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Liebe ist … was nach dem Happy End passiert! Viki und Jay sind das Traumpaar, das auch nach Monaten noch auf Wolke sieben herumschwebt. Endlich ist alles gut, endlich hat Viki jemanden gefunden, dem sie vertrauen kann, der ohne Wenn und Aber zu ihr steht. Doch dann findet Viki heraus, dass Jay seine WhatsApp-Nachrichten direkt nach dem Lesen löscht. Manchmal duscht er mitten am Tag, oder wechselt seine Klamotten, wenn er nach Hause kommt. Und das tut doch nur jemand, der etwas zu verbergen hat. Oder? Jay lügt sie an. Sie streiten sich. Das passiert nicht wirklich, oder? Macht Jay alles, was sie hatten, einfach so kaputt?
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Seitenzahl: 430
Sabine Schoder
So was passiert nur Idioten. Wie uns.
FISCHER E-Books
Für Mama, die mir mitten in der Nacht eine Nachricht schrieb.
Und für Bär, der mit mir tanzt.
Prolog
Vor neun Tagen wachte Jay im Krankenhaus auf. Viel konnte er nicht sagen, weil seine Lippen von der Narkose halb betäubt waren. Doch die wenigen Worte, die er aus seinem Hals quetschte, machten seinen Eltern deutlich, dass sie mich von seinem Zimmer fernhalten sollten. Natürlich erinnere ich mich an das Versprechen, das ich ihm vor einem Monat geben musste: Ich will, dass du mich danach nie wiedersiehst. Mir war bloß nicht klar, wie bitterernst er das meinte.
Bevor Jays Mutter Diana heute Morgen zum Krankenhaus fuhr, habe ich ihr meine Handynummer aufgeschrieben. Nur für den Fall, dass Jay sie nach seiner Operation vergessen hat. Ich wich ihrem mitleidigen Blick aus, als sie den Zettel entgegennahm und mir versprach, sie würde mit ihm reden. Bisher hat er nicht angerufen.
Den ganzen Tag liege ich schon in seinem Bett und starre aus dem Fenster. Mit dem Morgengrauen kroch die Sonne durch die Scheibe und schmolz den Raureif von den Kletterrosen. Ihre hellen Finger tasteten durch den Raum, glitten über die dunkelblaue Bettdecke hinweg und kitzelten mich von den Füßen aufwärts. Bis sie mein Gesicht erreichten, ich die Augen zusammenkniff und mich wegrollte, um meine Nase im Kissen zu vergraben und mich an Jays Duft zu erinnern.
Inzwischen ist es wieder dunkel. Der Winter hat den Tag verschluckt, obwohl es gerade mal siebzehn Uhr ist. Die kahlen Zweige der Rose kratzen ans Glas, als würden sie mich bitten, sie hereinzulassen und vor einer weiteren Nacht in der Kälte zu bewahren. Allein ihr Anblick lässt mich frieren.
Ich kuschle mich näher an Kid, der nicht mehr von meiner Seite weicht, seit Jay fort ist. Das weiche Hundefell schmiegt sich an meine kalten Hände und tröstet mich mit seiner Wärme. Autoscheinwerfer erleuchten die Zimmerdecke, Kids Schlappohren springen auf und begleiten das Brummen, bis es am Haus vorbeifährt. Er seufzt. Auch er sehnt sich danach, dass Jay endlich durch die Tür platzt und uns beide in seine Umarmung reißt.
Ich habe keinen Hunger mehr. Die Einsamkeit hat meinen Bauch ausgehöhlt und eine leere Hülle zurückgelassen, die schon beim Gedanken an Nahrung in sich zusammenfällt. Aber der Hund muss hungrig sein, also raffe ich mich auf, schüttle Lebendigkeit in meine eingeschlafenen Glieder und tappe über die Holztreppe nach unten. Kid springt mir hinterher, drängt sich zwischen meinen Beinen durch und wirft mich beinahe von den Stufen. In der Küche öffne ich eine Dose für ihn und schabe das Futter in eine von Dianas kostbaren Glasschüsseln. Für einen Moment blickt Kid unschlüssig zu mir hoch, als wollte er mich fragen, ob ich zuerst reinhauen will. Ich nicke ihm zu, und er verschlingt sein Menü in Rekordzeit. Vielleicht ist er ja ein Kummerfresser.
Die Küche der Ferettys blitzt wie eine Hollywoodphantasie. Lichterspots an der hohen Decke, sandfarbener Naturstein auf dem Boden und eine Kücheninsel so groß wie ein Kleinwagen, umrundet von edlen Barhockern, auf denen fast nie jemand sitzt. Ich schiebe meinen Hintern aufs Leder und greife nach einem Block, der auf der hellen Marmorplatte liegt. Das oberste Blatt ist unbeschrieben, doch wenn man genau hinsieht, erkennt man die letzte Einkaufsliste von Jays Vater, die sich durchs Papier gedrückt hat. Ich schraffiere mit dem Bleistift darüber, wie ich es in tausend Krimiserien gesehen habe, und lege nacheinander Rosenkohl, Zwiebeln, Rotwein und Pudding für Jay frei.
Plötzlich entstehen noch andere Worte, neue Begriffe, die meine Hand aufreiht und zu Sätzen verknüpft. Ich werde deinen Wunsch respektieren und dir die Zeit lassen, die du brauchst, steht da. In energischen Buchstaben folgt: Wenn du zu lange brauchst, scheiß ich drauf, marschiere ins Krankenhaus und stelle ein für alle Mal klar, dass du mich nicht einfach so in dein Herz schließen kannst, nur um mich danach eiskalt wieder rauszuwerfen.
Ich vermisse dich so …
Meine Stirn knallt auf die Tischplatte. Ich bin ein hoffnungsloser Fall! Wenn nur Mel hier wäre, um mir einen Tritt in den Hintern zu verpassen, mich mit Schokolade aufzupäppeln und zurück ins Leben zu schleifen. Seit einer Woche fehle ich in der Schule und verstecke mich lieber im Haus der Ferettys, die schlichtweg zu nett sind, um mich rauszuschmeißen. Oder zu abgelenkt von ihrem achtzehnjährigen Sohn, der gerade versucht, sich das Essen ein zweites Mal beizubringen.
Das Handy in meiner Hosentasche klingelt und schreckt mich auf. Doch es ist nicht Mels Gesicht, das mir vom Display entgegenstrahlt, um mich aus meinem finsteren Loch zu zerren. Sondern eine Nummer, unter der ich kein Bild gespeichert habe: Dianas.
Ich klatsche mir das Handy ans Ohr: »Geht’s ihm gut?«
Kurzes Zögern. »Ihm geht’s gut, ja.«
Es ist nicht Diana. Es ist eine Stimme, die mich um elf Tage zurückwirft, ins dunkle Vorzimmer einer Bar. Wo mein Freund auf dem Boden liegt und zu mir sagt: »Viki, lass … mich … nicht …«
Was? Was wolltest du mir sagen? Elf Tage lang habe ich seine letzten Worte aufgesagt, ein ewiges Mantra in meinen Gedanken, damit ich sie um Himmels willen niemals vergesse.
»Jay?« Und plötzlich sind sie da. Die Tränen. Sie sprudeln innerhalb meines Kopfes, füllen den Raum hinter den Augäpfeln, blähen die Schleimhäute und verstopfen meinen Hals. Seit mich Diana im Krankenhaus in ihre Arme genommen hat, seit all diese Traurigkeit ihren Weg an die Oberfläche fand, habe ich keine natürliche Abwehr mehr dagegen. Ich schluchze auf und schlage mir eine Hand vor den Mund, damit er mich nicht hört.
»Ich hätte früher anrufen sollen«, sagt er.
Es ist fast drei Jahre her, dass ich mich zum letzten Mal davor gefürchtet habe, meine Wohnungstür zu öffnen. Die Angst kriecht unterm Türschlitz durch, gleitet über den Teppich und klammert sich um meine Fußgelenke. Ich wage es nicht, Licht zu machen, weil es meine Anwesenheit verraten würde. Wenn ich ganz still bleibe, nicht einmal atme, dann geht er vielleicht …
Er hämmert an die Tür. Oder direkt auf mein Trommelfell, denn mein Körper zuckt zusammen, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. In meiner Vorstellung lauert da draußen ein Mann. Ich sehe ihn deutlich vor mir, diesen Kerl im verschwitzten Arbeitsoverall, dessen Atem stets nach Bier riecht. Der sein Versprechen von damals bricht, mich für immer in Ruhe zu lassen. Der ausgerechnet heute zurückkommt, weil er irgendwie gerochen hat, wie verwundbar ich bin. Wie allein.
Es pocht erneut, ein drittes Mal, und erst jetzt registriere ich das Zögern darin. Die Illusion meines Vaters verpufft. Es klingt nicht nach seinen schwieligen Händen, die Mühe damit haben, das Holz zu treffen. Es klingt leicht, viel zu … sanft.
Ich stürze zur Tür und reiße sie auf.
Vor mir auf der Matte steht ein Mädchen mit rotem Lockenkopf, Sommersprossen auf der Stupsnase und einem rosa Kaugummi im Mund, den sie gerade aufblasen wollte. Ich habe kaum Zeit, das subtile Weiten ihrer braunen Augen wahrzunehmen – oder die Vorwarnung darin zu erkennen. Bevor ich auch nur ein Hallo herauskriege, schnellt Melanie nach vorne und stürzt sich in meine Arme.
»Ich hab dich SO VERMISST!«
Ihr süßes Zuckerwatteparfum hüllt mich ein, und ihre Locken kitzeln meine Nase. Sie ist beinahe klein genug, um meinen Kopf auf ihrem abzulegen, und für eine Sekunde bin ich versucht, haargenau das zu tun: in ihrem ureigenen Geruch abzutauchen und mich mit ihrer Nähe zu trösten. Meine Hände schlingen sich von ganz allein um ihre Taille, und aus meiner Kehle löst sich ein zittriger Seufzer.
Das war ein Fehler. Mels quirliger Körper wird augenblicklich still. Genau wie meiner. Ich muss mich zusammenreißen, zurück in meine alte Form finden, meine unverwüstliche Hülle überstülpen und Mel mit meinem Lachen beruhigen. Sie soll sich keine Sorgen um mich machen. Ihr Kummer würde mir nur das Gefühl geben, dass wirklich etwas nicht stimmt. Ich schlucke meine Sentimentalität runter und beschließe, wieder zu mir selbst zu werden.
»Du zerquetschst meine Brust«, keuche ich.
Mel guckt zu mir hoch, ohne ihre Umklammerung auch nur einen Millimeter zu lösen. »Das tue ich tatsächlich, Viki. Ich bin extra von London hierhergeflogen, um dich abzumurksen, denn das tun beste Freundinnen füreinander. Sie verbergen keine Geheimnisse und sind nicht auf irgendwelche Cousins angewiesen, um über fatale Neuigkeiten im Leben der anderen informiert zu werden.«
»Na toll, Phil hat geplaudert.« Ich stoße einen stummen Fluch gen Zimmerdecke. »Hattest du noch Gelegenheit, dich von ihm zu verabschieden? Bevor er mit einbetonierten Füßen im Stadtfluss versenkt wird?«
Mel lässt von mir ab und röstet mich mit ihrem Blick. »Er wird nicht der Einzige mit einbetonierten Füßen sein, wenn du mich nicht sofort hereinbittest und alles beichtest! Ich will jedes gottverdammte Detail! Und einen Café Latte.«
Letzteres nehme ich als Stichwort, um mich in Bewegung zu setzen. Ich schlurfe in die Küche und linse über meine Schulter, nur um festzustellen, dass Mel mir dicht an den Fersen hängt. Vielleicht hätte ich eine Schleife im Bad drehen und versuchen sollen, sie zwischen den schmutzigen Wäschehaufen abzuhängen? Mit etwas Glück hätte sie sogar eine Ladung in die Waschmaschine gestopft, was langsam dringend notwendig wird, immerhin trage ich seit Tagen dasselbe Shirt. Garantiert wäre das besser gewesen, als ihren heißen Atem im Nacken zu spüren, den sie jeden Augenblick sammeln wird, um mich mit Fragen zu löchern.
»Setz dich«, schlage ich vor.
Ihre Augen funkeln listig. »Im Moment bin ich voll und ganz damit zufrieden, an deinem Rockzipfel zu hängen.«
Sie lehnt sich mit verschränkten Armen an die Wand und beobachtet mich dabei, wie ich die Kaffeemaschine einschalte (die Jay gekauft hat), aus dem Schrank darüber eine bunte Sprüchetasse hole (die Jay gekauft hat), zum Kühlschrank marschiere (ein Überbleibsel meines Vaters) und eine Packung Milch herausfische (die ich besorgt habe, Jays Milch ist vor drei Tagen abgelaufen).
Ich fülle den Aufschäumbehälter, drücke die Latte-Taste und seufze in den Lärm der Maschine. Das Bohnenmahlen verlängert meine Galgenfrist, bevor ich erklären muss, warum Cousin Phil meine beste Freundin frühzeitig aus ihrem Londoner Praktikum reißen musste. Was nicht nötig gewesen wäre, immerhin ist keiner gestorben oder so was. Mir geht es blendend. Wenn Phil das nächste Mal hier auftaucht, werde ich seine Finger statt der Bohnen in die Mühle stecken! Und mir geht es blendend.
Ich reiche Mel die Kaffeetasse. »Trägst du die schon mal zum Tisch?«
»Netter Versuch, mich loszuwerden.« Sie schnappt sich den Kaffee und tappt rückwärts von mir weg, ohne mich aus den Augen zu lassen. Demonstrativ hole ich mir eine neue Tasse aus dem Schrank und schiebe sie unter den Automaten, was so viel bedeuten soll wie: Siehst du? Ich bin schwer beschäftigt. Das ist keine billige Zeitschinderei, um mich ein paar Minuten länger vor dem Unausweichlichen zu drücken.
Obwohl mir das Milchaufschäumen weitere kostbare Sekunden schenken würde, beschließe ich, meinen Kaffee ab sofort wieder schwarz zu trinken. So wie ich ihn früher mochte. So wie ich die Jungs mal mochte, dunkelhaarig und düster, bevor ein anderer in mein Leben geplatzt ist, um es mit seinem Lachen auszuleuchten.
»Es wird dir nichts nützen, weiterhin auf die Küchenschränke zu starren«, droht Mel vom Tisch aus. »Ich presse die Wahrheit sowieso aus dir heraus. Betrachte dich als Orange, die in einen Entsafter rollt.«
»Das Ergebnis könnte bitter schmecken«, warne ich sie.
Mit hängenden Schultern schleppe ich mich zum Küchentisch. Ich freue mich, als mein Knie gegen die Kante stößt und heißer Kaffee auf den Boden schwappt. Das fühlt sich richtig an, eine logische Fortsetzung der Pechsträhne, die seit einer Woche an mir klebt. Mels Besuch ist das einzig Gute, das mir seit Tagen passiert ist, vielleicht macht mich ihre Anwesenheit deshalb so nervös. Ich gewöhne mich zu schnell an positive Menschen, und wenn sie dann plötzlich weg sind, kommt es mir vor, als hätte jemand alle Lebensfreude unter meinen Füßen weggerissen. Seufzend werfe ich mich auf einen Stuhl, entdecke das Blitzen in Mels Rehaugen und kippe kochende Flüssigkeit in meinen Hals.
»Wo ist Jay?«, fordert sie.
Ich zucke die Achseln. Eine unzureichende Antwort, wie ich an Mels warnendem Fingertrommeln erkenne.
»Bei seinen Eltern?«, rate ich.
»Was hat der Mistkerl getan?«
»Wieso gehst du davon aus, dass er etwas getan hat?« Ich hebe eine herausfordernde Braue. »Vielleicht war ich es?«
Sie verengt ihre Augen. »Als ich vor zwei Monaten abgeflogen bin, wart ihr beide noch das Regenbogenponytraumpaar, das allen auf die Nerven ging, weil eure Verliebtheit wie Goldfunken aus euren Blicken sprühte.«
»Um bei deinem unpassenden Vergleich zu bleiben: Die Funken haben die Ponys in Brand gesteckt, bis nur noch ein Häufchen glitzernder Regenbogenasche übrig war.«
Mel schnaubt so heftig in ihren Latte, dass ein Schaumfetzchen aufwirbelt und direkt auf ihrer Nasenspitze landet. Ohne sich ablenken zu lassen, wischt sie den Schaum ab und schraubt ihre Stimme eine Oktave tiefer. »Okay, reden wir Klartext. Deine Haare sehen aus, als hättest du eine Ölkur aufgetragen und vergessen, sie wieder herauszuwaschen. Wenn ich das mit deinen fleckigen Schlabberklamotten kombiniere, auf denen mindestens drei unterschiedliche Eiscremeflecken eingetrocknet sind, nehme ich an, dass du diese Wohnung seit einer Woche nicht mehr verlassen hast.«
»Das ist lächerlich! Ich war draußen! Wie hätte ich sonst an drei Sorten Eiscreme kommen sollen?«
Sie zieht eine Schnute. »Ich habe für dich die Abschiedsparty verpasst, auf der ich einen ziemlich süßen Londoner vernaschen wollte, der mir jeden Tag eine Packung Gummibärchen in die Tasche gesteckt hat. Vermutlich hätten wir uns ineinander verliebt, geheiratet und eins Komma fünf ziemlich süße Babys bekommen. Du hast meine zukünftigen Kinder auf dem Gewissen!«
Mein Kopf klappt nach unten, und ich kann die Bilder der letzten Woche nicht mehr aufhalten. Jays rot angelaufenes Gesicht, als er sein Handy aus meiner Hand reißt. Meine blutleeren Fäuste, die sich in mein Shirt krallen, weil ich mich an etwas festhalten muss, während mein Leben auseinanderfällt, und sei es auch nur an etwas so Instabilem wie mir selbst. Der Nachhall unseres Streits dreht mir noch immer den Magen um, vor allem dieser eine letzte Satz, der aus meinem eigenen Mund schoss und alles beendet hat.
Appetitlos stoße ich die Tasse von mir, die ein paar Zentimeter über den Tisch schlittert und sich dabei so dreht, dass ich den Spruch darauf erkenne: Lächle. Du kannst sie nicht alle töten. Jay hat sie mir letztes Jahr geschenkt, nachdem von der Hausverwaltung eine Generalsanierung unseres Altbaus beschlossen und mir als Wohnungsbesitzerin eine Rechnung präsentiert worden war, die mich beinahe aus dem Fenster katapultiert hätte. Er zog mich vom Sims, nahm mich in seine Arme und flüsterte in mein Ohr, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Dass wir alles schaffen. Zusammen.
Die Worte fallen wie tot von meinen Lippen. »Ich habe ihn rausgeworfen.«
Wenn dein bester Kumpel nach elf Uhr an einem Donnerstagabend an der Tür klingelt und ein Sixpack Bier in der Hand hält, freust du dich auf einen gemütlichen Drink. Wenn hinter dem Sixpack eine prall gefüllte Sporttasche steht und darüber der Schädel eines haarigen Monstrums hechelt, ahnst du, dass es nicht bei einem Drink bleiben wird.
Ich versuche, das drohende Unheil auszublenden. »Ist der Hund dir nachgelaufen?«
Jay antwortet mit einem finsteren Blick und drückt mir das Bier gegen die Brust, so dass mir nichts anderes übrigbleibt, als gefesselt zuzusehen, wie meine Wohnung geentert wird. Der Hund folgt seinem Herrchen und schnüffelt an einem Müllsack, der schon ein paar Tage neben der Tür verrottet. Ich schiebe seine Schnauze mit dem Fuß weg, während Jay zielgerichtet auf meine Couch zusteuert, seine Tasche in eine Ecke schleudert und sich auf die Kissen wirft. Dabei erwischt er die alte Pizzaschachtel, die am Rand des Tisches balanciert, und streut abgefressene Teigränder auf den Teppich. Bevor ich ihm sagen kann, dass er den Mist vergessen soll, klaubt er die Essensreste zusammen und starrt die Ränder in seiner Hand an, als würde er jeden Moment anfangen zu heulen.
Mein Stichwort, um zu intervenieren. Ich knalle das Sixpack auf den Couchtisch. »Lass uns trinken.«
Jay zerbröselt den vertrockneten Teig, ohne mich anzusehen. Die Krümel rieseln unter seinen Fingern in die Schachtel. »Darf ich hier pennen?«
»So was in der Art habe ich befürchtet.«
»Es ist nur für ein oder zwei Tage.«
Womit wir das geklärt hätten. Erleichtert schlage ich die Kronkorken von zwei Flaschen und reiche ihm eine rüber. Wir stoßen an, schlucken unser Bier und sinken in die Couch. Es dauert nicht mal fünf Minuten, bis unser Schweigen von rhythmischem Stöhnen und dem Quietschen eines billigen Lattenrosts unterbrochen wird. In der Wohnung über uns wird lautstark gevögelt, also taste ich nach der Fernbedienung für die Stereoanlage und drehe die Musik auf, ehe die Stimmung zwischen uns beiden zu romantisch wird.
Ein Seitenblick auf Jays miserable Haltung verdeutlicht mir, dass ich vielleicht was sagen sollte. Selbst mein Müllsack neben der Tür hält sich aufrechter als mein bester Freund, und das, obwohl seine Innereien langsam wegfaulen. Besser, ich erwähne was Erfreuliches. Etwas, das ihn früher aufspringen und auf meinen Kissen hätte tanzen lassen.
»Franky hat uns einen Gig besorgt.«
»Ich hab die Nachricht gelesen«, erwidert Jay tonlos.
Mann, der Kerl ist heute Abend eine harte Nuss. Er glotzt auf den gut sortierten Komposthaufen auf meinem Wohnzimmertisch, der aus sieben Bananenschalen und einer ausgelutschten Tüte Fruchtmus besteht, ohne einen Witz über Cholera zu reißen. Dafür rutscht er tiefer in die Polster und fährt sich zum tausendsten Mal durch die Haare. Falls man den blonden Wischmopp auf seinem Kopf noch so bezeichnen kann.
»Endlich wieder was Großes! Ich habe das Feeling einer vollen Halle vermisst, der Sound ist unvergleichbar. Wie in guten alten Zeiten«, füge ich hinzu, obwohl ich vermute, dass es nie wieder so wie damals wird. Wenn man einen Gehirntumor überlebt, schmeißt man sich keine bewusstseinserweiternden Pillen mehr ein oder schleppt Bräute ab, an die man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann. Stattdessen verliebt man sich in eine …
»Viki hat mich rausgeschmissen.«
… und lässt sich von ihr rausschmeißen.
Ich nehme einen Schluck und versäume es, den Hund davon abzuhalten, auf die Couch zu springen und sich zwischen Jay und mich zu drängen. Er hängt die Zunge raus, hechelt mir lauwarmen Hundefutteratem ins Gesicht und schaut mich erwartungsvoll an. Immerhin ist er für einen Themenwechsel gut.
»Trinkt der Hund Bier?«
Jay tastet nach den Pizzarändern und verfüttert sie an den Köter, damit der mich mit seinem Gesabber in Ruhe lässt. Ich bin wirklich froh, seit über einem Monat nicht mehr gesaugt zu haben, denn es wäre absolute Zeitverschwendung gewesen. Zur Verteidigung des Viehs muss ich allerdings erwähnen, dass er seine Krümel wenigstens von den Polstern schleckt – was man von meinen üblichen Besuchern nicht behaupten kann. Vielleicht ist ein müllfressender Hund ja genau das, was mir bisher gefehlt hat?
Jay lehnt sich nach vorne und nimmt sich eine neue Bierflasche. Ich erinnere mich nicht, wann er das letzte Mal so einen Zug draufhatte. Kombiniert mit der Sporttasche in der Ecke nehme ich an, dass so etwas nur eine gewaltige Beziehungskrise schafft. Wobei ich mir nichts vormache, wir sprechen hier von den Gewinnern der großen Liebeslotterie. Morgen werden die beiden miteinander telefonieren, an einem neutralen Ort übereinander herfallen (der garantiert NICHT meine Couch sein wird), und alles ist wieder in Butter.
»Das wird schon«, sage ich, weil Jays Schweigen mich dazu treibt.
»In letzter Zeit war sie total besessen.«
Ich trinke Bier, in der vagen Hoffnung, dass es als Antwort genügt.
»Sie hat dauernd nachgebohrt, wo ich bin und was ich tue«, fährt er fort. »Warum vertraut sie mir nicht einfach?«
»Reden wir jetzt über deine Gefühle?«, hake ich sicherheitshalber nach. Immerhin sind wir auf vier Flaschen runter, wenn man meinen letzten Schluck nicht mitzählt, und das hört sich nach dem Anfang einer sehr langen Nacht an. Die Tanke an der Ecke hat nur bis zwölf geöffnet, und falls wir zum 24-Stunden-Getränkeladen am Ring fahren wollen, sollte ich halbwegs nüchtern bleiben.
»Musst du morgen Straßen scheuern?« Jay sieht mich über den Hund hinweg an. Das leuchtende Blau seiner Augen, das ihm mehr Mädchenherzen ins Bett befördert hat, als ich Anbaggerversuche hinter mir habe, wird von einem rosa Schimmer überzogen. Früher wäre das ein sicheres Anzeichen für eine berauschende Partynacht gewesen, aber ohne sein breites Grinsen wirkt er bloß traurig. Er seufzt in den Flaschenhals, was das trübselige Geräusch noch verstärkt.
»Ich mache blau«, sprudelt es aus meinem Mund. In fünf Wochen fängt die Uni wieder an, dann bin ich meinen Nebenjob im Straßenverkehrsamt sowieso los. Auch wenn ich die Kohle dringend brauche, um dieses Loch von Wohnung zu bezahlen und mein Gerippe durchzufüttern – für meinen besten Kumpel würde ich einen Monat lang trockene Nudeln hinunterwürgen.
Ich schätze, so etwas tut man für einen Freund, der einem den Zeigefinger in den Hals steckt, bis man die Überdosis Schlaftabletten auskotzt, die eine beschissene Jugend hineinbefördert hat. Vermutlich wollte ich damals gerettet werden, sonst hätte ich wohl kaum mein baldiges Ableben in einer SMS angekündigt – allerdings war ich mir mit fünfzehn keineswegs sicher, ob dieser Kerl, der mich kurz vorher in seine Band aufgenommen hatte, tatsächlich kommen würde. Heute weiß ich es ohne jeden Zweifel. Heute würde ich die Nachttischschubladen meiner Mutter nicht mehr nach Tabletten durchwühlen.
Jay drückt seinen Nacken ins Polster und hypnotisiert die Zimmerdecke. Die Bierflasche wandert im Sekundentakt an seine Lippen. Es ist totale Kraftverschwendung, sie überhaupt abzusetzen, aber ich lasse ihn in Ruhe. Er gehört zu den Leuten, die ihre Sorgen zuerst still mit sich ausmachen müssen, bevor sie damit an die Öffentlichkeit gehen. Was mir nur recht ist, denn ich gehöre zu den verklemmten Idioten, die lieber gar nicht darüber sprechen. Einen Moment lang liebäugle ich mit dem Fernseher, schließlich würde er uns beide auf andere Gedanken bringen, dann halte ich das doch für die falsche Taktik. Jay scheint mit seinem Bier und meiner stummen Gesellschaft zufrieden zu sein. Minutenlang trinkt er schweigend, und ich wiege mich beinahe schon in Sicherheit, bis die dritte Flasche urplötzlich seine Zunge lockert und ich panisch feststelle, dass ich meinen Teil bereits ausgesoffen habe.
»Es gibt keine andere wie sie«, nuschelt er.
Ich springe von der Couch, um mir alkoholischen Beistand zu besorgen, und schrecke den Hund auf. Er bellt so laut, dass es von oben ein paarmal an die Decke knallt. Während ich hinaufschreie, dass ich mich über die Herumvögelei auch nicht beschwere, bringt Jay den Köter zum Schweigen. Nicht mit einem Fußtritt oder gebrülltem Befehl, sondern mit einem liebevoll zugeraunten Schschsch in sein goldbraunes Schlappohr. Fehlt nur noch, dass er das Stinktier für seinen Radau abknutscht.
»Holst du neues Bier?« Jay streichelt den Hund und schaut mit verräterisch glänzenden Augen zu mir, die jeden Moment überschwappen und mich in eine Emotionsflut reißen könnten, gegen die ich alles andere als gewappnet bin.
Ich weiche zurück. »Das sage ich nur ungern, Alter, aber Bier ist keine dauerhafte Lösung. Wenn wir diese Nacht überstehen wollen, brauchen wir auf jeden Fall Whiskey. Bin in fünfzehn Minuten wieder da.«
»VERDAMMTE SCHEISSE!«
Oh … Fuck.
Das Geschrei scheppert in meinem Schädel wie eine Handvoll Glasmurmeln in einer Metalldose. Ich stöhne in meinen Arm, der praktischerweise über meinem Gesicht liegt, und werde davon fast ohnmächtig. Mein Atem riecht, als wäre er an einer Alkoholvergiftung verreckt. Wenn ich einfach auf der Couch liegen bleibe und so tue, als würde ich immer noch pennen, muss ich vielleicht nicht auf Daves Ausruf reagieren? Ich könnte vorgeben, zu besoffen zu sein, um das Fluchen, sein hektisches Herumgekrame und Kids Fiepen wahrzunehmen.
»DAS MISTVIEH HAT AUF MEINE SCHALLPLATTEN GEPISST!«
Shit. Wir haben unseren mitternächtlichen Spaziergang versäumt, ich hätte wissen müssen, dass der Hund es nicht aushält bis … keine Ahnung, wie spät es ist. Ich blinzle durch die Finger und entdecke ein paar Sonnenstrahlen, die es durchs staubige Fenster schaffen. Demselben Fenster, zu dem gerade ein Schatten stürmt, um es aufzureißen und mich mit einer Welle kühler Luft zu überspülen.
»HAST DU GEHÖRT? JAY!«
Damit dürfte ich gemeint sein. Stöhnend rolle ich zur Seite und fühle mich dabei wie ein Stück matschiges Obst, das in einen laufenden Mixer fällt. Der süßlich-faulige Geruch von Daves alten Bananenschalen auf dem Tisch lässt meinen Magen rotieren.
»Diese Schallplatten sind uralt«, bringe ich hervor. »Du kannst dir meine MP3s kopieren.«
Selbstverständlich weiß ich, dass ich mich damit nur noch tiefer reinreite. Denn ich weiß auch, wie sehr Dave an seinen Punkrock-Schallplatten hängt, die er auf Flohmärkten erstöbert. Ich kann nur hoffen, dass ein einziger Urinstrahl nicht viele davon erwischt hat.
Plötzlich klatscht ein feuchtes Handtuch in mein Gesicht. Ich ziehe es herunter und sehe Dave vor mir, der seine Fäuste in die Hüften stemmt und mich anfunkelt wie … Viki.
Das ist der Moment, in dem mir alles wieder einfällt.
Ich überlege ernsthaft, ob dieses Handtuch meinen Mageninhalt auffangen könnte. Vermutlich nicht. Der Cocktail aus Bier und billigem Whiskey würde das Frottee schneller durchweichen, als Dave mir den Schädel einschlagen könnte.
»Ich sollte mal … ins Bad«, murmle ich und raffe mich auf.
Auch ohne genügend Restalkohol im Blut, um mich für den Rest des Tages besser von offenen Feuerquellen fernzuhalten, ist mein Gleichgewichtssinn nicht mehr das, was er früher mal war. Zuerst stoße ich gegen den Tisch, dann an die Couchecke und zu guter Letzt ramme ich den Türrahmen des Badezimmers. Glücklicherweise treffe ich zumindest das Waschbecken.
Diese angenehme Erleichterung, die sich in einem ausbreitet, wenn das Würgen aufhört und der Magen sich beruhigt, überblendet meine Kopfschmerzen. Ich fühle mich fit genug, um zurück ins Wohnzimmer zu marschieren, das Handtuch von der Couch zu klauben und Daves Schallplatten zu betupfen. Die es übrigens weit weniger schlimm erwischt hat, als sein Getue vermuten lässt. Neunzig Prozent der Flüssigkeit ist auf den Boden gesickert, und der Rest lässt sich problemlos von den Hüllen wischen. Nur drei wellen sich minimal an den Rändern, aber seien wir mal ehrlich, das hätte genauso gut auf einer von Daves Partys passieren können.
Kid kriecht unter meiner Achsel durch und leckt mir den Hals ab. Er weiß, dass er etwas Verbotenes getan hat, und es tut ihm leid. Dabei sollte ich derjenige sein, der sich bei ihm entschuldigt. Immerhin war ich es, der gestern Abend Hals über Kopf aus unserer Wohnung gestürmt ist, um mich mit meinem Kumpel zu besaufen und ausgerechnet denjenigen zu vergessen, der immer an meiner Seite bleibt.
Ich kraule ihn hinter den Ohren, bis er wieder mit dem Schwanz wedelt. »Sorry, dass ich dich im Stich gelassen habe, Kleiner.«
Nachdem ich das Handtuch in Daves Wäschekorb entsorgt habe (also im Haufen vor der Waschmaschine), räume ich den gröbsten Mist vom Wohnzimmertisch und trage den Müll in die Küche (beziehungsweise die Besenkammer mit Kühlschrank). Dave kauert auf einem Barhocker in der Ecke, der zwischen dem Fenster und einem Bistrotisch klemmt und seine Küchenmöbel ersetzt. Er frühstückt eine Zigarette, und ich nehme mir auch eine, was er mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert und ich mit einem Schulterzucken abtue. Ich zünde sie an und inhaliere den Rauch, so tief es geht. Meine Lunge zappelt eine Weile, fällt schließlich in Ohnmacht und lässt mich hustenfrei weiterqualmen.
»Du solltest Viki anrufen«, sagt Dave, und ich übersetze es in: Wie lange bleibst du hier?
»Sie war diejenige, die mich rausgeschmissen hat. Sollte nicht sie mich anrufen?«
Dave schnaubt spöttisch. Er kennt Viki beinahe so gut wie ich, was daran liegen mag, dass die beiden sich sehr ähnlich sind. Vor allem was ihre Sturschädel betrifft.
Ich ziehe mein Handy hervor und checke die Nachrichten. Nichts. »Fragt sie sich denn nicht mal, wo ich übernachtet habe?«
Er zündet sich eine weitere Zigarette an.
»Zumindest nach dem Hund könnte sie sich erkundigen«, murmle ich.
Dave schüttelt mitleidig seinen kahlrasierten Kopf. Nur ein paar Millimeter Haare in der Mitte retten ihn davor, wie ein Skinhead auszusehen. Er sollte sich dringend den Irokesen einfärben, bevor ihm jemand eine Bomberjacke und Springerstiefel verkauft.
»Warum ruft ihr beide sie nicht an?«, schlägt er vor. »Draußen im Park, bei einer ausgiebigen Pissrunde?«
Ich klemme mir die Kippe in den Mundwinkel und streichle den Wuschelkopf, der unterm Tisch auftaucht. Kids große Kulleraugen verraten mir, dass ihm der Vorfall mit den Schallplatten immer noch nachhängt und er außerdem gerne was zu fressen hätte.
»Wie wär’s mit einem Würstchen?« Er hechelt erwartungsvoll in mein Gesicht. »Und einem langen Spaziergang? Mit Abstecher in die Bäckerei? Wo wir Daves heiß geliebte Schokoladendonuts erwerben?«
Dave funkelt mich über seine qualmende Zigarette hinweg an. »Du wirst mich damit nicht weichklopfen, kapiert? Morgen Abend seid ihr verschwunden.«
»Predigst du nicht andauernd, dass man Weibern nicht hinterherlaufen soll?« Ich blecke herausfordernd die Zähne, weiter schafft es mein Lächeln nicht.
Er kraust die Stirn. »Wieso übernachtest du nicht bei deinen Eltern? Meine ganze Wohnung passt in deren Küche.«
»Das ist absolut übertrieben. Ins Wohnzimmer vielleicht …«
»Jay.«
Ich widme mich Kid, dem einzigen Wesen im Raum, das mich nicht mit vorwurfsvollen Blicken durchbohrt. Ein Mann und sein Hund. Das nennt man wahre Liebe.
»Eventuell habe ich einen kleinen Kredit aufgenommen, um die Sanierung von Vikis Wohnhaus zu finanzieren, was meine Eltern möglicherweise etwas voreilig fanden, immerhin bin ich erst zwanzig, und die Beziehung könnte jederzeit auseinandergehen …«
Er grunzt amüsiert. »Du hast Schiss, es ihnen zu beichten.«
Ich drücke die Zigarette in den überquellenden Aschenbecher und greife nach Kids Halsband. »Es gibt nichts zu beichten. Wie du gestern gesagt hast, das wird schon wieder. Sie meldet sich bei mir. Spätestens morgen.«
»Hast du ihn in der letzten Woche überhaupt mal angerufen?«
Wenn man seit fünf Jahren mit Viktoria Stein befreundet ist, weiß man Folgendes: Sie ist ein Meister darin, unangenehmen Fragen auszuweichen und so zu tun, als würde ihre Welt nicht gerade untergehen. In solchen Situationen heißt es, keinesfalls lockerlassen und feinfühlig nachbohren.
Viki starrt auf ihre Kaffeetasse, als könnte der Inhalt jeden Moment zum Leben erwachen und aus dem Fenster hüpfen. Unter ihren Augen hängen tiefe Schatten, und ihre dunkelbraunen Haare fallen strähnig über ihr Gesicht. Wenn ich sie nicht bald zurück ins Tageslicht zerre, verwandelt sie sich in eines dieser Monster, die japanische Regisseure gern aus Fernsehern klettern lassen.
»Er hat sich nicht bei mir gemeldet.«
»Das war nicht die Frage, Viki.«
»Ich habe niemanden angerufen.« Ihr Blick flackert zu mir hoch, ehe er erneut abstürzt und auf dem Tisch kleben bleibt. »Nicht mal dich. Ich wollte dir dein Praktikum nicht versauen. Hätte Cousin Phil mich nicht an der Kasse im Supermarkt in die Enge getrieben und mit einem Schreikrampf gedroht –«
»Würde ich jetzt einen Kater ausschlafen«, seufze ich. »Und mir von meinem zukünftigen Ehemann Gummibärchen in die Frühstücks-pfannkuchen backen lassen, bevor er wie ein britischer Gentleman um meine Hand anhält.«
Ein schmales Lächeln wandert auf ihr Gesicht. »Ich kann dir Pfannkuchen backen.«
»War das ein Antrag?« Ich grinse, und ihre Miene erhellt sich. Es ist nicht viel, das Aufblitzen der Sonne am Rand einer Gewitterwolke, doch es ist ein Anfang. Plötzlich brennen Tränen hinter meinen Augen, und mir wird klar, wie sehr ich sie in den letzten zwei Monaten vermisst habe. Ich springe auf und falle ihr ein zweites Mal an diesem Morgen um den Hals. »Ja, ich will!«
Sie tut so, als würde sie ersticken, allerdings höre ich die Zufriedenheit in ihrer Stimme. Viki ist nicht der Typ, der mit liebevollen Floskeln um sich schmeißt, aber dafür schenkt sie mir etwas viel Wertvolleres: echte Freundschaft. Sie macht sich von mir los und hebt herausfordernd eine Augenbraue. »Da wir nun offiziell verlobt sind, muss ich dich flachlegen, oder?«
Mein Lachen hallt durch den Raum. »Nein, es bedeutet, ich halte dich bis zur Hochzeitsnacht hin, in der ich dich unauffällig abmurkse, um an deine Millionen zu gelangen.«
»Falls du die Millionen von Kellerasseln meinst, die sich unter der Spüle rumtreiben …« Sie deutet mit dem Daumen zur Küchenzeile. »Ich hab mein Bestes gegeben, aber sie lassen sich einfach nicht für den Abwasch dressieren.«
Ich schüttle mich. »Dann doch lieber Frühstück.«
Ihr Blick wandert zu den leeren Näpfen unterm Fenster, und ein Schatten huscht über ihr Gesicht. »Eine Woche lang habe ich mich durch sämtliche Vorräte gefressen. Ich fürchte, es ist nicht mehr viel da, außer einem Sack Hundefutter.«
Viki war nie ein Hundemensch, und sie beschwert sich mit Inbrunst über schmutzige Pfotenabdrücke und Haarbüschel in der Badewanne, am liebsten, wenn Jay in der Nähe ist. Weil er dann zu ihr rübergeht und ihr einen dicken Schmatzer auf ihre Wange setzt. Aber heimlich verfüttert sie kiloweise Hundekekse an Kid und massiert ihn mit den Füßen. Ihr dumpfer Tonfall macht deutlich, wie sehr sie die beiden vermisst.
»Wir könnten dich saubermachen, anständig anziehen und in der Innenstadt brunchen?«, schlage ich vor.
Sie rafft sich auf und legt ihre Finger an die Fensterscheibe. Von meinem Platz aus erkennt man nur das gegenüberliegende Wohngebäude, das seinen grauen Schatten herüberwirft. Ihr Gesicht schimmert im wenigen Tageslicht, das es hereinschafft. Der Rest ihres gebückten Körpers hüllt sich in Dunkelheit. Ich werde von einem Déjà-vu überwältigt, das mir für mehrere Sekunden die Worte raubt. Mit einem Mal steht sie wieder vor mir, die fünfzehnjährige Viktoria, die sich nur in Schwarz kleidet und ihre Gefühle mit Sprüchen tarnt. Es ist erschreckend, wie schnell die Vergangenheit zurück in ihr Leben platzen konnte, um sie vollkommen einzunehmen.
»Ich hab Nick gefragt, ob er meine Stunden erhöht«, murmelt sie.
Nick ist der Besitzer des Flashlights, einer Musikhalle draußen im Industriegebiet. Seit ihr Vater abgehauen ist, jobbt sie dort für ihren Unterhalt. Zwar hat sie die Wohnung von ihrer Mutter geerbt, aber die Nebenkosten sind nicht zu unterschätzen. Sie reagiert immer empfindlich darauf, wenn Jay etwas für sie kaufen möchte, vermutlich, weil sie sich dadurch in seiner Schuld fühlt. Wer mit einem alkoholsüchtigen Vater aufwächst, will sich von niemandem mehr abhängig machen, schätze ich. Während ich im Hotel Mama wohne und noch Taschengeld beziehe, muss sie Nachtschichten einlegen, um sich Klopapier leisten zu können. Dass sie jetzt ihre Stunden erhöht, kann nur eines bedeuten: Sie hat keine Kohle mehr.
»Ich lade dich zur Feier meiner Rückkehr ein«, erkläre ich ihrem Rücken.
Sie schielt zu mir rüber. »Mel …«
»Tante Kordula hat mir einen Restaurantgutschein aufgehalst, den ich dringend verbraten muss. Du würdest mir einen Gefallen tun, sonst muss ich meinen Bruder mitnehmen.«
Der Gutschein ist erfunden, aber wenn sie zusagt, mache ich im Restaurant einen vermeintlichen Abstecher zu den Toiletten und besorge mir einen. Es riecht weniger nach Almosen, wenn es das Geld einer weit entfernten Großtante ist, das wir ausgeben. Sollte Viki jemals erfahren, dass Kordula mir bloß einmal im Jahr selbstgestrickte Socken schickt, bricht ein ganzes Kartenhaus an Notlügen über mir zusammen.
Viki öffnet den Mund, zweifellos, um mir eine weitere Ausrede aufzutischen, doch ich würge sie mit meinem erhobenen Zeigefinger ab. »Ich akzeptiere keine Widerrede, denn ich habe meine Bedingungen.«
Sie lächelt schief. »Und die wären?«
»Eine ausgiebige Dusche, die Seife und Shampoo beinhaltet. Ich liebe dich innig, wie du weißt, allerdings wollen wir ja nicht die sauberen Klamotten einsauen, die Teil zwei meiner Bedingung darstellen.«
Sie schnaubt amüsiert und blickt an ihrem verdreckten Shirt herab. »Es hat mir noch nie jemand so charmant verklickert, dass ich müffle.«
»Was die Aufgabe wahrer Freunde ist.« Ich schnappe mir meine Handtasche von der Stuhllehne und wühle in ihren unendlichen Tiefen nach meinem Handy, um dem Restaurant eine Last-minute-Reservierung zu entlocken. »Wir müssen los, es gibt nur noch eine Stunde lang Frühstück, und ich will dich gefügig füttern, damit du endlich mit der Wahrheit rausrückst.«
Sie scheint ein Problem mit meiner Aussprache zu haben, denn anstatt sich zu beeilen, schlagen ihre Füße vor dem Fenster Wurzeln. Ich gehe rüber, schlinge meinen Arm um ihren Ellenbogen und schleppe sie in den Flur, der ebenfalls eine erschreckende Zeitreise in die Vergangenheit durchlebt hat. An den Wänden hängen zwar noch immer die Fotos der verliebten Regenbogenponys, aber die Post der letzten Woche stapelt sich auf der Kommode, und ein ganzer Haufen Kleidungsstücke verteilt sich auf dem Boden zwischen Vikis Schlafzimmer und dem Bad.
Ich kicke ein paar gebrauchte Socken vor mir her. »Sind das Bremshügel gegen das schnelle Eindringen von Verbrechern?«
Sie läuft rot an und bückt sich, um den gröbsten Mist vom Teppich zu klauben. Die Aufgabe füllt sie für eine Minute mit lebendiger Geschäftigkeit, doch kaum sind ihre Klamotten in der Waschmaschine verschwunden, klappen ihre Schultern nach vorn, und ihr Kinn sinkt auf die Brust. Es wird allerhöchste Zeit, Vikis Batterien aufzuladen, bevor sie im Bad versteinert und ich sie von den Fliesen meißeln muss.
»Wartest du etwa drauf, dass ich reinkomme und dich aus dem T-Shirt schäle?«, ziehe ich sie auf.
Sie saugt ihre Lippen in den Mund, eine seltene Geste bei ihr, die meinen Humor augenblicklich verpuffen lässt und durch ein besorgtes Ziehen in meinem Bauch ersetzt. Meine Hand hebt sich, um irgendetwas zu tun, vielleicht sie nochmals in die Arme zu nehmen und fest an mich zu drücken. Doch ehe ich etwas dergleichen unternehmen kann, richtet sie ihren Kopf auf und stoppt mich mit ihrem Blick. Ihre Augen leuchten klar und grün, aber die dunklen Brauen pressen eine Ernsthaftigkeit in ihren Ausdruck, die mich schlucken lässt. Alles an ihrem Äußeren beschreibt eine schlechte Botschaft, die sie jeden Moment in eine Flasche stecken und von ihrer einsamen Insel zu mir herüberwerfen wird.
Sie tritt einen Schritt vor und zieht an der Klinke. Während sich die Tür langsam schließt, fesselt mich ihr Anblick an Ort und Stelle. Kurz bevor das Schloss einrastet und uns beide voneinander trennt, dringen ihre Worte zu mir herüber, abgekocht und leblos.
»Ich glaube, er betrügt mich.«
Ich fühle mich leer. Obwohl sich ein warmes Schokoladencroissant, frisch aufgeschnittener Obstsalat, Waffeln mit tropfendem Ahornsirup und ein Schälchen Mousse au Chocolat in meinem Magen befinden. Das Mousse ist Mels Idee, und als ich meine Hand hebe, um diese Runde abzulehnen, entdecke ich das Blitzen in ihren Augen und die lauernde Frage darin. Also löffele ich die Schokocreme, weil sie meinen Mund ausfüllt. Sie schmeckt nicht so wie früher, die Zuckermoleküle auf meiner Zunge zerfallen augenblicklich zu Asche.
Wir sitzen in einem Café mit Blick auf den Stadtpark. Die Sonne brennt zwischen den aufgespannten Schirmen hindurch und leuchtet auf den hellen Steinfliesen. Dahinter steigt der Rasen in einem sachten Hügel an, auf dessen Kuppe sich das Gras in ausgetrockneten Borsten sträubt. Die letzte Augustwoche saugt das Grün aus den Kronen der Bäume, die einen zu warmen Sommer durchhalten mussten. Vereinzelt flattern gelbe Blätter zu Boden, die mich daran erinnern, dass ich bald das Grab meiner Mutter aufsuchen muss, um die Blumen zu erneuern. Es gibt niemanden sonst, der hingehen würde.
Mel nippt an meinem Sekt, den es gratis zum Buffet gab und den ich bisher nicht angerührt habe. Es ist nicht so, dass ich Alkohol nicht mag. Das Problem ist vielmehr: Ich fürchte mich davor, ihn zu sehr zu mögen. Es ist eine Sache, im Freudenrausch auf einer Party einen über den Durst zu trinken, und eine völlig andere, heimlich das Mundwasser im Bad auszusaufen. Auch wenn zwischen mir und meinem Vater mehrere Jahre Alkoholmissbrauch liegen, habe ich nicht vor, in seine schwankenden Fußstapfen zu treten. Vielleicht gibt es also doch etwas, wofür ich ihm dankbar sein sollte.
Mel rückt mit ihrem Stuhl näher ran, und ich befürchte, dass sie es dabei nicht auf einen besseren Ausblick auf den Gartenteich anlegt. Sie drückt ihre roten Locken an meine Wange, hebt das Glas vor ihre Lippen und flüstert verschwörerisch: »Erzähl mir alles. Welche Beweise hast du?«
Ich kratze Schokoflecken von der weißen Tischdecke. »Keine Beweise. Nur Indizien.«
»Und zwar?« Fehlt nur noch, dass sie sich eine Pfeife in den Mund steckt und ihr Notizbuch aufklappt, um mein Geständnis zu notieren. Sherlock Mel hat meinen Beziehungsfall aufgenommen und wird nicht eher ruhen, bis der Mörder gefasst ist. Dummerweise bin ich mir nicht sicher, wer von uns beiden der wahre Verbrecher ist, Jay oder ich?
Ich versuche mich an einer möglichst neutralen Beschreibung der Situation. »Ein paarmal, wenn ich später von der Uni kam, war er frisch geduscht und trug andere Klamotten als am Morgen. Zuerst war es nur sporadisch, und ich schob es auf die Hitze in den Vorlesungssälen der Architekten. Zuletzt kam es täglich vor. Auch bei Regenwetter.«
Mein Herzschlag beschleunigt sich, während ich vergeblich darauf warte, dass Mel auflacht, die Augen rollt und übertrieben stöhnt, welch blühende Phantasie ich doch habe. Dass der Freund plötzlich nachmittags duscht, bedeutet gar nichts. Oder?
Stattdessen saugt sie ihre Lippen in den Mund und setzt ihren Wir-müssen-Ihnen-eine-schlechte-Nachricht-überbringen-Blick auf. Ihr Zögern deutet an, dass sie die Wahrheit bereits ahnt und mich mit ihrer folgenden Frage nur behutsam vorbereiten möchte. »Hast du ihn darauf angesprochen?«
»Habe ich. Genau heute vor einer Woche …«
Ich stecke den Schlüssel in die Wohnungstür, schließe auf und werde von Kid über den Haufen gerannt. Sein ohrenbetäubendes Gebell stellt die Duschbrause im Badezimmer augenblicklich ab, es herrscht absolute Stille. Ich stehe im Flur und weiß nicht, ob ich meine Schuhe ausziehen soll, denn mit einem Mal überkommt mich das Verlangen, wieder umzudrehen und von hier zu verschwinden. Jay wartet fünf Minuten, in denen er nichts tut, das auch nur das geringste Geräusch verursacht, dann tritt er mit einem Badetuch bekleidet heraus. Er zuckt zusammen, als er mich entdeckt, offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich noch vor der Tür bin.
»Du bist schon da?« Das schlechte Gewissen leuchtet aus seinen Augen, bevor er sie abwendet und seinen Kopf unter einem Handtuch versteckt. Hinter ihm blinken die Knöpfe der Waschmaschine, die das Ende des Schnellwaschgangs anzeigen. Seine Kleider sind nirgends zu sehen, aber in der Trommel steckt das blaue Shirt, das er an diesem Morgen übergezogen hat. Ich warte ab, bis er seine Haare trockengerubbelt hat und kein Vorwand mehr übrig bleibt, um mich zu überhören.
»Wieso hast du gewaschen? Die war doch nicht mal halbvoll.«
Ich reibe meine Hände übers Gesicht und tauche aus der Erinnerung auf. Wenn sie sich bloß wie ein böser Traum anfühlen würde und nicht wie etwas, das meine Innereien mit einem Eiscremelöffel herausschabt. »Er behauptete, seine Klamotten wären verschwitzt. Damit war das Thema für ihn erledigt.«
Mel zieht ihre Augenbrauen bis zu den roten Locken hoch, eine beachtliche Leistung ihrer flexiblen Stirnhaut, die ich unter anderen Umständen bestaunen würde. Ihre nächste Frage jedoch reißt mich in eine Realität zurück, die ich immer noch nicht fassen kann. »Und deshalb hast du ihn rausgeworfen?«
»Natürlich nicht!« Mein Kopf klappt nach unten, und die Schokolade in meinem Magen trommelt gegen die Bauchdecke. Nur mit Mühe halte ich die Rebellion in meinem Innern unter Kontrolle, die mit brennenden Fackeln und Mistgabeln aufmarschiert, um die Königin zu köpfen, die etwas Unverzeihliches verbrochen hat. »Weil er nicht reden wollte«, hauche ich, »habe ich eventuell seine Nachrichten gecheckt …«
Sein Handy liegt auf dem Küchentisch, wie der verbotene Apfel im Paradies. Ich werfe einen Blick zur Tür und lausche auf die Geräusche aus dem Wohnzimmer. Jay und ich sehen uns eine Wiederholung von Inception an, den wir beide schon mehrmals gesehen haben. Plötzlich frage ich mich, ob ich dieser Wirklichkeit trauen kann oder ob sie nur ein Konstrukt ist, das seinen wahren Zweck vor mir verschleiert.
Ich scrolle durch seine Nachrichten und überprüfe die kleinen Profilbilder, ob jemand darunter ist, den ich nicht kenne. Jemand, der ihm auffällig oft schreibt. Jemand, der vielleicht hübscher ist als ich.
»Soll ich dir mit dem Popcorn –«
Ich wirble herum und starre in Jays Gesicht, auf dem sich meine Tat mit einigen Sekunden Verzögerung abzeichnet. Sein sanftes Lächeln bröckelt herunter. Leugnen ist zwecklos, und schlagartig ärgere ich mich über mein Ertapptsein. Wieso sollte ich mich rechtfertigen müssen, wenn sein Schweigen doch an allem schuld ist?
»Irgendwas Interessantes entdeckt?«, zischt er.
»Warum reagierst du so?«
»Weil du mein Handy hinter meinem Rücken kontrollierst! Du kannst mich auch fragen, wenn du etwas wissen möchtest!«
»Ich frage dich seit Wochen, aber du hältst es nicht für nötig, mir eine ehrliche Antwort zu geben!«
Mels Rehaugen blinzeln. »Und?«
»Er wurde furchtbar sauer, weil ich seine Privatsphäre nicht respektiert habe. Was ich ja überhaupt nur getan habe, weil ich keine andere Möglichkeit mehr sah!« Ich nehme mir den Sekt und spüle meinen Mund aus, als könnte ich so mein schmutziges Geständnis desinfizieren. Der saure Geschmack gibt meinem Magen den Rest, ich schnappe eine Serviette und spucke alles wieder aus. »Entschuldige …«
Mel tätschelt liebevoll meine Schulter. »Nach der Schokolade schmeckte der sowieso nicht mehr.«
»Jay wurde laut.« Ich ziehe meine Nase hoch, um das Kribbeln des Alkohols loszuwerden. »Ich solle ihm gefälligst nicht hinterherschnüffeln, er könne seine eigenen Entscheidungen treffen und brauche dafür nicht meine Erlaubnis. Also schrie ich zurück, dass er meine Erlaubnis sehr wohl braucht, um in meiner Wohnung zu leben …«
»Puh!« Mel bläst ihre Backen auf und pustet ihre Locken aus dem Gesicht. »Lass mich raten: Ihr seid euch nicht in die Arme gefallen und habt euch geliebt?«
Nein. Danach gab er keinen Ton mehr von sich. Er riss mir das Handy aus der Hand, stürmte in unser Schlafzimmer und füllte seine Sporttasche mit dem Allernötigsten. Ein Teil von mir wollte ihn bitten zu bleiben, aber ein viel größerer, verletzter und wütender Teil wollte, dass er geht und die Konsequenzen seines Handelns spürt. Und so sagte ich kein Wort, als er den Hund nahm und mit knallender Tür aus der Wohnung verschwand.
Ich suche in Mels Augen nach Rat. »Wenn da wirklich nichts wäre, wieso hat er sich dann so aufgeregt? Warum hat er sich seit einer Woche nicht bei mir gemeldet?«
Um ihren Mund bildet sich ein harter Zug. »Vielleicht wartet er darauf, dass du es tust?«
Die Plastikbäume in der ersten Nacht waren keine gute Idee. Ebenso wenig der Müllsack, den ich zwei Tage später ausprobiert habe. Bei den alten Sportschuhen gestern Abend war ich mir allerdings bombensicher. Man musste nur an den Sohlen schnüffeln, da war eindeutig schon ein bisschen Hundepisse dran.
Ich umrunde den Stehtisch in der Küche, werfe mich vor die Füße meines Herrchens und stöhne. Zu Hause darf ich wenigstens in die Badewanne pinkeln, wenn ich nachts dringend muss. Obwohl ich mir dabei lächerlich vorkomme, ist es besser als das Gebrüll des Müllbesitzers. Ich rieche seine Ablehnung, auch wenn er sie hinter einem Schleier aus Rauch tarnt. Vorsorglich weiche ich seinem stechenden Blick aus.
»Der Hund will, dass Mami und Papi sich endlich versöhnen«, erklärt er mit zusammengebissenen Zähnen. »Und schleunigst wieder zusammenziehen.«
Unsinn, Rauchkopf. Der einzige Grund, warum ich mein Bein im Flur erhoben habe, ist folgender: Weder Mami noch Papi haben an mein Abendgassi gedacht.
»Kid ist nicht unser Baby. Er ist ein erwachsenes Tier.«
Herrchen riecht in letzter Zeit anders. Es gefällt mir nicht, aber er streckt seine Hand unter den Tisch und krault meinen Nacken, deshalb gehe ich davon aus, dass es nicht weiter schlimm ist. Rasch nutze ich seine Aufmerksamkeit, um nach draußen zur Wohnungstür zu laufen. Ich setze mich hin und fiepe, doch als ich den Kopf zurückdrehe, steht niemand hinter mir im Flur. Wie deutlich muss ich denn werden?
Ich schnaube. Nun, es gibt verschiedene Möglichkeiten, um eine Tür zu öffnen. Eine sehr verlässliche Methode ist es, am Holz zu kratzen.
»Kid«, ruft Herrchen aus der Küche.
Damit wäre Phase eins erfolgreich eingeleitet: Ein Mensch hat mich gehört. Nun gilt es, meine Ohren auf taub zu stellen und das Scharren so lange zu wiederholen, bis er mich rauslässt.
»Komm her!«
Nein, mein Lieber, du wirst derjenige sein, der sich in Bewegung setzt und mir diese Tür aufmacht. Hörst du das Kratzen? Meine Krallen haben die Lackschicht durchbrochen. Es regnet Holzkrümel auf den Boden.
»Verdammt nochmal!« Er klingt so, als würde er endlich begreifen, was er tun soll. Tatsächlich höre ich das Knarzen eines Stuhls und kurz darauf seine Schritte. Alles, was ich jetzt noch tun muss, ist, besonders leidend auszusehen und meinen Wunsch mit Fiepen zu unterstreichen.
Herrchen packt mein Halsband und sieht zu mir herab. »Wir gehen gleich raus. Lass mich zuerst mein Frühstück rauchen, okay?«
Mit hängendem Schwanz folge ich ihm zurück in die Küche.
»Aber Babys machen jede Menge Lärm, und man muss ihre Kacke aufwischen«, beharrt Rauchkopf und starrt mich angriffslustig an. Ich werde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass ich schon wieder was falsch gemacht habe. »Wenn du mich fragst, erfüllt er alle Kriterien.«
Mein Darm drückt. Ich belle auf.
»Hör nur, er stimmt mir zu!«
Herrchen bückt sich und kratzt mich hinterm Ohr.
Ehrlich gesagt juckt es mich ganz woanders, Mann. Ich laufe unter seiner Hand durch und halte ihm meinen Hintern hin, doch er zieht an meiner Schwanzspitze. Menschen.
»Wir schreiben das Jahr 2017«, fährt Rauchkopf fort. »Auch wenn ich mich wie der Sprecher von Star Trek anhöre – heutzutage ist es unmöglich, jemanden nicht zu erreichen. Es sei denn, man tut es absichtlich. Dein Argument, dass Viki sich bald bei dir meldet, wird immer unglaubwürdiger. Du hängst seit neun Tagen hier rum.«
»Acht. Der erste Abend zählt nicht. Es war kurz vor Mitternacht.«
»Meine Couch steht dir für Notfälle immer offen, Alter, allerdings bezieht sich dieses großzügige Angebot nicht auf undichte Köter.«
Leute, ich sollte echt mal groß. HEY! Hört ihr mich? HEY!
»Nenn ihn nicht so. Er kriegt das mit.« Herrchen streichelt mein Gesicht, damit ich aufhöre zu bellen. Endlich nimmt er den stinkenden Stängel aus seinem Mund und löscht den Qualm in einem kleinen Fressnapf auf dem Tisch. »Was meinst du, sollen wir los?«
Dein Tonfall hört sich gut an. Ich würde ja gerne mit dem Schwanz wedeln, aber meine hintere Körperhälfte in Bewegung zu versetzen wäre jetzt nicht gut, wenn du verstehst, was ich meine.
Er holt die Leine aus dem Wohnzimmer, und ich erkläre ihm lautstark, wie sehr ich mich darüber freue und dass er der allerbeste Mensch auf der Welt ist. DER ALLERBESTE! BESTE! BESTE! BESTE!
Herrchen wuschelt mir durchs Fell. Er war schon immer bescheiden.
O Mann, ich kann’s kaum abwarten, hinauszukommen! Ich dränge meine Schnauze in den Türspalt, und die Stufen fliegen unter meiner Nase nur so dahin. Draußen duften die Straßen nach unbekannten Hunden, ich wittere sieben Fährten auf einmal und folge ihnen von einem Eck zum nächsten. Herrchen ist zu langsam, doch ich nehme es ihm nicht übel, der arme Kerl hat nur zwei Beine.
An der Ecke gibt es für mich ein WÜRSTCHEN. Ich schwöre, es ist das allerbeste Futter, das ich je gerochen habe, und es schmeckt für eine Sekunde auch gut, rutscht nur viel zu schnell in meinen Magen. Ich schaue zu ihm hoch, weil Herrchen ewig für seine Portion braucht, und bestimmt noch ein paar Bissen runterwandern lässt, wenn ich ihn lange genug hypnotisiere.
Er sagt NEIN, aber ich kenne das Spiel.
Ich wedle mit dem Schwanz.
Er imitiert mein Wedeln mit dem Kopf (weil er keinen Schwanz hat) und sagt nochmals NEIN.
Ich setze mich vor ihn und hebe die Pfote. Bei Frauchen klappt das immer, sie schimpft dann, dass Herrchen mich verzogen hat. Und Herrchen lächelt, weil er stolz darauf ist, mich verzogen zu haben. Und danach krieg ich was zu futtern.
»Kie-hied.«
Ich liebe es, wenn er meinen Namen in die Länge zieht. Es bedeutet, dass ich das Spiel gewinne.