The Pawn and The Puppet (The Pawn and The Puppet 1) - Brandi Elise Szeker - E-Book

The Pawn and The Puppet (The Pawn and The Puppet 1) E-Book

Brandi Elise Szeker

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Beschreibung

Die Emerald Lake Anstalt ist kein Ort, den man freiwillig besucht. Die neunzehnjährige Skylenna hat jedoch ein Versprechen abgegeben, das sie einhalten muss. Nach ihrer Einstellung verfolgt sie nur ein Ziel — sie will dem Rat beweisen, dass barbarische Behandlungen wie Waterboarding, kochende Bäder und Schläge nicht mehr die Antwort sind. Doch all das gerät ins Stocken, als sie auf die Quelle des Schreckens in der Anstalt trifft. Ein Patient mit einer gespaltenen Persönlichkeit – auf der einen Seite ist er Dessin, ein blutdürstiges Genie. Auf der anderen Seite eine tief in seinem Unterbewusstsein begrabene Persönlichkeit. Als Dessin bei einem versuchten Zellenausbruch erwischt wird, droht ihm die Hinrichtung. Nur Skylenna kann dies verhindern, sollte sie seine Kernpersönlichkeit hervorbringen und seine Menschlichkeit offenbaren können. Sie hat neunzig Tage, um sein Leben zu retten. Aber dafür muss sie mit ihm in seine Welt aus meisterhaften Puppenspielereien eintauchen. Eine verbotene Anziehungskraft entsteht entgegen ihrer besten Urteile. Stück für Stück deckt Skylenna die finsteren Geheimnisse seiner Vergangenheit auf, die ihn zu dem Monster gemacht haben, vor dem sich alle fürchten. Und Dessin hat trotz der furchterregenden, unzerstörbaren Persönlichkeit, die er der Welt präsentiert, eine Schwäche: sie.

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Brandi Elise Szeker

 

 

The Pawn and The Puppet

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übersetzung von Lara Gathmann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

THE PAWN AND THE PUPPET

 

 

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

 

 

 

 

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»The Pawn and The Puppet«.

 

Übersetzung: Lara Gathmann

Korrektorat: Désirée Kläschen und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: Stefanie Saw

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung

von Motiven von Canva

 

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Mama.

Nach seinem Tod hast du nie wieder geheiratet. Und als ich dich fragte, warum, sagtest du mir, er sei dein Seelenverwandter und du würdest ihn im Himmel wiedersehen.

Hätte es nicht deine unsterbliche, seelenerschütternde, wahre Liebe zu meinem Vater und deinem viel zu früh verstorbenen Ehemann gegeben … wäre dieses Buch nie entstanden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch enthält explizite Inhalte und könnte von einigen Leser*innen als anstößig empfunden werden. Bitte prüft die

Triggerwarnungen vor dem Lesen. Das Buch ist nicht für Personen unter achtzehn Jahren bestimmt.

Bitte bewahrt eure Bücher an einem Ort auf, an dem

Minderjährige keinen Zugriff darauf haben.

Es geht um eine düstere, dystopische Gesellschaft, die absichtlich problematisch dargestellt wird. Bitte beachtet, dass es sich um eine fiktive Welt handelt, die in keiner Weise die persönlichen Überzeugungen der Autorin widerspiegelt. Wir werden sehen, dass die Gesellschaft im Laufe der Serie wächst und ihren

moralischen Kompass korrigiert.

 

Trigger:

Grundlose Gewalt, Depression, Selbstmord, Folter, häusliche Gewalt, Essstörungen, Halluzinationen, Frauenfeindlichkeit, Vergiftung, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Pädophilie, romantisierte psychische Krankheit, Grausamkeit, Tod von geliebten Menschen, Kindesmissbrauch, Enthauptung, weibliche Unterdrückung, Geiselnahme, Body Shaming, Panikattacken, emotionales Trauma, sexuelle Nötigung von Kindern, Menschenhandel

Ich empfehle allen, dies zu lesen, bevor sie mit dem Buch fortfahren. Dies ist ein Werk der Fiktion, ja. Die psychischen Beeinträchtigungen, die bestimmte Figuren haben, basieren jedoch auf realen Störungen. Besonders hervorheben möchte ich die dissoziative Identitätsstörung (DIS). Manche kennen sie als ›gespaltene Persönlichkeit‹ oder ›multiple Persönlichkeitsstörung‹. Das ist nicht die richtige Terminologie. Bitte lass dieses fiktive Werk denjenigen die Augen öffnen, die eine DIS mit Angst oder mangelndem Respekt betrachten.

Die Repräsentation der DIS in diesem Roman erfolgt anhand einer moralisch grauen, gefährlichen Figur. Dies ist KEINE akkurate Darstellung einer DIS. Es ist eine symbolische Darstellung dessen, wie die DIS in der modernen Gesellschaft erscheint – gefürchtet, missverstanden und als ein Mysterium des Geistes zum Anglotzen. Bitte seid euch bewusst, dass der Rest der Serie eine Reise für die fiktive Gesellschaft und die Charaktere sein wird, um es besser zu verstehen und korrekt darzustellen.

Aber erlaubt mir, die Dinge für diese nicht fiktionale Welt richtigzustellen. Diese Gruppe von Menschen sind KEINE Ungeheuer. Sie sind KEINE Verbrecher.

Sie sind freundliche, intelligente, wunderbare Menschen, die Opfer von schrecklichem Unrecht und Missbrauch geworden sind.

Diese Nachricht soll euch ermutigen, die richtigen Fragen zu stellen und zu versuchen, die Situation besser zu verstehen. Für weitere Informationen über DIS besucht bitte: http://traumadissociation.com/ index

Für jede BADASS-Szene, die dich kribbeln lässt:

 

Play With Fire von Sam Tinnesz

Lion von Mesa

Still Don’t Know My Name von Labrinth

Monster von Willyecho

What Kind von Man von Florence + The Machine

Bad Man von Reyn Hartly

Run For Your Life von The Siege

 

Für die Dunkelheit, die Romantik und die Schönheit, die dieses Buch ausmacht:

 

Train Wreck von James Arthur

It’s OK (Slowed) von Edith Whiskers

Don’t Let Me Go von Raign

Surrender von Natalie Taylor

Johnny Belinda von Active Child

The Night We Met von Lord Huron

IDK You Yet von Alexander 23

Never Let Me Go von Florence + The Machine

Power Over Me von Dermot Kennedy

 

 

Weitere Playlists für The Pawn and The Puppet findet ihr, wenn ihr auf Apple Music oder Spotify nach ›Brandi Szeker‹ sucht!

 

 

Ich beiße auf den dünnen Holzklotz, bis meine Zähne Splitter erzeugen, die sich in meine Zunge bohren.

Da, die erste von mir skizzierte Schnur verbindet sich mit dem hölzernen Handgelenk. Atmen. Mit einem weiteren Strich verbindet sich das hölzerne Handgelenk mit den hölzernen Fingern. Mein spitzes Kohlestück gleitet über das Pergament.

Tränen sitzen auf meinen unteren Augenlidern, wie ein Orkan, der auf einen Damm trifft.

Atmen.

Ich knüpfe die zweite Schnur, die wie ein Spinnennetz im Wind weht, um das zweite hölzerne Handgelenk. Ein Schluchzen entringt sich meiner Brust und ich bohre meine Zähne fester in das Holzstück. Weitermachen. Mehr hölzerne Finger. Zwei Beine. Zwei Knöchel.

Ich verwische die Holzkohle und füge Schatten hinzu.

Ich habe gesehen, was die Arbeit in dieser Anstalt mit ihr gemacht hat. Sie hat geweint, als sie mir von den Schrecken erzählt hat, die sie gesehen hatte.

Atmen.

Ich skizziere den hölzernen Hals, den Kopf, die Schultern. Beende die Marionette.

Selbst nachdem ich von den Patienten gehört hatte, die sie betreute, von deren Behandlungen, davon, wie ihre Schreie die Wände der Anstalt erschütterten, werde ich das Vorstellungsgespräch heute trotzdem durchziehen. Um das Versprechen zu erfüllen, das ich ihr gegeben habe. Ich füge die Hand und die Finger hinzu, die die Saiten bespielen. Füge die Nägel und die Falten an den Fingerknöcheln hinzu. Kontrolliere die Panik.

»Delphine wird in ein paar Minuten hier sein, um dich fertig zu machen.« Auricks steife Stimme ertönt gedämpft von jenseits der Tür. »Geht es dir gut?«

Meine Striche gegen das Papier halten inne und meine Zähne drücken auf das Holz.

Du bist okay.

Aber die Erinnerung an meine Zwillingsschwester, die sich nach dem, was sie im Emerald Lake Asylum erlebt hat, im Waschbecken übergeben musste, blitzt vor meinen Augen auf. Sie haben den Kopf eines Jungen unter Wasser gedrückt. Er konnte nicht atmen. Und sie haben es seine ›Behandlung‹ genannt!

Heiße Übelkeit rollt wie eine Welle in meinem Bauch.

Ich spucke den Block aus. »Mir geht es gut«, sage ich atemlos in Richtung der Waschraumtür.

Aber das tut es nicht. Ich sitze eingepfercht in einer Badewanne, zeichne eine Marionette auf einem Skizzenblock in einem Haus, das mir nicht gehört, und warte darauf, dass ein Sturm der Panik über mich hinwegzieht. Ich warte darauf, dass sich die Angst, die wie eine Schlinge um meinen Hals liegt, lockert und von meinen Schultern fällt.

In ein paar Stunden werde ich an den Türen des berüchtigten Emerald Lake Asylum begrüßt werden. Ich werde das Gefängnis betreten, die Patienten mit ihren komplexen psychologischen Besonderheiten kennenlernen und, was noch schlimmer ist, die Menschen, die dort arbeiten.

»Du klingst nicht gut«, sagt Aurick durch das Holz der Tür. »Darf ich reinkommen?«

»Nein!«, antworte ich schnell. Er darf mich nicht sehen. Nicht so.

Aurick ist mein einziger Freund, seit meine Schwester Scarlett vor ein paar Wochen gestorben ist. Er hat mich im North-Saphrine-Wald allein, unterkühlt und mit Asche an den Händen gefunden. Er ließ mich in seinem Winterquartier wohnen. Gab mir zu essen. Er gab mir einen warmen Ort zum Trauern. Er war nett zu mir, hat keine Fragen gestellt. Wie kann ich ihm antun, Zeuge meiner lähmenden Angst zu sein? Ich bin diejenige, die ihn angefleht hat, mir zu helfen, ein Vorstellungsgespräch für die Arbeit in der Anstalt zu bekommen. Wenn er mich so sieht, wird er den Termin absagen.

»Skylenna« – seine Stimme klingt wie die eines Vaters, der mit seinem Kind schimpft – »wenn du Angst hast, musst du das nicht tun.«

Oh doch, ich muss. Ich muss. Es war Scarletts Mission gewesen; sie hatte die Arbeit in der Anstalt gehasst – sie hasste jeden Augenblick davon –, aber sie konnte diese armen, verwundeten Seelen nicht sich selbst überlassen. Wenn ich die Augen davor verschließe, bin ich nicht besser als die Menschen, die sich an ihren Qualen ergötzen. Also schmiedete sie einen Plan, um etwas zu verändern. Die Behandlungen zu verändern. Um zu zeigen, dass es einen besseren Weg gibt, sie zu behandeln.

Aber sie starb, bevor sie diesen Traum verwirklichen konnte. Und es war meine Schuld.

Ich klammere mich an die Holzkohle, meine Nägel schneiden in sie hinein. Kämpfe gegen die Angst an. Aber was ist, wenn ich es nicht ertrage, zuzusehen, wie die Patienten für ihre bloße Existenz bestraft werden? Und was ist, wenn ich den Verstand verliere, wie Scarlett es getan hat? Was ist, wenn ich in dieser Anstalt als Patientin ende?

»Ich habe keine Angst«, brumme ich Aurick zu, der immer noch an der Tür verweilt. »Ich komme gleich raus.«

Atmen. Ich wische mir die warmen Tränen aus den Augen. Das Zittern in meinen Beinen beruhigt sich, wie ein Kieselstein, der sich auf dem Grund eines Teiches absetzt. Das war’s. Ich gebe der Marionette den letzten Schliff. Das leblose Lächeln. Die hohlen, glasigen Augen. Die traurigen, nach oben gezogenen Brauen.

Ich atme aus und fühle mich müde und durchnässt wie ein ausgewrungenes Handtuch, das in der Ecke eines Waschraums schimmelt.

Ich kann das tun. Wenn Scarlett es aushalten konnte, dann ist das das Mindeste, was ich tun kann. Sie hat mir erzählt, was mich erwarten wird. Sie hat mir vom Waterboarding erzählt, den verbrühend heißen Bädern, dem Fesseln an Stühle. Ich bin jedes Mal dabei gewesen, wenn sie vor Traurigkeit zusammengebrochen ist, nachdem sie mit ihren Patienten in diesen Behandlungsräumen gewesen war.

Ich greife an den Rand der Badewanne und hebe mich aus ihrem wohligen Porzellankokon. Ich verstaue die Zeichnung unter dem Waschbecken, auch wenn ich sie wahrscheinlich nie wieder ansehen werde. Ich habe Hunderte solcher Zeichnungen angefertigt.

Während ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser abwasche, vermeide ich das Spiegelbild, das mir entgegenblickt. Ich weigere mich, in diese kalten grünen Augen zu starren. Scarletts Augen.

Die Augen, in die ich blickte, als ich ihr Haus in Brand setzte.

 

Als ich den Waschraum verlasse, ist Aurick bereits in die Stadt gefahren. Ich bin mir sicher, dass er das, was jetzt kommt, nicht miterleben will.

Eine ältere Frau, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem engen Dutt aus aschfarbenem Haar und einem verkniffenen Gesichtsausdruck, steigt aus dem Wagen. Aurick hat sie geschickt, um mich fertig zu machen. Kleidung. Make-up. Alles, was zu dem Schein passt, der so säuberlich um die ach so perfekte Stadt gewoben wurde, die die Anstalt umgibt.

Ich habe ein behütetes Leben in einem Landstrich am Rande der sieben Wälder geführt. Die Bärenfalle, der Außenbezirk von Chandelier City. Ich musste mich nie an die Grundsätze des merkwürdigen und besonders eitlen Landes halten, in dem wir leben. Unser kleines Land, Dementia, wird von einer erfundenen Vision einer perfekten Gesellschaft regiert.

Perfekt gebaute Ländereien, Schlösser und Menschen. Oh, die Leute sind umwerfend, würde Scarlett sagen. Die Frauen sind so mager wie die alten Leute, die sie begraben. Die körperliche Erscheinung einer Frau ist das Grundprinzip. Sie halten sich an Die Lady-Doll-Kur. Es ist eine lange nächtliche Routine – stundenlanges Einweichen in Kräuterwasser, ein intensiver Prozess, um Haut und Haar mit Feuchtigkeit zu versorgen, während gleichzeitig strengste Diätvorschriften eingehalten werden. Essen Sie, wenn Sie sich fühlen, als ob Sie ohnmächtig werden könnten. Und als Krönung des Ganzen ihre Kleidung – Kleider für jede Tageszeit, für die Teestunde, für die Hausarbeit und für den Abend.

Der Beruf meines Vaters bestand darin, Holz zu schneiden und es in die Stadt zu liefern. Wenn man so einen Job hat, ist man automatisch von den gesellschaftlichen Zwängen befreit. Wenn man nicht überall in der Stadt gesehen oder gehört wird, könnte man genauso gut ein Geist sein. So steht es in den Gesetzen, die während der ersten Besiedlung geschrieben wurden und die den hart arbeitenden Familien immer gerecht erschienen.

Durch Scarlett davon zu hören, war, wie ein Blick durch ein Fenster in ein anderes Universum. Nachdem unsere Mutter uns beide geboren hatte, lief sie mit Scarlett weg, um näher an Chandelier City zu leben, und ließ mich mit unserem Vater in der Bärenfalle zurück.

Nachdem sie sich energisch eingerichtet hat, lässt sich das alte Weib, das Aurick geschickt hat, um mich vorzubereiten, im Wohnzimmer des Hauses nieder.

Sie zieht mir grob ein anthrazitfarbenes Kleid über den Kopf. Die Ärmel enden an den Ellbogen, die Mitte des Kleides ist an der Brust mit Abnähern versehen und um die Hüften herum anliegend. Ich schiebe meine Arme durch einen Damenwintermantel aus Wolle, der hoch tailliert ist und dessen schwarzer Fellkragen meine Schultern und meinen Ausschnitt bedeckt. Meine Füße sind als Letztes dran und werden mit einem Paar schwarzer Lederpumps eingekleidet.

Die dralle Frau reißt mir mit Metallklammern kleine Härchen aus den Augenbrauen, grinst und schüttelt den Kopf in einem stummen Urteil. Alles andere verschwimmt ineinander, während ich bete, dass mein Vorstellungsgespräch gut verläuft.

»Du warst noch nie in der Stadt«, sagt sie. Das ist keine Frage, aber ich nicke trotzdem. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen, auf regelmäßige Mahlzeiten zu verzichten.« Sie kneift mir in die Haut an der Taille. »Oder dich zumindest zu übergeben, wenn die Versuchung zu groß wird.«

Ich blinzle. »Übergeben?« »Ja, Mädchen. Dein Busen ist voll und dein Hintern ist rund. Das Ziel ist es, dass sich die Haut über deinen Knochen spannt.« Sie begutachtet meine Nägel und schnalzt mit der Zunge. »Und deine Nagelbetten sind schmutzig. Wenn du dort leben willst, musst du mit der Lady-Doll-Kur beginnen, sobald du Auricks Anwesen erreicht hast. Andernfalls werde ich wahrscheinlich bald erfahren, dass du als Patientin in die Frauenabteilung der Anstalt aufgenommen wurdest.«

Da hat sie recht. Wenn Demechnef – unsere Regierung, die so viel Wert auf ein makelloses Erscheinungsbild legt – von einen Ausrutscher wie der Zunahme von ein paar Pfund oder, Gott bewahre, der Entwicklung unerwünschter Schönheitsfehler erfährt, lässt sie die betreffenden Personen diskret aus dem täglichen Leben entfernen. Weg von ihren Familien und Freunden, das hatte mir Scarlett erzählt. Soweit man wusste, verschwanden diese Menschen einfach, bis sie mit knorrigen Gelenken, leichtem Haarausfall, stark ausgeprägten Rippen und hageren Gesichtszügen zurückkamen.

»Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Deine Körpermaße werden normalerweise von deinem Ehemann genommen oder, wenn du unverheiratet bist, wird ein offizieller Vertreter von Demechnef kommen, um den Prozess zu überwachen. Aber ich bin sicher, dein neuer Freund wird dir dabei helfen.« Sie tätschelt mir den Kopf und streicht mir die letzte Locke hinters Ohr.

Ich schlucke die Angst herunter, die sich in meiner Kehle aufbaut. Ich will das. Ich habe darum gebeten.

Ich steige freiwillig in diesen Wagen, der mich in das einzige Leben führen wird, das Scarlett kannte. Der mich an den einzigen Ort führen wird, den ich mir geschworen habe, niemals zu betreten.

Das Emerald Lake Asylum.

 

 

 

 

Die Straße in die Stadt ist holprig und die Sitze vibrieren ständig von dem unebenen Schotter. Ich bin so gekleidet, dass ich dieser neuen Gesellschaft beitreten kann.

Ich höre Scarletts raue Stimme in meinem Kopf, wie Kleingeld in einem Trockner, die mir von dem Schrecken erzählt, der sich hinter diesen Mauern abspielt, den Schreien und dem Flehen um Gnade. Eine Sache, die sie noch mehr erschreckt hat als die Schreie, war, dass fast alle Menschen, die in diesem Gebäude arbeiten, gegenüber dem Schmerz, den sie verursachen, desensibilisiert zu sein schienen. Sie hat die Leere in ihren Augen als ein einseitiges Fenster beschrieben, durch das man das Wesen des Bösen nicht sehen kann, das einem entgegenblickt, es aber fühlen kann. Es ist stolz darauf und genießt die Folter.

Bei dem Gedanken, solche Leute zu treffen, verkrampfen sich meine Eingeweide.

Während die verbliebenen Bäume des Waldes immer weiter auseinander wachsen und sich wie ein zurückweichender Haaransatz ausdünnen, löst sich das Blätterdach über uns auf und der Himmel zeigt sein geschwollenes Gesicht, das von wulstigen, rauchigen Wolken bedeckt ist. Unser Wagen bewegt sich die Straße entlang, die nach Chandelier City führt, und ich lehne mich an mein Fenster und schließe die Augen vor dieser neuen Welt, während ich mich auf mein bevorstehendes Interview vorbereite.

»Wir sind da.« Der Fahrer weckt mich. Ich fokussiere meinen Blick und lehne meine Stirn gegen das Fenster, um die Quelle vieler von Scarletts Albträumen anzusehen.

Das Schloss ist klein und liegt vor den Emerald Lake Mountains.

Als wir in die lange und breite Kieseinfahrt einfahren, sehe ich mir das Haus genauer an. Es gibt einen Uhrenturm, mehrere Schornsteine und lange Erkerfenster, die von innen mit Vorhängen verhüllt sind. Mit seinen Ost- und Westflügeln erweckt es den Eindruck eines großzügigen Anwesens. Vier bis fünf Frauen stehen auf den Stufen, die Schultern zurück, das Kinn oben, in marineblauen, knielangen, taillierten Kleidern. Ein Mann, der alle Frauen überragt, steht in einen schwarzen Anzug gekleidet in der Tür. Ihre Blicke sind alle auf meinen Wagen gerichtet. Unbeirrbare Blicke, die mich innehalten lassen.

Wir passieren eine üppige Grünfläche auf beiden Seiten des Fahrwegs. Smaragdgrüne Laubbäume, die wie Fußsoldaten auf dem Vorgarten stehen. Frischer Morgentau glitzert, als die Sonne über die Dächer des kleinen Schlosses fällt.

Ich weiß nicht, ob ich schon den Mut habe, anzufangen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den Mut habe, den meine Schwester hatte. Ich habe mir noch nicht einmal erlaubt, über Scarletts Tod zu trauern, und ich glaube nicht, dass ich das jemals tun werde. Aber ich erinnere mich an eine der letzten Unterhaltungen, die Scarlett und ich geführt haben. In der Nacht vor ihrem Tod saßen wir auf ihrem Bett, die Beine übereinandergeschlagen. Sie bürstete ihr langes, glattes Haar und zum ersten Mal, seit wir uns im Alter von fünfzehn Jahren wiedergesehen hatten, gestand sie sich das raue und bittere Gefühl ein, an dem sie sich festgehalten hatte. Wenn wir über unsere Mutter, Violet Ambrose, gesprochen hatten, brachte sie immer ihre Wut und ihren Hass auf sie zum Ausdruck – dass sie nicht Mutter genannt werden dürfe. Dass sie Violet, wenn sie sie jemals wiedersehen sollte, wahrscheinlich umbringen würde. Wie kann eine Mutter zulassen, dass Männer ihre Tochter berühren? Wie konnte sie meine Schreie mitanhören und trotzdem die Münzen einsammeln, während ich litt?

Aber … in dieser Nacht hat Scarlett nicht geweint, nicht gebrüllt und nicht bei der Erinnerung geschrien. Sie hat mich traurig angesehen und gesagt: Sie war meine Mutter, Sky. Sie war meine Mutter und alles, was ich je wollte, war, dass sie mich liebt. Sie hat mir das Gefühl gegeben, nicht liebenswert zu sein, und dafür … hasse ich nicht sie. Ich hasse mich selbst.

An diesem Abend hat Scarlett meine Hände in ihre genommen und gesagt: Jetzt gibt es nur noch dich und mich. Wir müssen versprechen, einander nie zu verlassen.

In der folgenden Nacht verbrannten ihr goldener Haarschopf und ihre langen, schlanken Beine in dem Feuer. Sie war neunzehn Jahre alt.

Ich weiß, dass es nur einen Weg gibt, sie niemals zu verlassen. So, wie wir es einander in jener Nacht versprochen hatten. Trotz meiner Angst, einen Fuß in diese Gruft mit lebenden Leichen und den bösartigen Menschen, die sie langsam töten, zu setzen, habe ich keine andere Wahl, als mir die Angst aus dem Gesicht zu wischen und aus dem Wagen zu steigen.

Damit halte ich mein Versprechen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als ich die ersten zwei Schritte nach draußen mache, knirscht es an den Stellen, wo sich meine Fersen in den Kies graben. Mein Atem entweicht in einer kleinen Nebelwolke aus meiner Brust, die Partikel lösen sich voneinander und verschwinden in der Morgenbrise.

Die fünf Frauen ragen über mir empor wie Gedenkstatuen, die auf den Stufen montiert wurden, Ikonen der Geschichte des Emerald Lake Asylum. Ihre puppenhaften Gesichtszüge werden von einem grimmigen Blick verzogen und sind mit rosa Lippenstift geschminkt, die Wangen gerötet, die Augenlider braun oder rauchgrau und die Augenbrauen wie mit einem Kalligrafiestift gemalt.

Während ich mir die Gesichter ansehe, bleibe ich bei dem Herrn in der Tür stehen. Er ist etwas über eins achtzig groß, schlank wie eine Espe in den Bergen, mit nach hinten gegeltem anthrazitfarbenem Haar und grauen Strähnen an den Seiten.

Die größte Frau, die am nächsten an der Tür steht, neigt anmutig ihren Kopf und achtet darauf, dass ihr dabei keine ihrer losen blonden Locken in die Augen fällt. Sie ist älter als die anderen, aber man sieht es ihr kaum an. Wären da nicht die Fältchen um ihre schmalen Lippen, die sie wahrscheinlich schon Hunderte Male um eine Zigarette zusammengekniffen hat, um das rauchige Nikotin täglich in sich hineinzuziehen, wäre es mir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Davon abgesehen ist ihr Make-up präzise aufgetragen, angemessen und deckt alle anderen Zeichen ihres Alterns ab. Sie hat jahrelang dafür geübt. Ihr weißer Kragen und ihre Handschuhe lassen mich vermuten, dass sie hier das Sagen hat. Sie ist diejenige, die ich beeindrucken muss.

»Sie müssen Sky Ambrose sein.« Die Frau schenkt mir ein schmales Lächeln, ihre Stimme fließt über ihre Lippen wie die sanften Töne einer Flöte.

Skylenna. Korrigiersie nicht.

Ich nicke. »Ich bin für ein Vorstellungsgespräch hier.«

Die Schwarzhaarige am oberen Ende der Treppe rollt mit den Augen.

Es ging so schnell, dass ich sofort bezweifle, es überhaupt gesehen zu haben.

»In der Tat, das sind Sie. Das wird von mir durchgeführt werden.« Sie kommt vorsichtig die Stufen hinunter und lässt dabei jeden ihrer Absätze sanft aufsetzen. »Ich bin Suseas Parlomon. Oberste Konformistin und eines der sechs Mitglieder des Rates der Anstalt.«

Suseas steht nun nicht mehr auf einer höheren Stufe als ich und überragt mich trotzdem noch um gut acht Zentimeter. Ihre Haltung ist so gerade, dass ich überzeugt bin, dass in ihrem Rücken Stangen stecken, die sie dauerhaft aufrecht halten. Sie nimmt meine rechte Hand und drückt sie sanft zwischen ihren beiden Händen.

»Als wir den Anruf von Mr. Aurick Dawson erhielten, der uns dieses Treffen mit Ihnen empfahl, versicherten wir ihm, dass Ihre Zeit hier ausgezeichnet sein würde. Er ist, natürlich, eine höchst beeindruckende Persönlichkeit, um eine Empfehlung auszusprechen. Wir nehmen seine Meinung sehr ernst.«

Ich hätte ihn fragen sollen, was er beruflich macht. Ich kann nicht anders, als ungläubig die Augenbrauen zu heben. Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber alles, was herauskommt, ist das Klicken meiner Kehle, die sich zusammenzieht, als ich schlucke.

»Ich hoffe, Sie finden unsere Begrüßung ebenso akzeptabel«, fügt sie mit einem starren Blick auf meine Miene hinzu.

»Oh.« Ich schaue zurück zu den Frauen, die gerade perfekt parallel zur Doppeltreppe aufgereiht stehen. Das alles hier war, um mich zu beeindrucken? »Sicher. Ja. Es ist wunderbar.«

Sie lächelt mit geschlossenen Augen vor sich hin. Zufrieden blickt sie mit einem beruhigenden Nicken zu den versammelten Frauen zurück.

»Bitte kommen Sie zu uns in die Haupthalle. Sie müssen ja bis auf die Knochen durchgefroren sein.«

Ich folge ihnen die Treppe hinauf und durch die breite Flügeltür. Der Mann verschwindet in dem Moment, in dem ich eintrete.

Die Sohlen meiner Schuhe klappern auf dem cremefarbenen Marmorboden. Ich schaue auf, um zu sehen, warum das Echo so laut ist, und die Decke der Kathedrale verblüfft mich. Über unseren Köpfen spannen sich steinerne Bögen und ein goldener Kronleuchter, der nicht so recht zur Altertümlichkeit des Raumes passen will. Die Wände sind aus Stein und Säulen markieren die Ecken dieses Bereichs, der als Lobby gedacht ist.

Ein Hauch von warmer Luft umgibt mein Gesicht, erwärmt meine Nasenspitze und meine Finger. Es riecht stark nach Holz und Leder, eine klare Abbildung von Luxus – aber darunter versteckt sich irgendwo, wie unter dem Deckel eines Mülleimers, ein anhaltender Hauch von abgestandenem Urin und dem muffigen Körpergeruch einer älteren Frau.

Ich kann nicht sagen, dass mich der unmittelbare Eindruck überrascht. Scarlett hat mir erzählt, dass dieser Ort auf Betrug aufgebaut ist.

Suseas führt mich und die anderen Frauen zu den braunen Ledersofas auf der rechten Seite der Lobby. Ich werde zu dem mahagonifarbenen Sessel getrieben und setze mich auf das mit einem eleganten Jacquard-Stoff gepolsterte Kissen. Zwischen den Frauen, die sich auf den knarrenden Sofas niederlassen, und mir steht ein Teetisch. Die Frauen richten sich auf und widerstehen dem verlockenden Drang, sich gegen die Rückenlehne der Couch zu lehnen.

Suseas winkt über ihre Schulter und eine jüngere Frau in einem grauen Kleid und weißen Strumpfhosen stellt vorsichtig ein Tablett mit einem feinen Teeservice aus Porzellan auf dem Tisch ab, zu dem auch ein dampfender Kessel gehört. Bevor ich mich richtig bedanken kann, gleitet sie bereits davon, als wollte sie einem Gestank ausweichen, der sich gerade in der Luft verbreitet.

Ich ahme die Haltung der Frauen instinktiv nach. Rücken gerade, Kinn hoch, Beine an den Knöcheln gekreuzt. Die kleinere Frau ganz rechts kniet nieder, um den Tee einzuschenken, und reicht die Teetassen an uns weiter. Ich versuche, mich nicht von meiner Neugier übermannen zu lassen, aber ihre Wangen fallen mir sofort auf. Sie sind mager und um die Wangenknochen herum eingefallen, als hätte ein Vakuum alles um ihre Augen und Lippen herum zusammengezogen. Ihre Schultern lassen sich mit den hervortretenden Knochen eines verhungernden Tiers vergleichen. Sogar ihre Hände sind zerbrechlich – die Venen an der Oberseite stechen hervor, blau und erhaben.

Meine Aufmerksamkeit wird durch das feuchte Räuspern von Suseas zu ihr zurückgeholt.

»Also« – sie pustet leicht in ihren Tee und schürzt ihre Lippen dabei so, dass ihre Raucherfalten markant hervortreten – »die Anstalt ist normalerweise kein beliebter Ort bei jungen Frauen, die einen Beruf suchen. Was führt Sie hierher?«

Ich zögere und greife bei dieser Gelegenheit nach meinem Tee. Was für eine einfache, aber gleichzeitig so furchtbar komplizierte Frage.

»Ich glaube, ich könnte mich hier ganz gut weiterentwickeln, wenn man mir die Gelegenheit dazu gibt.« Die Frauen beobachten mich mit räuberischen Blicken. »Es war schon immer mein Traum, eine Konformistin zu sein.« Das ist eine Lüge. Ich habe immer dafür gebetet, dass ich nie einen Fuß in dieses verherrlichte Gefängnis setzen muss.

Suseas nickt und verengt ihre tiefliegenden haselnussbraunen Augen. Ich versuche, meinen Blick nicht zu den anderen Frauen schweifen zu lassen. Wenn Beurteilungen greifbar wären, würden sie in einer langsamen Dampfwelle aus ihnen herausströmen und aus jedem Loch und jeder Pore ihres Körpers sickern.

Sie gluckst leise, als wäre die Lüge, die ich erzählt habe, für jeden offensichtlich gewesen. »Nun, wie ich bereits sagte, ist Mr. Aurick Dawson eine vorbildliche Referenz. Darf ich fragen, wie Sie beide sich kennengelernt haben?«

Oh, jetzt wirft sie Granaten.

»Alter Freund der Familie.« Witzig, dass du fragst. Ich habe gesehen, wie der Körper meiner Schwester in dem Feuer verbrannt ist, das ihr Elternhaus zerstört hat, und Aurick hat dem Mädchen, das gerade alles verloren hatte, aus Mitleid geholfen. Er weiß wenig über mich. Ich weiß wenig über ihn.

»Das ist schön für dich.« Die Frau, die links neben Suseas sitzt, rümpft die Nase und schenkt mir ein zuckersüßes Grinsen. Sie streicht sich eine Strähne ihres kurzen schwarzen Haars hinters Ohr und sieht mich erwartungsvoll an, als müsste ich wissen, wer sie ist.

Suseas setzt ihren Tee unbehaglich ab, presst die Lippen zusammen und hält ihren Blick auf den Boden gerichtet.

»Bevor wir Einzelheiten über die Stelle und die Art der Anstalt besprechen, möchte ich noch eine Sache zur Sprache bringen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Sie legt ihre Hände höflich in den Schoß und zieht die Schultern zurück.

Ich nicke zaghaft. Die Spannung, die sich als zweite Ebene zu diesem Gespräch hinzugesellt hat, ist auf meine Brust und meinen Hals übergegangen. Eine Spirale zieht sich unter meinem Brustbein zusammen und dreht sich im Uhrzeigersinn, bis meine Schultern beginnen, nach vorne zu sinken, um den Druck zu lindern.

»Deine … Zwillingsschwester. Sie war die Assistentin eines Konformisten. Mein Beileid für ihr Ableben. Aber ich fürchte, meine Mitarbeiter haben das Gerücht gehört, wie sie gestorben ist. Dass Sie sie in dem Haus, in dem Sie beide gelebt haben, lebendig verbrannt haben. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht und mir den Bericht angesehen. Ich glaube, dass das Gerücht nicht wahr ist. Aber – Sie wissen ja, wie Menschen sein können. Sie genießen eine theatralische Geschichte, die sie miteinander teilen können. Trotzdem muss ich fragen: Ist an dieser Geschichte etwas Wahres dran? Gibt es etwas, worüber ich mir Sorgen machen muss?«

Ihren Körper. Ich habe sie im Schrank gelassen.

Diesmal kann ich es nicht verhindern, dass mein Blick zu den anderen Frauen wandert. Die Frau mit rabenschwarzem Haar, die vorhin gesprochen hat, hebt eine Augenbraue, ihr Mundwinkel ist süffisant nach oben gezogen. Die anderen glotzen mich an.

Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber es entweicht nur ein hörbar gestresster Seufzer. Ich weiß nicht, wie ich antworten soll. Sag einfach Nein. Nein, an diesen Geschichten ist nichts dran.

»Ihr Name war Scarlett, nicht wahr?«, fügt die selbstgefällige, schwarzhaarige Frau hinzu. Mein Kiefer zieht sich zusammen und ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Sie hat ihren Namen gesagt, als ob er nichts bedeuten würde. Als wäre sie ein unbedeutendes Rädchen in dieser Maschine gewesen.

Scarlett.

Wir haben uns wiedergetroffen, als ich fünfzehn Jahre alt war. Ich hatte niemanden. Nur sie.

Wir hatten nichts von der Existenz der anderen gewusst, bis sie mich in einer Krankenstation außerhalb der Stadt gefunden hat – gebrochene Knochen, blutverschmiertes Gesicht, alles durch die Hand meines Vaters. Er war nicht immer schlecht. In den ersten fünf Jahren meines Lebens war er freundlich und liebevoll. Aber als ich sechs Jahre alt war, hatte mein Vater, Jack, einen Zusammenbruch, der ihn in eine heimtückische Bestie, ein Monster, einen Teufel von einem Mann verwandelt hat, der mir jedes Glück nahm. Sie hat mich gefunden. Ja, ihr Name war Scarlett.»Nein, die Geschichte ist nicht wahr, Madame«, wende ich mich an Suseas. »Ja, das war ihr Name.« Ich schenke der Neugierigen ein schmales, starres Lächeln. Mein Lächeln droht sich in ein Stirnrunzeln zu verwandeln.

»Sie war ein sonderbares Mädchen, nicht wahr? Sie saß immer allein. Keine Freunde, alte Kleider, sehr wenig Make-up.«

Sonderbar. Allein. Keine Freunde.

Ich sehe die Skizze vor meinem inneren Auge. Die Fäden. Die hölzernen Gliedmaßen. Ich fahre über das Pergament und zeichne sie mit meinen Gedanken nach.

Ich muss den Atem anhalten, meine Lippen fest aufeinanderpressen, als würden sie von Nadeln zusammengehalten werden, um nicht zu schreien.

»Meridei, es ist geschmacklos, schlecht über Tote zu sprechen.« Suseas schnalzt mit der Zunge.

Ich schaue in Merideis kalte, dunkle, mandelförmige Augen. Sie verhöhnt mich mit ihrem unerschütterlichen Blick. Meine Stirn brennt und meine Arme kribbeln vor Unbehagen.

»Ich würde die Worte faszinierend und einzigartig wählen«, sage ich zu Meridei. »Möge sie in Frieden ruhen.«

»Ja, meine Liebe, natürlich«, mischt sich Suseas ein. »Meine Damen, ich würde Miss Ambrose gerne herumführen. Bitte kehren Sie zu Ihren morgendlichen Pflichten zurück.«

Danke.

Mein Blut kühlt auf eine angemessene Temperatur ab, als die vier Konformistinnen in einer Reihe zum Treppenhaus gehen. Ich hebe die Tasse Tee an die Lippen und puste den Dampf weg, als wäre es die Spannung, die Meridei mit ihren unpassenden Bemerkungen in meinen Körper injiziert hat. Der Dampf zirkuliert weg von mir wie der Dunst eines Wasserfalls, der auf eine Lagune trifft.

»Miss Ambrose, ich fühle mich moralisch dazu verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass dieser Beruf nicht für jeden geeignet ist. Es braucht ein gewisses Maß an … Gelassenheit, um hier zurechtzukommen.« Sie neigt ihr ovales Gesicht nach unten, hält ihren Blick dabei aber auf den meinen gerichtet, als wollte sie telepathisch mit mir kommunizieren. »Was ich damit meine, ist, dass Sie diesen Weg nicht einschlagen sollten, wenn Sie einen starken Sinn für Empathie haben … oder auch nur einen schwachen Magen.«

Ein eisiges Kribbeln überzieht meinen oberen Rücken und meine Beine. Neblige Erinnerungen an Scarletts Geschichten tauchen vor meinem geistigen Auge auf, als würde ich in einem Fotoalbum blättern, dabei bin ich nicht einmal selbst dabei gewesen.

»Ich denke, Sie werden feststellen, dass ich perfekt für diese Aufgabe geeignet bin«, antworte ich selbstbewusst und achte darauf, dass mein Gesichtsausdruck neutral bleibt. Scarlett hat mir einmal erzählt, dass sie bei Vorstellungsgesprächen auf die Körpersprache achten, um Schwächen zu erkennen. Wenn du zu schnell blinzelst, deine Haltung änderst, dich am Kopf kratzt oder deine Nase berührst – das ist, als würde dein Körper ihre unterschwelligen Fragen ehrlich beantworten. Ich bleibe ganz ruhig. Mein Atem ist gleichmäßig und kontrolliert. Meine Beine haben sich nicht von ihrer Position mit den gekreuzten Knöcheln wegbewegt. Ich bin so still wie eine Leiche. Das Ergebnis ist, dass mein unterer Rücken, mein Nacken und meine Beine aufgrund der fehlenden Bewegung schmerzen.

»Sehr gut.« Sie verneigt sich und steht von der Couch auf. »Wir werden einen kurzen Rundgang durch die Abteilung für komplizierte Fälle machen, um zu zeigen, wie der Alltag aussieht und wie die Behandlungen für unsere Patienten ablaufen.«

 

 

 

 

Ich folge Suseas durch ein steinernes Treppenhaus mit Öllampen an den Wänden und einem Luftzug, der einen schwachen Geruch nach feuchten Handtüchern, die schon seit Wochen in einer Ecke gelegen haben, hereinträgt. Die Treppe windet sich in einer Spirale nach oben und eröffnet an jedem Absatz eine Tür.

Wir passieren drei Türen, bevor wir die Abteilung für komplizierte Fälle betreten. Der Marmorboden aus dem Warteraum geht in weiße und schwarze Schachbrettfliesen über. Sie erklärt mir, dass wir auf halber Strecke des Flurs auf eine Kreuzung stoßen werden. Der linke Gang führt zum Speisesaal, der mittlere zu den Behandlungsräumen und rechts befinden sich die Patientenquartiere. Dreizehn Stück, um genau zu sein.

»Jeden Morgen wird Ihnen ein Patient zugewiesen, für den sie den gesamten Tag über zuständig sind. Sie werden einen Zeitplan mit den Behandlungen, denen er unterzogen wird, erhalten. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Patienten etwas zu essen bekommen und ihre Behandlungen zu Ende führen, die Vitalwerte vorher und nachher zu dokumentieren sowie allgemeine Notizen über die Behandlungen und den Tag zu machen. Das hört sich erst mal einfach an, aber die Behandlungen können sehr lange dauern und für den Patienten sehr quälend sein. Jede Sitzung hat einen bestimmten Zweck, manchmal religiös, manchmal wissenschaftlich. Unsere Ratsmitglieder sehen sich Ihre Berichte an und legen anhand derer die nächste Behandlung fest, daher ist es wichtig, dass jeder Konformist eine detaillierte Beobachtung des ihm zugewiesenen Patienten durchführt.«

»Wie hoch ist Ihre Erfolgsquote?«, unterbreche ich sie.

»Wie bitte?«

»Ihre Erfolgsquote. Wie viele dieser Patienten werden geheilt und können in ihre Familien und ihren Alltag zurückkehren?«

Sie blinzelt und spitzt ihre Lippen. »Oh, nun, wir haben zahllose Verbesserungen bei den großen Verhaltensproblemen festgestellt, aber ihr geistiger Gesamtzustand bleibt immer unverändert. Das endgültige Ziel ist es nicht, sie zu heilen. Auch wenn es Priester gibt, die da anderer Meinung sind. Das Ziel ist es, sie von der Zivilisation fernzuhalten. Um die Öffentlichkeit vor ihnen zu schützen. Sie sind geborene Killer. Sie haben keine Seelen, würden die meisten behaupten.«

Ich tue so, als würden sich Haken in die Seiten meines Gesichts graben, meine Haut dehnen und die Gesichtsmuskeln stillhalten. Es ist schwieriger als gedacht, mich nicht von meinem Körper verraten zu lassen.

»Und wie hoch ist Ihre Sterblichkeitsrate?«

Sie streckt ihr Kinn genervt nach vorne. »Wir führen keine Statistik darüber, aber es gibt manche, die in härteren Prozessen umkommen als andere.« Sie blickt zu Boden, als ihr klar wird, dass diese Praktiken keinen Fortschritt bei den Patienten bringen. »Aber das ist ja der Sinn dieses Gesprächs, dass Sie die Kosten dieser Arbeit verstehen.«

»Können Sie mir etwas über die verschiedenen Behandlungen erzählen?«

»Natürlich. Aber vergessen Sie nicht, dass die Behandlungen nicht der Grausamkeit oder dem Vergnügen dienen. Das ist einfach die Art und Weise und der Grundsatz, nach dem diese Anstalt seit Jahrzehnten arbeitet.«

Ich verlagere mein Gewicht auf mein anderes Bein. Es hört sich eher so an, als ob sie versuchen würde, sich selbst davon zu überzeugen, dass das, was sie hier tun, nicht so schlimm ist – nicht so böse.

»Die ersten Behandlungen eines neuen Patienten beginnen je nach Schweregrad des Falls mit einer Hydrotherapie. Viele der Patienten, die neu aufgenommen werden, kommen mit einer manisch-depressiven Psychose zu uns. Diese Behandlung hilft, durch die Temperatur des Wassers von neun Grad, ihre Energie zu steigern.«

Ich spotte. »Ja, ich bin sicher, mit eiskaltem Wasser bespritzt zu werden, würde jeden aufwecken.« Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. Ich mache keinen guten Eindruck. Ich darf mich nicht von meinen Gefühlen für diesen Ort überwältigen lassen.

Sie macht weiter, als ob ich sie nicht unterbrochen hätte. »Stuhlbinden ist eine weitere Behandlung, die wir bei Menschen mit hyperaktiven Persönlichkeiten oder religiöser Nervosität anwenden. Die Gurte werden so eng geschnallt, dass der Blutkreislauf verlangsamt wird und die Patienten sich etwa acht Stunden lang entspannen.«

Pause.

»Es gibt auch simuliertes Ertrinken, Elektrokonvulsionstherapie, chemisch ausgelöste Anfälle und als letzten Ausweg für die unkontrollierbarsten Patienten … Lobotomien. Das ist ein chirurgischer Eingriff am Gehirn, bei dem Elemente entfernt werden, die ihre Verhaltensmerkmale beeinträchtigen.« Sie seufzt. Tippt in Gedanken ihre Fingerspitzen aneinander.

Ein kurzer Blick auf ihre Uhr. »Nachdem wir nun einige der Grundlagen besprochen haben …, muss ich Ihnen einige der Behandlungen persönlich zeigen. Für die meisten ist es extrem schwierig, sie zu sehen, und noch schwieriger, sie einem anderen Menschen zuzufügen. Ich will nur Ihre Reaktion darauf beobachten, um sicherzugehen, dass Sie sich das zutrauen.«

Ein scharfer, eiskalter Schauer läuft mir den Nacken hinauf zur Kopfhaut und prickelt über meine Haarfollikel wie die Borsten einer Bürste.

Wir machen uns gar nicht erst die Mühe, den Speisesaal oder die Patientenschlafsäle zu besichtigen. Sie wird mich direkt testen. Ich kann mir vorstellen, dass dies der Teil ist, bei dem die meisten Bewerber beim Vorstellungsgespräch durchfallen. Zu meinem Glück hat mir Scarlett sehr detailliert erklärt, was bei diesen Behandlungen vor sich geht. Als ich das erste Mal von der Verbrühungstherapie hörte, hatte ich tagelang heftige Albträume. Ich habe unkontrolliert gezittert, während sie mir genau erzählte, was sie gesehen hatte. Nach ein paar Jahren, in denen ich ihre vertraute nächtliche Gesprächspartnerin wurde, entwickelte ich ein dickes Fell und konnte die kranken Visionen abwehren, die Scarlett in ihren Geschichten so delikat ausmalte.

Ich folge Suseas in den mittleren Flur. Mit Schwung gleitet sie über die Fliesen, als hätte sie kleine Räder an den Sohlen ihrer Schuhe. Die Decken sind bedrohlich hoch, mit Rippengewölben und Messingkronleuchtern, die tief herunterhängen. Die Türen haben die gleiche dunkle Kupferfarbe wie die Lampen und alle kleine Fenster in Augenhöhe. Durch die erste Tür kann ich kleine weiße Kacheln und fünf Wasserdüsen erkennen, die aus jeder Wand ragen. Im Inneren befindet sich eine nackte Frau, die durch den starken Druck des kalten Wassers herumtaumelt. Ihre Schreie sind heiser und abgehackt, während sich ihr Mund mit Wasser füllt.

Hydrotherapie.

Im zweiten Raum zu meiner Linken liegt ein älterer Mann an Armen, Kopf und Beinen auf einen Tisch gefesselt. Zwei weiße Glühbirnen sind mit seinen Schläfen verbunden und sein Körper zuckt und strampelt. Ich höre keine Geräusche aus diesem Raum. Elektrokonvulsionstherapie.

Als wir uns dem dritten Raum nähern, bleibt Suseas stehen. »Simuliertes Ertrinken. Diese Behandlung ist für Neulinge besonders schwer zu beobachten. Unser Grundinstinkt ist es, zu atmen, um am Leben zu bleiben. Wenn man jemandem das nimmt, ist es leicht, seine unanständigen Neigungen zu zügeln und seinen Verstand darauf zu trainieren, der Verhaltenskorrektur zu gehorchen. Es ist jedoch ein langer und anstrengender Prozess für beide Seiten. Wir halten den Kopf des Patienten dreißig Sekunden lang unter Wasser. Ein gesunder Mensch kann zwar im Durchschnitt etwa zwei Minuten die Luft anhalten, aber durch die Panik und den Adrenalinrausch wird mehr Sauerstoff benötigt als normalerweise und die Angst vor dem Ertrinken ist schmerzhaft genug, um daraus eine sehr wirksame Behandlung zu machen.« Suseas berührt den Türknauf liebevoll mit den Fingerspitzen, als ob der Raum selbst einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen würde.

»Das klingt in der Tat sehr effektiv.« Ich halte meine Hände zusammen, damit sie nicht zittern.

»Atmen Sie tief durch. Das mag anfangs schockierend erscheinen, aber nach ein paar Versuchen gewöhnen wir uns daran und werden schließlich völlig unempfindlich dafür.«

Ich tue, was sie sagt, und atme tief und abgehackt ein. Sie zieht einen Hebel an der Tür und dreht ihn im Uhrzeigersinn, bis die Tür klickt und ein Schwall kalter Luft herausströmt.

»Die Raumtemperatur ist auf zwölf Grad Celsius eingestellt. Das macht es für den nassen Patienten noch unangenehmer«, bemerkt sie, als wir durch die Tür gehen. Die kühle Luft streicht über mein Gesicht und entlarvt diesen Raum als Schuldigen für den Gestank nach Schimmel und nassen Handtüchern, der durch eine Mischung aus Speichel und Schweiß noch verstärkt wird.

In der Mitte des Raums befindet sich eine Badewanne. Ein älterer Mann hockt auf den Knien davor und Meridei sitzt auf einem Hocker mit einem Klemmbrett in der Hand daneben. Der weiße Overall des Mannes klebt an seiner hellbraunen Haut und ist durchtränkt von kaltem Wasser, das ihm in den Nacken und an den bebenden Armen heruntertropft. An den langen Enden der Wanne sind Metallklammern befestigt, die um seinen Hals geschlossen wurden und um seinen Hinterkopf befestigt sind. »Darf ich dich daran erinnern, Chekiss … Du entscheidest, wann das hier aufhört. Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich unerträglich ist, mit deinen wunden, brennenden Lungen und den schmerzenden Muskeln in deinem Nacken. Du kannst die Sitzung jetzt mit einem einzigen Wort beenden.« Die höhnische, schwarzhaarige Frau mit dem Namen Meridei sieht ihn mit ihren onyxfarbenen Augen an, unbeeindruckt von dem, was sie ihm gleich antun wird. Ich versuche, meinen Atem ruhig zu halten, konzentriere mich darauf, langsam ein- und auszuatmen.

»Das ist Meridei. Sie arbeitet seit etwa fünfeinhalb Jahren als Konformistin. Sie ist am geschicktesten im simulierten Ertrinken. Sie hält ihre Fragen und Vorträge kurz und bündig, damit es für alle leichter wird.« Suseas lächelt Meridei herzlich an. Leichter? Sind denn hier alle völlig verrückt?

»Chekiss ist schon seit langem Patient in der Abteilung für komplizierte Fälle. Er wurde wegen Mordes an seiner Frau und seiner Tochter eingeliefert. Er ist stumm und kooperiert mit keinem der Konformisten hier. Das erste Jahr lang haben wir ihn mit Hydrotherapie und Elektrokonvulsionstherapie behandelt. Da dies keine Wirkung gezeigt hat, haben wir dann beschlossen, das hier zu versuchen, da wir zu dem Schluss gekommen sind, dass sein Schweigen freiwillig und seine unkooperative Haltung vorsätzlich ist.«

Ich behalte Chekiss im Auge. Sein Körper bleibt weiterhin ruhig, seine Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Er zittert nicht vor Kälte und stöhnt nicht vor Schmerzen. Er ist still, wie die Sanftheit der Wellen vor einem Sturm.

»Miss Ambrose, können Sie das für mich unterschreiben? Es ist eine Geheimhaltungsvereinbarung. Sie dürfen mit niemandem teilen, was Sie heute in diesem Bereich sehen.«

Das hat Scarlett nicht abgehalten.

Ich unterschreibe schnell und drücke den Stift dabei hart auf das Klemmbrett, um meine Hand vom Zittern abzuhalten.

»Meridei, bitte fahren Sie fort.« Suseas winkt einmal mit der Hand. Mein Magen dreht sich in drei verschiedene Richtungen. Merideis Blick sinkt zu ihrem glänzenden schwarzen Kasten. Sie drückt auf einen Knopf, der den Anker um seinen Kopf in das kalte Wasser senkt. Er wehrt sich nicht und zuckt nicht. Ich hätte erwartet, dass die Person, die sich dieser Behandlung unterzieht, empört ist und unkontrolliert herumfuchtelt. Aber Chekiss scheint sich geistig darauf vorbereitet zu haben. Er hält seinen Körper entspannt, während sein Kopf in das Wasser getaucht wird.

Meine Hand ballt sich zu einer Faust, meine Fingernägel schneiden in meine Handflächen. Mein Kampf- oder der Flucht-Instinkt pulsiert in mir. Ich will ihn losreißen, und zwar sofort.

Meridei schaut auf ihre Uhr und zählt die dreißig Sekunden ab.

Aus reinem Mitgefühl bleibt mir der Atem im Hals stecken und ich halte ihn an. Fünfundzwanzig Sekunden vergehen und seine Hände verkrampfen sich. Sein Körper versteift sich und er beginnt zu zappeln. Chekiss’ Knie stoßen hart gegen den nassen Boden. Meine Lunge steht für ihn in Flammen, brennt und zieht sich in einem schweren Muskelkrampf zusammen.

Noch drei Sekunden.

Ein Grunzen dringt aus dem Wasser, als es seinem gebrechlichen Körper gelingt, ein paar Schrauben an den Klammern zu lösen, die sich durch das Strampeln gelockert haben. Meridei drückt einen Knopf und der Anker wölbt sich wieder nach oben und zieht seinen Oberkörper aus dem Eiswasserbecken. Er schnappt mit seinen röchelnden Luftröhren nach Luft. Er hustet von der kleinen, aber nicht tödlichen Wassermenge, die er geschluckt hat.

Meridei drückt erneut auf den Knopf und er wird wieder in den Todestank abgesenkt. Diesmal hat er nicht die Kraft, den Atem noch mal genauso lange anzuhalten. Er ist erschöpft von der letzten Runde, aber er hält noch einmal still.

Ungeduldig warte ich darauf, dass sie den Knopf wieder drückt. Mein Herz vibriert wie eine Bohrmaschine und die Muskeln über meinem Bauch verhärten sich zu einer Panzerplatte. Diesmal hält er nur fünfzehn Sekunden durch, bevor er wieder zu krampfen beginnt. Sein Körper knallt gegen die Wanne und die Metallfesseln. Dreißig Sekunden. Er kommt hoch und schnappt noch heftiger nach Luft.

Ich halte meine Hände flach an meine Seiten gepresst. Ich darf keine Anzeichen von Schwäche zeigen. Auch wenn es mich danach drängt, Meridei von ihrem Hocker zu stoßen und diesen Mann von seinen Fesseln zu befreien. Ich kann ihm nicht helfen und das bringt mich innerlich um. Aber das ist in Ordnung, solange ich es nach außen hin nicht zeige.

»Noch mal«, sagt Meridei.

Noch mal?! Seht ihn euch an! Er leidet jetzt schon!

Ein Hitzeschub erreicht mein Gesicht, prickelt auf meiner Stirn und versengt das Fleisch hinter meinen Augen. Wie soll ich mir das jeden Tag ansehen? Der Anker lässt ihn hinunter und er grunzt, um den Atem anzuhalten.

Diesmal hält er fünf Sekunden durch, bevor die Zuckungen beginnen. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Atem anhalte, weil ich spüre, wie sich Suseas’ Augen in mich hineinbohren wie die Zähne einer Python. Diesmal lässt Meridei ihn bereits nach zwanzig Sekunden hochkommen, als es so aussieht, als würde er gleich Wasser schlucken. Er hustet heftig über dem Wannenrand, der Speichel läuft ihm in langen, klebrigen Fäden aus dem Mund.

»Erzähl mir von deiner Frau, Chekiss.« Schweigen.

Ihr Finger drückt auf den Knopf. Er schreit, bevor er unter Wasser gedrückt wird. Diesmal sind es zehn Sekunden, bevor sie ihn hochkommen lässt.

»Wie war der Name deiner Mutter?« Ihre Stimme wird lauter, um sein Keuchen zu übertönen.

»Hattest du Geschwister?«

Mehr Keuchen.

Ich kann das nicht ertragen.

Mein Herz ist kurz davor, zu explodieren, anzuschwellen, gegen meinen Brustkorb zu drücken und in mir zu zerspringen.

Er ist wieder unter Wasser. Diesmal lässt sie ihn die vollen dreißig Sekunden unten. Gerade als ich denke, dass er es diesmal nicht schaffen wird, schafft er es doch. Er ist ein älterer Mann, aber anhand der letzten Runden unter Wasser kann ich sagen, dass er ein Kämpfer ist. Und wenn er wirklich sprechen kann, wie sie es behaupten, dann ist er noch wesentlich sturer als ich. Ich bewundere ihn dafür.

Sie reißt ihn gewaltsam zurück aus dem Wasser, sein Körper hängt schlaff wie eine nasse Nudel. Seine Augen sind geweitet und blutunterlaufen, die Nasenlöcher aufgebläht und aus seinem klaffenden Mund heult er wie ein sterbendes Tier.

»Warum haben Sie Ihrer Tochter etwas angetan?«, drängt Meridei mit einer weiteren Frage. Wie vorhergesagt, antwortet er nicht.

Das geht fast eine Stunde lang so weiter. Ich kämpfe gegen den Druck, der sich in meiner Kehle aufbaut, gegen den Knoten der Übelkeit, der in meinem Bauch pulsiert.

Als klar wird, dass er eine weitere Runde nicht überleben würde, hüpft Meridei von ihrem Hocker, legt ihr Klemmbrett ab und befreit ihn von der Maschine. Sein zitternder Körper fällt schlaff auf den Boden. Blut tropft aus seiner Nase. Ich kämpfe gegen das Bedürfnis an, ihn vom Boden hochzuziehen und ihm zu sagen, dass alles gut werden wird. Ihm zu sagen, dass ich ihn hier rausholen werde.

Aber Suseas’ Augen sind auf meine Mimik und meine steife Körpersprache fixiert.

Meridei steht vor Chekiss’ Körper, während zwei Wachen ihn vom Boden hochheben. Als sie sich zur Tür drehen, schaut er zu mir auf. Obwohl seine Augen von Tränen und winzigen roten Äderchen durchzogen sind, leuchten sie grün – wie die schleimigen Grünalgen, die sich auf dem Grund eines Teiches sammeln. Es sind friedliche, harmlose Augen, trotz dessen, warum er hier ist, und der schrecklichen Behandlung, die er gerade überstanden hat. Suseas dreht sich mit einem zufriedenen Lächeln zu mir um. »Ich bin beeindruckt. Fast jedes Mädchen, das ich in diesen Raum gebracht habe, hat ihn unter Tränen verlassen.« Sie hält inne und mustert mein leeres Gesicht. »Ich könnte dir noch die anderen Behandlungsräume zeigen, aber ich denke, das wäre reine Zeitverschwendung.«

»Warum?« Fast fertig. Fast fertig.

»Man muss schon eine besondere Art von Mensch sein, um so etwas zu sehen, ohne mit der Wimper zu zucken«, sagt sie.

Sie meinen einen Sadisten? Ein Ungeheuer? Gut zu wissen.

»Ich möchte Ihnen ein paar der anderen Patienten vorstellen. Wollen wir?«

 

 

 

Ich folge Suseas zu dem rechten Korridor. Er wirkt länger und älter als die anderen.

Mir werden zwei Patienten vorgestellt.

Das erste Zimmer beherbergt eine Frau, die Angst vor Bakterien und Keimen hat. Ihre Hände sehen durch das Schrubben mit Bleichmittel aus wie eine Scheibe rohes Rindfleisch und sie hat keine Fingernägel mehr, weil sie sich jeden ausgerissen hat, um alle noch vorhandenen Keime loszuwerden. Ihr Kopf ist rasiert, um Läuse fernzuhalten, ebenso wie ihre Augenbrauen und Wimpern. Sie schält sich immer wieder die Haut von den Lippen, um auch diese sauber zu halten. Sie steht unter ständiger Beobachtung, damit sie sich nicht mehr verletzt.

In einem anderen Raum lebt ein verzweifelter Mann in den Mittvierzigern. Dieser Fall ist vielleicht der beängstigendste. Er glaubt, dass er sich auf der neunten Ebene der Hölle befindet. Er sieht Feuer und verlorene Seelen, die unter Schmerz und Qualen brennen. Sie erzählen mir, dass er sogar versucht habe, sich selbst die Augen auszukratzen, weil er so schreckliche Dinge gesehen hat. Er muss jetzt Fäustlinge tragen wie ein Neugeborenes.

Suseas bleibt am vorletzten Raum des Flurs stehen. Sie verharrt starr ein Stück von der letzten Tür entfernt, als würde eine Barriere sie daran hindern, ihr Bein nach vorne zu strecken. Einen Moment lang blickt sie nach vorne und schürzt ihre dünnen rosa Lippen, während der Anflug eines ängstlichen Stirnrunzelns ihr Gesicht verlässt. »Miss Ambrose, ich freue mich, ihnen sagen zu können, dass Sie sehr beeindruckend sind. Genau, wie Mr. Aurick es gesagt hat.« Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Seiten ihres glänzenden Gesichts, um den Schweiß zu beseitigen. »Ist das hier wirklich ein Leben, das Sie sich vorstellen können?«

Ich erinnere mich, dass ich Scarlett eines Abends dieselbe Frage gestellt habe, als wir auf dem Dach ihres heruntergekommenen Hauses saßen und unsere Blicke über Tausende von Sternen am Himmel schweifen ließen. Sie hatte mir gerade von einem Vorfall bei einer der Behandlungen erzählt. Ein kleiner Junge war ertrunken. Während die Konformistin mit leerem Blick auf seinen kalten, blauen Körper gestarrt hatte. Scarlett hatte versucht, ihn wiederzubeleben. Sie hatte fünfundvierzig Minuten lang auf seine nackte Brust gedrückt, sich dabei die Knie verletzt und das Handgelenk verstaucht. Er war erst zwölf Jahre alt gewesen.

Ich hatte nicht verstehen können, warum sie sich dieser Art von Quälerei aussetzte. Warum nicht weggehen? Sie hat mich damals so angesehen, wie ich jetzt Suseas ansehe. Sie hat gesagt: Wenn sich mehr Menschen mit Mitgefühl dafür entscheiden würden, das Hässliche zu sehen und nicht die Augen davor zu verschließen, wäre diese Welt vielleicht ein besserer Ort.

»Hier gehöre ich hin«, sage ich. Und trotz des Bösen, das ich gesehen habe, glaube ich, dass es wahr ist. Ich kann meine eigenen unlogischen Überlegungen nicht verstehen, aber wenn ich diesen Gang hinuntergehe und mit den Fingern über die groben Wände fahre, spüre ich einen kosmischen Sog, der meine Seele an diesen Ort bindet. Ein Strudel, der mich tiefer und tiefer hineinzieht.

Suseas hebt ihr Kinn mit sichtlichem Stolz. »Was für eine Freude. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen eine Stelle als Konformistin anzubieten. Könnten Sie morgen schon anfangen?«

Ich atme tief ein. Nicke mit dem Kopf. Schlucke den bitteren Geschmack von Angst und Stress hinunter, der sich wie saure Magensäure auf meiner Zunge festgesetzt hat. Sie geht zwei Schritte von der letzten Tür weg und führt mich zurück zum Anfang des Flurs. Ich folge ihr nicht, sondern halte eine Hand hoch, um sie aufzuhalten. »Warten Sie, zeigen Sie mir nicht auch noch das letzte Zimmer?« Es ist der einzige Raum ohne Klemmbrett mit dem Profil des Patienten und ohne Fenster in der Tür.

»Nein«, antwortet sie scharf, legt den Kopf schief und verengt ihren Blick auf mich, als wäre meine Frage völlig unangebracht.

»Warum nicht?«

»Niemand geht in diesen Raum.« Ihre Stimme ist kalt und untypisch für sie.

Ich sollte es sein lassen. Aber es ist wie ein Juckreiz, bei dem ich kratzen muss. »Können Sie mir erklären, warum?«

Sie dreht mir ruckartig den Kopf zu. »Miss Ambrose, dies ist das erste und letzte Mal, dass ich auf diese Frage eingehe. Ich dulde keine Neugierde und keine Neigung zu nicht damenhaften Themen. Ist das klar?«

Ich nicke erstarrt. Welchen Nerv habe ich getroffen?

»Dieser Raum wird von niemandem in dieser Einrichtung erwähnt. Niemand geht in die Nähe dieser Tür. Niemand außer den Mitgliedern des Rates setzt einen Fuß hinein. Sie dürfen sich überall in der Anstalt aufhalten, mit jedem Patienten arbeiten, jede Tür öffnen – außer diese eine.« Ihr unerschütterlicher Blick zwingt mich, meine Augen abzuwenden. »Wenn Ihnen Ihr Leben und Ihre geistige Gesundheit etwas wert sind und wenn Sie es vorziehen, in dieser Anstalt zu arbeiten, anstatt ein Patient zu sein, dann werden Sie meine Anweisung respektieren, Ihre Neugierde ablegen und sie nie wieder aufgreifen.«

Ich blicke zurück auf die größte Tür am Ende des Flurs.

---ENDE DER LESEPROBE---