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An dieser Akademie endet die erste große Liebe tödlich. Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Eine einzige Nacht hat Joys Welt auf den Kopf gestellt: Von nun an muss sie ihre Gefühle verbergen, wenn sie nicht in einem der grausamen Maskenduelle gegen den jungen Fürsten kämpfen will, in den sie sich nicht hätte verlieben dürfen. Doch der Fluch sucht immer noch sein tragisches Liebespaar, und das Spiel von Leben und Tod an der Akademie nimmt eine gefährliche Wendung ... Band 2 der herzzerreißend romantischen Fantasy-Trilogie Entdecke die komplette Reihe: The Romeo & Juliet Society Band 1: Rosenfluch Band 2: Schlangenkuss Band 3: Diamantentod
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Seitenzahl: 650
TRIGGERWARNUNGDiese Reihe enthält Themen, die potenziell triggern können. Hinten befindet sich ein Hinweis zu den Themen.ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Reihe.Als Ravensburger E-Book erschienen 2024Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2024 Ravensburger VerlagText © 2024 by Sabine SchoderDie Zitate im Inhalt stammen aus »Romeo and Juliet« von William Shakespeare, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel.Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)Illustration vordere Klappeninnenseite: Wahed KhakdanUmschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Hamburg Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51211-9ravensburger.com
PROLOG
Die Flammen des Lagerfeuers tanzen in Rhymes eisblauen Augen. »Wir sind kein legendäres Liebespaar«, flüstert er über das Knistern und Knacken des Holzes hinweg. »Es war nur eine Nacht.«
Es war länger als eine Nacht, würde ich gerne sagen. Für mich war es länger.
Aber was würde das jetzt noch bringen?
»Es war nur eine Nacht«, stimme ich zu.
Er senkt den Blick. »Trotzdem würde es dem Ballkomitee genügen.«
Das lässt mich schlucken. »Was … was tun wir jetzt?«
»Was wir vorher auch getan haben«, antwortet er leise. »Wir trainieren, wir tanzen, und wir tun unser Bestes, um nicht in einem dieser Duelle zu landen. Vor allem nicht auf gegensätzlichen Seiten …«
KAPITEL 1
»Wer zum Teufel hat Chili in mein Duschgel gerührt?!«
Ein Aufschrei reißt mich aus dem Schlaf und lässt mich keuchend hochfahren. Mit klopfendem Herzen sitze ich in einem Meer aus samtigen Kissen. Kunstvoll gefärbte Stoffbahnen in Glutrot und Flammengelb drehen sich über meinem Kopf zu einer Zeltspitze zusammen. Einige Sekunden lang weiß ich nicht, wo ich bin. Dann steigt mir der Geruch von kaltem Rauch und teurem Aftershave in die Nase. Ein Duft, den ich kenne.
Natürlich. Das ist Cuts Zimmer.
Und es war seine Stimme, die mich aufgeweckt hat.
Ich krabble über das Kissenmeer hinweg, ziehe die Zeltvorhänge mit beiden Händen auf – und erstarre mitten in der Bewegung.
Cut Montague, der Katzenfürst höchstpersönlich, steht splitterfasernackt mitten im Raum. Nur ein Handtuch hat er um seine Hüften geschlungen. Ein Handtuch, das auf seiner feuchten Haut langsam Millimeter für Millimeter herunterrutscht und dabei sonnengebräunte Muskeln entblößt. Trotzdem funkelt er seinen kleinen Bruder so empört an, als wäre er derjenige, der gerade einen Striptease in Zeitlupe vollzieht.
»Das warst du, oder?«, faucht er Ink an. »Du hast Chili in mein Duschgel gerührt! Hast du eine Ahnung, wie heftig das auf rasierter Haut brennt?«
Ink verschränkt die Arme vor der Brust. Mit seinem kohlrabenschwarzen Wuschelhaar und den goldenen Augen sieht er wie eine zwölfjährige Miniaturausgabe seines großen Bruders aus. »Das Chilipulver war nicht für dich bestimmt«, verteidigt er sich mit vorgeschobenem Kinn. »Außerdem, warum regst du dich so auf? So schlimm kann’s nicht gewesen sein, dein Gesicht ist nicht mal rot geworden.«
»In meinem Alter rasiert man sich nicht nur im Gesicht!«
Cut packt das feuchte Handtuch, als wollte er es sich von den Lenden reißen, doch ein Geräusch hält ihn in allerletzter Sekunde davon ab. Wir beide brauchen einen Moment, um zu kapieren, dass der abgewürgte Laut aus meiner Kehle kam. Sein Kopf schnellt zu mir herum. »Joy!«
Ink verengt seine Augen zu schmalen Schlitzen und mustert seinen Bruder kritisch. »Jetzt wird dein Gesicht ja doch noch rot. Etwa wegen einer müffelnden Capulet?«
»Ich bin keine müff…«
Im gleichen Moment steigt mir tatsächlich ein leicht unangenehmer Geruch in die Nase und lässt mich stutzen. Mit gerunzelter Stirn stehe ich auf und blicke an mir herab. Ich trage noch immer den schwarzen Duellanzug von gestern Nacht. Einen Duellanzug, mit dem ich ins Wasser gesprungen und über Erde gerollt bin, mich zwischen Steinsäulen gezwängt und in feurigem Sand gewälzt habe. Nach dem Duell – und allem, was dann passiert ist – habe ich völlig vergessen, ihn von meiner verschwitzten Haut zu schälen.
»Ich bin keine …« Ich beende den Satz deutlich leiser: »… keine Capulet.«
Nicht mehr.
Plötzlich krampft sich mein Magen zusammen. Dieser Traum, den ich vorhin hatte, schnellt aus den dunklen Tiefen meines Unterbewusstseins zurück an die Oberfläche und füllt meine Gedanken mit blendend grellen Bildern. Ich sehe sie alle deutlich vor mir: Drapes, die sich hinter ihren schwarzen Vorhanghaaren vor meinem Anblick versteckt. Tears Tränen, die über ihr weißes Tattoo laufen. Stage, der mich mit schmerzverzerrtem Gesicht von seinem besten Freund wegreißt. Und Rhyme. Rhymes fassungsloser Ausdruck, als ihm die Bedeutung von Stages gekeuchten Worten klar wird: Ich weiß, dass du sie magst … aber sie kann nicht unter Wasser atmen … und so, wie es aussieht … ist sie immun gegen Feuer.
Nur, dass es überhaupt kein Traum war.
Es ist alles wirklich so geschehen.
Meine Mutter war nicht Rose Capulet, wie ich mein Leben lang geglaubt habe, sondern ihre Freundin Joy Montague. Eine Frau, die ich niemals kennengelernt habe, weil sie kurz nach meiner Geburt gestorben ist. Und auch mein Vater … Mein Vater! Dad! Sein zerknitterter Gesichtsausdruck, als er sagte: »Es hat für mich nie eine Rolle gespielt, wer dein leiblicher Vater war.«
»Joy?« Cut taucht wieder vor mir auf und lässt mich heftig zusammenzucken. Seine dunklen Augenbrauen quetschen tiefe Kummerfalten in seine Stirn. Er hält mich sachte an beiden Oberarmen fest, so als würde er befürchten, ich könnte ihm vor die Füße kippen. »Alles okay?«
Mit rasendem Herzen weiche ich vor ihm zurück. »Ja, ich, ähm, ich bin okay. Ich …« Seine Augen nehmen einen noch besorgteren Ausdruck an, der mir plötzlich Angst macht. Angst, ich könnte die Fassung verlieren. Auf eine Art und Weise, die mich komplett zerfetzen würde. »Ich … geh besser unter die Dusche!«
Überstürzt drücke ich mich an ihm vorbei und laufe auf das Badezimmer zu, das sich in einem kurzen Durchgang seitlich der Eingangstür befindet, genau dort, wo es auch im Capuletturm wäre. Das imposante Lagerfeuer, das die Mitte des Raumes dominiert, verwischt genauso zu undeutlichen Farben in meinem Augenwinkel wie Cuts kleiner Bruder.
»Im Bad steht eine Tasche für dich!«, ruft mir Cut hinterher. »Das Mädchen mit den grünen Haaren … Wie heißt sie noch gleich? Sie hat sie dir heute Morgen vorbeigebracht.«
Mein Herz macht einen Satz.
Ich wirble herum. »Tear war hier? Was … was hat sie gesagt?« Was hat sie dazu gesagt, dass ich plötzlich eine Montague bin? Dass ich seit gestern Nacht zu dem Haus gehöre, das Poetry – das Mädchen, in das sie verliebt ist – in eine Souffleuse verwandelt hat?
Cut tappt barfuß über den tiefroten Perserteppich und schüttelt sachte den Kopf. »Keine Ahnung, Capulets dürften den Montagueflügel genauso wenig betreten wie umgekehrt. Sie hat die Tasche bei unserem Pförtner abgegeben.« Ich weiß nicht, welche Reaktion er in meinem Gesicht entdeckt, sein Blick flackert jedenfalls hinab zu meinen Fäusten. Erst jetzt wird mir klar, dass ich meine Hände fest geballt habe. Ich will sie lockern, doch im selben Moment spüre ich das Zittern, das ich verzweifelt in ihnen festhalte. Cuts goldene Augen richten sich wieder auf mein Gesicht. »Ich hab die Tasche für dich neben das Waschbecken gestellt.«
Ich laufe ins Bad.
Mein Blick fällt sofort auf die Capulet-weiße Tragetasche, die auf dem schwarzen Marmor der Badgarnituren besonders hervorsticht. Unterwäsche und ein paar Klamotten sind darin, aber egal, wie oft ich sie durchwühle, egal, in welche Richtung ich sie drehe und wende – nicht mal unten auf dem Boden finde ich eine geheime Nachricht von Tear. Nichts, das mir verraten könnte, wie sie jetzt von mir denkt.
»Joy?«
Mit klopfendem Herzen drehe ich mich zu Cut, der im schummrigen Durchgang vor dem Badezimmer stehen geblieben ist und mich beim Durchwühlen der Tasche beobachtet haben muss. »Ja?«, hauche ich ein wenig atemlos.
Sein Mundwinkel zuckt. »Benutz nicht mein Duschgel, okay?«
Trotz allem stolpert ein kurzes Lachen aus mir heraus. Gleichzeitig kribbeln meine Augen, und ich wende mich von Cut ab, bevor er den Glanz in ihnen entdecken kann. Meine Finger nesteln an der Papiertasche herum, aber das ist nur ein Ablenkungsmanöver. »Danke für die Warnung.«
Cut merkt trotzdem, dass etwas nicht stimmt, seine Stimme wird sehr viel sanfter. »Joy …«
»Ich geh jetzt duschen«, erkläre ich und schließe die Tür zwischen uns etwas übereilt. Das Klacken des schweren Goldschlosses hallt durchs Badezimmer. Mit weichen Knien taumle ich einige Schritte zurück und sacke auf den dick gepolsterten Toilettendeckel.
Meine Blicke schweifen ohne Ziel durch den Raum. Alles ist blitzblank und sauber, von den Becken aus schwarzem Marmor bis hin zu den goldenen Spiegeln und Lichterspots. In einem Regal reihen sich kostbare Rasierwasser und eine breite Auswahl an modernem Goldschmuck, in einem anderen stehen allerlei Mittelchen für reine Haut und Zahnpastatuben mit Kaugummigeschmack. Zwei weitere Regale sind leer. Wie alle Zimmer in der Akademie ist auch das Turmzimmer des Katzenfürsten für vier Personen ausgelegt. Ich frage mich, wer das zweite Turmzimmer direkt darüber bewohnt. Nicht, weil das in diesem Moment wichtig wäre, sondern um meinem Kopf eine unverfängliche Beschäftigung zu geben. Könnte es Blaze’ Zimmer sein? Ursprünglich für die zahlreichen Kinder der Familienoberhäupter gedacht, beherbergen die Türme heutzutage immerhin auch deren beste Freunde. Zumindest war das bei den Capulets so.
Ich schlinge meine Arme um den Bauch.
»Kommst du da drin klar?«, fragt Cut gedämpft durch die Tür. »Ich will dich nicht drängen, aber wenn wir den Brunch nicht verpassen wollen, müssen wir in einer halben Stunde los. Danach haben die Haubenköche frei, und du kriegst nur noch was von den Souschefs.«
Er klingt so, als würde er sich bei dem Gedanken schütteln. Ich bezweifle stark, dass Cut das Mittagessen in meiner alten New Yorker Highschool überhaupt als Nahrung bezeichnet hätte. Das Montagsgemüse war für gewöhnlich noch halb gefroren, und der Freitagsauflauf ist nichts, worüber ich jemals wieder sprechen möchte. Nicht, dass das heute einen Unterschied machen würde. Mein Magen fühlt sich an, als würde ich nie wieder auch nur einen Bissen runterkriegen.
»Ich beeile mich!«, rufe ich durch die geschlossene Tür.
Leichter gesagt als getan. Kaum stehe ich auf und will mir den Duellanzug abstreifen, fällt mir ein, dass der Einteiler mit einem Reißverschluss auf meinem Rücken verschlossen ist. Unweigerlich schießt mir eine Erinnerung an gestern Nacht durch den Kopf, als Rhyme den Reißverschluss langsam öffnete und meine Haut nach Verbrennungen abtastete. Seine Fingerspitzen berührten mich nur federleicht, doch überall da, wo sie es taten, hinterließen sie eine feine Spur aus schaurig-angenehmer Gänsehaut. Allein der Gedanke daran genügt, um es noch mal passieren zu lassen.
Ich schüttle mich und reibe mir über die Arme.
Solche Gedanken sind mir nicht mehr erlaubt.
Es war nur eine Nacht. Nur eine Nacht, bete ich wie ein stummes Mantra vor mich hin und taste mit zitternden Fingern nach dem Reißverschluss im Nacken. Es bedarf einiger Verrenkungen, aber schließlich schaffe ich es, ihn auch ohne fremde Hilfe zu öffnen. Der Anzug rutscht auf den Boden und besprenkelt meine Füße mit dem schimmernden Rosenquarzsand des Feuerfeldes, in das Ash mich gedrückt hat. Ash Montague, der lieber sterben wollte, als ein Souffleur zu werden. Und der jetzt trotzdem einer ist. Meinetwegen.
Mit pochendem Herzen steige ich über den Anzug hinweg, schließe die Duschkabine hinter mir und schaffe es gerade noch rechtzeitig, das Wasser einzuschalten, bevor mir Tränen in die Augen schießen.
Du solltest das den anderen Montagues nicht zeigen, hat Rhyme gestern Nacht zu mir gesagt. Sonst akzeptieren sie dich nie. Montagues lachen selbst, wenn ihnen nach Heulen zumute ist.
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht. »Dann bin ich eben keine richtige Montague.« Meine Knie geben nach und lassen mich unter dem heißen Wasserstrahl zu Boden sinken. Einige Sekunden lang glaube ich, den Kampf gegen meine Gefühle zu verlieren und auseinanderzubrechen, in winzig kleine Stückchen, von denen ich nicht weiß, wie ich sie je wieder zusammensetzen soll. Aber dann schaffe ich es doch, meine Tränen wegzuwischen, meinen stockenden Atem zu beruhigen und wieder aufzustehen.
Als ich eine halbe Stunde später aus dem Bad komme, wartet Cut im Durchgang auf mich. Er lehnt an der Tür seines Schrankzimmers und ist zu meiner Erleichterung das strippende Handtuch losgeworden. Stattdessen trägt er schwarze Jeans und ein kunstvoll zerstörtes Sweatshirt, dessen lange Ärmel ihm bis zu den goldenen Ringen an seinen Fingern reichen. Seine Augen weiten sich bei meinem Anblick, und für eine Schrecksekunde fürchte ich, dass er mir alles ansehen kann. Dass er durch meine Fassade blickt. Dass er mich doch noch in Stücke zerbricht. Aber dann sagt er etwas Unerwartetes.
»Mit diesen Klamotten kannst du unmöglich in den Speisesaal gehen.«
Perplex blicke ich an mir hinab. Tear hat mir das Ensemble aus königsblauen Jeans und passendem Top eingepackt, das Poetry mir an meinem ersten Tag hier geschenkt hat. Nichts besonders Auffälliges, zumindest nicht für diese Akademie. Doch der kleine Diamanttropfen auf meiner Brust, der für das Haus Capulet steht, funkelt selbst im schwachen Licht des Durchgangs wie kaltes Feuer.
»Warte mal kurz.« Cut dreht sich um, verschwindet im Schrankzimmer und hält mir einen schwarzen Hoodie mit dem Flammenlogo der Montagues entgegen. Genau so einen hatte er mir in der Wirbelsturmnacht angeboten, als wir zu dritt von Kopf bis Fuß durchnässt auf der Bühne im Rosengarten standen. Inzwischen weiß ich, warum Rhyme damals nicht wollte, dass ich ihn annehme. Der Fluch des Unsterns, der uns alle hier auf dem Gelände der Akademie gefangen hält, kann nur durch ein gemischtes Liebespaar aus den Häusern Montague und Capulet beendet werden. Und das hätten Cut und ich bis gestern Nacht noch sein können. Ein Liebespaar, das sich für alle anderen Schüler opfern muss.
Wir sind kein legendäres Liebespaar, hallt Rhymes Stimme unaufhaltsam in mir nach.
Natürlich sind wir das nicht. Es war nur eine Nacht.
»Nur eine Nacht …«, wispere ich kaum hörbar.
Cut schaut mich fragend an, aber ich schüttle bloß den Kopf und streife mir den Hoodie über. An mir hat er Minikleid-Länge. Der Stoff duftet nach Rasierwasser und Lagerfeuerrauch, genau wie der Junge mir gegenüber.
»Du sabberst übrigens«, brummt Ink im Hintergrund.
Ich zucke zusammen, weil ich ihn völlig vergessen hatte. Er kauert vor dem Lagerfeuer und stochert mit einem schmiedeeisernen Schürhaken zwischen den glühenden Holzscheiten herum. Der Blick, den er mir dabei zuwirft, könnte ebenfalls Funken schlagen lassen. »Wart nur ab, bis ich den anderen Montagues erzähle, dass du das Kopfkissen unseres Fürsten vollgeschleimt hast. Er lässt sonst nie jemanden in seinem Bett schlafen.«
»Das war dein Bett?« Mein Blick gleitet an Cut vorbei zu dem Schlafzelt, aus dem ich vorhin gekommen bin. Für mich sieht es haargenau so aus wie die drei anderen Zelte im Zimmer. Es war gestern Nacht einfach nur das nächstgelegene. »Das wusste ich nicht. Ich hätte vorher fragen sollen. Entschuldige, ich … war todmüde.«
Und ich wollte nicht warten, bis du zurückkommst. Ich wollte nur die Augen schließen und Rhymes Gesicht nicht vergessen. Wie er mich ansah, kurz bevor er zwischen den Vorhängen verschwand. Seine Augenbrauen leicht zusammengezogen. Sein eisblauer Blick so intensiv, als würde er mich zum letzten Mal in seinem Leben ansehen. Seine Lippen noch warm von meinem Kuss.
Unserem letzten Kuss …
Wieder schlinge ich die Arme um meinen Bauch.
Cut folgt der Bewegung mit seinen Augen. »Ich denke, wir sollten was essen«, seufzt er. »Das brauchen wir jetzt alle.«
Der Montagueflügel entspricht dem der Capulets, nur dass er genau spiegelverkehrt angelegt wurde. Wir gehen durch einen mit echten Öllampen erhellten Korridor, der mit schweren Wandteppichen behängt wurde, und treten hinaus in ein vier Stockwerke hohes Foyer. Hängelampen in Form von eisig glitzernden Regentropfen gibt es hier keine, stattdessen stürzen weit über unseren Köpfen feurige Sternschnuppen von der Kuppeldecke und beleuchten einen Sofakreis aus blutrotem Samt. Dahinter befinden sich Buntglastüren, die mit lodernden Flammen und fallenden Sternen verziert sind.
Zum ersten Mal betrete ich den Speisesaal von der Seite der Montagues.
»Der Katzenfürst hat den Saal betreten!«, schallt es uns drinnen entgegen.
Sogar der Saal wirkt von hier aus ein klein wenig anders. Die Fensterfront befindet sich nun zu meiner Linken, die hohen Mauerbögen der Galerie dagegen liegen rechts. Von oben strahlt Sonnenlicht durch die Glasdecke auf uns herab und fällt in blassgoldenen Strahlen durch Dattelpalmen und Zitronenbäume. Ringsum erheben sich Montagueschüler von ihren schmiedeeisernen Stühlen und schlagen mit den Fäusten auf die Buntglastische, um die Ankunft ihres Fürsten zu ehren. Auch die Montagues in der Mitte des Saals, die auf den goldenen Stühlen am Tisch des Katzenfürsten sitzen, fallen in das Trommeln mit ein.
Nur die Capulets bleiben still. Die unten im Saal ebenso wie die am erhöhten Silbertisch des Schlangenfürsten. Dort sitzen Tear und Drapes, die zwar nicht direkt zur Familie Capulet gehören, sie aber als Kraftquellen mit ihren Tränen unterstützen. Tear mit ihren grün gefärbten Dutts und dem weißen Tränentattoo – das auf ihrer goldbraunen Haut besonders gut zur Geltung kommt – fällt wie immer zuerst auf, obwohl sie der Ruhepol der Clique ist. Drapes hingegen, die ihr zartes Elfengesicht oft hinter ihrem hüftlangen Seidenhaar verbirgt, nimmt niemals ein Blatt vor den Mund. Und sogar Stage ist da! Stage, der sich im Duell für mich ein Bein gebrochen hat. Dann waren seine Verletzungen also nicht allzu schlimm, denke ich erleichtert. Sonst hätten sie ihn garantiert nicht schon aus dem Krankenflügel entlassen.
Cut neigt sich zu mir und senkt die Stimme. »Ich muss nicht extra erwähnen, dass du dich vom Tisch des Schlangenfürsten von jetzt an besser fernhältst, oder?«
Meine Kehle schnürt sich zusammen, aber ich schüttle den Kopf. Nein, das muss er nicht extra erwähnen. Ich weiß, wie viel Cut für mich riskiert hat. Nicht nur hat er das Duell gestern Nacht geschwänzt und damit seine Raubkatzen aus dem Kampf gegen mich rausgehalten – er hat Rhyme und mich auch nicht verraten. Obwohl er uns zusammen im Foyer seines Vaters erwischt hat, nur wenige Minuten nachdem wir alle erfahren hatten, dass ich bei meiner Ankunft vor zwei Monaten ins falsche Haus gesteckt worden bin. Dass Rhyme und ich, von einem Moment zum anderen, plötzlich auf gegnerischen Seiten standen. Und dass wir den Rosenfluch, der uns alle in der Akademie gefangen hält, jederzeit beenden könnten – wenn wir bereit wären, dafür zu sterben.
Wir sind kein legendäres Liebespaar.
Wir sind es nicht.
Wir … dürfen es nicht sein.
Als wir auf den zerbrochenen Marmorblock in der Saalmitte steigen, der beide Fürstentische voneinander trennt, setzt meine Atmung aus. Allerdings nicht wegen der Montagues, die mich überrascht anstarren und mit ihren Faustschlägen aus dem Takt geraten. Und auch nicht wegen all des wilden Getuschels der Schüler ringsum, die mich nun endlich erkannt haben und unverhohlen mit dem Finger auf meinen schwarzen Hoodie zeigen. Nicht mal wegen Stage, dessen Gesicht vom Duell zerkratzt ist, oder wegen Tear, die ihren Frühstücksbrei zu Tode rührt, und genauso wenig wegen Drapes, die sich überhaupt nicht mehr bewegt. Das, was mir von einer Sekunde zur anderen die Luft abschnürt, ist etwas ganz anderes. Es ist das Getrommel der Capulets, das auf der gegenüberliegenden Seite des Saals ausbricht. Das Trommeln, das den Schlangenfürsten ankündigt.
Die Buntglastüren des Capuletflügels, die mit leuchtenden Kometen und tiefblauen Meerschlangen verziert sind, öffnen sich zu beiden Seiten. Vier Sicherheitsleute in maßgeschneiderten Designeranzügen, die sich über ihre muskulösen Oberkörper spannen, marschieren im Gleichschritt herein. Der Junge in ihrer Mitte ist noch keine achtzehn Jahre alt, trotzdem strahlt seine Autorität über sie hinweg. Wie so oft trägt er einfache Jeans und ein schlichtes Shirt in Capulet-Weiß. Aber allein der Ausdruck in seinen eisblauen Augen reicht aus, um alle ehrfürchtig vor ihm zurückschrecken zu lassen.
Rhyme hat den Saal betreten.
Der Junge, in den ich nicht mehr verliebt sein darf.
Erst als Cut mein Handgelenk packt, merke ich, dass ich unbewusst einen Schritt auf ihn zugemacht habe. Doch es ist nicht nur Cut, der mich zurückschrecken lässt. Kurz bevor Rhyme die Fürstentische erreicht, hallt uns seine Stimme entgegen, so eiskalt, dass sich mir die Nackenhaare sträuben.
»Ich verbanne dich!«, zischt er durch die Zähne. »Ich verbanne dich aus dem Haus Capulet!«
KAPITEL 2
»Was zum Teufel geht hier vor?!«
Blaze Montague springt von ihrem Platz an der Seite des Katzenfürsten auf und schlägt mit den Fäusten auf den Tisch. Allerdings hat sie dabei nicht Rhyme im Auge, der flankiert von seinen Sicherheitsleuten auf uns zumarschiert, sondern mich. Genauer gesagt, Cuts Hoodie, den ich trage. Das rubinrote Flammenlogo auf meiner Brust spiegelt sich in ihren schwarzen Augen.
Trotzdem stimme ich ihr in Gedanken zu.
Was zum Teufel hier vor sich geht, frage ich mich auch.
Ich bin wie erstarrt.
Selbst Cut zögert kurz bei Rhymes Ansturm, lässt sich dann aber umso gelassener in den goldenen Thronstuhl fallen und legt seine Füße quer über den Tisch. Inzwischen kenne ich ihn gut genug, um zu wissen, dass er die Rolle des selbstbewussten Katzenfürsten perfekt beherrscht. Aber eben auch gut genug, um zu erkennen, dass es manchmal nur eine Rolle ist. Eine leichte Anspannung liegt in seinen Schultern. Er mag so tun, als würde ihn das Aufmarschieren seines Konkurrenten kein bisschen jucken – aber er ist auf ihn vorbereitet.
Ich hingegen habe das Gefühl, als würde die Welt jeden Moment aus den Angeln kippen.
»Hast du gehört?«, donnert Rhyme uns entgegen.
Zu meiner absoluten Überraschung hat er es nicht auf unsere Seite des Marmorblocks abgesehen. Ganz im Gegenteil sogar, er wirft nicht mal einen Blick in unsere Richtung. Verwirrt sehe ich dabei zu, wie er stattdessen hinauf zum silbernen Thronstuhl steigt und so lange davor stehen bleibt, bis das ohrenbetäubende Getrommel der Capuletschüler nachlässt. Erst als sich eine gespannte Stille über den Saal senkt, erhebt er erneut die Stimme.
»Verlass meinen Tisch«, knurrt er. »Drusilla Apple-Eston.«
Drapes zuckt heftig zusammen. Sie streift sich ihre dunklen Vorhanghaare aus dem Elfengesicht und starrt ihn mit riesigen Augen an. Jede andere hätte zuallererst nach dem Grund für ihren Rauswurf gefragt, aber ihr kommt nicht mal ein Warum? über die Lippen.
Und da fällt es mir wieder ein. Gestern Nacht ist so viel auf einmal passiert, dass ich noch keine Zeit hatte, alles davon richtig zu begreifen. Dass Drapes auf der Schmiergeldliste von Lord Montague steht, hatte ich in all dem Durcheinander ganz vergessen. Sie fragt nicht nach dem Warum, weil sie es längst weiß. Sie ist nur darüber erschrocken, dass Rhyme die Wahrheit jetzt ebenfalls kennt.
»Ich verbanne dich aus dem Haus Capulet«, fährt Rhyme mit eisigem Blick fort. »Du wirst weder an meinen Tisch noch in den Capuletflügel jemals wieder einen Fuß setzen. Die Sicherheitsleute begleiten dich raus und schicken dir deine Sachen nach, wohin auch immer du gehst.«
»Rhyme!« Tear springt so heftig von ihrem Platz auf, dass sich einer ihrer grünen Dutts löst und ihr eine frostgrüne Haarwelle über die Schulter fällt. »Was soll das? Wir müssen doch alle zusammenhalten! Besonders jetzt! Was hätte Poetry dazu gesagt? Sie hat Drapes doch damals in unser Zimmer geholt.«
Auch Stage starrt seinen besten Freund mit offenem Mund an. In seinen Rastas glänzen Silberperlen, die er wie immer passend zu seinen Outfits wechselt, doch heute wirkt es so, als hätte er sie nur gedankenverloren irgendwo hingeklipst. »Vielleicht sollten wir das nicht hier besprechen.« Er stützt seine Arme auf dem Tisch ab, als würde er aufstehen wollen, verzieht dann allerdings vor Schmerz das Gesicht und sinkt zurück in seinen Stuhl. Jetzt erst fallen mir die Krücken auf, die an seiner Seite lehnen. »Hat das nicht noch Zeit bis nach dem Frühstück?«, stöhnt er. »Ich würde gern was runterkriegen, bevor die Schmerzmittel nachlassen.«
»Nein, es hat keine Zeit.« Rhymes durchdringender Blick lässt Drapes keine Sekunde lang los. »Sie ist eine Verräterin. Eine Spionin der Montagues. Sie hat unsere Schwächen ausgeforscht, damit wir in den Duellen einen Nachteil haben.«
»Was?!« Tear schlägt sich die Hand auf den Mund.
Stage schnellt so entsetzt zu Drapes herum, dass er seine Krücken umstößt. Sie landen polternd auf dem Marmorblock, doch niemanden scheint das zu kümmern. Alle starren nur wie gebannt Drapes an. Sie legt ihre Gabel sorgfältig ab, tippt sich eine Stoffserviette an die Lippen und hebt die Krücken in aller Seelenruhe für ihn auf. Ihr Gesicht ist allerdings so weiß wie die Tischdecke, die sie dabei anstarrt. »Es gibt nur eine Sache, die ich dazu sagen möchte«, wispert sie in die Totenstille.
Rhyme schneidet ihr das Wort ab. »Ich will nichts mehr von dir hören! Meine Schwester hat dich im Capuletturm aufgenommen, obwohl du eine Kraftquelle bist und nicht zu unserer Familie gehörst. Sie musste wochenlang unsere Tante dafür anbetteln. Und wozu? Damit du sie eiskalt hintergehst? Es gibt keine Rechtfertigung dafür, seine Freunde zu verraten.«
Cut schnaubt leise.
Mit pochendem Herzen schaue ich zu ihm.
Auch er war einmal Rhymes bester Freund, bevor es ihnen vom Grafen und der Gräfin für immer untersagt wurde. Obwohl sie längst Rivalen sind und auf unterschiedlichen Seiten stehen, hat er Rhyme gestern Nacht trotzdem nicht verraten. Nun sieht er dem Schlangenfürsten mit einem Ausdruck entgegen, den ich beim besten Willen nicht deuten kann.
»Es tut mir leid«, flüstert Drapes nur noch schwach. »Wirklich …«
Dann steigt sie vom Marmorblock und lässt sich vom Sicherheitspersonal aus dem Saal führen. Die Wachen bringen sie nicht durchs Foyer nach draußen, sondern geleiten sie durch die Glastüren bei der Fensterfront; Rhyme hat es ernst damit gemeint, dass sie den Capuletflügel nie wieder betreten darf. Als ich mich wieder umdrehe, ruht sein Blick bereits auf mir.
Wir haben nur eine Sekunde für uns allein, bevor auch alle anderen hersehen, aber diese Sekunde reicht aus, um die Stimmung zwischen uns schlagartig zu verändern. Sein Anblick lässt die Luft zwischen uns verpuffen. Von einem Moment zum anderen ist er nicht mehr der eiskalte Schlangenfürst, sondern der Junge, der mich tief verborgen in den Vorhängen des Capuletbalkons zum ersten Mal geküsst hat. Ich kann nicht mehr atmen. In der plötzlichen Stille fühle ich nur noch meinen Herzschlag, der mir bis in die Kehle pocht.
Dann wenden sich auch die anderen Schüler von der Fensterfront ab, und der zarte Moment zwischen uns zerplatzt wie eine Seifenblase.
Rhymes Blick zuckt von mir weg. »Ich … hab keinen Hunger.«
Mehr sagt er nicht zu seinen Freunden.
Er springt vom Marmorblock und verlässt den Saal, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. Die Capulets fallen in ihr übliches Getrommel ein, aber es gerät aus dem Takt und hört sich wirrer an als sonst.
Kaum gleiten die Flügeltüren hinter ihrem Fürsten ins Schloss, bricht heftiges Getuschel unter den Schülern aus.
»So wie es aussieht, wird das Frühstück heute wohl doch ausfallen«, seufzt Stage. »Kannst du mir bitte runterhelfen?«
Tear nimmt seine Krücken und hilft ihm vom Marmorblock. Im Vergleich zu seinem breiten Körperbau wirkt sie dünn, aber ihre langen Arme und Beine sind kräftig vom jahrelangen Tanztraining. Kurz bevor sie losgehen, zuckt ihr Oberkörper in meine Richtung, so als würde sie sich zu mir umdrehen wollen – vielleicht, um sich zu verabschieden. Doch sie überlegt es sich in letzter Sekunde anders. Stattdessen wechselt sie einen langen Blick mit Stage, der nur leicht den Kopf schüttelt, und stößt ihren Atem geräuschvoll aus.
Dann verlassen auch die beiden den Saal.
Jede einzelne Faser meines Körpers sehnt sich danach, ihnen nachzulaufen. All die Worte aus mir heraussprudeln zu lassen, die mir in der Brust brennen. Ich möchte Stage fragen, wie es ihm geht, ob sein Bein wirklich gebrochen ist und wie lange die Heilung dauert. Ich möchte Tear trösten, die plötzlich all ihre Freundinnen verloren hat. Aber ich darf es nicht. Ich darf nicht zeigen, was sie mir bedeuten. Es fühlt sich an, als würde etwas aus meinem tiefsten Inneren mit ihnen aus dem Saal gehen. Als würden sie auch in meinem Herzen leere Stühle zurücklassen. Vielleicht geht es ihnen ja genauso. Aber selbst dieser Gedanke macht es mir nicht leichter, still zu bleiben.
»Hört zu! Ich hab euch was zu sagen.« Cut springt von seinem Thronstuhl auf und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Gläser und Teller darauf laut scheppern. Alle Schüler, egal ob Montagues oder Capulets, verstummen schlagartig und schauen gespannt zu ihm auf. »Wie ihr alle wisst, sind wir vor drei Monaten aufgebrochen, um unser fehlendes Familienmitglied zu suchen.« Sein goldener Blick gleitet für einen Moment zu mir. »Wir haben sie in letzter Sekunde gefunden und in aller Eile dem Haus Capulet zugewiesen. Allerdings hat das Duell gestern Nacht offenbart, dass uns dabei ein Fehler unterlaufen ist. Ein Fehler, der niemandem von uns klar war, auch nicht ihr selbst. Von diesem Tag an gehört unsere neue Mitschülerin zu meinem Haus – und daran gibt es nichts mehr zu rütteln. Die Siegerin des Maskenduells heißt ab heute Joy Montague!«
Wenn er damit erreichen wollte, dass die Schüler in Jubel ausbrechen, hat er sich geirrt. Die Capulets sehen mindestens genauso verwirrt aus wie die Montagues. Für die einen habe ich ein Duell gewonnen und gleichzeitig die Seiten gewechselt. Für die anderen bin ich eine Gegnerin, die ihnen plötzlich untergeschoben wird. Sogar der feurige Ausdruck in Blaze’ Augen flackert verstört.
»Ich habe keinen besonders großen Hunger«, sage ich leise zu Cut.
Eigentlich will ich damit meinen Rückzug ankündigen, bevor noch mehr Öl ins Feuer gegossen wird. Doch Montagues spielen gern mit dem Feuer, allen voran ihr Katzenfürst. Cut braucht nur zwei weitere Sätze, um den gesamten Saal vor Empörung explodieren zu lassen. »Du bist eine Duellsiegerin«, verkündet er laut und deutlich. »Und ich biete dir einen Platz an meinem Tisch an.«
Die Montagues brüllen vor Protest auf.
Nur Ink, der sich bisher ungerührt ein Marmeladenbrot nach dem anderen in den Mund geschoben hat, hält mitten im Kauen inne und betrachtet seinen großen Bruder verwundert.
»Es ist ganz offensichtlich kein Platz mehr für mich frei«, murmle ich.
Cuts Grinsen wird unverschämt. »Dann kannst du meinen Platz haben.«
»WAS?!« Blaze schießt von ihrem Stuhl hoch. Höchstens eine Millisekunde vor allen anderen Montagues, die mindestens genauso empört aufspringen und ihrem Unmut lautstark Luft machen. Den goldenen Thronstuhl des Katzenfürsten einer ehemaligen Capulet anzubieten, schlägt für sie dem Fass den Boden aus. Nur Ink bleibt sitzen und schaut mich unter all den herumfuchtelnden Armen hindurch zum ersten Mal interessiert an.
»Ihr habt meine Entscheidungen nicht infrage zu stellen.« Cut zieht die Fürstenkarte, aber eine solche Ungeheuerlichkeit lassen die Montagues nicht einfach auf sich sitzen. Sie drängen sich ihm noch energischer entgegen und reden von allen Seiten wild gestikulierend auf ihn ein.
»Sie hat Ash besiegt!«
»Sie ist eine Feindin unseres Hauses!«
»Gestern saß sie noch am Tisch des Schlangenfürsten!«
»Die ist doch immer noch auf der Seite der Capulets!«
Ich zupfe an Cuts Ärmel, bis er mich über seine Schulter hinweg ansieht. Von hinten prasseln ungebremst Beschwerden auf ihn ein. »Ihr könnt das bestimmt besser klären, wenn ich nicht dabei bin. Ich gehe an die frische Luft, okay?«
Er will etwas einwenden, aber die anderen übertönen ihn.
Aus Gewohnheit springe ich auf der falschen Seite vom Marmorblock – der Seite, die zum Capuletflügel führt –, aber ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, einen unauffälligen Schwenk zur Fensterfront in der Saalmitte zu machen. Die unzähligen Blicke, die mich von allen Seiten verfolgen, ignoriere ich dabei ebenso wie das fassungslose Getuschel. Ich bin so auf meine Flucht konzentriert, dass ich zusammenzucke, als eine der Glastüren plötzlich von außen geöffnet wird und ein breitschultriger Mann in einem tiefschwarzen Designeranzug auf mich zukommt. Bevor ich es verhindern kann, weiche ich vor ihm zurück.
Es ist Lord Montague. Cuts Vater. Sein stechend gelber Raubtierblick fixiert mich an Ort und Stelle, aber die Worte, die er mit tiefer Stimme durch den Saal dröhnen lässt, sind eindeutig für seinen Sohn bestimmt. »Was ist das hier für ein Aufruhr? Bring dein Haus zur Ruhe, Katzenfürst!«
Natürlich könnte er selbst für Ruhe sorgen – mit nur einem einzigen Wort, gegen das sich keiner stellen könnte. Keiner außer dem Katzenfürsten, der gegen die übersinnlichen Kräfte seines Vaters immun ist, weil er sie selbst einmal erben wird. Doch Lord Montague hat offenbar beschlossen, dass Cut diese Situation auch ohne seine Hilfe meistern muss. Er ist nicht hier, um sein Haus zu besänftigen. Das wird mir spätestens klar, als er mich von oben herab anstarrt.
»Ich will mit dir reden.«
Eine Antwort wartet er nicht ab.
Er marschiert einfach an mir vorbei, tiefer in den Saal hinein, und lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass ich ihm folgen muss. Aber ich tue es nicht. Alles in mir drin sträubt sich dagegen. Egal, was er mit mir besprechen will, selbst wenn es nur eine Kleinigkeit wäre – was ich bezweifle, wenn sich das Oberhaupt des Hauses Montague höchstpersönlich Zeit dafür nimmt –, ich kann es zusätzlich zu allem anderen gerade einfach nicht ertragen. Noch hatte ich keine Gelegenheit, irgendetwas von gestern Nacht richtig zu verarbeiten. Meine Gefühle drohen ohnehin bereits überzulaufen, es hat kein einziger Tropfen mehr in mir Platz. Es ist mir vollkommen unmöglich, Lord Montague zu folgen.
Aber ihm ist es nicht unmöglich, mich dazu zu zwingen. Er lässt seine raubtierhaften Augen nur einen Sekundenbruchteil zurück über seine Schulter blitzen und sagt: »Folge mir.«
Seine Beeinflussung rauscht wie ein Sturm über mich hinweg und lässt meine Füße ihm bereits nachstolpern, ehe ich überhaupt kapiert habe, was gerade geschehen ist. Er hätte seine Worte so formulieren können, dass es sich für mich wie mein eigener Wunsch anfühlt. Aber das hat er nicht getan. Er wollte mich nicht einfach nur kontrollieren, sondern mich auch merken lassen, dass er es tut. Ich kann nicht anders, als Cut einen hilfesuchenden Blick zuzuwerfen, auch wenn ich weiß, dass er nichts dagegen tun kann.
Cut drängt sich an den anderen Montagues vorbei und springt vom Marmorblock, aber sein Vater unterbindet das sofort mit einem harschen Wink. Obwohl mehrere Meter zwischen den beiden sind, zuckt Cut vor ihm zurück, als hätte er einen unsichtbaren Stoß abbekommen. Lord Montague bleckt die Zähne. »Du bleibst hier und bringst gefälligst Ordnung in dein Haus.«
Cut sieht zu mir. »Aber …«
»Schon gut.« Ich schüttle rasch den Kopf. Komm nicht näher. Lord Montague braucht keinen weiteren Grund, um sauer auf dich zu sein. Immerhin hast du schon das Duell gestern Nacht für mich geschwänzt. Und die Strafe dafür steht noch aus.
Cut bleibt hinter uns zurück, während wir an Dattelpalmen und Zitronenbäumen vorbei tiefer in den Saal hineingehen. Kurz bevor ich ihn aus den Augen verliere, sehe ich noch, wie er seinem kleinen Bruder zunickt. Ink schlüpft wie ein Schatten vom Montaguetisch und verschwindet hinter einer Reihe knorriger Olivenbäume. Ich bin mir sicher, dass er uns folgt, aber ich drehe rasch den Kopf zurück, um ihn vor seinem Vater nicht zu verraten.
Lord Montague führt mich hinauf zur Galerie über dem Speisesaal, die sonst nur in den Ballnächten betreten werden darf. Die Emporen des Orchesters sind heute natürlich unbesetzt. Wir durchqueren einen kurzen Gang unter hohen Steinbögen und treten durch mitternachtsschwarze Vorhänge hinaus auf den Montaguebalkon.
Die frische Tagesluft schlägt mir wie ein lebensrettender Atemhauch entgegen. Ich sauge sie tief in mich hinein und taumle zur Brüstung, weil mich ein plötzlicher Schwindel erfasst, wie jedes Mal, wenn die Beeinflussung wieder von mir abfällt. So schnell wie heute ist sie noch nie verflogen. Lord Montague weiß das zum Glück nicht. Und ich werde es ihm auch nicht verraten.
»Du ahnst, warum wir hier sind, nehme ich an.«
Ich drehe mich zu ihm, ohne die Brüstung loszulassen. Seine dunkle Silhouette lässt die Stadt im Hintergrund sofort blasser wirken. »Wir wollen nicht die schöne Aussicht genießen?«
Er zuckt nicht mal mit der Wimper.
»Du magst Scherze? Wie wäre es mit diesem hier: Ich könnte dich jederzeit auf die Brüstung springen und herausfinden lassen, ob du es schaffst, von einem Ende des Balkons zum anderen zu balancieren.« Er lässt es nicht mal wie eine Drohung klingen, sondern wie eine reine Möglichkeit. Und das macht es noch beängstigender. Ich erstarre zu absoluter Reglosigkeit. »Aber das ist nicht nötig«, fügt er geschmeidig hinzu. »Jedenfalls nicht, wenn wir uns einigen.«
»Worauf?«, bringe ich gerade noch heraus.
Er tritt einen Schritt auf mich zu, und ich muss mich mit aller Gewalt zusammenreißen, um nicht vor ihm zurückzuschrecken. »Der Katzenfürst ist mein Nachfolger. Er wird einmal mehr als nur die Schüler seines Hauses führen müssen. Er wird ein weltweites Imperium erben. Eines, das ihm unzählige Feinde streitig machen werden. So etwas hält man nicht durch, wenn man weich ist. Es ist meine Pflicht, jede seiner Schwächen auszumerzen.« Ein weiterer Schritt auf mich zu. Sein gelber Blick nagelt mich von oben herab fest. »Eine dieser Schwächen bist du.«
Nun weiche ich doch zurück. Unbewusst. Es ist wie ein Überlebensreflex. Ich stoße mit dem Rücken gegen den schweren Vorhang hinter mir und bleibe stehen, so als würde es sich nicht einfach nur um Stoff, sondern um unüberwindbare Eisengitter handeln.
»Ich sage dir jetzt, was du tun wirst.« Lord Montague schließt den Abstand zwischen uns erneut und bleibt so nah vor mir stehen, dass ich den Kopf in den Nacken legen muss. Mein Puls hämmert mir im Hals. »Du wirst von heute an keine einzige Träne mehr vergießen. Du wirst weder den Capulets nachweinen noch dich im Zimmer meiner Söhne verkriechen oder irgendeine andere Form der Schwäche zeigen, die den Katzenfürsten in ein schlechtes Licht rücken könnte. Mit anderen Worten, du wirst eine echte Montague sein.«
»Wer … wer sagt, dass ich den Capulets nachweine?«
»Deine Blicke.«
Automatisch senke ich den Kopf.
Lord Montague schnaubt, als hätte er nichts anderes von mir erwartet. »Dieser Junge mit den Rastas scheint dir viel zu bedeuten, nicht wahr? Und der Schlangenfürst ist dir meinen Quellen nach nicht ganz abgeneigt.«
Seinen Quellen nach? Meint er Drapes?
Was hat sie ihm erzählt?
Ich versuche mein Zittern zu verbergen, indem ich meine Hände balle, aber selbst meine Fäuste schlottern noch. Lord Montague beugt sich zu meinem Ohr hinab, so nah, dass sein warmer Atem meine Haare aufwirbelt. Genau wie sein ältester Sohn duftet er nach teurem Rasierwasser. Nur, dass seines mir die Luft abschnürt. »Solltest du mich nicht davon überzeugen können, dass du wirklich zu meinem Haus gehörst, habe ich nicht den geringsten Skrupel, dich erneut in ein Duell zu schicken.«
Seine Drohung trifft mich wie ein Blitzschlag.
Alles um mich herum wird blendend grell.
»Und dich gegen jemanden antreten zu lassen«, fügt er samtweich hinzu, »der dir sehr viel bedeutet.«
KAPITEL 3
… dich gegen jemanden antreten zu lassen, der dir sehr viel bedeutet.
Lord Montagues Worte zucken wie Strom durch meinen Kopf, wie etwas, das ich nicht greifen kann, das mir immer wieder einen neuen Schlag versetzt, wenn ich es packen und aus meinen Gedanken werfen will. Meine Atmung beschleunigt sich, und mein Sichtfeld wird an den Rändern unscharf. Halb blind taumle ich durch den schwarzen Vorhang nach drinnen zur Galerie und klammere mich an der Brüstung fest, die das Einzige ist, was mich noch auf den Beinen hält.
Panik, schießt es mir durch den Kopf. Du gerätst in Panik, Joy!
Unten im Saal haben sich die Wogen etwas geglättet, die meisten Schüler widmen sich plappernd ihrem Frühstück. Keiner beachtet mich hier oben. Nicht mal Cut, der wieder auf seinem Thronstuhl sitzt und in eine heftige Diskussion mit Blaze vertieft ist, die beide mit den Händen gestikulieren lässt.
Am liebsten würde ich schreien. So lange und so laut, bis auch der Letzte von ihnen zu mir heraufsieht. Nach unten rennen und jeden zur Seite stoßen, der sich mir in den Weg stellt. Mich gegen das vergitterte Ausgangstor werfen und so lange nach meinem Dad rufen, bis mir die Stimme versagt.
Aber ich darf nichts davon.
Ich darf nicht wie ein normaler Mensch reagieren.
Das Schlottern in meinen Händen geht auf meinen ganzen Körper über.
Hinter mir ertönt plötzlich das Klingeln eines Handys, ein Geräusch, dem ich vor ein paar Monaten kaum Beachtung geschenkt hätte. Aber hier an der Akademie sind Handys strengstens verboten. Mein Körper fährt automatisch herum, und ich halte den Atem an.
Lord Montagues Stimme dringt gedämpft durch den schweren Vorhang herein. »Warten Sie einen Moment.«
Schritte nähern sich.
Er muss jeden Augenblick auf die Galerie kommen.
»Pssst! Hey!«, zischt mir jemand eilig zu. Inks dunkler Wuschelkopf kommt hinter einer der Säulen zum Vorschein. »Schnell! Versteck dich!«
Ich kann mich nicht bewegen.
Ink schießt hinter der Säule hervor, packt mich am Ärmel und zieht mich genau in der Sekunde in Deckung, als die schwarzen Vorhänge auseinanderwirbeln und Lord Montague mit einem goldenen Smartphone am Ohr hereinmarschiert. Er tritt in seinen edlen Designerschuhen bis vor an die Brüstung und blickt prüfend nach unten in den Saal. Ich presse mein Gesicht so dicht an die Säule, dass ich meinen Puls in der Schläfe pochen spüre.
»Gut. Reden Sie.«
Ink erstarrt neben mir. Allerdings nicht vor Angst. Er wirkt auf mich eher wie ein Fuchs, der plötzlich eine verlockende Fährte wittert und die Ohren spitzt.
»Was soll das heißen, es ist halb verbrannt?«, faucht Lord Montague ungehalten. »Nur die Mutter? Sind Sie sicher? … Lässt sich der Rest wiederherstellen? … Informieren Sie sich das nächste Mal gefälligst, bevor Sie mich anrufen!«
Ich habe nicht die geringste Ahnung, was halb verbrannt worden ist. Aber ich habe durchaus eine Ahnung, um wen es bei diesem Gespräch gehen könnte. Eine Ahnung, die das Schlottern in meinem Körper so heftig werden lässt, dass es sogar meine Gedanken durcheinanderrüttelt.
»Etwas stimmt da nicht«, schnaubt Lord Montague. »Ich kann es fühlen. Nehmen Sie sich alle Ressourcen, die Sie brauchen. Es ist mir egal, was es kostet. Finden Sie so schnell wie möglich raus, wer der echte Vater dieses Mädchens ist.«
Der echte Vater.
Wieder trifft es mich wie ein Blitzschlag.
Diesmal jedoch bleibt alles um mich herum blendend grell erleuchtet.
Ich weiß nicht, was Lord Montague als Nächstes macht. Vermutlich steckt er sein Handy ein und geht die Treppe runter. Jedenfalls ist er nicht mehr da, als ich wie ein geblendetes Reh hinter der Säule hervortaumle.
Mein Kopf funktioniert nicht richtig, aber zumindest noch gut genug, um zu wissen, dass ich jetzt auf keinen Fall runter in den Speisesaal gehen kann, wo sich die Blicke aller Schüler wie Scheinwerfer auf mich richten würden. Auch die Balkone sind keine Option, ich kann jetzt nicht hinaus in den alles durchflutenden Sonnenschein. Ich brauche das genaue Gegenteil.
Und da fällt mein Blick auf den Eingang zur Dienstbotentreppe in der gegenüberliegenden Wand. Er wurde so diskret hinter einer geprägten Tapete verborgen, dass er mir nie aufgefallen wäre, hätte Cut ihn mir nicht bei unserem ersten Ball gezeigt. In diesem Moment erscheint er mir wie eine rettende Oase in der Wüste.
Jemand ruft meinen Namen, aber ich stürze bereits durch die Tür und poltere die schmale Treppe hinab, die zum Speisesaal und noch weiter nach unten bis zur Küche führt.
Das Schicksal ist gnädig genug, mir keinen Kellner entgegenzuschicken. Und es ist gnädig genug, mich eine kleine Besenkammer ganz unten am Fuße der Treppe finden zu lassen. Ich stolpere hinein, schlage die Tür hinter mir zu, klemme einen Besenstiel unter den Griff, lösche mit zitternden Fingern das Licht, sinke in vollkommener Dunkelheit zwischen den engen Regalen zu Boden, vergrabe das Gesicht in meinen eiskalten Händen und …
… reagiere wie ein normaler Mensch.
Ein letztes Mal zumindest.
In der Besenkammer verliert die Zeit jegliche Bedeutung. Ich weiß nicht, wie viele Stunden inzwischen vergangen sind, aber irgendwann schreckt mich ein Geräusch auf. In der Dunkelheit ist kaum etwas zu erkennen, nur ein schwacher Lichtstrahl fällt durch ein altmodisches Schlüsselloch genau vor meine Füße. Es ist das gelbliche Licht der Öllampen, die überall dort die Korridore der Akademie erleuchten, wo es keine Fenster gibt.
»Joy?«
Cut.
Erst jetzt, wo er meinen Namen wiederholt, begreife ich, dass es dasselbe Geräusch war, das mich aufgeschreckt hat.
»Ink hat gesagt, dass du die Dienstbotentreppe runtergelaufen bist.« Er lässt seine Stimme sanfter klingen als üblich, was mir verrät, dass Ink ihm auch von dem Zustand erzählt haben muss, in dem ich hierhergeflohen bin. »Ich hab dich zuerst in der Küche gesucht«, fährt er nach einer kurzen Pause fort, als er merkt, das keine Antwort von mir kommen wird. »Möglicherweise habe ich dort schon eine halbe Stunde lang vergeblich auf die Speisekammer eingeredet, weil ich dachte, dass du da drinsteckst. Erst als sich der Legumier gewaltsam Zutritt verschaffte, ist mir klar geworden, dass du noch hier draußen sein musst. Bitte sag was, bevor mich das Putzpersonal dabei erwischt, wie ich die Besenkammer tröste.«
»Was ist ein Legumier?«
Ich klinge noch ziemlich angeschlagen, aber Cuts erleichtertes Aufatmen ist laut genug, dass ich es selbst hier drinnen hören kann.
»Das ist ein schickes Wort für den Gemüsekoch. Kommst du raus?«
Ich will ihm antworten, zögere aber so lange, bis meine Gedanken ausfransen.
Meine Finger verstecken sich tief unter meinen Haaren und halten sich daran fest.
»Wenn du noch eine Weile da drinbleiben willst, ist das auch okay«, lenkt Cut ein. »Das alles ist kaum einen Tag her. Niemand kann von dir erwarten, dass du das einfach so wegsteckst.«
»Und wenn es doch einer tut?«, wispere ich.
Einen Herzschlag lang bleibt Cut still.
»Ich bin nicht mein Vater, Joy. Vor mir musst du dich nicht verstellen.« Er atmet tief durch. »Niemals …«, fügt er dann so leise hinzu, dass ich mir nicht sicher bin, ob er überhaupt wollte, dass ich das höre.
Ich beiße mir auf die Lippe und kaue eine Weile drauf herum.
Dann lehne ich mich vor und entferne den Besenstiel unter dem Türgriff. »Du kannst reinkommen, wenn du willst.«
Die Tür wird behutsam geöffnet. Auch wenn das Licht der Öllampen sehr warm ist, sitze ich schon lange genug in der Finsternis, um davon geblendet zu werden. Mit zusammengekniffenen Augen nehme ich nur einen Schatten wahr, der vor mir in die Hocke geht, ehe er die Tür hinter sich schließt und uns erneut in Dunkelheit taucht. Sein Umriss leuchtet noch ein paar Sekunden auf meiner Netzhaut nach.
»Darf ich mich neben dich setzen?«
Ich rücke zur Seite und stoße etwas vom Regal, das scheppernd auf den Boden fällt und zur Tür rollt.
Cut schiebt sich mit seinen breiten Schultern zwischen mich und die Regalbretter, was nicht sonderlich bequem sein kann. Trotzdem klingt er angenehm überrascht, als er sagt: »Du hältst echt was aus. Hier drin ist es ungemütlicher, als ich dachte. Ich glaube, dahinten haust eine Maus in der Ecke. Ich hab was Pelziges weghuschen sehen.«
»Falls das ein Versuch sein soll, mich hier rauszulocken, muss ich dich enttäuschen. Ich mag Mäuse.«
»Ich hasse Mäuse«, erwidert er gut gelaunt. »Wenn sie herkommt, schreie ich.«
Und da passiert es: Mein Mundwinkel zuckt. Trotz allem schafft es die Vorstellung von Cut und der Maus, ein leichtes Lächeln aus mir herauszukitzeln. »Das sagst du doch nur, um mich aufzumuntern.«
Er zuckt mit der Schulter, was ich genau fühlen kann, da sie in der Enge der Besenkammer dicht an meine gedrückt ist. »Ich hab dich gewarnt. Wenn ich kreischend auf deinen Schoß springe, bedank dich beim Ungeziefer.«
Mein Lächeln wird breiter. Ich spüre es so deutlich an meinen Wangenmuskeln ziehen, als hätte ich sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Was natürlich nicht stimmt. Auch wenn Capulets nicht laut lachen können, haben wir uns oft amüsiert. Das ist etwas, was niemand mir je nehmen kann, denke ich mit klopfendem Herzen. Die Erinnerung an unsere Freundschaft bleibt mir für immer. Genauso wie meine Erinnerung an …
Für einen Sekundenbruchteil blitzen eisblaue Augen vor mir auf.
Ich kneife meine eigenen Augen fest zusammen und lasse den Kopf an Cuts Schulter sinken.
Er bohrt nicht nach, was in mir vorgeht, sondern ist einfach nur da. Wie damals nach unserem heimlichen Tanz auf dem Montaguebalkon ist es auch jetzt schön, mit ihm zu schweigen. Sein Duft nach Lagerfeuerrauch und Rasierwasser hat etwas angenehm Tröstliches.
»Danke, dass du für mich da bist«, wispere ich in seinen Ärmel.
Er schnaubt leise, auf eine Art, die ein wenig selbstironisch klingt. »Ich tue damit nicht dir einen Gefallen«, raunt er in die Dunkelheit.
»Wie meinst du das?«
Er hält den Atem an, fast so, als würde ihn die Frage überraschen. Als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich sie ihm stelle. Oder aber … als hätte er gar nicht gemerkt, dass er das eben wirklich laut gesagt.
»Ich …«, beginnt er zögerlich. »Ich tue Ink einen Gefallen. Dich eine Weile von unserem Zimmer fernzuhalten, gibt ihm ausreichend Gelegenheit, deine Sachen zu inspizieren. Ich fürchte, er hat dich zu seinem neuen Forschungsprojekt auserkoren.«
Ich stöhne leise auf.
»Sieh es von der guten Seite«, fügt Cut hinzu. »Solange er dich interessant findet, hält er sich mit seinen Streichen zurück.«
»Will ich wissen, was das für Streiche sind?«
»Na ja … Er ist erst zwölf und wurde von Du-weißt-schon-wem großgezogen.«
Ich setze mich auf und runzle die Stirn. »Lord Montague steht auf Streiche?«
Cut stutzt, dann lacht er. »Ich meinte mich.«
Seine Antwort wischt mir alle Worte aus dem Mund. Cut hat seinen kleinen Bruder großgezogen? Er hat es mit vollkommener Selbstverständlichkeit gesagt, nicht so, als wäre das eine Bürde oder etwas, wofür er besondere Anerkennung erwartet. Oder gar so, als würde es ihn verbittern, weil das eigentlich die Aufgabe seiner Eltern gewesen wäre.
»Andererseits sollten wir Ink aber auch nicht zu viel Zeit allein mit deinen Sachen geben«, fährt Cut fort. »Für sein Alter ist er unglaublich erfinderisch. Die Capulet-Diamanten auf deinen Klamotten könnten ihn zu etwas inspirieren. Wollen wir zurück ins Zimmer gehen? Oder stehst du darauf, dass sich Besenstiele in deine Rippen bohren?«
»Ich spüre keine Besenstiele«, erwidere ich automatisch. »Mein Körper ist vom Hals abwärts schon vor über einer Stunde eingeschlafen.«
Cut lacht.
Einen Moment lang überrascht mich das. Nicht Cuts Lachen, sondern meine Fähigkeit zu scherzen. Noch dringt mein Humor zwar nicht bis in die Tiefen meines Wesens vor, aber ich kann bereits spüren, wie er an meinem alten Ich zupft und es dazu bringen will, langsam wieder hervorzukommen und sich der Welt zu stellen. Wenn auch nur mit etwas so Einfachem wie einer schlagfertigen Antwort.
»Okay. Gehen wir in dein Zimmer.«
Wir raffen uns beide mühsam auf und recken unsere Glieder. Dabei stößt mein Ellbogen an den Lichtschalter und lässt mich für einen Herzschlag Cuts Gesichtsausdruck sehen, bevor er sein typisches schiefes Lächeln aufsetzt und sich mit einer arrogant hochgezogenen Augenbraue an mir vorbei nach draußen in den Treppenaufgang schiebt. Es passiert so schnell, dass ich mir nicht ganz sicher bin, was ich gesehen habe. Aber auch wenn ich es nicht benennen kann, fühle ich eines mit Sicherheit: Cut Montague besitzt Seiten, die ich noch nicht kenne.
Oben im Speisesaal ist das Dinner bereits voll im Gange, und wir nutzen die Gelegenheit, um hinter einer Reihe von Kellnern mit schwer beladenen Tabletts ungesehen bis zum Eingang des Montagueflügels zu huschen. Als die Buntglastüren hinter uns geschlossen werden und wir ein verlassenes Foyer betreten, atme ich erleichtert auf. Morgen, beschließe ich mit einem spontanen Stoßgebet, morgen werde ich mich allem stellen, wenn ich mich nur noch heute ein wenig ausruhen darf.
»Soll ich uns was zu essen bestellen?«, fragt Cut, als wir sein Turmzimmer betreten und uns die Hitze des hoch auflodernden Lagerfeuers entgegenschlägt.
Ich strecke den Flammen meine kalten Hände entgegen und schüttle den Kopf. »Ich will eigentlich nur schlafen.«
»Du kannst eines der beiden hinteren Zelte nehmen. Sie sind unbesetzt.«
»Danke.« Ich wende mich vom Feuer ab und gehe bereits zum Zelt in der linken Ecke, als Cut hinter mir noch etwas hinzufügt. Allein an seinem Tonfall erkenne ich sofort, dass er nicht mehr zum Scherzen aufgelegt ist. Ich erstarre mitten auf dem Perserteppich.
»Ink hat mir erzählt, was Vater von dir verlangt.«
Nur mühsam schaffe ich es, mich zu ihm umzudrehen. Der Schreck muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Cuts goldene Augen weiten sich bei meinem Anblick. »Hey, lass dich davon nicht einschüchtern«, fügt er deutlich sanfter hinzu. »Weißt du, was ich immer mache, wenn ich keine Lust habe, so zu sein, wie mein Vater mich haben will?«
Wie betäubt schüttle ich den Kopf.
Ein schiefes Lächeln zieht an seinem Mund. »Ich spiele ihm einfach was vor. Du wärst überrascht, wie gut das funktioniert.«
»Und wenn ich nicht gut genug spiele?«, flüstere ich so leise, dass ich es über das Poltern meines Herzens hinweg kaum hören kann. »Wenn ich ihn nicht überzeugen kann?«
Cuts Lächeln wird herausfordernd. »Na und? Was soll er schon machen? Dir das Dessert streichen? Keine Sorge, so wie ich ihn kenne, hat er spätestens übermorgen deinen Namen wieder vergessen. Für ihn sehen alle Schüler gleich aus.«
Was er schon machen soll?!
Einen Moment lang starre ich Cut fassungslos an. Wie kann er bloß so gelassen auf eine derartige Drohung reagieren?
Doch dann wird mir schlagartig etwas klar. Seine Antwort kam so unschuldig daher, weil sie es war. Cut weiß gar nicht, dass sein Vater mir mit dem nächsten Duell gedroht hat. Und damit, gegen Stage oder Rhyme antreten zu müssen.
Ink hat ihm nichts davon gesagt.
Mein Mund klappt wie von selbst auf, aber meine Gedanken ringen um die richtigen Worte. Sie schwellen in meiner Kehle an und werden mit einem Mal so groß, dass ich es nicht schaffe, sie hervorzubringen.
Wenn ich versage, wenn ich keine glaubhafte Montague werde, schickt dein Vater mich in ein Duell, in dem ich entweder mein eigenes Leben opfern muss – oder das von jemandem, den ich …
… den ich …
Das ist sie. Die Stelle, die ich nicht rausbringe.
Die auch alles andere in mir zurückhält.
Cut legt den Kopf schief und runzelt die Stirn, aber bevor er nachfragen kann, geht die Zimmertür auf und sein kleiner Bruder schneit herein. Ich wirble auf der Stelle herum und stürze in mein Zelt, bevor ich dazu gezwungen werde, mich zusätzlich noch Ink zu stellen. Bevor er mein Gesicht sehen und es auf seine Liste all der Dinge setzen kann, die er gerne enträtseln würde.
Offenbar habe ich schnell genug reagiert, denn Ink sagt nichts, als hinter mir die Zeltvorhänge zufallen und mich vor seinen Blicken abschirmen.
Und offenbar hat auch Cut verstanden, dass ich jetzt meine Ruhe brauche. »Sei leise«, höre ich ihn nur noch sagen. »Joy will schlafen.«
Ich kneife meine Augen fest zu.
Morgen. Morgen reiße ich mich zusammen. Morgen spiele ich für sie alle eine Montague.
Erst als ich mich lange genug unter der Bettdecke verkrochen habe, um meine Gedanken etwas zur Ruhe kommen zu lassen, taucht eine Frage in meinem Kopf auf. Eine nebelige Frage, die sich die ganze Nacht lang durch meine Träume schleicht, bis sie am nächsten Morgen glasklar in mein Bewusstsein springt.
Ink hat Cut erzählt, dass ich eine Montague werden muss. Aber er hat ihm nichts von der Konsequenz verraten, falls ich es nicht schaffen sollte.
Die Frage lautet: Warum hat er das verschwiegen?
KAPITEL 4
»Nur für den Fall, dass du dich nach meiner Anwesenheit verzehrst, Vater zwingt mich dazu, vorab den Trainingsplan mit ihm durchzugehen. Ich hol dich später ab, du solltest in der Zwischenzeit was essen.«
Der Kellner lässt die Notiz emotionslos zurück auf das Goldtablett sinken, mit dem er vor einer Minute Cuts Zimmer betreten hat, und neigt höflich den grau melierten Kopf. Einen älteren Herrn im Smoking Cuts Nachricht vortragen zu hören, verstört mich mehr, als ich zugeben will. Vor allem, da er Cuts flirtenden Tonfall bei Falls du dich nach meiner Anwesenheit verzehrst so staubtrocken wie ein Rechtsanwalt vorgetragen hat. Keine Ahnung, wie mein Gesicht gerade aussieht, aber Cut würde sich garantiert köstlich darüber amüsieren. Das ist wohl seine Art, mir mit einem Augenzwinkern Guten Morgen zu sagen.
Ich nehme dem Kellner das Tablett ab, damit er gehen kann. Mehr als ein paar gedankenverlorene Bissen nehme ich nicht zu mir, bevor mein Blick nach draußen zur Terrasse wandert. Gestern wollte ich mich verkriechen, aber heute spüre ich eine gewisse Grimmigkeit in mir aufkommen. Soll Lord Montague mir nur drohen. Mein Vater ist einer der besten Bühnenschauspieler dieser Welt. Da wäre es doch gelacht, wenn ich es nicht schaffen würde, dem Oberhaupt des Hauses Montague ein bisschen Theater vorzuspielen!
Wie genau mein Plan aussieht, weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, womit er beginnen muss: damit, dass ich mich nicht länger in diesem Zimmer verstecke. Entschlossen stapfe ich ins Bad, nehme eine bitterkalte Dusche, die mich halb sehnsüchtig, halb erleichtert an die eisigen Capuletpools denken lässt, ziehe mir Poetrys blaues Ensemble ein weiteres Mal über und verstecke das weiß funkelnde Capuletlogo auch heute unter Cuts schwarzem Hoodie.
Draußen auf dem Marmorplatz schlägt mir ein warmer Wind entgegen, der den süßen Duft des Rosengartens mit sich trägt. Meine Lunge saugt sich daran satt, als hätte ich seit dem Moment, in dem ich zur Ballkönigin ernannt wurde, keinen richtigen Atemzug mehr getan. Seufzend blinzle ich in die Sonne, die im Zenit über dem riesigen Gebäudekreis der Akademie steht und den veronesischen Marmor der Fassaden zu blassem Rosa ausleuchtet.
»Bist du eine Spionin?«
Überrascht drehe ich mich um.
Ink sitzt halb versteckt zwischen den Ziersträuchern am Terrassenrand und mustert mich von oben bis unten. »Diesem anderen Capuletmädchen hat man auch nicht angesehen, dass es für meinen Vater arbeitet. Sollst du Cut für ihn ausspionieren?«
»Nein«, antworte ich ehrlich. »Das soll ich nicht.«
»Kannst du’s beweisen?«
»Ich wüsste nicht, wie.«
Er betrachtet mich nachdenklich. Wie auch bei seinem Bruder betont seine braun gebrannte Haut den warmen Goldton seiner Augen. Offenbar glaubt er mir, denn er steht auf und hält mir seine Hand hin. Die guten Manieren eines Adeligen schlagen wohl doch noch bei ihm durch. »Wir haben uns gestern gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin Ink Montague, zweiter Sohn des Grafen von Verona und Vizefürst unseres geschätzten Hauses Montague.«
»Sehr … ähm … erfreut«, erwidere ich verwundert.
Ich nehme seine Hand – und ein Stromschlag jagt durch mich hindurch.
Mit einem Aufschrei stolpere ich von ihm weg.
Ink grinst schadenfroh und zeigt mir einen münzgroßen Scherzartikel in seiner Handfläche, mit dem man ganz offensichtlich Elektroschocks verteilen kann. »Wie weichbirnig muss man sein, um auf den ältesten Trick der Welt reinzufallen?«, spottet er. »Damit hättest du es nun doch bewiesen. Du hast definitiv nicht genug Grips für Spionage.«
Diese kleine, hinterhältige Mistratte!
»Weichbirnig ist kein Wort«, stoße ich hervor.
Ink lässt das nur noch breiter grinsen.
»Außerdem klebt dir Marmelade im Gesicht.« Mit finsterem Blick wirble ich herum und stapfe die erstbeste Treppe in den Rosengarten hinab. Mit seinen bunten Flammenfeldern und ausgeklügelten Wasserspielen ist es einer der schönsten Orte, die ich jemals gesehen habe. Trotzdem überkommt mich der spontane Wunsch, mich stattdessen hinauf in den Capuletturm zu stehlen und Tear mein Herz auszuschütten. Es ist allerdings nicht mein gesunder Menschenverstand, der mich davon abhält. Kaum erreiche ich die Eisenbühne und lasse meinen Blick auch nur ansatzweise in die falsche Richtung zucken, taucht Ink wieder auf.
»Läufst du mir etwa nach?«, fauche ich über meine Schulter.
Er schiebt seine Hände in die Hosentaschen und schlendert mir mit einigen Schritten Abstand hinterher. »Bist du sauer? Wegen eines kleinen Scherzartikels? Ihr Capulets habt tatsächlich keinen Funken Humor.«
»Hast du was nicht mitgekriegt? Ich bin jetzt eine Montague.«
Soll er mir nur hinterherlaufen, denke ich grimmig und stürme die gegenüberliegende Treppe hinauf. Ich führe ihn schnurstracks in die unterirdischen Duschräume und hänge ihn auf der Mädchentoilette ab.
»Wo willst du hin?«, ruft Ink mir nach.
Ich beschleunige meine Schritte.
Bedauerlicherweise wurde Ink als Vizefürst der Akademie genauso von klein auf trainiert wie Cut, Rhyme und Poetry. Er kommt nicht mal ins Schwitzen, als er mir leichtfüßig hinterherläuft. Mal abgesehen davon, dass der Hochadel der Montagues ohnehin nie schwitzt. Ganz im Gegensatz zu mir. Es ist mir unbegreiflich, wie Cut es bei prallem Sonnenschein in seinen dicken schwarzen Designerpullis aushält. Ein weiterer Hinweis darauf, dass ich gerade mal genug Montagueblut in mir habe, um mir diesen verdammten Rosenfluch aufzuhalsen.
»Willst du ins Archiv?«
»Ich will vor allem von dir weg«, knurre ich über meine Schulter.
»An deiner Stelle würde ich ins Archiv gehen.«
»Ich weiß nicht mal, was dieses Archiv sein soll. Hau endlich ab!« Ich will mir in Ruhe überlegen, was ich als Nächstes tun soll. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist eine Nervensäge mit infantilen Scherzen, die mir auf Schritt und Tritt durch die Akademie folgt.
Schnaufend erreiche ich den obersten Terrassenkreis und schlage mich quer durch die verwachsenen Rosenhecken. Leider genügen auch die Dornen nicht, um Ink abzuschütteln. Ich bin drauf und dran, tatsächlich zur nächstgelegenen Mädchentoilette zu laufen, als Inks Worte mich schlagartig anhalten lassen.
»Willst du nicht auch wissen, wer dein Vater ist?«
Mit wild pochendem Herzen drehe ich mich um. »W…was?«
Ink zupft sich in aller Seelenruhe ein Rosenblatt aus dem Haar und zuckt mit den Schultern. »Cut hat mir alles erzählt. Du weißt schon, von der Ballnacht. Dieser Theaterschauspieler ist nicht dein richtiger Vater, wie du immer gedacht hast. Er hat deine leibliche Mutter niemals getroffen. Das ist es doch, worüber mein Vater gestern am Telefon geredet hat, nicht wahr?«
Alles Blut weicht mir aus dem Kopf.
»Du hast Cut nichts gesagt von … der Drohung.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen.