichkeit aus.

Kaum hatten meine neuen Geschwister mich bemerkt, wurde ich zur Hauptattraktion. Allein die albernen Klänge des Intros von Dylans PS-Spiel durchdrangen noch die Stille. Meine Güte, wie unwohl ich mich fühlte! Ich hätte einfach im Bett bleiben sollen … Unter der Last der Blicke, die mich von oben bis unten scannten, verspürte ich das dringende Bedürfnis, mich zu verkrümeln. Ich wurde das Gefühl nicht los, hier ein äußerst unerwünschter Eindringling zu sein.

Okay, Hailie, es ist langsam an der Zeit, etwas zu sagen, dachte ich bei mir.

»Also, eigentlich habe ich gar nichts gehört.« Ich räusperte mich, um die plötzliche Heiserkeit loszuwerden. »Ich stand nur auf der Treppe, weil ich euch nicht stören wollte …«

Dabei sah ich vor allem den ältesten Bruder an. Er war definitiv das Alphatier hier und damit derjenige, den ich zuallererst von meiner Unschuld überzeugen musste. Und so atmete ich erleichtert aus, als er nach einer Weile nickte.

»Es ist schon in Ordnung, Hailie«, antwortete er. Trotz der netten Worte blieb seine Stimme ruhig und kalt, auch wenn sie etwas freundlicher klang als zuvor – als er die Zwillinge zurechtgewiesen hatte. »Ich habe schon darauf gewartet, dass du herunterkommst. Ich möchte gern mit dir sprechen. Sei doch bitte so freundlich, mir zu folgen.«

Daraus schloss ich, dass es sich tatsächlich um Vincent, meinen gesetzlichen Vormund, handeln musste. Während er sprach, warf er einen Blick in Dylans Richtung, dessen PlayStation immer lautere und lästigere Geräusche machte. Vincent kommentierte das jedoch nicht weiter, sondern kam auf mich zu und bedeutete mir mit einer Geste, den Raum zu verlassen. Ich war total nervös, versuchte jedoch, so zu tun, als sei alles in Ordnung, und ließ mich widerstandslos von ihm zur Tür führen.

Ich brauchte einen Moment, um mir darüber klar zu werden, dass er mir die Zwillinge noch gar nicht vorgestellt hatte, aber aufgrund meines, zugegeben noch sehr geringen Wissens über meine neue Familie vermutete ich, dass es sich um Shane und Tony handeln musste. Wer auch immer wer sein mochte.

Vincent wies mir den Weg zur Bibliothek, von der Will mir bereits erzählt hatte. Sie war sehr geschmackvoll eingerichtet: Warme Holznuancen wechselten sich mit Grau und Pastellgrün ab. Von den Wänden war hier praktisch nichts zu sehen, denn abgesehen von den Fenstern, dem Schreibtisch und dem in einer Ecke stehenden Klavier bestand der gesamte Raum aus hohen Regalen voller Bücher. Ich fand es wunderbar, von so vielen Büchern umgeben zu sein; endlich etwas Vertrautes in diesem Haus, etwas, das mich beruhigte. Ich fragte mich, ob einer der Jungs wenigstens ein paar von ihnen gelesen hatte. Dieser komische Dylan zum Beispiel.

Vincent nahm in einem der Sessel Platz und deutete mit einer eleganten Geste auf das Sofa – wobei ich zum ersten Mal einen Blick auf den großen Siegelring warf, den er am Mittelfinger seiner rechten Hand trug.

»Mein Beileid zum Verlust deiner Angehörigen«, begann Vincent, sobald ich Platz genommen hatte. Seine Stimme war völlig emotionslos. Ich wurde sofort wieder traurig und versuchte, nicht daran zu denken, dass einer der Menschen, die mir ab jetzt am nächsten stehen würden, dieser eiskalte Mann sein sollte. »Als dein ältester Bruder bin ich zu deinem gesetzlichen Vormund ernannt worden. Darüber wurdest du bereits informiert, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Gut. Wie fühlst du dich?«

Sein Interesse überraschte mich, und die Frage nach meinem Wohlbefinden hätte mich fast gerührt, wenn er sie nicht in diesem gleichgültigen Ton gestellt hätte. So antwortete ich mit einem Achselzucken und murmelte nur: »Ganz okay …«

Vincent lehnte sich in seinem Sessel zurück, und ich mutmaßte, dass eine ähnlich förmliche Atmosphäre bei Vorstellungsgesprächen herrschen musste. Nicht, dass ich jemals bei einem gewesen wäre, aber ich hatte schon gehört, dass so was kein Spaß war.

»Ich bin mir bewusst, dass deine Situation schwierig ist. Dennoch fürchte ich, dass ich es dir nicht viel leichter machen kann«, verkündete er steif und fügte gleich darauf hinzu: »Ich werde natürlich tun, was mir möglich ist, aber es stehen viele Veränderungen an, auf die ich dich vorbereiten sollte.«

Noch mehr Veränderungen? Gespannt wartete ich, was er zu sagen hatte. Ich hatte keinen Schimmer, was kommen würde. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Würde er mich vielleicht in mein neues Zimmer sperren wie Rapunzel? Oder mich zum Putzen und Kochen zwingen wie Aschenputtel? Verstohlen warf ich einen Blick auf seine glänzenden Schuhe. Irgendjemand musste sie schließlich für ihn putzen. Es war kaum anzunehmen, dass er das selbst tat.

»Zuallererst möchte ich dich mit den Regeln unseres Hauses vertraut machen. In unserer Familie legen wir großen Wert auf Privatsphäre und Sicherheit.« Er machte eine kurze Pause, wohl um zu betonen, wie sehr ihm selbst diese beiden Dinge am Herzen lagen. »Hierfür möchte ich erwähnen, dass unser gesamtes Grundstück eingezäunt ist. Unser Haus wird vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche bewacht. Außerdem werden nachts üblicherweise die Hunde von der Leine gelassen. Es ist sehr wichtig, dass du daran denkst, abends nicht das Haus zu verlassen, ohne einen von uns zuvor darüber zu informieren. Wobei ich natürlich ohnehin nicht davon ausgehe, dass du das vorhast.«

Er verstummte und fixierte mich mit den Augen, und ich versuchte, meinen Gesichtsausdruck so neutral wie möglich zu halten. Zuerst freute ich mich, dass er Tiere erwähnt hatte, aber mir wurde schnell klar, dass die Hunde, von denen Vincent sprach, wohl kaum flauschige Shih Tzus waren.

»Ursprünglich hatte ich geplant, Einzelunterricht für dich zu organisieren, hier im Haus …«

Oh, also doch Rapunzel …

»Letztlich habe ich mich aber dafür entschieden, dich an der Schule anzumelden. Es handelt sich um eine private Highschool mit einem sehr guten Ruf. Und hohen Anforderungen.« Er legte die Handflächen aneinander und neigte den Kopf, als würde er sich fragen, ob ich diese Anforderungen wohl erfüllen könnte. »Deine schulischen Leistungen sind meines Wissens auf einem guten Level, weshalb ich davon ausgehe, dass du keine Probleme haben wirst, dich schnell zurechtzufinden. Sollte dies nicht der Fall sein, wirst du mich bitte unverzüglich darüber informieren, und ich werde einen Nachhilfelehrer für dich engagieren.«

Ich schwieg und bemühte mich, mir alles zu merken, was er mit seiner monotonen Stimme herunterratterte. Sein stählerner Ton gab mir das Gefühl, ständig auf der Hut sein zu müssen.

»Dylan, Shane und Tony gehen auf dieselbe Schule. Ihr Unterricht findet in einem separaten Flügel statt, aber ihr werdet euch in den Mittagspausen sehen. Sie werden auch dafür verantwortlich sein, dich täglich dorthin und wieder zurückzubringen, sofern nichts anderes vereinbart ist. Ist für dich so weit alles verständlich?«

Ich nickte und versuchte, mich mit der Vorstellung anzufreunden, dass ich jeden Tag zum Unterricht würde fahren müssen.

»Sei unbesorgt. Ich werde nichts Unmögliches von dir verlangen, Hailie. Es ist jedoch wichtig, dass du dir darüber im Klaren bist, wie sehr ich Dummheit und Gedankenlosigkeit verachte. Ich hoffe, dass du nicht nur auf dem Papier so intelligent bist, wie es deine Zeugnisse nahelegen. Und ich verlasse mich darauf, dass du dich aus Schwierigkeiten heraushalten wirst.« Vincent schob seinen Kopf leicht nach vorn und hob die Augenbrauen.

»Ich glaube, ich muss die offensichtlichen Verbote nicht erwähnen: zum Beispiel kein Alkohol und keine Drogen. Oder muss ich sie etwa doch erwähnen, Hailie?«

Er wartete auf eine Antwort, und sein Blick wurde noch intensiver. Ich hatte Mühe zu schlucken.

»Nein«, flüsterte ich.

»Gut.« Er richtete sich in seinem Sessel auf. »Du wirst mir gewiss zustimmen, dass es angeraten ist, dich darauf hinzuweisen, deine sozialen Aktivitäten deinem Alter von vierzehn Jahren angemessen zu gestalten. Ich werde dir nicht grundlos verbieten, am Wochenende mit Freundinnen ins Kino zu gehen, aber ich denke nicht, dass du im richtigen Alter bist, um dich mit dem anderen Geschlecht zu verabreden. Ich glaube, du verstehst, was ich meine. Wenn du also einen Ausflug in die Stadt planst, vergiss nicht, einen von uns über den Ort, die Zeit und die Personen, die dich begleiten, zu informieren. Es geht nicht darum, dich zu kontrollieren, sondern ausschließlich um deine Sicherheit.«

Von all dem begann mir der Kopf zu dröhnen. Wie er auf mich einredete und was er sagte, war wirklich too much. Bei seinem ganzen Gehabe sparte ich es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ich schon fast fünfzehn war.

»Aufgrund unserer völlig unterschiedlichen Terminpläne schaffen wir es nur selten, uns alle gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Das sollte aber kein Hindernis für dich sein, regelmäßig zu frühstücken und auch zu Abend zu essen. Unsere Haushälterin kocht täglich für uns. Soweit ich weiß, hast du keine Allergien, aber du kannst Eugenie gern über deine geschmacklichen Vorlieben informieren. Natürlich in angemessenem Rahmen. Wenn du bestimmte Produkte benötigen solltest, ich meine beispielsweise Lebensmittel oder Hygieneartikel, trag diese bitte in die Liste ein, die in der Küche an der Kühlschranktür hängt. Eugenie wird sich darum kümmern.«

Ich nickte.

»Du solltest besonders auf deinen Umgang mit sozialen Medien achten. Ich möchte dich dringend bitten, deine Datenschutzeinstellungen genau zu prüfen und zu bedenken, was du im Internet veröffentlichst. Idealerweise solltest du dies jeweils mit einem von uns besprechen.«

»Alles, was ich online mache, ist Bookstagram«, verkündete ich und räusperte mich.

Vincent wollte fortfahren, aber als er meinen Einwurf hörte, hob er eine Augenbraue.

»Was meinst du?«

»Ich habe einen Instagram-Account, auf dem ich Rezensionen über Bücher poste. Eine Art Hobby von mir. Ich lese halt viel. Mir folgen gar nicht so wenige Leute, und ich empfehle Geschichten, die ich für richtig gut halte«, erklärte ich geduldig und sachlich, da mir etwas daran lag, richtig verstanden zu werden.

Mein neuer Vormund hörte mir aufmerksam zu, und ein Schatten von etwas, das sogar ein Lächeln hätte sein können, blitzte über sein versteinert wirkendes Gesicht. Doch ich wollte keine Mutmaßungen anstellen. Dann nickte er und sagte: »In Ordnung.«

Okay. Wenn es in Ordnung ist, ist es in Ordnung.

»Ich vertraue darauf, dass du alt genug bist, um selbst zu wissen, was gut für dich ist, Hailie. Daher werde ich mich aus deinem Leben heraushalten, sofern es nicht notwendig ist«, sprach Vincent weiter. »Ich kann dir nur raten, zu einer vernünftigen Zeit ins Bett zu gehen. Es ist wichtig, dass du ausgeruht bist. Schieb bitte das Lernen und die Hausaufgaben nicht bis zur letzten Minute auf, das wird an deiner Schule nicht funktionieren. Und ich hoffe sehr, dass ebendiese deine Priorität sein wird.«

In diesem Moment vibrierte Vincents Telefon. Es zog seine Aufmerksamkeit für einen Augenblick auf sich – doch er richtete sie sofort wieder auf mich.

»Wegen meiner Arbeit bin ich oft nicht erreichbar, also behalte bitte im Hinterkopf, dass deine anderen Brüder während deiner Eingewöhnungszeit deine Ansprechpartner sein werden. Rechtlich gesehen bist du natürlich in meiner Obhut, und ich möchte, dass du dich mit wichtigen Angelegenheiten stets an mich wendest – aber wenn nötig, werden die anderen für dich verantwortlich sein«, erklärte er, und als er meinen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Mir ist klar, dass die Zwillinge nur zwei Jahre älter sind als du, dennoch werden auch sie dich selbstverständlich hervorragend unterstützen.«

Vincents förmliches Auftreten stresste mich zwar, aber in diesem Punkt war ich ganz seiner Meinung und nickte. Wenn ich an jemandes Hilfsbereitschaft zweifelte, dann war es Dylans und nicht die der Zwillinge, aber es war wohl kaum der geeignete Zeitpunkt, das zu äußern.

»Ich will nicht den Eindruck übertriebener Strenge erwecken«, begann er, und ich glaube, unter anderen Umständen hätte ich ein ironisches Prusten kaum zurückhalten können, »daher werde ich es nur einmal erwähnen: Ich dulde keine Respektlosigkeit, und ich hasse Lügen. Merk dir das bitte.«

Einen Moment lang hatte ich Lust, etwas in die Richtung »Yes, Sir!« zu antworten. Bruder hin oder her, er war ein völlig Fremder für mich, der mir seine Bedingungen diktierte – während ich sehr wohl wusste, wie wenig ich hier zu melden hatte. Vincent machte nicht gerade den Eindruck, kompromissbereit zu sein. Nicht, dass seine Regeln sich sehr von denen unterschieden hätten, die ich von zu Hause kannte. Meine Mutter hatte sie mir nur nie in so bestimmender Weise vorgetragen.

»Ich weiß, dass Will dich bereits informiert hat, aber ich denke, es schadet nicht, wenn ich es dir noch einmal in Erinnerung rufe: Halte dich bitte nicht ohne besonderen Grund im Arbeitstrakt auf. Wenn du etwas brauchst und niemand da ist, rufst du uns am besten an«, mit diesen Worten holte Vincent einen gefalteten Zettel aus der Tasche seiner eleganten Hose und beugte sich vor, um ihn mir zu geben. Auf dem Papier standen in sauberer Handschrift fünf Telefonnummern und die Initialen meiner Brüder. »Speichere sie bitte in deinem Telefon.«

»Okay«, murmelte ich und steckte den Zettel in die Tasche meiner Jogginghose. Wills Nummer hatte ich ja schon.

Im schimmernden Licht fiel mir wieder Vincents Siegelring auf, und mir wurde klar, dass zwischen meinem aktuellen Erscheinungsbild und seinem Welten lagen. Mein Halbbruder sah aus, als käme er gerade von einem Business Meeting, während ich rein optisch höchstens dafür taugte, mich in eine flauschige Decke zu wickeln und mir eine billige Liebeskomödie reinzuziehen.

Wir näherten uns endlich dem Ende dieser doch etwas herausfordernden Einführungssitzung, und der Moment, auf den ich gewartet hatte, war gekommen: Vincent verkündete, nun sei es an der Zeit, ihm alle meine Fragen zu stellen. Zwar gab es für mich mehr als genug Unklarheiten, aber das waren alles Dinge, bei denen ich ahnte, dass es Zeit brauchen würde, sie zu klären.

Eine Frage jedoch gab es, die ich stellen musste: »Wir haben einen gemeinsamen Vater, nicht wahr?«, fragte ich leise. Es war nicht leicht für mich, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Vincent hatte wohl damit gerechnet, denn er nickte nur steif. »Was ist mit ihm geschehen?«

»Er ist tot«, erwiderte Vincent. »Vor vier Jahren ist er bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Mein Bruder ließ mich nicht aus den Augen, teilte mir diese tragische Information aber völlig teilnahmslos mit.

Tödliche Unfälle lagen offenbar in der Familie.

Ich schluckte bitter und nickte nur; ich wollte noch etwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Stattdessen schnürte sich mir die Kehle zu. Doch es hatte keinen Sinn, den Tod eines weiteren Elternteils zu betrauern – vor allem nicht desjenigen Elternteils, dem schlichtweg entgangen war, dass er neben seinen Söhnen auch eine Tochter hatte.

»Ist das alles?«, wollte Vincent wissen.

»Ich denke schon.«

Mein neuer Bruder stand langsam auf und strich sich sein makelloses Hemd glatt. Wie auf Kommando erhob ich mich ebenfalls und zog mir die Ärmel meines Sweatshirts über die Hände, auf ein Zeichen von Vincent wartend, dass unser Gespräch zu Ende war. Die Förmlichkeit, mit der er es geführt hatte, legte nahe, dass er es auch offiziell beenden würde.

»Solltest du noch etwas auf dem Herzen haben, kannst du jederzeit zu mir kommen. Bevor du dir den Kopf zerbrichst oder sinnfreie Vermutungen anstellst.«

»Ich werde daran denken«, sagte ich folgsam.

»Sehr gut«, schloss er, zeigte auf die Bücherregale um uns herum und sagte: »Übrigens, vielleicht findest du hier etwas, das du für deinen Account rezensieren kannst.«

»Ich werde mich auf jeden Fall mal umsehen.«

Ich konnte es kaum erwarten, mich eines Tages, vielleicht sogar schon morgen, herzuschleichen, ohne dass Vincent oder ein anderer Bruder mir dabei auf die Pelle rückte. Es würde herrlich sein, in aller Ruhe in der Bibliothek zu stöbern.

Das war das Ende des ersten Gesprächs mit meinem ältesten Bruder. Nachdem wir die Bibliothek verlassen hatten, lud er mich in die Küche zum Abendessen ein, wobei er anmerkte, wie bedauerlich es sei, dass der heutige Tag sich als so dicht getaktet erwiesen habe, dass wir uns nicht zusammen am Esstisch treffen konnten. Für den morgigen Tag kündigte er ein gemeinsames Essen an.

Von den drei an diesem Abend anwesenden Brüdern war Shane der netteste. Immer wieder sprach er mich an, als wollte er, dass ich mich wenigstens ein bisschen entspannte. Shane war derjenige mit dem kleinen schwarzen Ring in der Augenbraue. Er saß mir gegenüber und schaufelte das absolut leckere Kartoffelpüree in sich hinein, dann redete er mit vollem Mund, so dass ich ihn kaum verstehen konnte. Sein amerikanischer Akzent machte die Sache nicht einfacher, aber ich tröstete mich damit, dass es sicher nur eine Frage der Zeit war, bis ich mich daran gewöhnte. Ich schätzte Shanes Bemühungen – denn Tony wiederum, der neben Shane saß, schwieg die ganze Zeit und hob nicht ein einziges Mal den Blick von seinem Teller.