The Sound of Silence - Adrian Schumann - E-Book

The Sound of Silence E-Book

Adrian Schumann

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Beschreibung

Es war einmal ein kleiner Junge, der träumte von nichts Sehnlicherem als von Freiheit, bis ihm dieser Wunsch schließlich eines Tages erfüllt wurde ... So beginnt die Geschichte von Christoph Steiner McLloyd, des größten Komponisten aller Zeiten!

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Adrian Christoph Gabriel Schumann wurde am 20.1.1991 in Klagenfurt am Wörtherseee geboren und besuchte von 2000 bis 2009 das musische Bundesrealgymnasium Klagenfurt-Viktring. 2012 bis 2017 studierte er Lehramt Englisch und Geografie und Wirtschaftskunde an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt sowie katholische Religion für Pflichtschulen an der Katholischen Pädagogischen Hochschuleinrichtung (KPHE) Kärnten. Zu seinen Hobbys zählen das Reisen, das Bewegen in der freien Natur sowie das Verfassen von Texten und Liedern.

Für meine Familie, besonders für meine Mutter, die eine schwere Kindheit hatte …

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1. Tanz alter Erinnerungen

2. Das Weihnachtsoratorium

3. Das Lied an Gott

4. Sinfonie der Verwandlung

5. Präludium eines neuen Lebens

6. Quartett der Freundschaft

7. Kantate ewiger Liebe

8. Sonate des Abgrunds

9. Passion der Dunkelheit

10. Requiem der Gefühle

11. Serenade des Meeres

12. Choral der Offenbarung

13. Musical von Liebe und Hass

14. Der Ruf der Berge

15. Konzert von Liebe und Hass

16. Rezitativ lückenloser Erinnerung

17. Das Finale

18. The Sound of Silence

19. Fantasie des Abschieds

Coda

Vorwort

Geschätzte Leserinnen, werte Leser,

The Sound of Silence ist eine Geschichte über all jene Dinge, die die Leute berühren: Liebe, Hoffnung, Religion, Freundschaft, Heimat, Natur …

Ihre beiden Hauptelemente sind jedoch der Glaube und die Musik, nicht zuletzt darum, weil deren Kombination Menschen ergreifen, beeinflussen und faszinieren kann.

Aufgrund ihrer fantastischen Elemente ist die Geschichte keinesfalls mit einem realen Roman gleichzusetzen, sondern vielmehr mit einem modernen Märchen, welches uns aus unserem tristen Alltag herausreißen und verzaubern soll, welches in uns wieder das hoffende Kind erwecken kann.

Obwohl der Text einige autobiographische Elemente besitzt, entspricht der Protagonist nicht meiner Person!

Alle Personen und Geschehnisse im Buch sind frei erfunden.

Genannte Schauplätze existieren wirklich, werden aber in einem fiktiven Zustand beschrieben.

Die meisten Gedichte sind selbst verfasst.

Werbedurch- und -ansagen, Zeitungsartikel sowie das Event Austrian Young Composer Talents 2031 sind ebenfalls frei erfunden.

Jede männliche Wortform im Text impliziert selbstverständlich auch die weibliche.

Ein großes Dankeschön an meine liebe Schwester und Sängerin, Vivian Schumann, für die tollen italienischsprachigen Beiträge in diesem Buch.

Nun bleibt mir nur noch eines, Ihnen ein spannendes und inspirierendes Leseerlebnis zu wünschen.

Begeben Sie sich auf eine Reise in eine Welt, in der in jeder Sekunde etwas Wunderbares geschehen kann, begeben Sie sich auf eine Reise in die Welt der Musik.

Denn, wie Ludwig van Beethoven einst sagte:

»Musik kann die Welt verändern«.

Adrian Schumann, 2. September 2020

Einleitung

Alles ist so wunderbar still am Strand von Carmel-by-the-Sea. Der ganze Himmel ist von Wolken bedeckt. Anstatt von fröhlichen Menschenstimmen sind heute nur ein paar Seemöwenschreie zu vernehmen. Deutlicher denn je zuvor hört man die Wellen gegen die Felsen der Küste schlagen und die Gischt spritzt zum Himmel.

In der Ferne deutet ein Wetterleuchten ein heraufziehendes Gewitter an. Ein leises Donnergrollen und ein sanftes Brausen des Windes unterbrechen ab und zu die Totenstille. Es scheint, als würde die gesamte Natur leise und lauernd atmen, bevor sie ihre Macht demonstriert und die Leute des Küstendorfes wieder einmal daran erinnert, dass auch ein Leben am Meer seine Schattenseiten hat …

Die Bewohner respektieren dies und haben längst die Geborgenheit ihrer Häuser aufgesucht.

Nur eine einzige Person tritt auf ihre Veranda um das Schauspiel auf sich wirken zu lassen, Christoph Steiner McLloyd. Jeder im Ort kennt seinen Namen, verehrt ihn, spricht heimlich über ihn, doch niemals in seiner Gegenwart und niemand stellt ihm auch nur irgendwelche Fragen. Alle respektieren ihn so, wie er ist, ein Genie und ein Schatten, denn Christoph Steiner McLloyd ist ein weltberühmter achtundfünfzigjähriger Komponist, der sich hier in Kalifornien zur Ruhe gesetzt hat.

Einsam und allein lebt er in seinem Strandhäuschen aus Sequoia Holz nahe der Scenic Road, zwischen der zwölften und 13. Avenue.

Geistesabwesend starrt Christoph auf das Wetterleuchten draußen am Ozean, das gebräunte Gesicht in Falten gelegt. Der Wind spielt mit seinem grauen Haar und versucht, ihm seine schwarze Künstlerbrille vom Gesicht zu reißen. Instinktiv greift Christoph auf seinen Kopf und drückt die Brille fest gegen seine Stirn. Behutsam fährt er mit der Hand die rechte Gesichtshälfte entlang und berührt seine drei schnittartigen Narben. Dann ballt er seine Faust und klopft verzweifelt auf das Geländer.

Eine Entscheidung steht in sein Gesicht geschrieben, er ist dabei, einen Schritt zu wagen, den er schon zehn Jahre lang nicht gewagt hat …

Zielstrebig schreitet der Komponist durch die Tür in seine Wohnung.

Das Innere von Christophs Strandhäuschen steht im krassen Gegensatz zur heruntergekommenen Außenfassade. Es sieht aus wie ein mit Licht durchfluteter Antiquitätenladen, der feinste englische Möbel verkauft.

Der Musiker trottet in die Küche, lässt sich einen Kaffee von der Maschine herunter und begibt sich in sein Wohnzimmer. Im Kamin knistert ein warmes Feuer.

Mit der Tasse in der Hand, hält Christoph einen Moment lang vor den Dingen an seinem Kachelofen inne.

Eingerahmte Urkunden glänzen ihm entgegen, Ehrenstaatsbürgerschaften, zahlreiche Music Awards und Kompositionspreise, silberne, goldene und platine Schallplatten, ein kleines Poster mit Unterschriften von all seinen Freunden, Verwandten und Bekannten … interessant aussehende, teilweise exotische Sammlerstücke, wie eine kleine Jakobsmuschel in hellem Rosa, mit ein bisschen Violett und Beige dazwischen, eine bunt bemalte, düster wirkende Holzmaske, eine kunstvoll verzierte kleine Sanduhrtrommel, eine mysteriöse Halskette mit einem geschnitzten Löwenanhänger, Pfeil und Bogen und ein eigens angefertigter Holzspeer mit Metallspitze.

All diese Dinge wirken so primitiv … und doch anziehend zugleich! Sie erzählen einzelne Episoden aus Christophs Leben. Man möchte es kaum glauben, aber auf der Metallspitze des Speeres klebt sogar noch getrocknetes Blut, es erzählt eine besonders dunkle Geschichte …

Doch am allerwichtigsten von all den Dingen am Kachelofen sind wohl die Bilder, denn sie sind Erinnerungen:

20 junge Leute mit Bemalung und Karnevalsmasken auf einer Brücke stehend. 29 Schüler mit von Wind zerzausten Frisuren und Kapuzen vor einem imposanten Berggipfel mit Schnee. Dieselben 29 Jugendlichen in violetter Schuluniform mit goldenem Adler und mit Zeugnissen auf einer Bühne, davor ein Schüler mit einem Pokal in seinen Händen zwischen Direktorin und Klassenvorständin. Vier junge Leute auf ihren Rädern und weitere sechs auf einem Felsen an der Steilküste und dann noch … ein Einzelfoto von einem Mädchen mit kastanienbraunem Haar, welches vom Bild lächelt.

Lange betrachtet Christoph das letzte Bild. Caryn McLloyd, erinnert er sich. Eine Träne läuft ihm über die Wange.

Dann wird in ihm plötzlich eine Reaktion ausgelöst, welche er schon lange nicht mehr gehabt hat:

Töne tauchen in seinem Kopf auf, verschiedene Instrumente spielen durcheinander. Aus dem Stimmenwirrwarr kristallisieren sich kleine Motive heraus, sie fügen sich zusammen zu Gruppen, Themen und schließlich zu Melodien. Seine Augen werden tief und durchlässig, seine Finger, die den Griff der Tasse umschließen, lösen sich, sodass der Kaffee auf den weißen flauschigen Wohnzimmerteppich fällt.

Mit der Hand auf die Stirn gepresst, eilt Christoph zu seiner Couch, setzt sich nieder, und wippt vor und zurück, vor und zurück …

Eine Sinfonie spielt in seinem Kopf – es ist seine Sinfonie!

Eine Windböe braust von der dem Meer zugewandten Veranda in das Wohnzimmer herein und fegt alle Zeitungs- und Notenblätter vom Tisch.

Es ist der Wind, der zu ihm spricht!

Christoph hat inzwischen die Augen unter seiner vorgehaltenen Hand verschlossen, denn Bilder tauchen vor ihm auf. Erinnerungen, tief verborgene Erinnerungen, die eigentlich nicht geweckt werden sollten:

Ein Dorf … ein Kreuz … ein Gewitter … eine Stadt … ein Fluss … ein Stift … ein einsamer Waldteich … Berge so weit das Auge reicht … ein Unwetter im Hochgebirge … das Meer … ein großer Wald … Feuer … Palmen … Jugendliche … Wildnis … gähnende Leere … fremde Menschen … Kinder … ein Krankenhaus … eine Konzerthalle … Städte und Bühnen.

Die Schauplätze kreisen vor Christophs innerem Auge in Sekundenschnelle und die Gedanken des Musikers beginnen sich auf einmal mit verschiedenen Gefühlen im Rhythmus der Musik zu verbinden:

Freude … Liebe … Freundschaft … Eifersucht … Leid … Hoffnung … Stolz … Verzweiflung … Rache … Taubheit … Klarheit … ewiges Glück … Ruhm … und Einsamkeit.

Caryns Name wird zu einer Stimme – so deutlich, so klar und so schön …

Ein Chor setzt ein und alle Gedanken und Melodien rasen nun auf einen bestimmten Punkt zu: Es ist ein Akkord, eine klangliche Stauung, bestehend aus den Tönen GDA.

Diese löst sich schließlich im G-Dur Dreiklang auf.

Christoph kommt wieder zu sich. Er hockt auf allen vieren auf seinem weißen Teppich und atmet schwerfällig. Schweißperlen dringen ihm aus seiner Stirn.

Mit einem Taschentuch wischt er sie sogleich von seiner Haut ab und starrt nebenbei auf die Zeitungsausschnitte, die am Boden verstreut liegen …

McLloyd – Die Rückkehr des verschollenen Komponisten

Weltpremiere der »Symphony of Silence«

Ein Mann verzaubert die ganze Welt

Steiner McLloyd verlängert seine Tournee

Komponist C. S. McLloyd stattet seiner alten Heimat Besuch ab

McLloyd verweigert jegliche Interviews

Steiner McLloyd zieht sich zurück

Alle Welt wartet auf Steiner McLoyds Worte

Wer ist dieser Mann?

Christoph stürmt zu seiner DVD Sammlung und fährt mit seinem Finger ungeduldig die Rücken der DVD-Hüllen entlang …

Wo ist sie?

Wie im Himmel Into The Wild The Sound of Silence.

Der letzte Name hält Christoph für einige Sekunden in seinem Bann. Der Komponist nimmt die schwarze Hülle in seine Hand. Auf dem Cover ist ein großer Innenhof mit Bühne, einer Menschenmenge und offenen Feuerstellen zu sehen. Die Buchstaben auf der Hülle sind groß, blau und vertikal gedruckt: The Sound of Silence.

Christoph blickt auf das Datum in der rechten unteren Ecke des Covers: 27.06.2031.

Dieses Datum liegt beinahe 40 Jahre zurück!

Rasch tritt er vor seinen Fernseher, schiebt die DVD in den Player, schnappt sich die Fernbedienung und drückt die Einschalttaste.

Der Bildschirm flackert blau auf. Dann erscheint das Menü. Christoph wählt das Inhaltsverzeichnis und scrollt durch eine lange Liste von Musiknummern. Endlich findet er den gesuchten Titel: Hymn to Love.

Sein Herz rast. Hastig drückt Christoph den Enter-Button. Zu sehen sind eine beleuchtete Freiluftbühne mit einem Chor voller Jugendlicher, ein Solist und eine Solistin sowie ein Orchester am Steinplattenboden vor der Bühne.

Die zwei Solo-Interpreten sind ein gut aussehendes Paar, ein Mädchen mit kastanienbraunem langem Haar und einem weißen, durch die Scheinwerfer blau bestrahlten Kleid, und ein lächelnder Junge mit braunem flach anliegendem Haarscheitel, einem schwarzen Hemd und einer grauen Krawatte.

Nach einem tobenden Applaus beginnt schließlich das Orchester mit dem Intro.

Der Solist singt und der Hintergrundchor summt die Akkorde. Eine traumhafte Melodie in G-Dur ist zu hören. GDA-GHD, so, wie sie Christoph zuvor gehört hat.

Der Text ist auf Englisch und er steckt voller Rätsel, doch eines ist klar, er handelt von Liebe!

So, arise, my beloved, my beautiful one, and come! And come for see!

Nun setzt die Solistin ein.

Hark! My lover – here he comes, leaping across the hills …

Christoph spult weiter und drückt wieder den Play-Button.

Deep waters cannot quench love, nor floods sweep it away.

Das Lied ist bereits am Ende, die zwei Solisten singen noch einmal gemeinsam die letzte Phrase:

Deep waters cannot quench love, nor floods sweep it away.

An dieser Stelle hält Christoph das Bild an.

»Nor floods sweep it away …«, murmelt er.

Dann schaltet C. S. McLloyd den Fernseher und den DVD-Player aus, lässt alles liegen und stehen, rennt an der Küche vorbei, dann um die Ecke und setzt sich an seinen Arbeitsplatz. Er knipst die Lampe an und ein warmes Licht scheint auf die dunkle Schreibtischfläche.

Ewige Trauer … und Einsamkeit … doch damit ist jetzt Schluss! Kein Verdrängen mehr. Nun ist die Zeit gekommen!, redet er sich ein.

Christoph macht sich an den Schreibtischladen zu schaffen, wühlt sich durch Landkarten und andere Blätter, hält kurz einen alt aussehenden Kompass hoch, um ihn anschließend wieder fallen zu lassen … und ergreift schließlich den Gegenstand, nach dem er gesucht hat: ein großes zugeschnürtes und dunkles Lederbuch.

Auf der Vorderseite ist eine aus hellem Leder eingenähte Gazelle zu sehen. Anstatt der Buchleinen hält auf der Seite eine Akazienholzleiste die Seiten zusammen.

Das Objekt sieht aus wie eine uralte Chronik, doch die Seiten sind noch … leer.

Steiner McLloyd lässt das Buch auf den Tisch fallen, öffnet den Knoten der Schnüre und schlägt die erste Seite auf.

Er holt seinen eleganten marineblauen Kugelschreiber mit goldener Gravur hervor und liest seinen Namen darauf: Chris.

Steiner McLloyd hält inne.

Die Melodie in seinem Kopf ist wieder einmal so klar und deutlich, wie schon lange nicht mehr!

Es ist das Kernthema seiner großen Symphony of Silence.

Draußen im Freien ist ein lautes Donnergrollen zu hören. Der Wind, der um Christophs Strandhaus bläst, hat ebenfalls an Stärke zugenommen.

Das Gewitter, es ist fast da! Natürlich, das Gewitter …

Ein Déjà-vu drängt sich dem Komponisten plötzlich auf.

Es ist wie damals, der Kreis schließt sich …

In Zeitlupe setzt Christoph Steiner McLloyd seinen Kugelschreiber an und betitelt das erste Blatt mit den Worten:

The Sound of Silence – Das außergewöhnliche Leben von Christoph Steiner McLloyd.

Dann zögert er für einen Moment, scheint noch nicht zufrieden zu sein und reißt die erste Seite kurzerhand noch einmal heraus.

The Sound of Silence – Ein Mann, Ein Weg & Seine Musik – das ist der passende Titel!

Dann blättert Christoph auf die zweite Seite.

Es ist nun an der Zeit, mit der Vergangenheit endlich aufzuräumen!

Der Komponist setzt seinen Stift an.

---

In Memoriam eines guten Freundes, des größten Komponisten aller Zeiten, Christoph Steiner McLloyd, geboren am 21. Dezember 2012, verstorben am 20. August 2071.

JML., am 20. September 2071

1. Tanz alter Erinnerungen

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.Friedrich Nietzsche

Dieses Buch ist meinen liebevollen Adoptiveltern, Konrad und Anneliese Steiner, gewidmet.

An die besten Freunde, die man sich je hat vorstellen können, Alexander Wolfsmüller, Melanie Berger, Peter Neuwirth, Astrid Baumgartner, David Stevenson, Lucia Rutherford und Max McMillan.

An die Familien Hubert, Gerlinde, Thomas und Melanie Berger sowie Michael, Judith und Jason McLlyod.

Einen besonderen Dank an Helga Hofreiter und an alle Schüler meiner Abschlussklasse aus dem Jahre 2031.

Danke an alle, die stets an mich glaubten. Und vor allem danke an dich, meine geliebte Caryn McLlyod.

Erinnerungen

Erinnerungen sind unser wertvollstes Gut,

ohne sie wären wir leere Seelen,

wie Asche ohne Glut.

Verzweifelnd irrend,

zwischen Licht und Schatten,

müssten all unsere Momente

gleich nach dem Erleben bestatten.

Und anstatt auf ein Leben,

blickten wir zurück aufs

Nichts,

verstrichene Jahre,

auf dem Antlitz unseres Gesichts.

Erinnerungen sind unser wertvollstes Gut,

sie neu zu erwecken,

das ist reinster Mut.

Sie beherrschen uns

und unser ganzes Gedächtnis,

sind sowohl unser goldenes,

nein auch eisernes Vermächtnis.

Wie Taucher tauchen wir zurück,

in schöne oder hässliche Momente,

und reichen uns in so mancher Schicksalsstunde

gegenseitig die Hände.

Erinnerung bedeutet Leben,

Verdrängung den Tod,

versuche niemals zu fliehen,

auch wenn dir dein Gedächtnis zu zerbrechen droht.

Lebe dein Leben,

und vergiss nie, wer du bist,

denn wie schnell kann es sein,

dass es auf einmal

zu Ende ist.

Dies ist meine Geschichte, dies ist mein Leben.

Ich blicke zurück auf einen endlos wirkenden Traum, einen Traum voller Musik und Wunder, der Harmonie und Vollkommenheit, aber auch der Angst und Verzweiflung.

Mein ganzes Leben steckt in einer einzigen Sinfonie. Es ist die Symphony of Silence.

Es fällt mir schwer, über meine Biographie zu reden, eine Biografie, die ich selbst jetzt noch kaum verstehe; doch werde ich jetzt nicht mehr davor zurückschrecken, alles offenzulegen!

All die Leute, die meine Musik hören, haben ein Recht zu erfahren, wer ich wirklich bin.

Fünf ganze Jahre ist es her, seit ich mich hier in Kalifornien zur Ruhe gesetzt habe, doch wirklich Ruhe hatte ich nie …

Es sind Gedanken und Erinnerungen, die mich quälen, Gedanken und Erinnerungen der Musik.

Ich habe keinen Alltag mehr, ich bin ein Gefangener meiner Vergangenheit.

Selbst wenn mich die Leute wie einen völlig »normalen« Mitbürger behandeln wollen, sehe ich, wie sich Fragen um Fragen in ihren Köpfen drängen, Fragen, die sie so gerne an mich richten würden, aber nicht können.

Beenden wir also diese Geheimnistuerei.

Gehen wir noch einmal ganz zurück an den Anfang meiner frühen Kindheit, an den Anfang meiner ganzen Geschichte.

Es ist eine Zeit, in der ich mir noch nie erträumt hätte, ein großer Komponist zu werden, eine Zeit der Armut und Hoffnungslosigkeit.

Es war einmal ein kleiner Junge, der träumte von nichts Sehnlicherem als von Freiheit, bis ihm dieser Wunsch schließlich eines Tages erfüllt wurde … Dieser Junge lebte in einem Land namens Österreich, dieser Junge … war ich.

– 19. November 2022 –

Der Junge in der Pfütze blickte mir traurig entgegen. Er hatte braunes, flaches, jedoch zerzaustes Haar und besaß blaue Augen. Seine Wangen waren schmutzig, seine Mimik eher emotionslos. Er trug ein rot-weiß kariertes Hemd mit grüner Filzweste.

Schweigend betrachtete er sein Spiegelbild und warf einen Stein ins Wasser.

Der Junge war zehn Jahre alt. Es handelte sich um meine Wenigkeit.

An jenem kalten Novembernachmittag sollte ich im Wald Feuerholz für den Ofen unserer Familie sammeln, war jedoch wieder einmal ganz und gar in meinen Tagträumen gefangen.

Es ist klar, dass für einen zehnjährigen Buben eine Pfütze nun sicherlich attraktiver als die harte Arbeit war.

Wie dem auch sei, ich bemerkte, dass es bereits dämmerte.

Der Wald war ein friedvoller Ort zum Verweilen, obwohl er im November von Nebel und Stille umhüllt war.

Verwirrt rappelte ich mich hoch, eilte zum aufgestapelten Holz und begann Holzscheiter in den großen geflochtenen Korb zu sammeln, bis er schließlich voll war.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und machte mich sogleich auf den Heimweg, wohl wissend, dass zu Hause wieder nichts als Ärger auf mich wartete.

Den Korb schleppend ging ich den Weg entlang, der mich bereits nach wenigen Minuten aus dem Wald in unser Dorf hinausführte. Am Waldrand angekommen, stellte ich den Korb ab und machte eine kurze Pause.

Rauchschwaden stiegen aus den Kaminen der Häuser und Höfe.

Nicht weit von mir entfernt lag unser Sonnenhof, nur dass auf diesem Hof die Sonne schon lange nicht mehr schien …

Ich ließ meinen Blick ins Tal schweifen. Es war meine Heimat, das Lesachtal, ein schluchtartiges Tal im südwestlichen Teil des Bundeslandes Kärnten, an der Grenze zu Osttirol und Italien.

Das Tal war gekennzeichnet durch steile Almwiesen, durch eine Schlucht, in welcher der Fluss Gail floss, und durch kleine idyllische Bergdörfer. Die Bewohner des Tales sprachen im Kärntner Dialekt mit tirolerischem Einschlag. Der bekannteste Ort im Tal war wohl der Wallfahrtsort Maria Luggau, in welchem ich zu Hause war.

Hier war ich am 21. Dezember 2021, als Sohn von Alois und Antonia Kirchberger, geboren worden.

Die Jahre zuvor hatte mein Vater bei der Bank einen Kredit aufgenommen, welchen er ihr nicht einmal ansatzweise zurückzahlen hatte können. Die Bank hatte dafür den gesamten Sonnenhof, inklusive den Feldern, als Hypothek eingefordert und an Alois Kirchberger verpachtet.

Meine Eltern hatten sich seit jenem Ereignis nur noch ausnahmslos der Arbeit hingegeben, in der Hoffnung, eines Tages wieder schuldenfrei zu sein. Sie hatten Bauernprodukte wie am Fließband produziert und diese an den örtlichen Bauernladen verkauft.

In ihrem Arbeitswahn hatten sie sich weitgehend von der Dorfgemeinschaft abgekapselt und waren missmutig und stumpf geworden.

Um ihr großes Lebensziel schneller zu erreichen, hatten sie in gegenseitiger Zustimmung ein Kind gezeugt und dabei gebetet, dass es ein kräftiger und arbeitswilliger Junge werden würde.

Ihr Wunsch war ihnen erfüllt worden und ich hatte das Licht der Welt erblickt.

Hineingeboren in Armut und eisige Dezemberkälte, sollte ich eine würdige Arbeitskraft am Hofe werden, abseits von jeglichen sozialen Kontakten, um eines Tages den Sonnenhof wieder in den Besitz der Familie Kirchberger zurückzubringen.

Warum ich dies mit zehn Jahren bereits wusste? Nun, meine Eltern hatten mir meine Aufgabe wohl oft genug eingebläut …

Keine Freunde, kein Spielen, nur harte Arbeit!

Produktive Leistungen waren für sie eine angemessene Gegenleistung für täglich Speis und Trank.

Ein eisiger Wind wehte mir ins Gesicht und ich schauderte. Aus den Häusern der Höfe stieg Rauch auf.

Ich nahm meinen Korb und lief den Weg zu unserem Holzhof hinunter.

Über der Türe des Wohnhauses brannte bereits ein Licht und meine Mutter stand mit einem gequälten Gesichtsausdruck am Treppenabsatz. Langsam und voller Scham kam ich ihr näher und sagte halblaut: »Mama?«

»Ach Sohn, warum musst du denn immer so trödeln!«, sagte sie streng. »Dein Vater ist außer sich!« Trotz der Strenge lag in ihrer Stimme ein krächzendes Seufzen und sie wischte sich mit ihrer Schürze das Gesicht ab.

Ich wusste sofort, was los war, und da kam auch schon die tiefe, brüllende Stimme aus der Stube: »So ein nichtsnutziger Taugenichts! Faul und stur! Aber ich werde ihm schon Manieren beibringen!«

Mit krebsrotem Gesicht eilte Vater aus dem Haus. Sein Hemd war halb offen, seine Ärmel hochgekrempelt und seine Hände zu Fäusten geballt. Ich schloss die Augen und ließ den Korb mit den Holzscheitern auf den Schotterboden fallen.

Ach würde mich doch dieser eisige Wind, welcher von den Bergen kam und durchs Tal zog, einfach hinfortwehen!

Meine Mutter schrie im Hintergrund: »Alois, er meint es doch nicht so, lass ihn!!!«

Sie weinte, jedoch vergeblich.

Ich wusste, dass all dieser Schmerz und diese Trauer eines Tages aufhören würden.

Irgendwann hörte alles auf …

Etwa eine halbe Stunde später lag ich in meinem dunklen Zimmer im Bett und starrte auf die Decke. Mein Körper schmerzte und ich drückte die Augen ganz fest zu.

Es klopfte an der Zimmertüre – »Christoph?«

Ich antwortete nicht.

Die Türe öffnete sich und meine Mutter kam herein, mit einem Waschlappen in der Hand. Sie knipste das Licht an und setzte sich zu mir ans Bett.

Reflexartig zog ich die Decke über den Kopf.

Sie zögerte und sagte: »Christoph, du weißt, dass dein Vater viel arbeitet …« – sie wusste wohl wieder einmal nicht, wie sie ihre Worte wählen sollte.

»Du kennst ihn ja …«, sagte Mutter leise.

Ich drehte mich zu ihr um.

»Ich will niemals so werden wie er!!!«, schluchzte ich voller Zorn und Trauer.

»Lieber möchte ich tot und bei Opa sein!«

»Schatz, du weißt, dass Opa von dir gewollt hätte, dass du hier am Hof alles gibst! Er hat doch zu dir gesagt, dass du niemals aufgeben sollst!«

Mutter zog die Decke von meinem geschwollenen und blutigen Gesicht. Leicht geschockt hielt sie kurz inne und wischte mir schließlich mit dem Lappen über die Wunden – das übliche Ritual.

Ich wusste, dass Großvater diese Worte in einem ganz anderen Zusammenhang gewählt hatte.

Wir waren damals gerade dabei gewesen, ein kleines Flugzeug aus Sperrholz zu bauen, und ich war der Meinung gewesen, dass ich einfach nichts anständig zusammenbrächte.

»Christoph, du darfst deine Träume nicht einfach so schnell aufgeben! Dein Vater hat dies bereits getan. Mache nicht denselben Fehler!«, hatte mir mein Großvater damals eingebläut. Dann hatte er mir gezeigt, wie ich die Flügel am Rumpf des Flugzeuges anbringen sollte. Als es dann fertig gewesen war, hatte ich es über die steile Wiese fliegen lassen und war glücklich gewesen. Der Wind hatte das Flugzeug etliche Meter weit getragen und ich war mit meinem Opa hinterhergerannt …

»Opa war viel lieber als Papa!«, protestierte ich.

»Schatz, dein Großvater war es, der den Hof in den Ruin getrieben hat! Er hat sich viel zu sehr seinem Violinstudium und seinen Fantastereien über naturfreundliche Energie hingegeben, ihm hast du es zu verdanken, dass wir heute so leben müssen!«

»Nein, das ist nicht wahr! Vater trinkt einfach zu viel!«, argumentierte ich weiterhin meiner Mutter gegenüber. Verachtend wies ich sie von mir.

Sie schüttelte den Kopf, seufzte, legte mir den Waschlappen auf das Nachtkästchen und schritt mit gesenktem Kopf zur Türe hinaus.

Rebellisch zog ich mir abermals die Decke über den Kopf.

Es wurde wieder dunkel im Zimmer.

Irgendwann würde alles aufhören! Ich wollte weg, ganz weit weg!!!

Ich versuchte die ganze Realität um mich herum einfach zu verdrängen.

2. Das Weihnachtsoratorium

Bei einer andächtigen Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.Johann Sebastian Bach

Richtig aufgeregt wiederholte ich immer wieder leise meinen Text für das Weihnachtskrippenspiel zu Heiligabend 2022.

I ha°b zwa nit vül, a°ba mein Ma°ntl wüll i da geb’n, der wiad di sicherlich gua°t weaman, wa°nns wiada ama°l k°alt wiad, in dein’ Leb’n!«

Stolz hielt ich meine Blockflöte in der Hand und begutachtete sie. Ich hatte sie von Frau Huber in der ersten Klasse zu meinem siebenten Geburtstag geschenkt bekommen. Das Instrument war wirklich etwas ganz Besonderes, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass es aus dem Holz der Haselfichte hergestellt worden war, jenem Holz, aus welchem auch eine Stradivari gemacht wurde.

Meine Mutter klopfte an die Türe. »Zeit zum Aufstehen, Christoph!«

Ich hüpfte aus meinem Bett und rannte in das Badezimmer.

Offiziell war an diesem Tag keine Schule, aber unsere Klasse traf sich in der Basilika für die Generalprobe unseres Weihnachtsspiels.

Unten, in der Stube, zog ich mir Strickjacke, Wollmütze, Handschuhe, meinen Lieblingsschal und meine Winterstiefel an und verließ das Haus. Mein Vater ärgerte sich furchtbar über meine Eile, zur Schule zu gelangen.

Ich stapfte durch den Tiefschnee. Es schneite wieder und ich freute mich über den Schnee zu Weihnachten!

Wie jeden Tag legte ich den Schulweg alleine zurück. Ich war vom Vater nur ein einziges Mal abgeholt worden und das war eben an meinem ersten Schultag.

Als ich mich dem Schulgebäude näherte, sah ich Melanie, Lisa und Sebastian einen Schneemann bauen.

»Hallo!«, rief ich fröhlich.

»Hallo, Christoph!«, antworteten sie im Chor.

Florian, Werner und Gernot bewarfen sich wieder mit Schneebällen und rieben sich gegenseitig im Schnee ein. Ich mied sie, so gut ich konnte.

Eltern standen vor der Schule, plauderten und flüsterten. Die restlichen Kinder beschäftigten sich ebenfalls mit Schneemannbauen, Schneeengelformen oder anderen lustigen Winterspielen.

»Hast du deinen Text gut gelernt?«, fragte mich Lisa.

»Ja, gestern, den ganzen Abend, und heute wieder in der Früh«, antwortete ich stolz.

»Ich spiele gerne die Maria, es ist meine Lieblingsrolle«, meinte Lisa.

»Du bist ja auch die Intelligenteste von uns allen«, mischte sich Melanie ein. »Christoph und mir gefallen die Hirten, nicht wahr?«

»Stimmt.«

Florian würde der Josef sein, denn er hatte sich die Rolle bei Frau Huber erbettelt.

In dem Moment kam auch schon die Lehrerin in ihrem Ledermantel und mit ihrem bunt gestrickten Schal aus dem Schulgebäude. Sie trug wieder einen großen Karton mit Requisiten in den Händen.

»Guten Morgen, Kinder, sind wir vollzählig? Macht bitte eine Zweierreihe!«

Sie ermahnte die drei Jungs mit den Schneebällen in den Händen und zählte uns ab.

»Alles klar, liebe Eltern, die Kinder sind hier wieder um zwölf Uhr abzuholen. Wir gehen nun zur Kirche!«

In Zweierreihe überquerten wir die Gailtal Straße, die Hauptstraße des Ortes, und stapften die schmal ausgeschaufelte Rampe bei den Souvenirshops vorbei zur Basilika hinauf.

Wir gelangten auf den von Mauern umgebenen Kirchplatz und Pfarrer Berger überquerte die verschneite Wiesenfläche. Er war mit einem schwarzen Mantel gekleidet, unter welchem man Soutane und Kollar erkannte. Auf seinem Haar hatten sich kleine Schneeflocken angesammelt.

»Hallo! Gehen wir gleich hinein, drinnen schneit es wenigstens nicht«, verkündete er.

Pfarrer Berger sollte uns Erstklässlern vor der Probe eine Kirchenführung geben.

Er führte uns in das Läuthaus des Granit- und Schieferturmes mit Doppelzwiebel und anschließend in den sakralen Innenraum.

Als wir alle um ihn versammelt waren, begann er zu reden:

»Nun gut, die heutige Wallfahrtskirche von Maria Luggau, Maria Schnee, wurde im Jahre 1536 feierlich eingeweiht und um 1736, nach einem Brand, völlig neu und im barocken Stil wiederaufgebaut. Trotzdem erkennt man immer noch Überreste aus der Zeit der Gotik. Die Innenausstattung der Kirche ist größtenteils barockisiert worden. Das Kirchenschiff, in welchem wir uns befinden, ist 30 Meter lang und 10 Meter breit.«

Der Pfarrer ging weiter und unsere Gruppe folgte ihm. Obwohl ich das Meiste von dem, was er uns gesagt hatte, nicht verstand – und hierbei war ich sicherlich nicht der Einzige –, mochte ich Pfarrer Bergers Art, vor allem seine ruhige Stimme und seinen offenen, gutmütigen Blick. Auch die Kirche war für mich irgendwie ein beruhigender und Kraft spendender Ort …

Innen stach mir sofort wieder der Hochaltar mir rotem Mantel und goldenem Dächlein ins Auge. Vor den Chorschranken war ein Podium aufgebaut, angeglichen an die Empore. Darauf standen vier große, mit Kabeln verbundene Mikrofone und ein Notenpult.

Melanies Onkel führte uns direkt zum Herzstück der Kirche, zur Schmerzensmutter, einer Pieta.

Mein Kopf kreiste und ich versuchte all die Eindrücke in mir aufzunehmen.

»Vielleicht sollte ich euch noch die Gründungsgeschichte unserer Basilika erzählen, ihr könnt euch aber hierzu gerne hinsetzten …«, leitete der Pfarrer schließlich über.

Die Gruppe nahm zufrieden in der Kirchenbank Platz.

»Nun denn. Wer von euch kennt die Sage von der träumenden Helena?«, erhob Pfarrer Berger seine Stimme.

Nur Melanie zeigte auf und er musste lachen.

Pfarrer Berger begann: »Gut. Wir schreiben das Jahr 1513. Die arme Bäuerin Helena hatte hart auf dem Getreideacker gearbeitet und wollte sich zur Mittagszeit ein kleines Schläfchen unter dem Baum gönnen. In ihrem Traum hatte Helena eine Vision. Ihr erschien die schmerzhafte Maria, welche sie bat, ihr zu Ehren an diesem Ort eine Kapelle zu errichten. Als Helena aufwachte, schenkte sie ihrem Traum keine besondere Beachtung und machte sich wieder an die Arbeit. Doch Tag für Tag ließ sie dieser Traum nicht mehr los und sie beschloss, ihre Vision auf eine Probe zu stellen. Als eines Tages ein Sturm aufkam, stellte Helena eine brennende Kerze mitten auf einen Getreideacker. Erlosch die Kerze nicht, würde sie der Bitte Mariens in ihrem Traum Folge leisten. Und in der Tat, die Kerze brannte drei Tage lang, trotz des stürmischen Wetters! Ermutigt in ihrem Glauben, ließ sich Helena von einem Schnitzer aus Maria Luggau eine kleine Pieta schnitzen. Diese Pieta steht heute noch vor euren Augen am Altar und soll hunderte von Pilgern in ihrem Glauben bestärken, so, wie damals auch die träumende Helena von Gott gestärkt wurde …«

Es war still in der Kirche. Ich hatte mir die gesamte Geschichte bildlich vorgestellt:

Die träumende Helena … das Gewitter … das hell leuchtende Licht … die kleine geschnitzte Pieta.

»Wegen des Kerzenwunders wurde Helena als Hexe angeklagt und ins Gefängnis geworfen. Doch wie durch ein weiteres Wunder wurde die Anklage gegen sie fallen gelassen und die Kapelle letztendlich doch erbaut. Ihr tiefes Vertrauen in Maria und Gott hatte ihr dabei geholfen.

Einige Jahre bewahrte ein Zimmermann namens Anton Mayrhofer von Obergail die Pieta davor, von einem geistig umnachteten Einwohner des Dorfes entwendet zu werden. Der verwirrte Mann erlangte, nachdem er aufgehalten wurde, plötzlich seinen Verstand wieder.

Dieses Wunder lockte auch viele Wallfahrer an und sie kamen von nah und fern.

Schließlich reichte die Kapelle für die vielen Wallfahrer nicht mehr aus und Helena setzte sich für den Bau einer größeren Kirche ein. Sie fand Unterstützung in einem gewissen Johann von Manndorf, den Verwalter von Schloss Pittersberg, welches dem Grafen Gabriel von Ortenburg gehörte. Johann von Manndorf ritt los, um sich den Ort Maria Luggau genauer anzusehen, wurde jedoch dort von Helenas Gegnern zur Rückreise nach Kötschach Mauthen gezwungen. Wieder kam ein Gewitter auf und es sollte sich ein weiteres Wunder ereignen. Manndorfs Pferd scheute und warf seinen Herren ab. Beim Sturz verfing sich Manndorfs Fuß im Steigbügel und er wurde meterweit mitgeschliffen. In seiner Todesangst betete Manndorf zur heiligen Gottesmutter mit dem Vorsatz, er begänne den Bau der Kirche zu Maria Luggau, wenn ihm das Leben geschenkt werden würde. Seine Gebete wurden erhört und auch er hielt sein Versprechen, wie Helena. Seiner zum Gedenken wurde in Oberring bei Liesing eine Kapelle errichtet. Es ist genau die Stelle, an der er einst vom Pferd gestürzt war.

Die heutige prächtige Wallfahrtskirche Maria Schnee wurde schließlich im Jahre 1986 von Papst Johannes Paul persönlich zur Basilika minor erhoben.«

Ein Gewitter … ein Reiter im Sturm … der unglückliche Sturz von seinem Pferd … sein Gebet … und die Erscheinung.

Pfarrer Berger hatte seine Erzählung inzwischen beendet und schaute nun in meine Richtung.

»Alles in Ordnung, Christoph? Du wirkst so … erschrocken?«

Ich wurde rot. »Nein, Herr Pfarrer, alles in Ordnung, ich habe nur … über die Geschichte nachgedacht«, erklärte ich offen und ehrlich.

»Alles klar. Ich möchte hiermit meine kleine Religionsstunde über die Kirche beenden«, sagte der Pfarrer.

Unsere Klasse applaudierte, den meisten von uns hatte zumindest die Geschichte sehr gut gefallen.

»Danke. Nun aber wird es Zeit, dass ihr zu eurer Probe kommt! Um zwölf Uhr proben der Kirchenchor mit Orchester und anschließend die Trachtenkapelle. Die Christmette heute am Abend wird sicherlich etwas ganz Besonderes werden, unter anderem wird der erste Teil von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, das Jauchzet, frohlocket aufgeführt und auf euer Krippenspiel freut sich auch schon das ganze Dorf!«

»Danke für alles, Herr Berger. Die Kinder sind sicher auch schon ganz aufgeregt!«, sagte Frau Huber.

Der Pfarrer verabschiedete sich von uns und ging seines Weges.

»Gut, meine Lieben, gehen wir es an!«, verkündete unsere Lehrerin motiviert.

Drei Stunden später waren wir am Ende unserer Probe angelangt.

»Und wia sing’n, volla Freid und Da°nkbarkeit, und verkünd’n de frohe Botschaft an a°lle Leit’!«, sprach die Gruppe die letzten Worte im Unisono.

Frau Huber gab uns einen Applaus.

»Perfekt Kinder, perfekt! Ihr werdet das am Abend sicherlich wunderbar machen!«, lobte sie uns. »Nun gehen wir bitte in Zweierreihe zurück zur Schule!«

Wir räumten die Requisiten zur Seite, die Instrumente in den Karton und stellten uns jeweils zu zweit in die Reihe.

Just in dem Moment, als wir uns auf den Weg machten, ging die Kirchentüre auf und einige Frauen und Männer in prachtvoller roter Tracht betraten das Heiligtum. Die Männer trugen schwarze Lederhosen, rote Jacken und gelb-grüne Hüte mit weißen Federn. Die Kleider der Damen hatten die Farben Schwarz, Weiß, Rot und Grün, ihre Schürzen waren blau mit einem weißen Muster.

Alle kamen sie mit ihren Instrumenten in die Kirche. Gerne hätte ich noch gehört, wie sie probten, doch die Glocke läutete bereits 12:00 und wir mussten zurück …

Wir traten wieder ans Tageslicht und zu unserer Verwunderung hatte es aufgehört zu schneien. Die Schneehaufen links und rechts auf den ausgeschaufelten Wegen gingen uns fast bis zur Brust.

»He, Kirchberger, pass nur auf, dass du deinen langen Text nicht vergisst!«, kam es von hinten.

Gelächter war zu hören. Ich drehte mich um und funkelte Florian böse an.

»Warum musst du immer so gemein zu mir sein?«, platzte es aus mir heraus.

»Oooohhhh!«, gab er mir zurück, und die Burschen lachten wieder. Frau Huber bekam von allem nichts mit.

»Ich finde, wir sind ein gutes Team!«, tröstete mich Melanie.

Zurück bei der Schule kündigte unsere Lehrerin den gemeinsamen Treffpunkt am Abend an. Dann zerstreute sich unsere Klasse.

Fröhlich hopste ich den Weg zum Sonnenhof hinauf und rutschte beinahe aus.

Der heutige Tag war etwas ganz Besonderes! Auch die übliche miese Laue meiner Eltern konnte mir heute nichts anhaben, denn … es war Weihnachten!

Zum Mittagessen gab es Gulaschsuppe mit Brot. Die Stube war gut eingeheizt.

»Was gibt es da bitte zu grinsen?«, schnauzte mich mein Vater am Tisch an.

»Ich spiele heute Blockflöte … und einen Hirten in einem Theaterstück!«

»Ich kenne ein besseres Spiel und das heißt Bodenschrubben!!!«, kommandierte er.

Mein Nachmittag war also – wie immer – verplant, doch den bevorstehenden Abend konnte er mir nicht nehmen!

– Neun Stunden später –

Vater und Mutter hatten sich in ihr bestes Festtagsgewand geworfen. Ich selbst trug olivgrüne lange Wollstutzen, ein rot-weiß kariertes Hemd, darüber eine braune Lederhose und ein rot-weißes Halstuch.

In der Küche roch es nach frisch gebackenem Christstollen. Ich hockte auf der Küchenbank und reinigte meine Blockflöte. Vater polierte daneben sein Jagdgewehr.

Die Scheiter krachten im Kamin. Die Standuhr tickte. Keiner sprach ein Wort.

»Wollen wir nicht etwas Gemeinsames machen, es ist Weihnachten!«, versuchte Mutter eine Kommunikation aufzubauen.

»Nein, und kannst du bitte deinen Mund halten, das interessiert nämlich keinen!«, raunzte Vater zurück.

Mutter seufzte und schwieg. Die alte Standuhr läutete 21:15.

»Es wird Zeit!«, kündigte Vater an. Er legte die Teile seines Gewehrs beiseite und wischte sich die Hände mit einem Tuch ab.

Mutter nahm den Stollen aus dem Ofen. Wir zogen uns unsere Mäntel an und traten hinaus in die Kälte. Ein leichter eisiger Wind wehte vor der Tür. Es schneite noch immer.

Wortlos stapften wir zur Kirche hinunter. Ich hätte mich so gerne mit meinen Eltern über den bevorstehenden Abend unterhalten, aber ihre Blicke lehnten jegliche Unterhaltung ab.

»I ha°b zwa nit vül, a°ba mein Ma°ntl wüll i da geb’n, der wiad di sicherlich gua°t weaman, wa°nns wiada ama°l k°alt wiad, in dein’ Leb’n …«, wiederholte ich leise.

In der Ferne funkelten helle Lichterketten an den Dächern der Bauernhöfe.

In der Mitte des Kirchplatzes stand ein riesiger Christbaum, umwickelt von Lichterketten. Rund um diesen Baum waren Buden aufgestellt. Es wurden Handwerksdekorationen und lokale Produkte verkauft. Ich entdeckte einen Honig-, einen Lebkuchen-, einen Brot-, einen Schokoladen-, einen Kräuterstand und noch viele mehr. An einer Bude wurden sogar selbstgebackene Mehlspeisen verkauft! Leute schwirrten von Hütte zu Hütte. Eine Traube von Menschen war vor dem Punschstand versammelt. Düfte von verarbeiteten Orangen und Nelken lagen in der Luft und vermischten sich mit den Aromen von Honig und Lebkuchen.

Ein paar Kinder vom Ort standen vor einem Spielwarenstand, welcher Spielsachen aus Holz verkaufte. Hölzerne Engel hingen dort auf Spiralen vom verschneiten Dächlein herab und hüpften auf und nieder.

Tausend Kindlein steh’n und schauen, sind so wunderstill beglückt« (Joseph von Eichendorff), fällt mir heute dazu ein.

Meine Eltern gingen entgeistert an all den Dingen vorüber.

Einige Bewohner des Dorfes entdeckten meine Familie und wandten ihre Blicke sofort ab.

Dann sah ich ein paar Schüler aus meiner Klasse mit Frau Huber vor der Kirche stehen und eilte zu ihnen. Alle Kinder waren in schöner Feiertagstracht angezogen. Melanie begrüßte mich warm und herzlich.

Unsere Lehrerin begrüßte meine Eltern und wünschte ihnen Frohe Weihnachten, als diese an unserer Klasse vorbeigingen. Vater ignorierte sie und Mutter nickte nur knapp zurück – ich schämte mich so für sie …

Melanie sprach weiter: »Ich habe heute neue Klaviernoten vom Christkind geschenkt bekommen, dann noch Keksformen und ein neues Kleid. Was habt ihr so bekommen?«

»Neue Spielzeugautos und ein cooles Federpennal!«, brachte sich Sebastian ein.

»Ich habe auch ein neues Kleid bekommen, und Schmuck!«, sagte Lisa.

»Ach, hört auf, jeder weiß doch, dass es kein Christkind gibt!«, wusste Florian schon wieder besser.

»Natürlich gibt es eines, sonst gäbe es ja auch kein Weihnachten!«, verteidigte sich Melanie. »Und du Christoph, was hast du bekommen?«, fragte sie mich.

»Ts …«, sagte Florian und wandte sich von unserer Gruppe wieder ab.

Alle Augen waren nun auf mich gerichtet.

»Ich … ähm … ich werde ein Stück von Mamas Stollen bekommen!«, sagte ich zufrieden.

»Was, keine Geschenke?«, fragte Lisa entsetzt.

»Das ist ein Geschenk!«, rechtfertigte ich mich. »Spielsachen gibt es bei uns schon lange nicht mehr … zumindest nicht mehr seit … Opa tot ist …«

Der letzte Satz bedrückte mich sehr.

»Das ist ja total traurig, Christoph«, tröstete mich Melanie und nahm mich in den Arm.

»Aber mach dir nichts draus, mein Onkel sagt, dass Geschenke nicht das Wichtigste an Weihnachten sind.«

Weitere Schüler kamen zu uns. Florian prahlte inzwischen vor den anderen über seine nagelneue Modelleisenbahn, die er heute bekommen hatte. Finanzielle Mängel hatten die Bernsteins offensichtlich wohl nicht.

Unsere Lehrerin zählte die Köpfe unserer Klasse.

»Wir sind vollzählig, gehen wir in die Sakristei!«

Dort begrüßte uns Melanies Onkel und teilte jedem von uns einen kleinen Engel aus Ton aus. Die Türe, die in den Innenraum der Kirche führte, stand einen Spalt weit offen. Neugierig spähte ich hindurch. Ich wurde beinahe überwältigt!

Die Kirche war voller schön angezogener Leute. Scheinwerfer leuchteten auf ein Podium, auf dessen rechter Seite ein kleiner beleuchteter Weihnachtsbaum stand. Links hinten saß ein kleines Ensemble mit interessant aussehenden Instrumenten, welche ich noch nicht kannte. Oberhalb des Volksaltares hing ein großer Adventkranz mit vier brennenden Kerzen, dreimal lila und einmal rosarot. An der mir gegenüberliegenden Kirchenwand stand die prachtvolle Trachtenkapelle von Maria Luggau.

Ich wurde aufgeregt.

»Also gut, Kinder! Unser erstes Stück ist Es wird schon glei dumpa, als Zwischengesang. Jeder nimmt bitte sein Instrument in die Hand und hält es bereit!«

Draußen hatte sich inzwischen der Kirchenchor am Podium positioniert. Die Mitglieder trugen ebenfalls typische Lesachtaler Tracht.

Pfarrer Berger zog sich sein goldenes Messgewand an und wünschte uns viel Glück.

Die Eingangsglocke klingelte. Dann ertönte die Orgel, hell und laut. Der Priester trat mit seinen Ministranten hinaus vor den Altar. Nach dem Präludium richtete er seine Worte an die Gemeinde:

»Liebe Brüder und Schwestern, wir haben uns heute hier versammelt, um gemeinsam die Geburt unseres Herrn zu feiern … Die Messe heute Abend wird musikalisch umrahmt von … der Luggauer Trachtenkapelle unter der Leitung von Albert Hauser, der vierten Klasse, der Thomas-Tiefenbacher-Volksschule unter Agnes Huber, dem Kirchenchor von Marianne Wiesbauer und dem Kirchenorchester von Johann Schmidt. Im Anschluss an die heilige Messe hören Sie den ersten Teil aus Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, »Jauchzet, frohlocket«, aufgeführt von Kirchenchor und Orchester …«

Nachdem der Pfarrer fertig gesprochen hatte, gab Frau Wiesbauer ihrem Chor den Einsatz. Der Sopran setzte mit schnellen Motiven ein und sang in einer mir nicht bekannten Sprache. Dann kamen der Alt, der Tenor und zuletzt der Bass.

Entzückt von der Musik schaute ich mir das große Hochaltargemälde mit der Himmelfahrt Mariens an und verspürte etwas in mir. Es war eine Art Glücksgefühl in meinem Herzen, ein Gefühl, welches sich auf meinen ganzen Körper ausbreitete und meine Seele erhob …

»Vtebe tovar ves horosyj budes maty mirkuhrosej …«

Ich fühlte mich entfesselt, frei und lebendig.

Heute weiß ich, dass das Lied Schtschedryk hieß, ein ungarisches Volkslied von Mykola Leontowytsch, welches die Geschichte einer Schwalbe erzählte, die zu einem Mann flog und ihm prophezeite, dass ihm im kommenden Frühling sehr viel an Gutem widerfahren würde.

Mit jedem Takt erschien mir das Lied gewaltiger und ich blickte hoch hinauf zu den Deckenfresken der Kirche und sah die sieben Schmerzen Mariens. Ich verspürte selbst einen kleinen Stich im Herzen. Oben, bei der Orgel, sah ich auf einmal wirklich eine Schwalbe auf der Brüstung sitzen.

Bildete ich mir das nur ein?

Dann wurde mir leicht schwindelig …

»Alles in Ordnung, Christoph, du wirkst so blass!?«, fragte mich Frau Huber besorgt.

»Es … es geht schon«, log ich.

»Setz dich ein wenig hin, dir ist sicherlich schwindelig vom vielen Stehen«, bot sie mir an.

Melanie zeigte mir einen Stuhl in der Sakristei.

»Was ist los, Christoph?«, flüsterte sie zu mir.

»Mir … ist von der Musik ganz schwindelig geworden«, sagte ich verwirrt.

»Dir ist von der Musik schwindelig geworden?«, wiederholte sie fragend.

»Ich hab mich wohl zu sehr in sie hineinversetzt«, gab ich ihr zur Antwort.

»So ein Schwächling!«, hörte ich Florians Stimme im Hintergrund sagen.

Das Lied war aus. Dann war eine Frauenstimme zu hören, die aus der Heiligen Schrift vorlas.

»Lesung aus dem Buch Jesaja …«

»Bereit machen, Kinder, wir treten gleich auf!«, verkündete Frau Huber. »Hat jeder sein Instrument dabei? Und Christoph, geht es dir besser?«

»Ja, Frau Lehrerin«, sagte ich.

Ich sprang auf und wurde wieder aufgeregt.

»Los geht’s, meine Lieben, alles Gute!«

In Zweierreihen marschierten wir durch die Türe. Um die 100 Augen starrten auf uns gebannt. Wir stellten uns hinter die Mikrofone. Die Scheinwerfer leuchteten auf uns. Frau Huber richtete uns noch ein wenig ein, danach gab sie den Ton g’ auf ihrer Stimmgabel an. Sie nahm ihre Gitarre zur Hand und nickte mir zu.

Stille.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich suchte den Kirchenraum nach meinen Eltern ab, fand sie jedoch nicht. Dann, schließlich, nahm ich all meinen Mut zusammen, setzte die Blockflöte an und spielte, e’-a’-a’-h’-cis’’-e’’-e’’_ – die Klasse musizierte.

Es wird scho glei dumpa, es wird scho glei Nacht …

Ich genoss das Flötenspiel und die herrlichen Klänge. Es folgten noch zwei weitere Strophen, dann der Schlussakkord.

Wir hatten es geschafft!

Puterrot setzte ich die Blockflöte ab. Ein gutes Gefühl der inneren Zufriedenheit durchdrang mich. Frau Huber zwinkerte uns zu und deutete uns abzutreten.

»Super«, flüsterte sie in der Sakristei. »Schön hast du gespielt, Christoph!«

»Danke!«, erwiderte ich.

Auftritt Nummer zwei verlief ebenfalls gut, ich hatte noch immer nicht meine Eltern entdeckt …

Auf unser Ihr Kinderlein kommet folgte allgemein das Halleluja, gespielt von der Trachtenkapelle Maria Luggau und gesungen von der Gemeinde. Ich bewunderte die vielen verschiedenen Instrumente. Einige glänzten im Scheinwerferlicht. Ihr Klang war mächtig und harmonisch.

Der Pfarrer verkündete das Evangelium:

» In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen …«

Ich kannte die Geschichte bereits. Frau Huber hatte sie uns mit ihren eignen Worten erzählt. Es war die Geschichte von der Geburt des Jesuskindes, jene Geschichte, die jedes Jahr zu Weihnachten auf der ganzen Welt verlesen wurde!

Herr Berger richtete danach ein paar Worte an das Volk und kündigte unser Krippenspiel an: »Hören wir nun noch einmal die Weihnachtsgeschichte, diesmal erzählt von vierten Klasse von Agnes Huber, Thomas-Tiefenbacher-Volksschule, Maria Luggau.

Die Lehrerin schickte die Bühnenbildner voraus, die eine Türe und einen gebastelten Esel aus Holz auf das Podium stellten. Wir, die Schauspieler, zogen uns inzwischen um. »Hast du wohl deine Zeilen gut gelernt, Kirchberger?«, fragte mich Florian provozierend, während er in seinen Mantel schlüpfte und sich den Bart aufklebte. Er würde den Josef spielen.

Lisa, als Maria, zog sich ihr Kopftuch über. Barbara, Miriam und Manuel bekamen Kronen und Seidengewänder, Gold, Weihrauch und Myrrhe – sie waren die Heiligen Drei Könige. Melanie, Sebastian und ich, die Hirten, nahmen unsere grünen Mäntel, unsere Hüte und Stäbe zur Hand.

»Hab ich. Ich hoffe, du auch, Bernstein!«, wehrte ich mich diesmal und schaute ihn finster an.

Er blickte herausfordernd zurück …

»Bereit?«, vergewisserte sich Frau Huber. »Dann los!«

Wir marschierten in den Kirchenraum und erhielten Applaus.

Das kleine Ensemble positionierte sich und begann zu musizieren:

»Vor l°anga Zeit in Betlehem, in ana ka°lten Na°cht, da ha°b’n sich Maria und da Josef aufgema°cht. De Schwa°ng’re wiad von an Es’l, g’schleppt, ihr Ma°nn der wa°r ga°nz s°acht. A Örtle z’schlafen, des warat fein, doch leida, s’ wollt net sein.«

Ein Wirt trat vor die Türe.

Das gesamte Stück war von Frau Huber eigens geschrieben worden und wurde in der Kärntner Mundart aufgeführt.

Florian war der Stolz ins Gesicht geschrieben – er hielt sich wohl für den heimlichen Star.

Lisa sprach dennoch lauter und deutlicher und hatte meiner Meinung nach mehr schauspielerisches Talent als er.

Nach einigen Szenen der Herbergsuche wurde die Türe abgebaut und ein künstliches Lagerfeuer und Plüschschafe wurden von den Bühnenbildnern positioniert. Wieder ertönte das Ensemble.

»Drei Hirten la°gan auf’n Föld, die Scha°f sand guat bewa°cht. Da kiemt a Engerl, vom liab’n Gott und se wa°r’n aufgewa°cht.«

Der Engel, gespielt von Andreas, verkündete den Hirten die frohe Botschaft von Christi Geburt. Wir machten uns auf den Weg zum Stall nach Betlehem. Die Heiligen Drei Könige folgten ebenfalls dem aufgehenden Stern. Beim Stall angekommen, brachten sie dem Jesuskind ihre Gaben dar. Dann sprachen wir vor dem Ehepaar vor.

Melanie erhob ihre Stimme:

»Mei liab’s Jesuskind, i ha°b da guate Kreitlan g’bra°cht, in dieser ga°r so ka°lt’n Na°acht.«

Sebastian sagte auf:

»I hoff, dir schmeckt mei Ziag’nmülch, g’sund s’ is se a°llema°l. I ha°b se da von weit her g’bra°cht, se kiemt aus mein’ Heimatta°l.«

Ich wollte gerade meine Stimme erheben, als ich auf einmal meine Eltern erblickte. Sie saßen von mir aus gesehen in der letzten Bankreihe auf der linken Seite. Mein Vater blickte finster und gelangweilt. Geistesabwesend erhob ich meine Stimme:

»I …« – Der Satz erstickte mir in der Kehle und ich verstummte. Die erwartungsvollen Blicke der Leute lasteten auf mir.

»I …« – ich konnte es einfach nicht und mir kamen beinahe die Tränen.

»I ha°b zwa nit vül …«, flüsterte mir Frau Huber zu.

Ich fasste all meinen Mut zusammen und brachte den Satz irgendwie hervor:

»I ha°b zwa nit vül, °aba i mein Ma°ntl wüll i da geb’n, der wiad di sicherlich gua°t weaman, wa°nns wiada ama°l k°alt wiad … in dein’ Leb’n …«

Ich gab dem Jesuskind meinen Mantel.

Irgendwie war ich nicht mehr ich selbst …

Das heilige Ehepaar bedankte sich bei uns und wir knieten uns alle im Stall nieder.

»Und wia sing’n, volla Freid und Da°nkbarkeit, und verkünd’n de frohe Botschaft an a°lle Leit’!«

Wir traten ab. Enttäuscht setzte ich mich auf den Stuhl in der Sakristei. Frau Huber tröstete mich: »Das macht nichts, Christoph! Das kann jedem einmal passieren …«

Tränen kullerten mir über die Wangen und meine Lehrerin tupfte sie mit einem Taschentuch ab. Ich wollte reden, doch ich konnte nicht.

»So ein Loser …«, hörte ich Florian sagen. Werner und Gernot lachten.

Nun legte Frau Huber richtig los: »So, ihr hört mir jetzt einmal ganz gut zu! Man macht sich nicht lustig über andere Leute und schon gar nicht in einer Sakristei! Wenn die Schule wieder beginnt, gibt es für euch Zusatzhausübungen!!!«

Das Gelächter hörte nun augenblicklich auf und die Jungs blickten sie kleinlaut an.

Ich hatte mich inzwischen wieder beruhigt.

»Geht es wieder, Christoph?«, fragte mich Frau Huber.

Ich nickte. Sie war ein so liebenswürdiger Mensch, ganz im Gegensatz zu … manchen anderen Leuten eben.

»Ein Lied am Ende der Messe noch, Kinder, dann haben wir es geschafft!«

Vor der Sakristeitür sang der Kirchenchor gerade das Locus iste von Anton Bruckner.

Ich stand auf, spähte durch die Tür und genoss den sphärischen Klang.

Bald darauf gingen wir zur Kommunion. Der Organist spielte beruhigende Klänge auf der Orgel. Sie war vergoldet und thronte unter den Fresken, über dem Kircheneingang, genau … über meinen Eltern.

Wir gingen zurück in die Sakristei. Nach der Kommunion sang die Gemeinde den Dankhymnus und anschließend kam unser letzter Auftritt – Auftritt Nummer drei!

Hinter uns standen Kirchenchor und Trachtenkapelle.

Die Lichter gingen aus, nur der Weihnachtsbaum leuchtete.

Der Pfarrer und die Ministranten hielten Sternspritzer in den Händen. Die Kapelle spielte und die Gemeinde begann zu singen:

1. Stille Nacht, heilige Nacht!

Alles schläft, einsam wacht …

2. Stille Nacht, heilige Nacht!

Hirten erst kundgemacht …

3. Stille Nacht, heilige Nacht!

Gottes Sohn, o wie lacht …

Zurück in der Sakristei lobte uns Herr Berger.

»Ihr habt eine super Aufführung hingelegt, Kinder! Gott ist sicherlich stolz auf euch … Und Christoph, keine Sorge wegen dem Patzer, das passiert mir ständig bei meinen Predigten« – er zwinkerte.

Ich nickte und musste lachen

Frau Huber erhob wieder ihre Stimme:

»Also, Kinder, wer mit seinen Eltern ausgemacht hat, gleich nach der Messe nach Hause zu gehen, kommt mit mir vor die Kirche. Wer das Konzert sehen möchte, setzt sich mit Pfarrer Berger und Melanie in die Bankreihe. Noch einmal danke an euch, ihr wart einsame Spitze!«

»Komm, Christoph, gehen wir zuhören!«, drängte mich Melanie.

Sie zog mich an der Hand. Sebastian, Lisa und noch sechs andere Leute unserer Klasse kamen ebenfalls mit. Wie aufgefädelt saßen wir auf einer Bank.

Die Streicher stimmten gerade ihre Instrumente auf der Bühne. Pfarrer Berger begann leise zu erklären: »Das Weihnachtsoratorium stammt von Johann Sebastian Bach aus der Barockzeit. Es besteht aus sechs Teilen und wurde ursprünglich zwischen dem ersten Weihnachtstag, dem 25. Dezember und dem 06. Jänner, dem Heiligendreikönigstag, aufgeführt. Ihr werdet nun den ersten Teil, das Jauchzet, frohlocket, hören. Es geht darin um die Geburt Jesu Christi. Auf der Bühne seht ihr Querflöten, Oboen, Pauken, Trompeten, Geigen, eine Viola, ein Cello und ein Fagott. Die Orgel wird auch erklingen. Sie wird den Chor und die vier Solisten begleiten!«

Gerne hätte ich mir all diese Instrumentennamen damals gemerkt.

Pfarrer Berger gab uns auch während dem Konzert immer wieder Informationen zum Aufbau des Oratoriums.

Die Trompeten und die Pauken begannen, der Chor setzte ein und verkündete die Geburt Jesu:

»Jauchzet … frohlocket …«

Nach dem Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten in D-Dur, folgten zwei Rezitative, Es begab sich aber zu der Zeit, Tenor und Nun wird mein liebster Bräutigam, Alt. Dann kam eine Alt-Arie in a-Moll/C-Dur, Bereite dich Zion. Im Anschluss hörte man den bekannten Choral in a-Moll, Wie soll ich dich empfangen. Gegen Ende des ersten Teils war die Bass-Arie Großer Herr, o starker König, D-Dur, an der Reihe. Das Werk endete mit dem D-Dur-Choral Ach mein herzliebes Jesulein.

Am Ende der Aufführung erhob sich das Publikum. Ich war völlig hin und weg.

»Hat es euch gefallen?«, fragte Pfarrer Berger.

»Ja«, stimmten wir ihm zu.

Dann führte er uns vor die Kirche hinaus. Die Buden waren bereits geschlossen und völlig eingeschneit. Nur der große Weihnachtsbaum leuchtete noch unter seinem Schneekleid.

Es war – nach wie vor – eiskalt.

Wir wünschten uns alle gegenseitig Frohe Weihnachten und umarmten uns.

Nach der Reihe wurden Kinder von ihren Eltern abgeholt. Ich wartete wieder ewig.

Auch Florian war noch nicht abgeholt worden. Als ich alleine war, kam er zu mir herüber.

»Du, Christoph, tut mir leid, wegen vorhin. Meinst du, wir können Freunde sein?«, fragte er mich und streckte mir seine Hand entgegen.

Ich war völlig perplex – damit hatte ich gar nicht gerechnet! »Ich … ich denke schon …«, antwortete ich zögerlich. Er schüttelte mir die Hand.

»Sehr gut«, sagte er. »Frau Huber, darf ich mit Christoph ein bisschen bei den Hütten Verstecken spielen?«

Frau Huber blickte ein wenig verwundert drein.

»Nun gut ja … aber … entfernt euch nicht so weit von hier, ja?«

»Versprochen!«, gab ihr Florian zur Antwort.

Er versteckte sich zuerst. Ich hielt mir die Augen zu und zählte bis 100. Dann ging ich los, um ihn zu suchen.

Ich schaute hinter jede Bude. Hinter der vierten entdeckte ich ihn schließlich.

»Gefunden!«, sagte ich fröhlich und fing ihn.

»Na und!«, sagte er und stieß mich weg. Er blickte mich finster und herausfordernd an.

»Glaubst wohl, du bist der Beste, was? Dabei kannst du nicht einmal einen einfachen Text lernen!«

Er war offenbar wieder ganz der Alte.

»Was hast du gegen mich?«, fragte ich ihn.

»Meine Eltern sagen, dass du und deine Familie Gesindel seid.«

Ich wusste, dass dieser Ausdruck gemein war.

»Meine Eltern und ich sind kein … Gesindel!«, protestierte ich.

Florian grinste hämisch.

»Wetten doch! Weißt du eigentlich, wo dein Vater jedes Wochenende hingeht?«

»Was geht dich das an?«, fragte ich zornig.

»Eigentlich gar nichts«, sagte Florian beiläufig, »ich dachte nur … du weißt, dass er im Wirtshaus, bei seiner Lieblingswirtin ist …«

»Was?«, verriet ich mich selbst.

»Ups, das wusstet du noch gar nicht? Wie dumm von mir!«

»Woher weißt du das?«, bohrte ich nach.

»Weil ich dort war, du Idiot!«

»Aber du darfst dort noch gar nicht hineingehen!«

»Ich bin eben nicht so ein Feigling wie du!«

»Ich bin nicht feige!«

Er grinste und schwieg. Offenbar hatte er auf diese Antwort gewartet.

Der kalte Wind wehte zwischen uns hindurch. Florians Blick wurde noch finsterer und herausfordernder.

»Dann geh doch mit mir dorthin!«

Das war offenbar sein Plan!

Ich wich einen Schritt zurück.

»Christoph, du Lümmel, wo steckst du schon wieder!!!«, hörte ich meinen Vater aus der Ferne rufen.

Ich wandte mich wieder Florian zu.

»Niemals!«, antwortete ich leise.

»Hast du etwa Angst, die Wahrheit herauszufinden?«, giftete er weiter.

Ich sagte nichts mehr.

»Gut, wir werden ja sehen. Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du endlich wieder Mumm hast, und dann gehen wir ins Wirtshaus. Bis dahin … bist du für mich ein jämmerlicher Versager!«

Ich warf ihm noch einen bösen Blick zu, drehte mich um und trat vor die Hütte.

»Da ist ja der Taugenichts!!!«, hörte ich Vaters Stimme.

»Angsthase!«, hörte ich leise spottend hinter mir.

Warum musste der Abend nur so enden? Ich war zuvor so glücklich gewesen.

Nun aber fühlte ich Zorn in mir.

War das, was Florian über meinen Vater gesagt hatte … etwa wahr?

Wieder einmal eine Frage, auf die ich noch keine Antwort wusste.

Ich stapfte durch den Schnee zu meinen Eltern und Frau Huber.

»Tschüss, Christoph, und frohe Weihachten!«, verabschiedete sie sich von mir und wünschte meinen Eltern ebenfalls ein frohes Fest. Meine Mutter erwiderte ihre Glückwünsche diesmal und ging mit Vater in Richtung Torbogen.

»Frohe Weihnachten, Frau Huber«, kam es aus mir erstickt hervor, als ich ihr meine Hand reichte. Meine Eltern schauten emotionslos vom Ende des Kirchplatzes zu mir herüber.

Dann wandte ich mich um und folgte meinen Eltern. Ich folgte ihnen, zurück in ihre Welt.

– Eine Stunde später –

Als alle schliefen, schlich ich mich heimlich aus dem Haus.

Ich ging in den Stall, um unserem Pferd Willi eine gute Nacht zu wünschen.

Dann schloss ich hinter mir wieder leise die Stalltüre.

Mein Blick wanderte zum Himmel hinauf. Der Wolkenschleier hatte sich verzogen und die Nacht war nun sternenklar. Ich wanderte hinaus auf das freie Feld …

Und ich wandre aus den Mauern bis hinaus ins freie Feld, Hehres Glänzen, heilges Schauern! Wie so weit und still die Welt! (Josef von Eichendorff)

Ich sank bis zu den Knien im Schnee ein. Mir war kalt und ich hielt mir Großvaters Mantel, welcher mir sowieso viel zu groß war, noch fester zu. Dann hauchte ich meine gefrorenen Hände an.

Trotz der Kälte war jene Nacht eine ganz besondere und mein Herz trieb mich an. Als ich von den Häusern weit genug entfernt war, blickte ich wieder in Richtung Himmel.

Ein Stern leuchtete heller als alle anderen, es war der Polarstern. Noch nie hatte ich ihn so schön strahlen gesehen wie in jener Nacht.

Meine Augen auf diesen Stern gerichtet, sprach ich mein Gebet:

»Lieber Gott. Ich weiß, dass es mir gut geht, weil ich ein Zuhause habe und dass andere Kinder keines haben. Ich weiß auch, dass du viel mehr gelitten hast als ich. Doch bitte ich dich, weil heute dein Geburtstag ist: Werde mein Freund! Hole mich zu dir, denn bei dir ist es sicherlich viel besser als hier. Bitte … vergiss mich nicht.«

Es kam keine Antwort. Der Himmel schwieg.

Enttäuscht senkte ich meinen Blick.

Dann sah ich auf einmal, wie ein helles Licht im Schnee auftauchte, und blickte wieder nach oben. Eine Sternschnuppe sauste über das blaue Himmelszelt, bis sie schließlich – wie ein glühender Funke – wieder verschwand.

3. Das Lied an Gott

»Schon ein ganz kleines Lied kann viel Dunkel erhellen.«Franz von Assisi

In der Schule interessierte ich mich besonders für Musik, aber auch für das Fach Religion, wo ich immer mehr über Gott erfuhr. Des Weiteren lebte ich meine Freude auf der Blockflöte aus. Alle neuen Lieder saugte ich auf, wie ein Schwamm, und ich lernte sie auswendig.

Im März 2023 wurde es wieder wärmer im Tal und die Tage des Winters waren zu Ende.