The Romeo & Juliet Society, Band 3: Diamantentod (SPIEGEL-Bestseller | Knisternde Romantasy) - Sabine Schoder - E-Book

The Romeo & Juliet Society, Band 3: Diamantentod (SPIEGEL-Bestseller | Knisternde Romantasy) E-Book

Sabine Schoder

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Beschreibung

Nicht jede Geschichte hat ein Happy End. Wer an der Akademie überleben will, darf niemals seine wahren Gefühle zeigen, diese eine Regel hat Joy auf herzzerreißende Weise gelernt. Und dennoch hat sie sie gebrochen – mit tödlichen Folgen. An der Seite des jungen Fürsten, dem ihr ganzes Herz gehört, muss Joy dem Unausweichlichen ins Auge blicken: Der Fluch hat sie als wahres Liebespaar ausgewählt und damit ihr Todesurteil gefällt. Verzweifelt suchen Joy, Rhyme und Cut nach einem Ausweg. Doch am Ende sterben alle legendären Liebespaare ... Band 3 der herzzerreißend romantischen Fantasy-Trilogie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Sabine Schoder Entdecke die komplette Reihe: The Romeo & Juliet Society Band 1: Rosenfluch Band 2: Schlangenkuss Band 3: Diamantentod

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TRIGGERWARNUNGDiese Reihe enthält Themen, die potenziell triggern können. Hinten befindet sich ein Hinweis zu den Themen.ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Reihe.Als Ravensburger E-Book erschienen 2024Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger VerlagText © 2024 by Sabine Schoder© 2024 Ravensburger Verlag GmbH,Postfach 2460, D-88194 RavensburgDie Zitate im Inhalt stammen aus »Romeo and Juliet« von William Shakespeare, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel.Im Inhalt befindet sich die Bearbeitung eines Zitats aus »Romeo & Juliet« von William Shakespeare, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel.Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)Illustration vordere Klappeninnenseite: Wahed KhakdanUmschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, HamburgIllustration im Inhalt: @ Net Vector/Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51185-3ravensburger.com

PROLOG

Rhyme packt Poetry an den Schultern, so überraschend, dass ich fast von ihm weggestoßen werde. »Poetry! Kannst du was sagen?! Versuch es! Gib mir irgendein Zeichen, dass du mich verstehst!«

Wir beide warten heftig atmend auf eine Antwort.

Sekunde um Sekunde um Sekunde …

Aber Poetry rührt sich keinen Millimeter.

Selbst im Zwielicht kann ich erkennen, wie sich Rhymes Kehlkopf bewegt. Seine Stimme klingt mit einem Mal rau, als hätte er sie sich an seiner verfrühten Hoffnung aufgeschlagen und würde nun ihre bitteren Scherben schlucken. »Es … es könnte nur Zufall gewesen sein … das mit dem Stein …«

Ich kann seinen Schmerz fühlen.

So intensiv, als hätte mir die Enttäuschung einen Hieb in den Magen verpasst.

Rhymes Hände lassen langsam von seiner Schwester ab und gleiten kraftlos über ihre Arme hinunter, dann sackt er unerwartet vor ihr auf die Knie und gräbt seine Finger tief in den Wurzelboden, so als würde er ihn packen und zerquetschen wollen. Ich streichle behutsam über seine Haare und will ihm Mut zusprechen, will überzeugende Worte finden, an die ich selbst glauben kann – da hebt Rhyme plötzlich etwas vom Boden auf.

Papierfetzen. Glänzend bedruckt. Die Überreste von Dads Postkarten. Sie müssen mir aus der Tasche gerutscht sein, als wir beide hingefallen sind. Nur die Julia-Postkarte ist noch heil, und genau diese ist es, die Rhyme zwischen den Fetzen hervorzieht und nachdenklich im Schummerlicht des Unsterns betrachtet. »Wie sollen wir diesen Fluch bloß brechen?«

Poetry bewegt sich wieder.

Sie kauert sich wie in Zeitlupe vor ihren Bruder auf den Boden …

… streckt einen heftig zitternden Arm nach ihm aus und …

… tippt auf die Karte.

Sie tippt auf die Karte!

Rhyme und ich erstarren zu absoluter Reglosigkeit, aus Angst, irgendeine falsche Bewegung zu machen, die Poetry unterbrechen und zurück in die Apathie einer Souffleuse versetzen könnte. Das Zittern in ihrem Arm verschlimmert sich noch, aber sie lässt ihren Finger, solange es ihr möglich ist, genau auf Julias Bronzestatue liegen, bevor er schließlich von der Kante der Karte abrutscht und so schwer herabfällt, als hätte jemand ein Zentnergewicht drangehängt.

Dann verschwindet das Zittern ganz plötzlich aus Poetrys Körper, und die übliche unheimliche Stille senkt sich wieder über sie. Sie richtet sich wie an Schnüren hochgezogen auf und bleibt reglos vor uns stehen.

»Das war kein Zufall«, höre ich mich ehrfurchtsvoll wispern. »Die Souffleure und Souffleusen sehen unter ihren Masken etwas, das habe ich vorhin selbst erlebt, sie erfahren Dinge. Poetry hat genau in dem Moment auf die Postkarte gezeigt, als du gefragt hast, wie wir den Fluch brechen sollen. Sie versucht, uns damit etwas zu sagen!«

Rhyme steht wie benommen auf. »Aber was?«

»Julia Capulet war nicht einfach nur eine Romanfigur, sondern eine eurer Vorfahrinnen. Und der Flüsterer erwähnte mehrmals ein Buch. Ich habe Shakespeares Romeo und Julia nie gelesen, aber du kennst es doch auswendig. Gibt es da etwas Besonderes über Julia? Oder steht was in euren Familienchroniken?«

Rhyme schüttelt nachdenklich den Kopf. »Das könnte alles Mögliche sein …«

»Dann finden wir es raus! Poetry hätte das niemals getan, wenn es nicht wichtig wäre.« Jede Zelle meines Körpers wird von blendender Energie erfüllt. »Rhyme! Wir haben einen echten Hinweis!«

Er sieht mich mit einer merkwürdigen Ruhe an. Ich kann an dem Zucken seiner Mundwinkel sehen, dass er mir ein Lächeln zuwerfen möchte, aber etwas Dunkles zieht meinen Blick hinauf zu seinen Augen. »Es ist fast zu spät …«

»Aber eben nur fast! Wir haben noch einen ganzen Monat Zeit, um mehr rauszufinden. Diesmal halten uns keine stundenlangen Trainings und umständlichen Geheimtreffen mehr auf. Wir können uns voll und ganz darauf konzentrieren, alles über Julia Capulet herauszufinden. Sie muss der Schlüssel sein, der uns bisher gefehlt hat!«

Rhymes Ausdruck wird sehr sanft.

»Wir haben keine vier Wochen mehr, Joy. Zumindest keine, in denen wir tun und lassen können, was wir wollen. Der genaue Ablauf unseres letzten Monats obliegt den Grafen und ist bei jedem Fluch anders. Aber Romeus und Giulietta werden auf jeden Fall die Schüler bei Laune halten und die traditionellen Rituale berücksichtigen müssen.«

»Cut hat vorhin schon so was erwähnt. Wie viel Zeit werden wir haben?«

Er zuckt mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht genau. Aus den Aufzeichnungen der vergangenen Rituale geht nur hervor, dass sie uns so gut wie nie alleine lassen und mit Vorbereitungen beschäftigen.«

»Vorbereitungen?«

»Du weißt schon …« Er senkt etwas verlegen den Blick. »Mit Etikette und Tanzstunden, mit Anproben und Schneidern, mit Testessen und Torten, mit Juwelieren und Ringen …«

»Moment mal.« Ich runzle die Stirn. »Wozu brauchen wir Torten und Ringe?«

Rhyme stutzt.

Dann weiten sich seine Augen schlagartig. »Du hast Romeo und Julia nie gelesen«, wispert er mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen gleichermaßen. »Du weißt es noch gar nicht …«

»Rhyme?« Ich sehe zwischen seinen Augen hin und her. »Was weiß ich nicht?«

KAPITEL 1

»Rhyme? Was weiß ich nicht?«

Vor kaum einer Stunde haben wir erfahren, dass wir uns als das legendäre Liebespaar für alle Schüler opfern müssen. Dass uns keine andere Wahl bleibt – außer den Fluch zu brechen. Trotzdem sieht Rhyme mich plötzlich an, als gäbe es da noch etwas anderes, das ihm gerade sehr viel mehr Angst einjagt. Etwas, das seine eisblauen Augen weitet.

»Also im Stück … vor ihrem Selbstmord … da haben Romeo und Julia …« Rhyme streicht sich nervös durch die Haare. »Die Rituale des legendären Liebespaares sind so alt wie der Fluch selbst, musst du wissen. Seit tausend Jahren müssen sich die beiden … Wie sag ich das am besten?« Aus irgendeinem Grund hat er Schwierigkeiten, mir in die Augen zu sehen.

Ich lege eine Hand auf seinen Arm. »Hey, du kannst mir alles sagen. Ich meine, Lorenzo und das Ballkomitee werden uns in einem Monat dazu zwingen, uns für den Unstern zu erstechen und zu vergiften. Es gibt absolut nichts, was noch schlimmer sein könnte.«

»Es ist nicht schlimmer.« Rhyme schluckt. »Es ist nur …«

»Nur was?«

Und dann trifft mich sein Blick wieder. Er richtet sich nicht einfach nur auf mich, sondern dringt bis tief in mein Innerstes. So als würde er das, was er als Nächstes sagen will, am liebsten genau dort ablegen: tief verborgen in meinem Herzen, wo keiner außer uns beiden es finden kann.

Allein die Wucht dieses Blicks lässt mich verstummen. Mein Mund öffnet sich, aber meine Gedanken liegen blank da, als wären sie unfähig, sich zu einem Satz zu formen, solange er nicht ausgesprochen hat, was sich unaufhaltsam zwischen uns aufstaut. Doch auch Rhyme verstummt, von meinem Anblick genauso gefangen wie ich von seinem.

Ein paar Sekunden lang starren wir einander einfach an. So lange, bis Rhyme ein weiteres Kieselsteinchen an den Kopf geworfen wird und er zusammenzuckt.

»Poetry.« Er klingt gleichzeitig erfreut und genervt, so wie die Stimme eines großen Bruders nun mal klingt, wenn er von seiner kleinen Schwester zurechtgewiesen wird, und reibt sich die Schläfe. »Ich bin unfassbar glücklich darüber, dass du einen Weg gefunden hast, mit uns zu kommunizieren – aber musst du mir die Steinchen ausgerechnet ins Gesicht werfen?«

Poetry steht vor uns in ihrer schwarzen Souffleusenkutte, die außer ihren Rundungen nichts von ihrer Schönheit preisgibt, und regt sich unter ihrer starren Maske keinen Millimeter. Dennoch überkommt mich das vage Gefühl, dass sie dahinter lächeln könnte. Dass sie Freude dabei empfindet, ihren Bruder ein wenig aufzuziehen. Sie war es also, die mich bei meinem ersten Duell gerettet hat. Poetry ist noch irgendwo darunter. Nur, wie viel von der Realität bekommt sie mit?

Als ich mir die Maske der Tragödie im Duell selbst aufgesetzt habe, sah ich etwas sehr Merkwürdiges. Es können nur Sekunden gewesen sein, bevor sie auf meinem Gesicht zerbrach, aber es kam mir viel länger vor. Da war keine alles verschlingende Dunkelheit, wie man es von einer Theatermaske ohne Augenöffnungen erwarten würde. Es war vielmehr so, als würde ich von einem Moment zum nächsten in eine völlig andere Welt gerissen. Eine Welt ohne oben und unten. Eine Welt voll unendlicher Dunkelheit und unendlichem Licht. Ich bin durch sie hindurchgefallen, ohne mich dagegen wehren zu können. Ob es das ist, was die Souffleure und Souffleusen die ganze Zeit über sehen? Ob es das ist, wogegen Poetry gerade ankämpfen muss?

Rhyme strafft seine Schultern. »Ich denke, ich weiß, was Poetry mir sagen will, und sie hat recht. Idealerweise tut man das nur einmal im Leben. Ich sollte es richtig machen.« Er sinkt vor mir in die Knie. Es ist dieselbe edle Haltung, welche die Fürsten einnehmen müssen, wenn sie ihre Tanzpartnerinnen für den Fürstentanz im Ballsaal verkünden. Nur wirkt sie hier im Rosengarten, während oben auf dem Marmorplatz eintausend Schüler unser baldiges Opfer feiern, ein wenig fehl am Platz.

»Du … willst mit mir tanzen?«, stolpert es aus meinem Mund. »Hier? Und jetzt?«

Diesmal wirft Poetry mir den Kieselstein an den Kopf.

Ich zucke verwirrt vor ihr zurück.

Rhyme greift nach meiner Hand. »Joy …«

Ich runzle die Stirn. »Ja?«

»Ich tue das nicht, weil es irgendein Ritual von mir verlangt. Ich will, dass du das weißt.«

»O-kay?«, erwidere ich vorsichtig.

Rhyme drückt meine Hand fester. »Ich hoffe, dass wir diesen Fluch brechen können. Ich hoffe nichts mehr, als dass Poetry uns mit Julias Postkarte wirklich einen Hinweis gegeben hat.« Er atmet tief durch. »Aber vor allem hoffe ich – egal, was auch passiert –, dass wir diesen Weg zusammen gehen werden.«

Ich erwidere seinen Händedruck. »Das tun wir.«

»Ich mache das zwar nicht, weil es ein Ritual von mir verlangt – aber das Ritual verkürzt die Bedenkzeit, die ich dafür habe. Wir zögern solche Fragen normalerweise hinaus, weil wir glauben, ewig Zeit dafür zu haben«, flüstert er plötzlich so leise, als würde er es kaum wagen, seine Gedanken laut auszusprechen. Und genau diese Befangenheit macht seine Stimme in meinem Kopf sehr viel lauter. Sie hallt in mir wider und pocht mit meinem Puls um die Wette. »Diese Illusion von Unendlichkeit haben sie uns heute Nacht genommen. Wir haben möglicherweise nur noch einen Monat zu leben.«

»Wir können den Fluch brechen«, wispere ich genauso leise.

»Das wollte ich damit nicht sagen. Ich will sagen … Ich möchte dich fragen … ob … du … meine …« Er stockt. »Meine Schlangen.«

Ich runzle die Stirn. »Ob ich deine Schlangen …?«

»Nein, meine Schlangen warnen mich!« Er springt so unerwartet auf, dass ich einen Schritt zurück ins Rosendickicht mache. »Giulietta kann sie genauso kontrollieren wie ich. Sie und Romeus sind auf dem Weg hierher. Um genau zu sein, sind sie …«

»… schon da«, ertönt Lady Capulets kalte Stimme hinter mir.

Ich wirble mit klopfendem Herzen herum.

Lady Capulet steigt in ihren silbernen High Heels so trittsicher über die dicken Rosenwurzeln hinweg, wie es nur jemand tun kann, der schon sein ganzes Leben an der Akademie verbracht hat. Sie bewegt sich genauso geschmeidig wie Rhymes Schlangen, die lautlos durch das Blattwerk ringsum gleiten. Hinter ihr ragt der Schatten Lord Montagues auf, dessen dunkler Umriss nahtlos mit der Nacht verschmilzt. Seine gelben Raubtieraugen fixieren uns. »Ihr habt hoffentlich nicht geglaubt, dass wir es euch einfach so durchgehen lassen, vor dem Ritual zu flüchten. Zumindest von dir, Schlangenfürst, hätte ich eine bessere Einschätzung der Situation erwartet.«

»Was soll das denn heißen?«, beschwere ich mich.

In den letzten zwei Monaten war ich Lord Montagues Haus unterstellt. Er hat mir gedroht, mich mit jemandem in ein Duell zu stecken, der mir sehr viel bedeutet, falls ich ihn nicht davon überzeugen kann, eine richtige Montague zu sein. Keine Ahnung, ob er seine Finger dabei im Spiel hatte, dass Rhyme und ich letztendlich gegeneinander antreten mussten, oder ob das ganz allein das Werk des Ballkomitees war. Es kam ihm jedenfalls sehr gelegen. Dass sein Sohn, der Katzenfürst, seine Verliebtheit zu mir nicht einfach bloß vortäuschte, dürfte ihm nicht entgangen sein. Und das hat ihm garantiert nicht gefallen.

Der Gedanke an Cut versetzt mir einen Stich in der Brust. Er hat alles getan, um mich vor genau dieser Situation zu bewahren. Und jetzt stehe ich trotzdem hier und kann nur dabei zusehen, wie sich die Schlinge des Fluches immer enger um Rhyme und mich zusammenzieht.

»Es soll heißen«, übernimmt Lady Capulet das Wort und zieht eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen hoch, »dass Rhyme seit seiner Geburt auf diesen Moment vorbereitet wurde. Im Gegensatz zu dir, Joy, weiß er haargenau, wie unausweichlich er ist. Auch wenn er«, fügt sie mit einem Seitenblick auf ihren Neffen hinzu, »dir zuliebe vielleicht noch etwas Hoffnung vortäuscht.«

Rhyme tritt an meine Seite. »Ich täusche Joy gar nichts vor.«

Lady Capulet schnaubt leise. »So? Dann teilst du also ihre Naivität? Dieser Fluch kann nicht gebrochen werden.«

Rhymes Augen blitzen. »Wieso? Weil ihr es damals nicht geschafft habt?«

Lady Capulet presst ihre Lippen aufeinander, aber hinter ihrem frostigen Blick beginnt es sichtlich zu arbeiten. Ob sie inzwischen bemerkt hat, dass wir ihr altes Tagebuch aus dem Geheimraum hinter ihrem Büro gestohlen haben? Ob sie eins und eins zusammenzählt?

Giulietta hatte sich dieses Tagebuch als Teenagerin mit einem unbekannten Freund geteilt. Ein Freund, der später in einen Souffleur verwandelt wurde. Seinen Namen fanden wir zwar nicht heraus, aber ich vermute, dass es der Flüsterer ist. Jener Souffleur, der seit meiner Ankunft in der Akademie verzweifelt versucht, seiner Trance zu entkommen und mir zu sagen, wie man den Fluch brechen kann.

Laut Tagebuch wollte er es beim letzten Fluch vor siebzehn Jahren selbst versuchen, bat vergeblich um Giuliettas Hilfe und wurde nur eine Nacht, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, im Duell besiegt. Ob das Zufall war oder ob ihn jemand aufhalten wollte, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass es mal eine Zeit gab, in der Giulietta diesen Jungen sehr vermisst hat.

Heutzutage geht sie dem Flüsterer allerdings aus dem Weg.

Und nicht nur ihm.

Mir fällt auf, dass sie ihren Blick sorgsam von Poetry abgewandt hält. Sie muss ihre Nichte unter der schwarzen Souffleusenrobe erkannt haben, lehnt sich aber, zumindest unterbewusst, in die entgegengesetzte Richtung.

»Ich hätte dich für klüger gehalten«, raunt sie Rhyme zu. Es klingt nicht nach einer Beleidigung, sondern nach echter Enttäuschung. So als hätte sie auf das falsche Pferd gesetzt. Was tatsächlich in ihr vorgeht, ist schwer zu sagen. Wie auch Lord Montague versteht sie es sehr gut, sich ihre wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Lord Montague tritt knapp hinter sie. »Giulietta. Sie warten.«

Lady Capulet neigt ihm den Kopf zu, sieht ihn aber nicht an. »Das Ballkomitee wird es schon ertragen, ein paar Augenblicke länger auf ihr Narrentheater zu verzichten.« An Rhyme und mich gewandt fügt sie hinzu: »Ihr werdet uns jetzt nach oben zur Diamantvilla folgen und das zweite Ritual des Liebespaares ausführen.«

Bis heute Nacht hatte ich nicht gewusst, dass es solche Rituale gibt. Das erste Ritual haben Rhyme und ich bereits am Ende des Duells unbewusst erfüllt:den Verbotenen Kuss der Liebenden. Ich habe keine Ahnung, was uns noch erwartet, aber ich gebe mir vor Graf und Gräfin nicht die Blöße, mein Unwissen zu verraten. Rhyme hat später noch mehr als genug Zeit, mir alles zu erklären.

Stattdessen recke ich mein Kinn. »Und wenn wir uns weigern? Was hätten wir schon zu befürchten? Das Ballkomitee braucht uns. Sie werden uns wohl kaum etwas antun, wenn sie uns in einem Monat dem Unstern opfern wollen.«

Lady Capulets Miene bleibt ungerührt, geradezu versteinert, nur eine ihrer Augenbrauen wandert herausfordernd ein Stückchen höher. »Wer sagt denn, dass sie einen Monat warten müssen?«

Was?!

Innerlich durchfährt es mich wie ein Blitzschlag.

So unauffällig wie möglich werfe ich Rhyme einen Seitenblick zu.

Weißt du, wovon sie spricht?

Rhyme hält dem sturmgrauen Blick seiner Tante stand, ohne auch nur zu blinzeln. Trotzdem erkenne ich an seiner Anspannung, dass ihn diese Information genauso überrascht wie mich.

Lady Capulets Miene bleibt ungerührt, nur ihre Hände ballen sich, so als würde sie sich innerlich gegen ihre eigenen Worte sträuben. »Es ist Tradition, dass Graf und Gräfin die ersten vier Rituale des Liebespaares so ausrichten, wie sie auch im berühmten Stück Shakespeares stattfinden. Es ist Tradition – aber kein Muss. Schlussendlich ist euer letzter gemeinsamer Monat nichts als reines Wohlwollen seitens des Ballkomitees. Sie allein bestimmen die zeitlichen Abläufe. Wenn sie es wünschen, können sie das fünfte und letzte Ritual jederzeit vorziehen, denn es ist das einzige, das wirklich für den Fluch zählt.«

Mein Herz klopft schneller. »Das letzte Ritual …?«

»Der Selbstmord des Liebespaares.« Es ist Lord Montague, der das sagt. Kaum verklingt die letzte Silbe auf seinen Lippen, dreht sich Lady Capulet ruckartig von uns weg und stapft durch das Rosendickicht davon. Lord Montague sieht ihr hinterher, dann richtet sich sein Raubtierblick zurück auf uns. »Ihr wusstet von Anfang an, worauf ihr euch einlasst. Nun bringt es auch zu Ende.«

KAPITEL 2

»Habe ich es nicht versprochen? Seht nur! Hier kommen sie zurück!« Lorenzos Stimme hallt uns über den Marmorplatz entgegen.

Er ist der Anführer des Ballkomitees, das im Geheimen sogar seinen Namen trägt: Lorenzos Loge. Eine Gruppe von zwölf verhüllten Gestalten, deren Ziel es ist, den Fluch des Unsterns mit dem Selbstmord eines Liebespaares aus den Häusern Capulet und Montague zu besänftigen. Warum ein Komet am Himmel, den nur die Mitglieder unserer Häuser sehen können, alle siebzehn Jahre diesen grausamen Tribut von uns verlangt, ist bloß eines ihrer zahlreichen streng gehüteten Geheimnisse.

Viel kann ich von Lorenzo durch die Menge der Schüler nicht sehen, trotzdem jagt mir seine kaum gezügelte Vorfreude einen kalten Schauder über den Rücken. »Endlich ist es so weit! Nach dem Verbotenen Kuss, der uns das Liebespaar im Duell offenbart hat, steht nun das zweite Ritual an. Unserer eintausendjährigen Tradition entsprechend wird es noch in derselben Nacht vollzogen. Begrüßt euer legendäres Liebespaar!«

Dem Lärm nach brechen alle eintausend Schüler der Akademie gleichzeitig in wilden Beifall und Jubel aus. Sie drängen sich Rhyme und mir von beiden Seiten entgegen, sobald wir die Treppen des Rosengartens verlassen haben, strecken die Arme nach uns aus, die noch immer in die glitzernden Stoffe ihrer Ballkleider gehüllt sind, und lassen ihre Fingerspitzen so zart wie Schmetterlingsflügel über unsere Schultern und Ellbogen flattern. Viele von ihnen tragen noch ihre goldenen oder silbernen Ballmasken, weichen unseren Blicken mit geröteten Wangen aus und tuscheln ungeniert hinter unserem Rücken.

»Sind sie wirklich ineinander verliebt?«

»Ausgerechnet den Schlangenfürsten hat’s erwischt. Ich glaub’s nicht.«

»Die beiden retten uns! In einem Monat ist der Rosenfluch vorbei, und wir können die Akademie endlich wieder verlassen!«

Ich nehme es ihnen nicht übel. Keinem von ihnen. Lady Capulet und Lord Montague haben schon vor dem Duell mit ihren übernatürlichen Kräften dafür gesorgt, dass alle Schüler sich auf das Opfer des Liebespaares freuen. Dass sie es als etwas Nobles betrachten, etwas Unausweichliches, das nun mal getan werden muss, weil uns der Unstern keine andere Wahl lässt. Ich konnte meine Beeinflussung inzwischen abschütteln, und meine Gedanken sind wieder glasklar. Zumindest hoffe ich das. Es ist sehr schwierig, die Manipulation von Graf und Gräfin von der eigenen Meinung zu unterscheiden. Nur die beiden Fürsten sind immun dagegen. Und so, wie sich Lorenzo auf dem Ball gegen Giuliettas Aufforderung gestellt hat, womöglich auch er.

Was ist Lorenzos Geheimnis? Was verbirgt er?

Lady Capulet und Lord Montague gehen voraus und spalten die Menge der Schüler weit genug, um Lorenzo vor dem mit Rosen überwucherten Eingangstor des Diamantturms sehen zu können. Äußerlich unterscheidet er sich nicht von den anderen elf Mitgliedern seiner Loge, die hinter ihm Schulter an Schulter eine Reihe bilden. Sie alle tragen braune Kapuzenroben und ausdruckslose Holzmasken mit kleinen, kreisrunden Löchern für die Augen. Ich habe keine Ahnung, wie sie darunter aussehen. Nur Lorenzo hat mir heute Nacht auf dem Montaguebalkon sein Gesicht offenbart. Obwohl so vieles an ihm alt wirkt – seine vorsichtigen Bewegungen, seine manchmal etwas altmodisch anmutende Art zu reden –, ist sein Gesicht so jung wie das eines Dreißigjährigen.

Etwas stimmt nicht mit ihm.

Ich weiß es.

Lorenzo lässt seine ausgebreiteten Arme sinken, als Rhyme und ich durch die Schülermenge auf ihn zukommen. Für einen Moment flackert sein Blick hinab zu unseren verschränkten Händen, und ich könnte schwören, so etwas wie ein spöttisches Schnauben hinter seiner Holzmaske zu hören. »Wie schön, dass ihr für etwas Spannung sorgt!« Sein ausgelassener Tonfall soll garantiert die Laune der Schüler heben. Trotzdem spüre ich seine Schärfe dahinter, so hauchdünn wie eine Rasierklinge, die nicht wehtut, wenn man sich an ihr schneidet – und trotzdem tödlich sein kann. »Wir haben nun lange genug auf das zweite Ritual gewartet. Verehrte Gräfin, werter Graf, geschätzte Schülerinnen und Schüler! Das Ballkomitee heißt euch zu einem raren Schauspiel willkommen!«

Lorenzo erntet donnernden Applaus.

Er weist auf den Diamantturm hinter sich. »Dieser Turm ist das älteste Gebäude der Akademie. Er stellt eine neutrale Zone dar, die nicht den Grafen, sondern dem Ballkomitee untersteht. Ein Raum zwischen unseren beiden Häusern, in dem es dem Liebespaar gestattet ist, einander näherzukommen.« Die Schüler brechen in anzügliches Pfeifen aus, das Lorenzo jedoch sofort übertönt. »Erst wenn das dritte Ritual vollzogen ist, versteht sich! Bis dahin fungiert dieser Turm vor allem als Schutz unseres wertvollsten aller Paare. Schutz vor äußeren Einflüssen – und Schutz vor sich selbst.«

Rhyme drückt meine Hand. Er muss es unbewusst getan haben, denn als ich zu ihm aufschaue, ist sein eisblauer Blick noch immer auf Lorenzo gerichtet.

Lorenzo klingt zufrieden. »Alle siebzehn Jahre opfert sich ein Liebespaar aus freien Stücken für unser Wohl. Dafür wollen wir uns bei ihnen bedanken. Mit einem letzten gemeinsamen Monat, in dem sie ihre Gefühle nicht länger vor uns verstecken müssen. Ein Monat, in dem sie nicht nur alle vier Höhepunkte ihrer Liebe erleben dürfen, sondern uns durch die Rituale auch hautnah daran teilhaben lassen werden!«

Der Jubel der Schüler wird ohrenbetäubend.

Nur Rhyme und ich rühren uns nicht von der Stelle.

»Warum so still, liebes Paar?«, fragt Lorenzo und wirkt dabei äußerst amüsiert über sein eigenes Wortspiel. »Das Süßholzraspeln zweier Verliebter scheint euch noch nicht leicht von der Zunge zu gehen. Aber wir verstehen eure Befangenheit, immerhin ist eure Liebe noch so jung. Weshalb das Ballkomitee so frei war, euch die Texte für das zweite Ritual vorzubereiten. Marcus …«

Er winkt einen seiner Kollegen herbei, der schweigend in einer braunen Kutte vortritt und uns jeweils eine dünne Ausgabe von William Shakespeares Romeo und Julia überreicht. Die beiden Heftchen unterscheiden sich nur in einem: Rhymes Text wurde mit blauen Zettelchen markiert, meiner mit pinken. Ich rolle die Augen. Diese blöden Geschlechterfarben sind mir schon immer gegen den Strich gegangen. Obwohl ich jetzt vermutlich andere Sorgen haben sollte.

»Und nun tretet ein!«, fordert Lorenzo uns auf. »Kommt in den Ewigen Garten!«

Die Mitglieder des Ballkomitees treten der Reihe nach durch die mit Rosen bewachsenen Flügeltüren des Eingangstors und geben den Blick auf den Ewigen Garten dahinter frei. Hinter uns höre ich das erstaunte Luftschnappen Dutzender Schüler. Die Schönheit dieses Gartens ist durch die dichten Rosenhecken hindurch für gewöhnlich nicht zu sehen. Ein perfekt arrangiertes Kunstwerk aus bunten Frühlingsblumen funkelt uns entgegen. Die Narzissen, Tulpen und Schneeglöckchen sind mit filigraner Handfertigkeit aus den unterschiedlichsten Edelsteinen dieser Welt gefertigt worden. Sie blühen in einem scheinbar immerwährenden Frühling für das legendäre Liebespaar, egal, zu welcher Jahreszeit dieses auch auserwählt wurde. Cut hatte diesen Garten einst als wunderschön bezeichnet – aber gleichzeitig auch als tot.

Wo steckt Cut eigentlich? Und Tear? Und Stage?

Ich schaue mich verstohlen um.

Können sie unseren Anblick in dieser Situation nicht ertragen? Ich würde es verstehen, wenn sie es nicht übers Herz bringen, mitten in einer jubelnden Menge zu stehen, die auf unseren baldigen Tod hinfiebert. Aber mein Gefühl sagt mir, dass etwas anderes dahintersteckt. Sie alle sind stark, besonders für ihre Freunde. Sie würden für uns hier sein, egal, wie schwer es ihnen fällt. Es sei denn – sie glauben, ihre Abwesenheit hilft uns noch mehr.

Haben sie etwas vor?

Rhyme, der mein Zögern bemerkt, lehnt sich zu mir. »Das zweite Ritual ist der Verbotene Liebesschwur«, flüstert er mir verstohlen zu, während wir dem Ballkomitee in den Ewigen Garten folgen. »Sobald dieses Ritual vorbei ist, dürften sie uns für den Rest der Nacht in Ruhe lassen. Du musst einfach nur die markierten Stellen vorlesen, die sie für uns ausgesucht haben.«

»Was sind das für Stellen?«

»Das weiß ich nicht, aber …« Er blickt kurz hinab auf das Heftchen mit den blauen Notizzetteln. »Es ist wahrscheinlich die Balkonszene.«

»Warum in aller Welt habe ich Romeo und Julia bloß nicht gelesen?«, seufze ich.

»Es ist die Stelle, an der sich Romeo und Julia ihre Liebe schwören und …« Rhyme zögert einen Moment. »Was diese Frage angeht, die ich dir vorhin im Rosengarten stellen wollte … Ich weiß nicht sicher, was sie uns lesen lassen werden, aber …« Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »Es könnte vielleicht einen Hinweis auf das dritte Ritual enthalten.«

Ich stöhne. »Lass mich raten: Sie werden uns zwingen, kitschige Foto-T-Shirts mit unseren gegenseitigen Gesichtern drauf zu tragen.«

Rhyme schnaubt amüsiert. »Fast.«

Ich werfe einen missmutigen Blick auf meine rosa Zettelchen, dann auf das Ballkomitee, das sich unter dem Balkon der Diamantvilla in einer Reihe aufstellt. »Wenn wir schon Romeo und Julia für sie spielen müssen – darf ich dann Romeo sein?«

Rhyme grinst. »Wieso nicht?«

Verstohlen tauschen wir unsere Heftchen, kurz bevor wir angehalten werden. Über uns ragt der Diamantturm fünf Stockwerke in die Höhe. Seine mit echten Diamanten besetzte, bis weit in die Nacht hinauffunkelnde Spitze ist von hier unten nur in einem steilen Winkel zu sehen. Die Steinfassade darunter ist mit kunstvollen Darstellungen von Sternen, Rosen, Raubkatzen und Giftschlangen verziert, aber die vergangenen Jahrhunderte haben ihre harten Kanten abgeschliffen und dem Turm ein weicheres Aussehen verliehen. Unter einer Reihe unverglaster Fenster, hinter denen sich die Diamantglocke befindet, die nur in den Ballnächten erklingt, gibt es noch zwei weitere Stockwerke: einen mit Rosen üppig bewachsenen Balkon, hinter dem zimmerhohe Bogenfester mit blickdichten Vorhängen aufragen. Und ein Erdgeschoss mit kunstvoller Mosaikterrasse, breiter Glasfront und denselben blickdichten Vorhängen. Genau dort wartet das Ballkomitee auf uns. Lady Capulet und Lord Montague stellen sich zu ihnen.

Während die anderen Mitglieder seiner Loge sich im Hintergrund halten, wird Lorenzo von einer euphorischen Energie erfüllt, die ihn von einem Fuß auf den anderen treten und seine behandschuhten Hände ballen und wieder strecken lässt. Neben ihm wirkt Lady Capulet ganz und gar nicht euphorisch. Im Gegenteil, sie starrt auf Rhymes Theaterheftchen mit den rosa Zettelchen und wirft ihm einen finsteren Blick zu, den ich so interpretieren würde: Welchen Unsinn habt ihr nun schon wieder vor? Zu meiner Überraschung sagt sie aber nichts.

»Joy Montague!«, ruft Lorenzo über das Schnattern der Schüler hinweg, die sich hinter uns auf der Torschwelle um die besten Plätze streiten. Den Ewigen Garten zu betreten, ist für sie strengstens verboten. Nur murrend kommen sie zur Ruhe und richten ihre Blicke, einer nach dem anderen, auf uns. Als ich mich zurück zu Lorenzo drehe, ist dieser bereits an den Rand des Turms getreten und weist auf eine goldene Leiter, die halb verborgen zwischen den Kletterrosen hinauf zum Balkon führt. Normalerweise befindet sich dort keine Leiter, sie muss nach dem Duell dorthin gestellt worden sein. Durch meinen verbotenen Ausflug damals mit Cut weiß ich, dass sich der eigentliche Eingang auf der Rückseite des Turms befindet. Die neue Leiter soll wohl dafür sorgen, dass alle uns hier vorne zusehen können. »Darf ich unsere Julia bitten, ihren Platz auf dem Balkon einzunehmen?«

Rhyme drückt meine Hand, grinst unverschämt und lässt mich los. »Selbstverständlich dürfen Sie das«, erwidert er laut und deutlich. Hinter uns höre ich das Kichern der Schüler, während er mit selbstbewusst gestrafften Schultern und erhobenem Kopf auf Lorenzo zumarschiert. »Das Haus Capulet nimmt seinen Platz ein.«

Lorenzo tritt vor die Leiter und versperrt ihm den Weg. »Das Mädchen spielt immer die Julia. Egal, aus welchem Hause sie stammt.«

»Vielleicht fühle ich mich heute als Mädchen?«, kontert Rhyme herausfordernd, ignoriert die Leiter und springt einfach neben Lorenzo hinauf in die Kletterpflanzen. Natürlich sind mir seine sportlichen Fähigkeiten inzwischen bekannt, aber ihn so geschickt wie Spider-Man an der Fassade emporklettern zu sehen, lässt selbst mich beeindruckt glotzen. Die Schüler kriegen sich vor Begeisterung gar nicht mehr ein. Oben schwingt sich Rhyme über die Brüstung, streicht sich seine weißblonden Haare aus der Stirn und streckt das Theaterheftchen in Siegespose hoch in die Luft. Dafür erntet er nicht nur von den Schülern stürmischen Applaus, sondern entlockt sogar Lady Capulet ein schmales Lächeln.

Poetry hätte gebrüllt vor Stolz.

»Ihr möchtet also die Rollen tauschen?«, zischt Lorenzo unter seiner Maske. »Nun gut. Ganz wie ihr wollt. So soll es sein.« Er lässt es wie eine Drohung klingen. Als hätte er noch ein Ass im Ärmel stecken, das uns diese Entscheidung später bereuen lassen wird. »Dann lasst das Stück beginnen. Julia!«

Rhyme schlägt sein Heftchen auf. Er kann das Stück auswendig, muss aber natürlich nachsehen, welche Stellen das Ballkomitee für uns ausgewählt hat. Mehr als einen kurzen Blick braucht er allerdings nicht, bevor er den Text sinken lässt und sich mir über die Brüstung entgegenreckt. Mit seinen durchtrainierten Armen, den eisblauen Augen und der Kulisse eines rosenumrankten Balkons im Hintergrund schlägt er meiner bescheidenen Meinung nach jede Julia, die es jemals gegeben haben kann.

»Wie kamst du her?«, ruft er in Theaterlautstärke zu mir herab. »Die Gartenmau’r ist hoch, schwer zu erklimmen. Die Stätt ist dein Tod, bedenk nur, wer du bist.«

Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und schaue mich kritisch um. »Welche Gartenmauer? Wir sind durch ein weit geöffnetes Tor reingekommen.«

Lady Capulet schüttelt den Kopf und massiert sich den Nasenrücken. Lord Montague sieht aus, als wäre er innerlich woanders. Lorenzo allerdings fährt bei meinen Worten so heftig zusammen, als hätte man ihm eine gescheuert. Er wird leise genug, um von den Schülern hinter uns nicht gehört zu werden, zischt aber jede Silbe durch seine Zähne. »Lies. Vor. Was. Im. Heft. Steht.«

Ich seufze und schlage das Theaterstück an der markierten Stelle auf. »Ähm … Wartet eine Sekunde … Okay, da ist es … Aah … Der Liebe leichte Schwingen trugen mich!«

Rhyme braucht seine Antwort nicht nachzuschlagen. »Wenn sie dich sehen, sie werden dich ermorden.«

»Ähm …« Ich suche rasch nach der nächsten Stelle. »Deine Augen drohn mir mehr Gefahr als zwanzig ihrer Schwerter! Das soll wohl heißen, dass ich dich unglaublich scharf finde.«

Rhyme schnaubt amüsiert. »Ich wollt um alles nicht, dass sie dich sähn.«

»Liebst du mich nicht, so lass sie mich nur finden«, rufe ich zurück. »Durch ihren Hass zu sterben wär mir besser als ohne deine Liebe Lebensfrist. Was genau soll das denn bedeuten?«

Rhyme hat sichtlich Mühe damit, die Fassung zu wahren, sein Oberkörper bebt vor unterdrücktem Gelächter. »Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht, sonst färbte Mädchenröte meine Wangen. Doch dächtest du, ich sei zu schnell besiegt, so will ich finster blicken, will widerspenstig sein und Nein dir sagen, so du dann werben willst. Gewiss, ich bin zu herzlich; du könntest denken, ich sei leichten Sinns.«

»Im Ernst jetzt?« Ich wedle mein Heftchen vorwurfsvoll in Richtung des Ballkomitees. »Romeo kann flirten, wie es ihm passt, aber wenn Julia auch nur mal kurz rot wird, ist sie schon leicht zu haben? Und was soll dieser Blödsinn mit der Mädchenröte? Jungs werden genauso rot.«

Die Schüler amüsiert das köstlich. Von nicht wenigen kommen zustimmende Rufe.

Lorenzo stapft auf mich zu. »Sie meidet Amors Pfeil, sie hat Dianens Witz«, ruft er über mich hinweg, offenbar im Versuch, meinem Statement die Ernsthaftigkeit zu nehmen und die Stimmung der Schüler nicht kippen zu lassen. Was er als Nächstes tut, ist allerdings alles andere als komisch. Er bleibt so dicht vor mir stehen, dass niemand sehen kann, was zwischen uns passiert – nicht mal Rhyme oben auf dem Balkon –, lässt seine Hand unter der Kutte verschwinden und drückt von innen etwas gegen den Stoff. Ich weiß sofort, dass es seine Pistole ist. Er hat uns heute Nacht schon einmal damit bedroht, oben auf dem Montaguebalkon.

Mir wird heiß und kalt. »Sie brauchen mich«, wispere ich mit heiserer Stimme. »Sie würden nicht abdrücken.«

Er schüttelt kaum merklich den Kopf. »Ich brauche dich am Ende lebend, das ist richtig. Aber in welchem Zustand dein Körper ist, spielt absolut keine Rolle für das letzte Ritual. Du musst dafür nicht mal mehr gehen können.«

Das pustet mir alle Gedanken aus dem Kopf. Für eine Blitzsekunde wird meine Umgebung so blendend grell, dass ich überrascht bin, als die Welt nur einen Moment später wieder auftaucht und noch genauso normal aussieht wie zuvor. Mein Herz hämmert wie eine Nähmaschine.

Lorenzo lächelt unter seiner Holzmaske, zumindest hört er sich so an. »Ab jetzt liest du ausschließlich das vor, was wir für dich markiert haben. Hast du mich verstanden?«

Meine Antwort wartet er nicht ab.

Er steckt die Waffe weg und tritt zurück an seine ursprüngliche Position.

Ich versuche, mir mein Zittern nicht anmerken zu lassen, während ich das Theaterheftchen durchblättere und nach der nächsten Stelle suche. Als ich sie gefunden habe und zu Rhyme aufblicke, kann ich an seinem Ausdruck sehen, dass ich zumindest ihm nichts vormachen kann. Jegliches Grinsen ist auf seinem Gesicht verschwunden. Er sieht aus, als würde er jeden Moment vom Balkon runterspringen und mich in seine Arme reißen.

Besser, ich beeile mich mit dem Vorlesen. »Ich … Ich schwöre, bei dem heil’gen Mond, der silbern dieser Bäume Wipfel säumt …«

»Schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren«, erwidert Rhyme sofort. »Damit nicht wandelbar dein Lieben sei.«

»Wobei denn soll ich schwören?«, rufe ich ihm mit rauer Stimme zu.

»Schwöre nicht.« Er legt sein Heft auf der Brüstung ab. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, so als würde ihm etwas an meinem Anblick wehtun. Seine Stimme verändert sich, klingt nicht mehr nach Theater, sondern mehr nach ihm selbst. »Obwohl ich dein mich freue, freu ich mich nicht des Bundes dieser Nacht. Er ist zu rasch, zu unbedacht. Gleicht allzu sehr dem Blitz, der nicht mehr ist, noch eh man sagen kann: es blitzt. – Schlaf süß.«

Mit einem Mal fühlt sich das alles so … echt an.

Ich brauche einen Moment länger, um die nächste Stelle zu finden. Der Puls pocht mir bis in die Fingerspitzen. »Du verlässt mich so unbefriedigt?«

Nun lächelt Rhyme wieder, aber es ist ein bittersüßes Lächeln. »Was für Befriedigung begehrst du noch?«

»Gib deinen treuen Liebesschwur für meinen.«

»Ich gab ihn dir, eh du darum gefleht«, raunt er so leise, dass selbst die Schüler still werden und ihm wie gebannt an den Lippen hängen. Auch sie müssen merken, das Rhyme das nicht mehr spielt. Die Worte mag er sich von Shakespeare ausgeliehen haben, aber wenn man genau hinhört, spürt man tief im Innern, dass er sie genauso meint.

»Nur fürcht ich, weil mich Nacht umgibt, dies alles sei nur ein Traum«, höre ich mich leise erwidern. »Zu schmeichelnd süß, um wirklich zu bestehn.«

Rhyme schaut hinab auf das geschlossene Theaterheft.

Mehrere Augenblicke lang schweigt er.

»Drei Worte, dann gute Nacht.« Er hebt den Kopf und wartet ab, bis ich ihm direkt in die Augen sehe. Schlagartig fühlt es sich so an, als wären wir allein. Als wäre alles, was er sagt, nichts weiter als ein vertrautes Flüstern zwischen uns. Es fühlt sich an wie vorhin im Dickicht des Rosengartens, als er vor mir in die Knie sank. Als er mich etwas fragen wollte …

Wir zögern solche Fragen hinaus, weil wir glauben, ewig Zeit dafür zu haben, hatte er gesagt. Diese Illusion von Unendlichkeit haben sie uns heute Nacht genommen.

»Wenn deine Liebe tugendsam gesinnt …«, fährt er fort, ohne mich auch nur eine Sekunde lang aus seinen eisblauen Augen zu lassen. »So lass mich morgen wissen, wo und wann die Trauung willst vollziehn.«

Die … die Trauung?!

Plötzlich bin ich es, die vor ihm in die Knie sinkt.

KAPITEL 3

Irgendwo hinter mir nehme ich das Aufheulen der Schüler wahr. Ihren Geräuschen nach fallen sie sich gegenseitig in die Arme und seufzen vor romantischen Glücksgefühlen. Die Seifenblasen aus dem Ballsaal wirken nach wie vor und unterstreichen die Beeinflussung von Graf und Gräfin. Für sie ist das hier besser als ein Kinofilm.

»War das gerade ein echter Antrag?!«

»Oh, mein Gott, er hat es wirklich gesagt!«

»Werden sie es heimlich tun? So wie im Stück? Oder dürfen wir dabei sein?«

Falls da noch ein paar letzte Reste an Seifenblasenluft meine Hemmschwelle senken, dann reichen sie nicht aus, um Rhyme jetzt ansehen zu können. Stattdessen starre ich mit brennenden Wangen auf den sorgsam gepflegten Edelsteinkies unter meinen Knien. Nicht mal ein winziges Hälmchen von echtem Gras wächst hier drin. Das alles ist nur eine Show. Eine Show, so atemberaubend schön, dass den Betrachtern ihre Falschheit völlig egal ist.

Ich höre einen dumpfen Aufprall im Kies, so als wäre jemand aus großer Höhe darauf gelandet. Knirschende Schritte nähern sich mir. Ein Schatten fällt über meine Hände. Und dann ist seine Stimme bei mir.

»Joy …«

Er berührt meine Schultern.

Ich ringe nach Luft. »Das … Das dritte Ritual ist …« Nur mit Mühe schaffe ich es, zu ihm aufzublicken. In der Sekunde, als sich unsere Blicke treffen, fährt ein leiser Schmerz durch mein Herz, so als hätte man eine hauchdünne Nadel hineingestochen. »… unsere Heirat?«

Er nickt sachte. Seine Stimme wird leise, für niemand anders bestimmt als für mich. »Romeo und Julia haben sich in ihrer ersten Nacht nicht nur geküsst, sondern auch verlobt.«

Ich schaue von einem seiner eisblauen Augen zum anderen. »Vorhin im Rosengarten … Du sagtest, du würdest mich das nicht nur wegen des Rituals fragen … Wolltest du mich …?« Ich brauche es nicht auszusprechen. Allein schon an der Art, wie sich seine Augenbrauen zusammenziehen, sehe ich seine Antwort. Mein Herz fängt an, schneller zu pochen. Oder zu laufen. Wegzulaufen. Nur, dass es das nicht kann. Es ist in mir eingesperrt, wie auch ich in dieser Akademie eingesperrt bin. »Du willst mich heiraten?«, stoße ich ungläubig hervor. »Wir … Wir kennen uns erst seit vier Monaten! Ich bin sechzehn. Und du bist siebzehn.«

»Romeo war damals erst fünfzehn, Julia kaum vierzehn.«

»Aber wir leben doch längst nicht mehr im 16. Jahrhundert!« Ich packe ihn an den Armen und versuche, meinen Worten so mehr Dringlichkeit zu verleihen, ohne dabei seine Gefühle zu verletzen. »Es ist etwas anderes, wenn man damit rechnen muss, mit dreißig an der Pest zu sterben.«

Plötzlich lächelt er mich an.

Es ist bittersüß.

»Genau das habe ich vorhin im Rosengarten gemeint.«

»Was hast du gemeint?«

Er hebt seine Hand und streichelt mir mit dem Daumen zärtlich über die Wange. »Es ist auch etwas anderes, wenn man damit rechnen muss, in einem Monat zu sterben, nicht wahr?«

Meine Hände rutschen wie betäubt von ihm ab.

Ich starre ihn einige Sekunden lang schweigend an und begreife, dass Rhyme sich keineswegs irgendwelchen voreiligen Gefühlen hingegeben hat. Er hat sich das sehr genau überlegt. In seinen Augen liegt eine ruhige Entschlossenheit. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er sich das sogar schon vor einer ganzen Weile überlegt hat.

Er lehnt sich näher und wispert so nah an meinen Mund, dass ich seinen warmen Atem spüren kann: »Wie lautet deine Antwort?«

Mein Blick schießt zur Seite, hin zum Ballkomitee. »Lassen sie uns denn eine Wahl?«

»Du hast immer eine Wahl«, raunt er und fügt mit schiefem Lächeln hinzu: »Du kannst mich heiraten und für die möglicherweise letzten vier Wochen meines Lebens zum glücklichsten Todgeweihten dieser Akademie machen. Oder du kannst dich weigern, Lorenzos Blutdruck damit bis zum Unstern hochjagen und mich ebenfalls zum glücklichsten Todgeweihten dieser Akademie machen.«

Das lässt mich leise auflachen – trotz allem.

»Beides hat seinen Reiz«, gebe ich zu.

Rhyme nimmt mich in die Arme und drückt mich so fest an sich, dass ich seinen Herzschlag spüre, der ebenfalls viel zu schnell in seiner Brust klopft. Ich vergrabe meine Hände in seinem Shirt und schließe die Augen. Er ist bei mir. Egal, was passiert. Er ist bei mir.

»Ich bin froh, dass wir zusammen sind«, flüstere ich an seinen Hals.

Für diesen Moment ist das die einzige Antwort, die wir brauchen.

Hinter uns ist es still geworden. Ich glaube nicht, dass die Schüler unser Gespräch hören konnten, aber allein die Vertrautheit, in der wir zusammen auf dem Boden knien, uns gegenseitig berühren und miteinander flüstern, hat sie verstummen lassen.

Das Knirschen von Kies lässt mich die Augen aufschlagen.

Lorenzo tritt vor und hebt die Arme. »Zur neunten Stunde am nächsten Tag hat Julia ihre Amme losgeschickt, um Ort und Zeit der Trauung mit Romeo zu verhandeln. So eilig haben wir es zum Glück nicht. Es wird reichlich Zeit für alle Vorbereitungen geben. Mehr erfahrt ihr in den kommenden Tagen. Nun gute Nacht«, fügt er in Bühnenlautstärke hinzu. »So süß ist Trennungswehe, ich rief wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe!«

Damit beendet er sein Spektakel für heute.

Lady Capulet und Lord Montague verlassen den Ewigen Garten so eilig, als hätten sie nur auf dieses Stichwort gewartet, scheuchen die Schüler mit knappen Befehlen zurück in ihre Wohnflügel und versprechen ihnen, dass sie ihr legendäres Liebespaar in den kommenden Wochen noch ausreichend feiern können. Ich höre nur halb hin, denn gleichzeitig setzen sich die Mitglieder des Ballkomitees in Bewegung und kreisen uns von allen Seiten ein.

Ihre Bewegungen sind anders als die der Souffleure und Souffleusen. Nichts daran ist so perfekt synchron, als wäre es von einer höheren Macht gesteuert. Manche wenden ihre Köpfe kurz woandershin, andere zupfen an ihrer braunen Kapuzenkutte, einer schlurft, ein anderer hinkt. Es sind gewöhnliche Menschen, und dennoch flößen sie mir mehr Furcht ein, als die unnatürliche Reglosigkeit der Souffleure und Souffleuse es jemals getan hätte.

Rhyme dreht sich ihnen entgegen, ohne mich dabei loszulassen.

Lorenzo tritt in den Kreis. »Es ist euch nun gestattet, den Diamantturm zu betreten. Selbstverständlich ausschließlich in den euch zugewiesenen Bereichen. Ihr dürft euch tagsüber weiterhin unter Aufsicht sehen, aber die Nächte verbringt ihr so lange getrennt, bis ihr das heilige Sakrament der Ehe empfangen habt. So wie es seit eintausend Jahren geschieht.«

Ich schnaufe spöttisch. »Ein bisschen spät für prüde Regeln, finden Sie nicht? Ich nehme an, der Rosenwein ist auch gestrichen?« Seit vier Monaten ist es das Ziel des Ballkomitees, dass sich ein Liebespaar aus den Häusern Montague und Capulet hemmungslos ineinander verliebt. Dafür haben sie uns auf den Bällen nicht nur den legendären Rosenwein trinken lassen, der Hemmschwellen noch stärker senkt als Alkohol, sondern uns sogar manipulative Kekse und Seifenblasenluft untergejubelt. »Sich jetzt noch als Moralapostel aufzuspielen, ist doch lächerlich«, füge ich mit einem Schnauben hinzu.

Ich kann Lorenzos Mimik unter der Maske nicht sehen, aber seine Stimme hört sich nach einem kalten Lächeln an. »Nun, es dürfte zumindest die Vorfreude steigern, nicht wahr?«

»Die Vorfreude auf was?«

Seine Augen blitzen in den kreisrunden Löchern der Maske auf. »Auf das vierte Ritual, versteht sich.« Er muss mir ansehen, dass ich keine Ahnung von den Ritualen habe, denn er lacht unter seine Maske auf und kickt das dünne Theaterheftchen, das ich vorhin achtlos habe fallen lassen, über den Edelsteinkies vor meine Knie. »Du solltest deine Liebste ein wenig aufklären, Schlangenfürst.«

Rhyme erhebt sich und stellt sich Lorenzo herausfordernd entgegen. »Jemandem bewusst Informationen zu verweigern und sich danach über dessen Unwissenheit lustig zu machen, zeugt von einem – wie würden Sie das ausdrücken? – recht schmalgeistigen Charakter.«

Lorenzo ballt seine Fäuste.

Ich kann mir nur schwer ein Grinsen verkneifen. In staubigen Bibliotheken unterrichtet worden zu sein, hat Rhymes Wortschatz definitiv auf ein Level gehoben, auf dem er es mit Lorenzos geschwollenem Gefasel aufnehmen kann.

Punkt für dich, Liebster.

»Dann lasst euch beide nun ein wenig aufklären«, erwidert Lorenzo giftig. »Da es euch so ein Bestreben ist, die Rollen zu tauschen, werden wir eurem Wunsch gerne nachkommen. Ihr werdet die Zimmer tauschen, die ursprünglich für euch vorgesehen waren. Joy bekommt das des Jungen, Rhyme das des Mädchens. Für eure Generation dürfte das gewiss kein Problem sein, nicht wahr? Seid ihr nicht alle gleich?«

Sein Spott ist nicht zu überhören.

»Okay, Boomer«, murmle ich und raffe mich vom Boden auf.

Rhyme dreht sich zu mir und hält mir die Hand hin. Als sich unsere Blicke treffen, zuckt ein Lächeln um seine Mundwinkel, das nicht ganz zu dieser Situation passen will. So als könnte er es einfach nicht zurückhalten, sobald er mich ansieht. »Ich gebe sie dir nur, um höflich zu sein.«

Zuerst verstehe ich nicht, dann fällt es mir wieder ein. Genau das hatte Rhyme damals im Speisesaal zu mir gesagt, als ich kaum einen Tag hier und alles noch neu für mich war. An jenem Abend trug ich Poetrys glitzernde Mörderstiefel, und er bot mir zum ersten Mal seine Hand an.

»Und ich nehme sie nur, um höflich zu sein«, wiederhole auch ich meine exakten Worte und lasse mich lächelnd von ihm hochziehen. Im Gegensatz zu damals lässt er mich danach aber nicht mehr los. Schmetterlinge flattern in meinem Bauch, denen es vollkommen egal zu sein scheint, wie unmöglich solche Gefühle in diesem Moment sein sollten.

Dieser Junge will mich heiraten, zuckt es durch meine Gedanken.

Ein Teil von mir würde am liebsten darüber lachen und ungläubig den Kopf schütteln, weil das absurd für unser Alter ist. Aber ein anderer Teil begreift langsam, wie nah wir möglicherweise vor dem Ende unseres Lebens stehen. Und das allein verändert alles.

Die Schmetterlinge haben das längst verstanden.

Lorenzo betrachtet unsere verschränkten Hände argwöhnisch. »Lasst mich etwas klarstellen. Auf dem Boden des Diamantturms herrscht die Obrigkeit meiner Loge. Hier werdet ihr künftig von meinen Sicherheitsleuten bewacht – und diese sind weder den Befehlen von Graf und Gräfin unterstellt«, sein Blick schwenkt von unseren Händen hinauf zu Rhyme, »noch den Fürsten.«

Rhyme verengt seine Augen. »Das ist der wahre Grund für diesen Turm, nicht wahr? So können Sie Ihre Leute hier in der Akademie einschleusen. Er dient gar nicht dazu, uns aus moralischen Gründen voreinander wegzusperren.«

»Nicht ganz. Ich würde sagen, das ist ein Bonus.« Selbst durch die kleinen, kreisrunden Löcher seiner Maske hindurch kann ich das zufriedene Blitzen in Lorenzos geröteten Augen sehen. »Genug der Fragen. Bringt unsere Julia hinauf in ihr Balkonzimmer, werte Brüder. Ich kümmere mich persönlich um Romeo hier.«

Die anderen elf Mitglieder des Ballkomitees treten auffordernd an Rhyme heran. Trotzdem lässt er mich erst los, nachdem ich ihm zugenickt habe. Sie wollen ihn abführen, aber er drängt sich durch den Kreis der Männer hindurch und marschiert in der stolzen Manier eines Fürsten voraus, sodass sie ihm wie Dienerschaft hinterherlaufen müssen. Ich sehe ihnen nach, bis sie im schmalen Durchgang verschwunden sind, der zum Eingang hinter dem Turm führt.

Meine Finger öffnen und schließen sich.

Schon jetzt vermisse ich die Wärme von Rhymes Hand.

Ich schaue zu Lorenzo. »Können wir es schnell hinter uns bringen?«

Sein Lächeln unter der Maske ist nicht zu überhören. »Ein verständlicher Wunsch, bedenkt man, dass Zeit etwas ist, von dem ihr kaum noch etwas übrig habt.«

Eine leise Angst kriecht in mir empor, aber ich gebe ihm nicht die Genugtuung, das zu zeigen. Er hat recht. Die Zeit läuft mir davon. Allerdings bedeutet das auch, dass ich kaum noch etwas zu verlieren habe.

»Sie haben vorhin meine Frage übergangen, oben auf dem Montaguebalkon«, höre ich mich mit rauer Stimme sagen. »Haben Sie etwas mit dem Tod meiner leiblichen Mutter zu tun?«

»Das war ein Feuer«, erwidert er seidenweich.

»Was eine offensichtliche Lüge ist. Sie war eine Montague und damit immun gegen Feuer.«

»Sie war vor allem ein dummes Kind, das sich mit dem Falschen eingelassen hat.«

Ich stutze. »Heißt das etwa, Sie haben sie gekannt? Wissen Sie, wer mein leiblicher Vater war?«

Einen Moment lang rührt er sich nicht. Der spöttische Glanz verschwindet aus seinen roten Augen und weicht einem schärferen Blick. Dann, wieder ohne auf meine Frage einzugehen, wendet er sich um und marschiert auf das Erdgeschoss des Diamantturms zu.

Ich stapfe ihm mit pochendem Herzen nach.

Vor der Terrassentür zieht er einen mit Diamanten besetzten Schlüssel aus seiner Robe und steckt ihn in das funkelnde Schloss. Die Frontseite des Raums ist komplett aus Glas, aber die blickdichten Vorhänge verhindern, dass man irgendetwas dahinter erkennen kann. Das Schloss öffnet sich mit einem lauten Klicken, so als würden mehrere Bolzen gleichzeitig zurückgefahren. Das erinnert mich an die tresorartige Tür hinter dem Turm, die Cut damals mit einem gestohlenen Code geöffnet hatte. Auch wenn alles hier wunderschön und filigran aussieht – dieser Turm ist ein Gefängnis.

»Vor siebzehn Jahren wurde dieser Raum offiziell zum letzten Mal betreten«, sagt Lorenzo, ohne sich nach mir umzudrehen. »Aber selbstverständlich haben wir ihn reinigen lassen. Du wirst dich wohl darin fühlen. So weit das möglich ist.«

Er schnaubt spöttisch und hält mir die Tür auf.

Ich zögere einige Herzschläge lang, doch schließlich lässt mich meine Neugier einen vorsichtigen Schritt über die Schwelle setzen. Der Turm ist sehr alt, aber es muss versteckte moderne Technik geben. Die blickdichten Vorhänge werden automatisch mit einem leisen Surren zurückgefahren, und das Licht über mir schaltet sich in kleinen Lichterspots ein. Mein erster Gedanke ist: Haben sie die Rosen über die Jahrhunderte hinweg wuchern lassen?

Dann begreife ich, was ich wirklich vor mir sehe.

Wie der Ewige Garten ist auch dieser Raum mit Edelsteinpflanzen verziert worden. Nur sind diese sehr viel größer. Aus einem mit groben Rosenquarzbrocken bedeckten Boden schießen dicke Dornenranken empor zur Zimmerdecke, so dicht aneinandergesetzt, dass man kaum hindurchgehen kann, ohne sich an den Dornenspitzen aufzukratzen. Etwa drei Meter über mir enden sie in riesigen Rosenblüten, von denen ich nur die Unterseiten sehen kann. Zusammen bilden sie eine lückenlose Decke, die jeglichen Blick in das darüberliegende Balkonzimmer verwehrt.

Ich fühle mich schlagartig sehr klein hier drin.

Lorenzo schließt die Tür so knapp hinter mir, dass sie mir einen Schubser nach vorne verpasst. Mein Arm schießt zur nächsten Dornenranke, um mich abzufangen, und zuckt sofort wieder zurück, als ich mich an ihr schneide. Ich wirble mit klopfendem Herzen herum. Ein Blutstropfen läuft mir über den Ellbogen herab und fällt auf die Rosenquarzbrocken am Boden. Lorenzo sieht mir ungerührt durch die Scheibe entgegen, während er den Schlüssel umdreht und mich in diesem Raum einsperrt. Jetzt fühle ich mich nicht nur klein, sondern wie ein Vogel in einem gläsernen Käfig.

Durch das Glas hindurch ist Lorenzo nur noch gedämpft zu hören. Seine schneidende Belustigung ist allerdings unverkennbar. »Dieser Raum wurde so gestaltet, um die Romeos der vergangenen Jahrhunderte körperlich zu schwächen. Du musst wissen, dass es für gewöhnlich die Männer waren, die in ihren letzten Wochen gegen uns aufbegehrten, während die Mädchen vor allem hübsch aussahen.«

Er will mich ärgern.

»Dann werde ich wohl aufbegehren müssen«, kontere ich herausfordernd. »Rhyme ist ja zum Glück hübsch genug für uns beide.«

Lorenzo lacht nur und nickt zur Zimmerdecke hinauf. »Also dann, gute Nacht. Genieße die Leiden eines jungen Mannes, der sich nach der Blume seiner Liebsten verzehrt.«

»Soll das eine sexuelle Anspielung sein? Heutzutage kann man offen darüber reden, wissen Sie? Die Zeit der Blümchen und Bienen ist vorbei.«

»Die Zeit der Blümchen und Bienen wird erst dann kommen, wenn wir es so wollen.« Ob sich seine Mimik ändert, kann ich unter seiner Holzmaske nicht sehen, doch mir entgeht nicht, dass sich seine Hand fest um den Schlüssel ballt. Er zieht ihn mit einem Ruck ab und marschiert mit flappender Kutte davon.

Ich presse mich gegen die Scheibe. »Julia Capulet war eine äußerst interessante Persönlichkeit, finden Sie nicht? Manche behaupten, sie hätte gewusst, wie man den Fluch brechen kann!«

Lorenzo bleibt wie angewurzelt stehen.

KAPITEL 4

Mehrere wilde Herzschläge lang bereue ich meinen spontanen Ausruf.

Verrate ich Lorenzo damit nicht zu viel?

Dann allerdings wendet er sich so verkrampft zu mir um, dass ich sofort weiß: Ich habe einen Nerv getroffen. Er braucht einige Sekunden, um seine Antwort zu finden. Sekunden, die eine glühende Gewissheit in mir aufkommen lassen.

Poetry lag richtig!

Julia muss der Schlüssel sein.

Und Lorenzo weiß das.

»Du sprichst von Julia Capulet, als hättest du sie gekannt. Aber wenn ich dein Schauspiel vorhin richtig interpretiere, hast du das Theaterstück noch nicht mal gelesen.« Leider trifft Lorenzo damit voll ins Schwarze. Ich werde das schleunigst ändern müssen. »Und falls du es doch noch tun wirst«, fügt er hinzu, als hätte er meine Gedanken durchschaut, »dann wirst du eines sehr schnell feststellen: Julia Capulet war genauso, wie wir sie haben wollten.«

Damit rauscht er herum und stapft mit fliegender Kutte durch das Rosentor, wo die anderen Mitglieder seiner Loge bereits auf ihn warten. Das dicht verwachsene Gittertor wird hinter ihm von zwei Wachleuten geschlossen und bewacht. Wenigstens positionieren sie sich außerhalb, damit sind Rhyme und ich hier drinnen unbeobachtet.

Es wird still um mich herum.

Still genug, um Rhymes Stimme von irgendwoher zu hören. »Joy? Bist du da unten? Siehst du einen Treppenaufgang?«

Mit klopfendem Herzen drehe ich mich zum Zimmer um. Falls man es überhaupt so nennen kann. Es ist eher ein lebendig gewordenes Kunstwerk, etwas, das man bestaunen und bewundern kann. Aber kein Ort, an dem man eine Nacht verbringen möchte. Es gibt kein Bett. Noch nicht mal ein Stückchen glatten Fußboden, auf dem man sich ausstrecken könnte. Die Quarzbrocken sind so grob, dass man sich zwischen den Rosenranken unmöglich hinlegen kann. Nicht mal Hindurchgehen ist ohne Weiteres möglich, jedenfalls nicht, ohne sich überall aufzukratzen. Das meinte Lorenzo also damit, dass sie die Romeos der vergangenen Jahrhunderte körperlich schwächen wollten. Sie raubten ihnen den Schlaf.

Ich biege mich um eine funkelnde Rosenranke herum und schiele zum hinteren Teil des Raums. In einer mit glitzernden Mosaiksteinchen besetzten Wand befindet sich eine Öffnung. »Ich glaube, dahinten ist eine Treppe. Warte einen Moment, das könnte ein bisschen dauern …«

Noch immer bin ich barfuß vom Duell, und mich mit blanken Zehen über die harten Quarzbrocken hinwegzutasten, erfordert einiges an Geschick. Ich kratze mir die Ellbogen an den riesigen Dornenspitzen auf und verheddere meine Haare darin. Trotzdem schaffe ich es, auf die andere Seite zu kommen, ohne auch nur den geringsten Protestlaut von mir zu geben.

Der Treppenaufgang ist deckenhoch, aber so schmal, dass bloß eine Person hindurchpasst. Auf den knappen und sehr steilen Stufen haben nur meine Fußballen Platz. Sie führen in einem engen Bogen hinauf in den ersten Stock und enden an einem weißgoldenen Gitter aus dicht ineinander verschlungenen Rosenranken. Dahinter kann ich Rhymes groben Umriss ausmachen. Er hat seine Finger durch die winzigen Öffnungen geschoben.

Ich laufe zu ihm und möchte meine darüberschieben, aber dafür reicht der Platz nicht aus. Es gibt nicht mal einen Absatz, auf dem ich bequem stehen bleiben könnte. Diese Treppe wurde so konstruiert, dass man es nicht lange auf ihr aushält. Ich kann nur auf meinen Zehen balancieren und Rhymes Fingerspitzen berühren. Vom Raum hinter ihm sehe ich so gut wie nichts. »Hast du auch ein Dornenzimmer?«

Er blickt über die Schulter, als hätte er sein Zimmer noch gar nicht richtig angesehen. »Nein, ich habe wohl das Rosenzimmer bekommen. Sogar das Doppelbett ist eine riesige Blüte.«

»Du hast ein Bett?«

Er wendet sich zu mir. »Du etwa keins?«

Ihm zu sagen, dass mein Zimmer da unten wahrscheinlich dafür sorgen wird, dass ich in den kommenden Wochen kaum ein Auge zumachen werde, würde weder Rhyme noch mir in diesem Moment helfen. Also verrate ich ihm ein anderes Stück der Wahrheit. »Lorenzo hat gesagt, mein Zimmer wäre dazu gedacht, mich nach der Blume meines Liebsten zu verzehren.«

Rhyme kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Und? Verzehrst du dich schon?«

»Und wie.«

Ich lehne meine Stirn ans Gitter. Rhyme tut auf der anderen Seite dasselbe, aber ich kann nur ein paar seiner Haarsträhnen spüren, die mich durch die Lücken hindurch kitzeln. Unsere Fingerspitzen sind das Einzige, was wir aneinander berühren können.

Die Kraft in den Zehen geht mir aus, und meine Beine fangen an zu zittern. Ich löse mich vom Gitter und sehe mich nach einer anderen Position um, doch nicht mal Hinknien ist auf diesen knappen Stufen möglich. Ein dumpfer Schmerz zieht meine Waden empor. Obwohl ich mir nichts anmerken lassen will, stößt ein leises Keuchen aus mir hervor.

Rhyme krallt sich ans Gitter. »Ich werde morgen verlangen, dass wir die Zimmer tauschen.«

»Wieso?«, presse ich hervor. »Ist doch gemütlich hier.«

»Du solltest runtergehen und dich ausruhen. Es ist schon spät.«

Die Rosenquarzbrocken da unten werden wohl kaum bequemer sein.

Aber das sage ich Rhyme nicht. Das Brennen in meinen Füßen wird unerträglich, lange werden das meine Muskeln nicht mehr durchhalten. Trotzdem versuche ich mich ihm zuliebe an einem Scherz. Ich lasse meine Stimme unbeschwert klingen. »Eines muss man dem Ballkomitee lassen: Ihr Konzept geht tatsächlich auf. Ich wollte noch nie so sehr mit dir ins Bett wie jetzt.«

Eigentlich hatte ich erwartet, dass Rhyme das witzig findet.

Aber er lacht nicht. Nicht mal in der lautlosen Capuletversion.

Er sagt gar nichts.

Er … lässt mich los und geht vom Gitter weg!

»Rhyme?!«, rufe ich ihm leicht panisch hinterher. »Das sollte ein Scherz sein! Ich meine, nicht nur ein Scherz. Ich würde wirklich gern mit dir ins Bett … äh … Also, jedenfalls irgendwann. Du weißt schon, wenn das Timing passt und wir beide es wollen. Ich hab in letzter Zeit oft darüber nachgedacht. Also, es mir vorgestellt …«

»Bitte hör auf zu reden«, brummt eine finstere Stimme im Hintergrund.

»Cut?!«

Ich falle fast die Treppe runter.

Meine zitternden Fußgelenke knicken ein, und ich schlittere ein paar Stufen abwärts, bis ich mich an den Kanten festhalten und wieder hochkrabbeln kann. Oben presse ich mich ans Gitter, um in den Raum dahinter blicken zu können.

Von irgendwoher sind Tear und Stage aufgetaucht und klammern sich an Rhyme fest. Tear wischt sich eine Träne nach der anderen vom Gesicht. Ihre Dutts haben sich gelöst, und ihre schlangengrünen Haare fallen in sanften Wellen bis über ihre Schultern herab. Stages Gesicht kann ich nicht sehen, denn er steht mit dem Rücken zu mir gewandt da. Aber das Aufblitzen der Diamanten in seinen Rastas verrät mir, dass sich sein Oberkörper vor stillen Schluchzern schüttelt.

Cut weint natürlich nicht.

Er tappt mit seinem goldenen Raubtierblick auf mich zu.

Ich presse meinen Mund an die Lücken. »Wie kommt ihr hier rein? Wo habt ihr die ganze Zeit über gesteckt?«

Cut bleibt dicht vor dem Gitter stehen und zieht eine Augenbraue hoch. »Schon vergessen, dass ich die geheimen Zugangscodes des Diamantturms kenne? Wo warst du damals nur mit deinen Gedanken, als ich dir das verraten habe?«, zieht er mich auf. Eine Anspielung auf unser erstes und einziges Date. Unsere Küsse auf den Bällen danach waren nur vorgetäuscht – jedenfalls von meiner Seite. Kurz vor dem Duell hat Cut mir verraten, dass er noch immer in mich verliebt ist. Meine Wangen werden heiß, als er grinsend ergänzt: »Und um deine zweite Frage zu beantworten: Wir waren oben auf dem Turm. Stellt sich als ziemlich gutes Versteck heraus, wenn unten gerade eine Show läuft, die alle Blicke auf sich zieht. Geh vom Gitter weg, sonst ist deine Nase ab.«

Er bedient ein Tastenfeld an der Wand. Ich weiche ein paar Stufen nach unten zurück und wippe ungeduldig auf den Fußballen, um den Schmerz darin erträglicher zu machen. Ein leiser Signalton ertönt, dann gleitet das Gitter geräuschlos zurück in die Wand. Ich stürze so schnell hindurch, dass ich mit der Schulter daran hängen bleibe und gegen Cut taumle. Er fängt mich auf, lässt mich aber sofort los und weicht mir aus. Bevor ich den Ausdruck in seinem Gesicht sehen kann, umarmt mich Stage so überschwänglich, dass meine Füße vom Boden abheben.

»Es tut mir leid«, stößt er atemlos hervor. »Ich wollte mich im Duell nicht gegen dich stellen, aber ich konnte Rhyme nicht einfach so in sein Verderben laufen lassen. Es tut mir so leid, Joy, ich schwöre es.«

»Hey, schon okay«, flüstere ich zurück. »Das weiß ich doch.«

»O Joy.« Tear läuft zu uns rüber und wirft ihre langen Arme um uns.

Stage drückt uns beide an sich und reckt seinen Kopf zu Rhyme, der uns mit einem stolzen, aber auch traurigen Lächeln beobachtet. »Komm auch her. Gruppenumarmung. Na los, beweg deinen Hintern, Schlangenfürst.«

Rhyme umarmt uns alle drei.