The Story of John Nightly - Tot Taylor - E-Book

The Story of John Nightly E-Book

Tot Taylor

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Beschreibung

London 1966. John Nightly, ein achtzehnjähriges Songwritertalent, betritt in der Carnaby Street ein Verlagshaus. Er hat eine frisch gepresste Single dabei, die er dem dortigen Musikverleger vorspielt. Dem gefällt die Musik, vor allem aber gefällt ihm das gute Aussehen des Achtzehnjährigen. Und er sieht Vermarktungschancen. Wenige Jahre später ist John Nightly einer der gefeiertsten Songwriter seiner Generation. Doch der Erfolg und seine Schattenseiten stürzen ihn in eine schwere Krise, und er entsagt dem Leben im Rampenlicht komplett. Bis er viele Jahre später von einem jungen Nachwuchsproduzenten in Cornwall (wieder)entdeckt wird, der ihn darin bestärkt, sein Lebenswerk zu vollenden.

Ein einzigartiger Roman über Ruhm & Träume, Musik & Kunst, das Leben & das Universum.

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EPUB

Seitenzahl: 1040

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Das Buch

London 1966. John Nightly, ein achtzehnjähriges Songwritertalent, betritt in der Carnaby Street ein Verlagshaus. Er hat eine frisch gepresste Single dabei, die er dem dortigen Musikverleger vorspielt. Dem gefällt die Musik, vor allem aber gefällt ihm das gute Aussehen des Achtzehnjährigen. Und er sieht Vermarktungschancen. Wenige Jahre später ist John Nightly einer der gefeiertsten Songwriter seiner Generation. Doch der Erfolg und seine Scahattenseiten stürzen ihn Jahre später in eine schwere Krise, und er entsagt dem Leben im Rampenlicht komplett. Bis er viele Jahre später von einem jungen Nachwuchsproduzenten  in Cornwall (wieder)entdeckt wird, der ihn darin bestärkt, sein Lebenswerk zu vollenden.

Ein einzigartiger Roman über Ruhm & Träume, Musik & Kunst, das Leben & das Universum.

Der Autor

Tot Taylor ist Autor, Komponist, Songwriter, Galerist und Plattenproduzent. Er arbeitet in den Bereichen Musik, Film, Theater und visuelle Kunst. Für das National Theatre führte er mit Brian McAvera das achtstündige Stück »Picasso’s Women« auf. Neben 13 Soloalben veröffentlichte er auf seinem Label Compact Künstler wie die Soulsängerin Mari Wilson oder Model Virna Lindt. Viele Jahre war er zudem bei der BBC beschäftigt. In London leitet er die Riflemaker Gallery, in der er u.a. Werke von William S. Burroughs oder Yoko Ono ausstellte. Seit 2007 kuratiert er zudem ein internationales Programm für feministische Kunst.

Nach diversen Kunstbüchern ist The Story of John Nightly sein Debüt als Romanautor.

TOT TAYLOR

ROMAN

Aus dem Englischen von Ingo Herzke,

Bernd Gockel, Kristof Hahn, Stephan Glietsch,

Philip Bradatsch, Alexander Wagner,

Harriet Fricke und Norbert Jakober

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE STORY OF JOHN NIGHTLY bei Unbound, London.

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Copyright © 2017 by Tot Taylor

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Lektorat: Markus Naegele

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung

des Originalumschlags und eines Gemäldes von Bob & Roberta Smith

Vor- und Nachsatz:Everyman. Stich von David Jones,

152 x 178 mm, Golden Cockerel Press, 1929.

Mit freundlicher Genehmigung der David Jones Society.

Herstellung: Udo Brenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-24259-6V001

Für Kristina

»Diese Szenen haben mich zum Maler gemacht.«

John Constable (1776–1837)

Cambridge Evening News. Freitag, 2. Januar 1966.

Im Pub The Eagle schlug am Freitagabend die vierköpfige Gruppe The Everyman sieben Mitbewerber aus der Region East Anglia aus dem Feld und gewann das Finale des vom Melody Maker veranstalteten landesweiten Beat-Wettbewerbs. Den Gesamtsieg errangen sie mit dem Vortrag ihrer Eigenkomposition »Zigging & Zagging«.

Die Preisrichter – der Wahlkreisabgeordnete Marius Johnston, Gastwirt John Nightingale, Sefton Johns von der Fernsehabteilung der BBC und Mr. Jonathan Sands vom Plattenladen DJS Records in London – priesen einmütig den energiegeladenen Liveauftritt der Band sowie das Talent des Frontmanns John Nightly als Songschreiber wie als Sänger. Besonders gelobt wurde die melancholische Ballade »Wave Orange Love«, in der Mr. Nightly einen Kindheitsausflug ans Meer beschreibt. Mr. Sands bezeichnete das Stück als »so gut wie Leonard Bernstein« und zeigte sich überzeugt, dass The Everyman eine große Popmusik-Karriere bevorstehe. Mr. Nightlys Vater, der ebenfalls John heißt und als Techniker bei Pye Telecom an der Newmarket Road arbeitet, verriet der Evening News, sein Sohn habe immer schon musikalische Fähigkeiten bewiesen und bereits im Kleinkindalter Melodien erkennen können. Der Schlagzeuger der Gruppe, John Hilton, freute sich über die £1000 Preisgeld, die man »sehr gut gebrauchen« könne und in dringend benötigte neue Ausrüstung und Bühnenkleidung investieren werde. The Everyman spielen am Freitag, dem 16. Januar als Vorgruppe der Graham Bond Organisation im Dorothy Ballroom.

Karten an der Abendkasse für 2/6s.

»In und um Cambridge« von John Gardner, Redakteur des Unterhaltungsressorts.

Cambridge Evening News. Freitag, 9. Januar 1966.

Nachdem die lokale Beatcombo The Everyman am letzten Freitag im Pub The Eagle den landesweiten Beat-Wettbewerb des Melody Maker gewann, hat sie sich nun von ihrem Leadsänger John Nightly getrennt. Mr. Nightly, wohnhaft in der Meadow Road in Grantchester, der außerdem Rhythmusgitarre und Orgel spielte, gab bekannt, sich fortan »in London auf seine Solokarriere konzentrieren« zu wollen. Nach Aussage von John Hilton, dem Schlagzeuger der Gruppe, sei die Band schockiert und enttäuscht, dass Mr. Nightly ausgerechnet jetzt seinen Abschied nimmt, wo sich eine solche Chance für sie auftut. The Everyman haben ihren Auftritt als Vorgruppe im Dorothy Ballroom am kommenden Freitag abgesagt, wollen aber dennoch im nächsten Monat zu Probeaufnahmen ins Londoner Studio von Dick James Music gehen, der Plattenfirma der Beatles.

»In und um Cambridge« von John Forrester, Autor des Unterhaltungsressorts.

The Cornishman. Freitag, 25. Mai 2006.

Mr. John Nightly aus West-Cornwall wurde stolzer Gewinner einer Goldmedaille der Horticultural Society von Carn Point, nachdem er bei der jährlichen Gartenschau des Dorfes am vergangenen Freitag Aeonium- und Canna-Pflanzen gezeigt hatte, denen die Preisrichter »Weltklasse« bescheinigten. Mr. Nightly, wohnhaft auf der Trewin Farm in Carn Point, gab an, zum ersten Mal im Leben einen Wettbewerb gewonnen zu haben, und dass er die £1000 Preisgeld »sehr gut gebrauchen« könne. Mr. Nightly lebt allein auf der Landzunge von Porthcreek und hat an diesem herrlichen und einsamen Fleckchen von West-Cornwall auf wiedergewonnenem Mündungsland ein ganz besonderes Gewächshaus mit Luftfeuchtigkeitskontrolle errichtet.

»Die Gartenwoche« von Jon Miller, Redakteur des Gartenressorts.

Wer aus Vergang’nem Muster sich für Kommendes schafft,

Der liest das Gleiche nur, schlägt keine neue Seite auf;

Sieht schon Erschautes nur, ist zweite Hörerschaft

Und reiht sein Leben wie die Kette Perlen auf.

John Donne: Brief an Sir Henry Goodyere,

Doktor der Theologie, Cambridge University,

31. März 1631

Büro von JC Enterprises, Carnaby Street, London W1.

Montag, 12. Januar 1966, 10.30 Uhr.

Über You Are Here! – Londons angesagtester Boutique – hat sich JC Enterprises einquartiert, eine der vielen jungen Firmen in der glänzenden neuen Musikszene der Hauptstadt. Ihr heißestes Eisen sind The Gloom aus Stanmore, die mit ihrer Debütsingle »Bethnal Green« auf EMIs neuem Label Mosaic hoch in den Charts stehen. Der Song, in dem es nach Aussage der Band »um die Gegend, in der wir aufgewachsen sind, das East End von London« geht, ist diese Woche auf Platz 39 in die Hitparade eingestiegen, nachdem der Piratensender Radio Caroline ihn fast nonstop gespielt hat.

Im schmalen Flur wartet ein junger Mann mit strohblondem Haar, einem blau-weiß gestreiften Schal und braunen Ledersandalen. Er steht im Begriff, in den Weltraum katapultiert zu werden. Kerzengerade aufgerichtet, die Arme verschränkt, während ein Fuß rasend wie ein Presslufthammer tappt, wirkt er angespannt; wie ein Schulabgänger, der auf seine Prüfungsergebnisse wartet. Schräg gegenüber klappert eine junge Aushilfssekretärin im wild gemusterten, meergrünen Minikleid auf einer der neuen Memo-Schreibmaschinen herum. Cornelias Aufgabe ist es, Tee zu kochen, so zu tun, als könnte sie tippen, und dekorativ zu sein. In der anderen Ecke frischt Sandra, oder »Sand«, wie alle bei JCE sie nennen, lässig ihren rosa Nagellack auf.

»Bisschen wie beim Zahnarzt, oder?«

Der junge Mann blickte auf.

»Schon eine Tasse Tee bekommen?«

»… oh … ja … klar … danke.«

»Und … möchten Sie noch eine?« Beiden Frauen war aufgetragen worden, sich gut um den potenziellen neuen Kunden zu kümmern.

»… im Augenblick … brauche ich nichts, danke.« Der Junge stellte die Beine nebeneinander und faltete seinen Schal neu.

Dies ist London. Swinging oder auch Stinging London, je nach Blickwinkel. Wenn man mit einem Blick zufrieden ist. Denn um es zu begreifen – es wirklich zu erfassen, London genau jetzt, in genau diesem Augenblick –, musst du es wirklich erfahren. Hier sein. Denn hier sein heißt glücklich sein. Das Glück ist überall. Auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Höfe, in den Läden, die in sind, in den abgefahrenen Schaufenstern. In den tiefen Samtsitzen der neuen Nachtclubs von Chelsea, an den weiß gekalkten Wänden der schicksten Galerien von Mayfair. Selbst an alten, antiquierten Orten wie den Docks der Themse, dem Londoner Hafen, Westminster, der City und dem Zeitungszentrum Fleet Street. Wo die Zeitungen gedruckt werden, die uns jeden Tag erzählen, in was für einer fabelhaften Stadt wir leben. Die Menschen, die Uhren aufziehen und Geldscheine zählen, die Hafenarbeiter, Gepäckträger und Fahrer, die Schriftsetzer und die Vorpolierer in den Druckereien – sie alle gehören auch zu dieser swingenden Stadt.

Doch London ist nicht bloß das Wirtschaftszentrum der Welt; es ist jetzt auch das kulturelle Zentrum. Angesagt, cool. In London spielt die Musik. London ist »das Ding«, der Zeitgeist, der Gedankengang, der Groove. Das, was du haben musst, was du packen oder schnallen oder checken musst. Um es wirklich zu begreifen. Wirklich. Um wirklich weiterzukommen.

Du musst dich nur einklinken. Und das tun die Leute. Denn im Augenblick ist anscheinend jeder, die ganze weite Welt, das Universum, vielleicht sogar der gesamte Kosmos auf dem Weg nach Swinging London.

»Dauert nicht mehr lange …«

Cornelia tippte beim Reden weiter und hob den Blick kaum von den Tasten. Der Junge griff nach einer abgewetzten Ledertasche, machte sich zum Eintreten bereit.

»… okay …«

Heutzutage sind die Menschen in der Hauptstadt groovy, ihre Klamotten sind groovy, ihre Einstellung ist groovy. Selbst ihre Straßen sind groovy und haben so beschwingte Namen wie Bond Street und Wardour Street, Portobello Road und natürlich Carnaby Street, so groovy wie keine andere. Die prachtvolle Carnaby ist in diesem Augenblick wahrscheinlich die angesagteste Einkaufsstraße des ganzen Planeten. Willst du nicht allein deswegen unbedingt hier sein? Bei all diesen fabelhaften Figuren und Straßennamen und Ereignissen? Solltest du. Jedenfalls, wenn du irgendwas anzubieten hast. Denn was heißt das alles? Dass London ein Ort der ungeheuren Möglichkeiten ist. Eine bedeutende und unternehmerfreundliche Stadt. Eine riesengroße Torte, in die alle reinbeißen können.

Wenn du durch die Carnaby Street oder die Ganton Street oder über den Foubert’s Place schlenderst, heute Vormittag alles direkt vor dem Fenster, triffst du mehr oder weniger garantiert eine besonders coole Berühmtheit. Wie Ray Davies oder John Bratby, Terence Donovan oder Celia Birtwell, Julie Christie oder Peter Hall, die alle wie ganz normale Menschen, wie du und ich, herumstreifen. Da sind Jeremy Sandford und Nell Dunn, Ron Kitaj, Rita Tushingham, Leonard of Mayfair, Murray Melvin, Andrew Oldham, Ronald Laing, Dr. Roy Strong, Miss Penelope Tree oder Robert Fraser oder Hardy Krüger, die alle da unten unterwegs sind und nichts anderes vorhaben, als zu streunen … und natürlich zu grooven.

Diese groovy Gestalten könnten dir in allen möglichen Kombinationen auf der Straße begegnen, und du würdest sie nicht bemerken. Denn alle, denen du begegnest, wahrhaftig jeder und jede Einzelne, sieht jetzt anders aus – besser, oder nicht? Sieht auf einmal »angesagt« aus. Und einfach, nun … lebendiger als zuvor. Selbst ältere Typen wie Sir Malcolm Sargent und Sir Adrian Boult gehören dazu. Da seht ihr sie, mit ihren Halstüchern aus Jane Austens Zeiten und ihren Stiefelabsätzen, ganz genau wie die jungen Leute. Und sie wirken überhaupt nicht fehl am Platz, denn heutzutage können alle mitmachen. Darum sind die Queen, die Queen Mother, Prinzessin Margaret und natürlich Lord Snowdon, alle Mitglieder des Königshauses, auch dabei. Vollkommen angesteckt. Alle groovy geworden. Und zum Glück sind Regalien in: der Cutaway aus dem 18. Jahrhundert, den Terence Stamp auf dem Titelbild des heutigen Daily Sketch trägt, die blutroten Uniformjacken, die auf der Portobello Road verkauft werden, oder der Kopf der Queen als schwarzer Schattenriss auf den neuen Briefmarken zur Fußball-WM. Alles ist irgendwie »in« und »aktuell«.

»Ich höre, er wird gerade fertig …«

Dinge können ganz leicht in sein, denn groovy zu sein ist nichts Exklusives; es schließt alle ein und beruht nicht auf Klassenzugehörigkeit. Das ist überhaupt der Sinn der Sache. Und der Grund dafür ist, dass Großbritannien sich zum allerersten Mal in Richtung einer klassenlosen Gesellschaft bewegt. So sagt man doch, nicht wahr? Und es stimmt. Denn groovy ist nicht teuer, oder … na ja, eigentlich ist es sogar umsonst. Und darum für jeden sofort verfügbar. Jeder und jede kann es überall sein. Groo-vy! Man muss bloß hierherkommen und …

»Ich bringe Sie in einer Sekunde zu ihm …«

Es ist nämlich ein Gefühl. Ein Gefühl, Mann … Und jeder muss sich einreihen und sein Ding machen. In dieser dünnen gehobenen Atmosphäre sind sogar der Vogel am Himmel und die sanft wehende Brise angesagt. Die engen Gassen Sohos mit ihren italienischen Cafés und Zeitschriftenkiosken und Süßwarenläden an jeder Ecke, so gut besucht, dass die Kunden bis auf die Straße stehen, sind die Verkörperung von groovy. Immer geschäftig, immer in Bewegung! Fühlt sich gut an! Fühlt sich …

»Er ist so weit!« Das Mädchen mit den frisch lackierten rosa Nägeln blickte den Jungen direkt an. »Einfach hier durch …«

Cornelia ging zum Büro des Managers und hielt die Tür auf. Ein hoch gewachsener, herausgeputzter junger Mann mit leicht gewelltem Haar wartete dort.

»John … Hey, Mann … Komm rein.«

Der potenzielle Manager streckte die Hand aus, sichtlich beeindruckt von der ersten leibhaftigen Begegnung mit seinem potenziellen Klienten.

»Ich bin John … John Pond.«

Der Mann griff nach einem metallenen Feuerzeug und deutete auf das Zimmer.

»Und das hier …«, erklärte er, »ist meine Bude.«

Der Junge drückte seine Tasche fest an die Brust und überquerte die Schwelle zum trostlosen Büro.

»… vielen Dank … es ist … schön, Sie kennenzulernen, und … nett von Ihnen, mich …«

Der Junge war heute besonders freundlich. Pond lächelte dementsprechend.

»Das heißt also … John trifft John, sozusagen.«

Der Teenager und der Dandy lächelten. Der Junge blieb unschlüssig stehen und nahm den Faden der Unterhaltung auf, leicht verunsichert durch die swingende Erscheinung des Managers: das üppige Kreidestreifen-Tuch seines »großväterlichen« Anzugs, das perfekt gebundene zitronengelbe Halstuch.

»… Pond ist ungewöhnlich …«

»Wirklich? Mein Urur… was auch immer … hieß auch John Pond … und war ziemlich berühmt, vor langer … langer Zeit.« Der Manager sprach, als wäre er im Fernsehen, und wurde erst allmählich schneller. »Heute redet niemand mehr über ihn.« Pond wandte seinem Besucher den Rücken zu. »Ein Astronom … ›von gewissem Rang‹, wie man sagt.« Die Miene des Jungen hellte sich auf.

»… Sie sind mit dem Astronomen John Pond verwandt?«

Der Manager sah sich um. »Hast du etwa schon mal von ihm gehört? Denn wenn ja …«

Der Junge schien beeindruckt. »… ich weiß eine Menge über John Pond, weil ich, na ja … ich mache wissenschaftliche Beobachtungen … in meiner Freizeit … eigentlich, um mein Taschengeld aufzubessern, über Gezeitenmuster … die Bewegungen der Gezeiten … für den Wetter… den Seewetterbericht … so was … in Cambridge.«

»Schiffe in Cambridge?«

Pond starrte den jungen Mann an, der fortfuhr, ohne sich Zeit für eine Antwort zu nehmen – im fehlgeleiteten Versuch, den allerbesten ersten Eindruck zu hinterlassen.

»… ich mache alles Mögliche neben der Musik, wissen Sie … darum weiß ich genau, wer Ihr Urur…wasauchimmer war … ist …«

»Gezeitenmuster …« Der Manager hatte keinerlei Interesse an Familiengeschichte. Er setzte sich, zündete sich eine Zigarette aus einer schicken Schatulle an, ohne dem Jungen eine anzubieten. Pond nahm einen einzigen lebensspendenden Zug und deutete auf eine leuchtend rote Skulptur auf der anderen Seite des Raums.

»Heute von Cambridge hergekommen?«

Der Teenager ging umher, beäugte das fragliche Objekt misstrauisch und setzte sich hinein.

»… ja, nur für heute. Jon Sands hat mich darum gebeten …«

»Richtig.« Der Manager nickte. »Er hat mir von dem Wettbewerb erzählt.« Pond nahm einen weiteren Zug von dem dünnen schwarzen Stängel und machte eine ziemliche Show beim Ausatmen, drehte den Kopf zur Seite und blies den übel riechenden Rauch vom Jungen weg. »Meinte, du wärst das beste … ›talentierteste‹ …«, der Manager hustete und prustete, »… Talent …« (hust) »… das er seit langer Zeit …« (prust) »… gesehen hat.«

»… also … das ist ja …«

»Nett von ihm, ja.« Wieder krächzte und hustete Pond. »Die Band fand er nicht so toll.« Er schaute sich nach einem Glas um. »Wörtlich hat er gesagt, sie seien … so eine richtige Horde Dorftrottel … ich glaube, das waren seine …«, der Manager räusperte sich und griff zu einem Glas dunkelbrauner Flüssigkeit, »… tatsächlichen Worte.« Der Junge konzentrierte sich auf das Skispurenmuster des Teppichs. Er folgte mit seinem Blick einer unterbrochenen Strecke, die in einem Gewirr aus knalligen Kreisen endete. Pond nahm einen großen Schluck.

»Nicht besonders nett von ihm, würde ich sagen. Wie heißt die Band?«

»The Everyman«, sagte der Junge rasch, »das ist …«

»Ein furchtbarer Name, ich weiß. Wer sich den ausgedacht hat …«

»Das war ich, ehrlich gesagt.«

Der neue John Pond lehnte sich zurück, täuschte Langeweile vor und hievte die Füße in den schweren Stiefeln auf den Schreibtisch. Er beugte sich vor und faltete sorgfältig den Schlag seiner Kammgarnhose. Aufgeputscht von Dexedrine, das zweite Glas abgestandener Cola in Bereitschaft, zuckte Ponds Kopf leicht, während seine Augen im Raum umherschossen, ab und zu an irgendwas hängen blieben – einem Foto, einem Pin-up, einem »Kunstwerk« –, das ihn für einen kurzen Augenblick beschäftigte und fesselte. Der Manager war mindestens so unruhig wie sein Gast, und seine Reizbarkeit und Frustration über das Leben an sich zeigten sich heute in einem unnötig feindseligen, fast schon aggressiven Verhalten. Der Junge plapperte weiter.

»Er stammt von einer Zeichnung oder einem … einem Linolschnitt – könnte allerdings auch ein Holzschnitt sein – von David Jones.«

»David Jones? Der David Jones von The Lower Third? Die habe ich gerade im Marquee gesehen …«

»Der Künstler David Jones. Aus Ditchling. Er ist …«

»Ah …« Pond schaute woandershin. »Ein anderer …«

Der Provokateur verstummte, denn für einen Moment wurde er von Cornelias unglaublich langen Beinen abgelenkt, die an der offenen Tür vorbeigingen.

»Was studierst du denn … in Cambridge?«

»Ich studiere da gar nicht.« John legte die Tasche von einem Arm in den anderen. »Ich bin nicht am College … ich wohne einfach da. Bin erst letztes Jahr mit der Schule fertig geworden. Ich forsche … zu Mond und Sonne … am Cavendish … Cavendish-Labor.« Das Selbstvertrauen des Jungen versickerte, und er fuhr unsicher fort.

»… in einer Forschungsgruppe. Im Augenblick beschäftigen wir uns mit der Gewinnung von Wellenenergie und … unterschiedlichen Eigenschaften der Sternzeit, die irgendwie aus der … oder man könnte auch sagen, zur …« Der Junge lächelte entschuldigend. »Die Gezeiten …«

»Was ist … Sternzeit?«

»Na, Sternzeit eben. Die Zeit, die von der Bewegung der Sterne abgeleitet wird, nicht von der Sonne, das ist die solare …«

»Sternzeit! STAR TIME! Na, die gilt hier ganz bestimmt. Hoffe ich jedenfalls!«

Der Manager hielt es nicht mehr aus. Völlig entgeistert schaute er John Nightly an und fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. Dieser junge, gut aussehende Teenager, fast noch ein Kind, kommt unter dem Vorwand in sein Büro, ihm ein Tape vorspielen zu wollen, und plötzlich sitzt man in einer wissenschaftlichen Vorlesung.

Weil Pond keine Ahnung hatte, wie er darauf reagieren oder den Redefluss unterbrechen sollte, beschloss er, den Jungen faseln zu lassen, während er die ungeheuer wichtige aktuelle Chartsplatzierung von The Gloom in dem Hochglanzmagazin nachschlug, das Cornelia ihm gerade auf den Schreibtisch gelegt hatte.

»Das hat alles mit Energie zu tun … mit Energiesparen. Fusionsenergie, darum geht es eigentlich, oder so wird es genannt werden, darunter wird man es in der Zukunft kennen. Die ganze Idee wird noch sehr wichtig werden.« Die Erklärung versandete im Hintergrund, während Pond die Konzentration abhandenkam und er sich den Verkaufszahlen dieser Woche zuwandte, sein Hirn die liebliche Stimme des Jungen ausblendete, bis sie nur noch fern und dumpf klang. »… das müssen wir alle … jetzt darauf achten … wenn wir es in Zukunft … gut … haben wollen …«

»GENAU!« Der Manager riss sich von den Zahlen los. »Aber in der Gegenwart, Mann … was ist da los? Du hast die Bauerntrampel verlassen und jetzt ein paar eigene Songs, die du mir vorspielen willst, richtig?«

Der Teenager verstummte und öffnete seine Tasche. Er zog eine glänzende Acetatpressung aus ihrer Hülle und hielt sie schräg ins Licht. Sorgfältig darauf bedacht, die Rillen nicht mit den Fingern zu berühren, suchte er die makellose Oberfläche nach Kratzern und Fehlern ab.

»Das habe ich vorgestern in den Pye Studios aufgenommen. Mein Vater arbeitet dort als Toningenieur, und …«

Pond interessierte das kein Stück. Er sprang aus dem Stuhl, Zigarette glimmend im Mund, und riss dem Jungen die Platte aus der Hand. Er hielt den Plattenrand zwischen den Handflächen und drehte die Scheibe, um auf dem pfirsichfarbenen Etikett in der Mitte Songtitel oder Bandnamen zu entdecken.

»Bist nur du da drauf?«

Der Junge nickte ernst.

»Wer ist die Begleitung?«

»Ich spiele alles.«

»Auch Schlagzeug?«

»Ich fürchte, ja … vier Stücke, und alles … bloß ich.«

John Nightly entschuldigte sich für seine eigene Leistung und wich zurück, als Pond mit zusammengekniffenen Augen das Gekritzel auf der frisch gepressten Demoschallplatte entzifferte.

»›Wave … Orange … Love‹?«

Der Junge blieb stumm.

Pond schien sich zu entspannen. Er trampelte zur anderen Wand und legte die Scheibe auf den Teller eines flaschengrünen Dansette-Plattenspielers, der gefährlich auf der Fensterbank balancierte. Er prüfte die Abspielgeschwindigkeit und hängte die Nadel über die äußerste Rille. Nachdem er sich auf die Fensterbank gestemmt und auf PLAY gedrückt hatte, starrte er hinunter auf die belebte Straße und ließ die klobigen Absätze baumeln.

Eine unschuldige, kindliche Stimme schwebte aus dem Raum auf Londons angesagteste Geschäftsstraße hinaus und schickte irgendwie eine sofortige Ruhe in die Hektik des Montagmorgens. Eine Gitarre wurde sanft über dem tiefen, etwas leiernden Brummen einer Hammondorgel angeschlagen, ein Vibrafon warf Funken über die Straße. Der Refrain, der an Ragas erinnerte, baute sich auf, und eine verzerrte, auf zwei Spuren eingesungene Stimme verkündete die Nichtbotschaft des Songs. Nach etwa dreißig Sekunden wandelte der Text sich zu einer Art Litanei. Pond hatte wenig erwartet, die angespannte Unsicherheit des Jungen hatte ihn gereizt, und jetzt konnte er kaum glauben, dass dieser entspannte, selbstbewusste Vortrag von dem nervösen Schulabsolventen stammen sollte, der vor ihm stand.

»I hear the Steeple bell

Chime for you and chime for me,

Telling us to be … together …«

Pond wandte sich wieder ins Zimmer. »Gefällt mir …«

Der Junge wirkte ungeheuer erleichtert.

»And I won’t be late

As long as my legs can carry me …

All the way

I know I won’t be late for Steeple …«

»Gefällt mir sehr!«

Die zweite Hälfte des Refrains war noch eingängiger als die erste. Sehr englisch. Klang nach Kirche, nach Dorf, nach ländlichem Leben und … war zugleich ein wenig beunruhigend. Ein Bild schwebte durch das erweiterte Bewusstsein des Managers. Er sah windgepeitschte Klippen, eine raue Meeresküste, eine kahle Landspitze. Ein altes Bauernhaus aus Bruchsteinen, eine offene Tür, einen hell erleuchteten Raum am oberen Ende einer Holztreppe. Ferne, fast erstickte Musik trieb den Korridor entlang. Verzerrt und verzweifelt, die gleiche Musik, die jetzt dieses Zimmer erfüllte und doch gleichzeitig nicht ganz mit sich im Einklang war – nicht ganz mit sich im Reinen. Pond hatte das Gefühl, sehr privates Gebiet zu betreten. Etwas sehr Gutes – oder vielleicht auch nicht so Gutes – stand unmittelbar bevor. Die musikalische Klangwelt des Menschen, der diese Botschaft überbrachte, wirkte sensibel, zart, beredt, aber gleichzeitig ziemlich gespenstisch, dissonant … bedrohlich gar. Es klang, fand Pond, auch sehr nach Januar 1966.

»Das ist … toll«, begeisterte sich der Manager. »Großartig … John.«

Plötzlich sah er den hyperaktiven, hypernervösen Teenager in einem ganz anderen Licht. Rasch hatte er The Gloom – und die Gezeiten – völlig vergessen und war offenbar von unvermittelter Freude ergriffen, als er von der Fensterbank sprang.

»Wirklich, ich liebe es. Es ist … es ist seltsam, aber … gut. Gut seltsam. Yeah!« Der Manager betrachtete John Nightly, der sich im roten Sessel zurücklehnte. »Eingängig … seltsam eingängig!«

Pond betrachtete wieder den schwarzen Kreis, der sich auf dem Plattenteller drehte.

»Tolle Stimme, Mann … eigenartige Stimme. Habe noch nie was Derartiges gehört … um ehrlich zu sein.«

»Na ja … das ist irgendwie … das gehört ja dazu … würde ich sagen.«

»Was sind da deine Einflüsse?« Der Manager beugte sich vor. »Es ist irgendwie so …«, Pond legte die Stirn in Falten. »Zerbrechliche Musik?«, wobei er sich seines ungenügenden musikalischen Verständnisses bewusst war.

Sein Gegenüber zögerte nicht. »Also … meine größten, oder jedenfalls meine jüngsten, ähm … Einflü…«, antwortete John Nightly, aber der Manager redete einfach weiter.

»Hat auch so was Folkiges …«

»Folk? Nein, das finde ich nicht. Folk würde ich nicht direkt sagen …« Der Junge hielt inne, er wollte nicht beleidigend klingen. »Und es hat auch … nichts Zerbrechliches oder so, ich glaube nicht, außer …«

»Ich meine nicht so wie Dylan, eher so …« Der Manager kratzte sich am Kopf. »Wie Phil Ochs …« Er hob den Tonarm von der Platte.

»So wie das, was er jetzt macht … bloß ein bisschen ›verschnörkelter‹, könnte man sagen.« Pond sah den Jungen um Bestätigung heischend an. »Ja, genau. Das ist es. Deine Stimme … die Melodie selbst, die ist … keine Ahnung, wie man das genau beschreiben soll …«

»… modal.«

Der Manager schaute ihn verständnislos an.

»Modal. Es ist modal«, wiederholte der Junge.

»Was ist modal?«

Pond zuckte wieder, während der Junge sich ein wenig entspannte und auf die Sesselkante vorrückte.

»Die Melodie … wie meine Melodien funktionieren. Das meinen Sie doch, oder?«

Pond hatte keine Ahnung, was er meinte, also setzte er sich wieder auf die Fensterbank, bereit zur Aufklärung.

»Genau wie er – Phil Ochs – verwende ich verschiedene … ›mittelalterliche‹ Tonleitern. So würden normale Leute sie jedenfalls nennen.«

»Normale …« Der Manager kniff wieder die Augen zusammen und runzelte die Stirn, während der Junge fortfuhr.

»Es ist ein bisschen folkig und zugleich ein bisschen … ich weiß nicht … ›kantig‹, könnte man sagen. So wie das, was Folksänger machen.«

Pond entspannte sich wieder und schien ehrlich interessiert, während er sich das alles anhörte. »Wahrscheinlich habe ich das gemeint. Und dann noch ein bisschen … Blues reingemischt.« Er suchte in der Tasche nach Zigaretten. »Schon mal Peter Green gesehen? Mayalls Gitarristen?«

Aber John Nightly hörte nicht zu.

»Mein größter Einfluss ist im Augenblick Delius – Frederick Delius –, der englische Komponist. Na ja, er ist auch ein bisschen amerikanisch und … französisch … und eigentlich auch deutsch. Vor allem seine Akkorde. Viele von Delius’ Kompositionen basierten auf Volksliedern, daher könnte es also kommen. Außerdem habe ich viel Bartók gehört, solche Sachen … Strawinsky. Der ist auf alle Fälle modal, oder?«

Der Manager konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob Strawinsky modal war oder nicht, doch der permanente Lärm vor dem Fenster verärgerte ihn zunehmend. Das ständige Kommen und Gehen. Schwarze Taxis und Lieferwagen fuhren Bordsteine hoch, um püppchenhaften Verkäuferinnen und großmäuligen Straßenhändlern auszuweichen. Die öde Wirklichkeit des Montagmorgengeschäfts im Kontrast zum Gang durch den Spiegel, den John Nightlys kontemplative, fast religiös klingende Musik andeutete. Pond schnippte Zigarettenasche auf die Carnaby Street und strich sich affektiert den welligen Pony aus der Stirn.

»Schwere Kost …«

Eine scheinbar desinteressierte Reaktion. Aber nur, weil der Manager jetzt nachdachte. Sein Klient ging noch einmal in die Offensive.

»Schwer? Das ist nicht schwer … das ist … na gut – leicht ist es auch nicht gerade.« Der Junge konzentrierte sich enorm. »Es ist aufregend, finde ich. Alles, was er – Strawinsky – macht. Und dabei ganz leicht zu hören. Wenn man es einfach irgendwie … akzeptiert. Stockhausen auch – und Berio. All diese Leute. Obwohl zwischen Strawinsky und Stockhausen natürlich Lichtjahre liegen …« Der Junge setzte sich wieder gerade hin. »Ich habe einen Kurs über zeitgenössische Musik an der Universität Cambridge belegt. Einen Fernkurs, bei dem mir die Aufgaben aus Amerika zugeschickt wurden, darunter sogar von Leuten wie John Cage. Das interessiert mich derzeit mehr als alles andere. Jedenfalls im Moment.«

Der Manager, der Talente – wie auch innere Qualen – instinktiv erkannte, wenn er sie vor sich hatte, verhielt sich jetzt sehr viel rücksichtsvoller und bedächtiger.

»Die Namen habe ich schon gehört, wenn auch nicht ihre Musik. Dieses Stück hier klingt jedenfalls ziemlich … anders. Im Vergleich zur aktuellen ›Pop‹-Szene, meine ich. Es ist ungewöhnlich, John.« Pond bändigte seine Haarfülle mit der flachen Hand und sah sich sein Profil im Spiegel an.

Dann wandte er sich frontal dem Spiegel zu und fuhr sich mit dem Zeigefinger kraftvoll über die Augenbrauen, um sie zu glätten. »Wahrscheinlich so anders wie nichts, was ich seit Langem gehört habe. Und dein Gesang … deine Stimme …« Er schaute weiter auf sein Spiegelbild und rückte sein Halstuch zurecht. »Die ist … wirklich schön. Ganz klar und … glockenhell, sagt man im Musikgeschäft. Fändest du es beleidigend, wenn ich sage, sie klingt ein bisschen … ein bisschen …«, Pond zögerte eine Sekunde, »… nach Chorknabe oder so ähnlich?«

Der Junge entspannte sich wieder. Es fühlte sich an, als würden winzige unausgesprochene Geheimnisse nach und nach enthüllt.

»Deine Einflüsse liegen eher in der ›Klassik‹ als im Pop, richtig?«

John Nightly überlegte einen Augenblick und genoss plötzlich dieses erste Mal, dass ihn jemand tatsächlich fragte, ihn mit Fragen nach dem Ursprung seiner Schöpfungen beehrte. Es ist ein Privileg, nach seinen Werken gefragt zu werden – die beste Therapie –, und davon hatte John Nightly immer geträumt, getagträumt, vom ersten Tag an, als er sich vorgenommen hatte, seinen Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen, das Talent zu nutzen, das ihm geschenkt worden war, um ein anständiger (wenn man es so ausdrücken konnte) Popstar zu werden. In seiner unbändigen, stets übertreibenden Fantasie führte sein Weg ihn zu einem Ruf als vielleicht der Singer-Songwriter seiner Generation und, wenn er das schaffte, auch als der »Komponist« seiner Generation.

»Im Augenblick ist das wohl so, ja. Aber andererseits lebe ich in einer ›Pop‹-Zeit wie jeder andere auch. Es ist also … da mischen sich alle möglichen Dinge, die ich jeden Tag im Radio höre, jenseits der eher klassischen Sachen …«

Der Fragesteller hörte jetzt aufmerksam zu, ging wieder zum Schreibtisch und zog seinen Stuhl heran. Pond schaute den Jungen direkt an, bevor er sich setzte.

»John … es ist wirklich gut, dass du heute hergekommen bist. Ein Glücksfall, könnte man sagen.« Pond wühlte einen Turm aus Tonbändern und Demoplatten durch. »Ich gehe heute Nachmittag rüber, um George Martin eine Band vorzuspielen, die wir unter Vertrag haben – The Gloom.« Er zog eine Acetatpressung aus dem Stapel. »Ihre zweite Single. Wirklich toller Song. Wenn es heute irgendwen gibt, der eine Sache ins Rollen bringen kann, dann würde ich sagen, das hier ist genau das, wonach er suchen könnte.«

»George Martin …« John Nightly wiederholte den schon so oft wiederholten Namen.

»Aber kurze Frage …« Unvermittelt wechselte der Manager die Richtung, musterte den Jungen von oben bis unten und starrte dann auf die Zeitschrift, die vor ihm lag.

»Hast du schon mal was Visuelles gemacht … also was ›Schauspielerisches‹, meine ich?« Pond nahm die Zeitschrift in die Hand. »Schon mal gemodelt, John?«

»Gemodelt?« John Nightly hob den Kopf. »Meinen Sie modellieren? Kunst?« Pond starrte ihn an. »Ton oder …«

Der Manager überlegte, ob sein neuer Klient ihn womöglich hochnehmen wollte. Wenn ja, würde er das nicht goutieren.

»Kein Ton, Mann. Sei nicht albern, John … Ich rede über Modeln. Für Mode!« Pond wedelte mit der Zeitschrift. »Magazine und … Models … schöne Frauen, John, solches Modeln!«

Pond schaute auf die Uhr und stellte hastig den Minutenzeiger.

»Ich sage das deswegen, weil mir gerade jemand für eine Fotosession heute Nachmittag abgesprungen ist. Und als ich dich da so stehen sah … da dachte ich, du könntest … vielleicht … den Anforderungen entsprechen, wie man so sagt.« Pond kratzte sich am Kopf. »Und uns gleichzeitig aus der Patsche helfen.« Er musterte den Jungen etwas kritischer. »Ich schätze, du könntest das ganz locker abreißen, Mann.«

Dem Jungen brach sofort der Schweiß aus. Er stand von dem roten Sessel auf und bewegte sich langsam rückwärts in Richtung Tür. Als John Nightly theatralisch ungläubig den Kopf schüttelte, fielen ihm die unbändigen blonden Haare in die Augen, und er sah aus wie ein Zehnjähriger, der auf einem Spielplatz zurückgelassen wurde; der Letzte, der in die Mannschaft gewählt wird. Dem Jungen sackte das Herz in die Hose, als er sich zu seiner Verzweiflung schon wieder in einer allzu vertrauten Lage befand, sogar in dieser ganz neuen, anonymen Umgebung – in genau der Situation, in der er schon viel zu oft im Leben gesteckt hatte.

»… wirklich … ganz ehrlich … ich … ich glaube, ich bin gar nicht gut im … Abreißen …«

Der Manager stand auf, steckte die Hände tief in die Taschen, ging auf John Nightly zu, richtete sich zu seinen vollen eins einundneunzig auf – ein ganzes Stück größer als der zusammensinkende Teenager – und starrte auf ihn herab.

»Das ist leicht verdientes Geld, John. Leichtes Geld. Für eine Stunde Rumsitzen? Ist doch zum Totlachen. Und JCE streicht auch bloß die Hälfte ein …«

»Die Hälfte?«

»Die Hälfte von dem, was man dir zahlt.«

Der Junge sah völlig verblüfft aus. »Dafür wird man bezahlt?«

»Natürlich wird man dafür bezahlt – du wirst dafür bezahlt, John. Die verdienen alle ein Vermögen! Sei doch nicht so …« Pond suchte nach einer passenden verächtlichen Bemerkung, ehe ihm einfiel, dass er damit vielleicht bei einem ersten Kennenlerntreffen ein bisschen zu weit ging.

Auch John Nightly fing an nachzudenken. Über die grüne Gibson Les Paul, die ihn erst vor wenigen Stunden aus dem Schaufenster in der Charing Cross Road angezwinkert hatte. Über das kleine türkisfarbene gebrauchte Moped, das er in der Meadowsweet Garage in Cambridge gesehen hatte. Und über die Möglichkeit, sich ein Outfit wie das des potenziellen Managers zuzulegen. Pond bemerkte den Umschwung und setzte seine ganzen Überredungskünste ein, um den inzwischen sichtbar eingeschüchterten Teenager zu überzeugen.

»Du würdest uns damit wirklich … aus einer sehr schwierigen Lage helfen, John.«

Der Junge wirkte leicht benommen. »… das ist … sehr nett von Ihnen … aber ich … ich kann, glaube ich, nicht … also, diese Art …«, John griff nach seiner Tasche, »… ich habe überhaupt keine … Ausbildung, zum einen …«, während er kurz die Lage auf dem Flur sondierte, »… ich meine, fotografiert zu werden und so was. Mit so was hatte ich bisher überhaupt noch nicht zu tun.«

John Nightly klappte den Kragen seiner Windjacke hoch, zog den Reißverschluss bis unters Kinn zu und suchte in den Taschen nach Handschuhen. Er wandte sich zum Gehen, denn er fühlte sich plötzlich unwohl und fehl am Platz.

»Ausbildung? Das ist ja mal was Neues!« Pond griff nach einer frischen Sobranie-Schachtel.

»Hör zu. Ich lasse dir von Sand einen Kontakt zu einem Agenten machen. Wollen mal sehen, ob wir was Leichtes für dich finden … aber auch mit ein bisschen Klasse. So als Probetermin …« Er riss die Schachtel auf und nahm eine elegante schwarze Zigarette heraus. »Du hast doch eine gewisse Klasse an dir. Cambridge und so. Der English Boy, schon eine Art Markenzeichen. Davon reden im Moment alle. Und das bist du – oder etwa nicht?«

Für einen Moment, nur einen kurzen Moment, schien John Nightly nachzudenken. Vielleicht, wenn man sich noch ein bisschen Mühe gab, würde er die Möglichkeit des »Abreißens« in Betracht ziehen. Der Manager spürte, dass er Fortschritte machte.

»Das ist es, was im Augenblick gesucht wird, John. Der Look, wie das in der Branche heißt. Sieht man ständig in allen Zeitungen. Swinging London, klar? Schon mal davon gehört? Sicher, ist schon ein Klischee geworden, aber …«

Pond schob sich in Richtung Tür, als wollte er seinen Gefangenen an der Flucht hindern. »Sie werden dich mit einem frischen, unschuldigen Mädchen verkuppeln – wobei ›unschuldig‹ schwierig werden dürfte –, und dann …« Pond zog die schnurgeraden Augenbrauen hoch und warf dem Jungen einen vielsagenden Blick zu. »Schon hast du einen Model-Job!«

»Aber ich habe schon eine Freu…«

»Hast du also auch schon, ja? Umso besser. Bist du in dem Bereich schon versorgt. Gibt einem Halt in schwierigen Zeiten, hab ich gehört.« Der Manager steckte sich die Zigarette an und nahm einen Zug, ehe er eine Frage in den Flur bellte.

»Sand!« Er wartete auf eine Reaktion, die aber nicht kam. »Wer ist das Mädchen für heute Nachmittag?« Es folgte eine Pause …

»Iona.«

»Iona? Ah … an der ist nichts unschuldig!« Pond inhalierte, dann erstarrte er, blickte in die Ferne und schien es sich noch einmal zu überlegen. »Das war wirklich … ungewöhnlich herzlos von mir. Das ist … was sie betrifft, jedenfalls. Sie ist … also … sie ist nett … Iona.« Der Manager wurde für einen Moment ungewöhnlich herzlich.

»Sehr nett ist diese … Wie dem auch sei! Du solltest es probieren. Du solltest es auf alle Fälle ausprobieren!« Pond bewegte sich wieder weg von der Tür. »Wenn wir es für dich arrangieren können …«

John Pond setzte sich wieder an den Schreibtisch, streckte die Beine aus und legte seine Black Russian in den Aschenbecher, während er seine Füllfederhalter, Bleistifte, Briefbeschwerer, Büroklammern, Adressbuch, Tintenfass, Tintenlöscher, Kalender und Telefon strategisch auf dem Schreibtisch ausrichtete, als wollte er in den Krieg ziehen. Er griff zum Hörer und wählte eine Nummer, dann überlegte er es sich anders und legte wieder auf. Der Manager drehte seinen Stuhl so, dass er seinen Schützling direkt ansah.

»Es liegt so ein Gefühl in der Luft, John, dass hier etwas passiert. Du spürst es sicher genauso wie ich. London im Ganzen, als Ort, meine ich. Aber auch JCE als angesagtes kleines … kulturelles Umfeld … ein Milieu … eine Art ›Enklave‹, könnte man sagen. So etwas versuchen wir hier zu erschaffen. Einen Ort, wo Dinge passieren können.« Pond fuhr unsicher fort, wie immer, wenn er sich nicht qualifiziert fühlte, über etwas zu reden, wenn er spürte, dass seine Erklärungen ein wenig hochtrabend klingen könnten, was er selbst womöglich »angeberisch« nennen würde, obwohl er zweifellos an das glaubte, was er zu sagen versuchte. »Einen Ort mit ›guten Vibes‹, das will ich damit …« Er lachte. »Gute Vibes …« Ponds durchdringender, fast hypnotischer Blick war direkt auf den Jungen gerichtet, als wollte er sagen: Du verstehst mich doch, nicht wahr?

»Die Art von Vibes, die man tief in den Knochen spürt, John.«

In diesem Augenblick spürte der Junge ganz deutlich ein vibrierendes Beben in den Knochen. Angesichts dieses rumpelnden, wogenden »Vibes« und der heftigen Schwankungen sowohl der Stimmung als auch der Jobangebote seines potenziellen Managers wollte John Nightly nichts lieber, als diese Enklave, dieses Milieu so schnell wie möglich zu verlassen. Pond begann mit dem Zugriff.

»Das müssen wir nutzen, John. Den Vibe, meine ich. Meine Existenzberechtigung, jedenfalls in diesem Laden, ist das Aufspüren von Künstlern mit Hits. Und nicht bloß mit Hits, sondern auch mit Klasse, mit Aussicht auf eine erfolgreiche Karriere – keine Eintagsfliegen. Eintagsfliegen bringen nämlich kein Geld. Also ›One-Hit-Wonder‹ und so was.« Er rümpfte die Nase. »Die bringen kurzfristig vielleicht ein bisschen Bares, aber auf lange Sicht …«

Der Swinging Manager war auf einmal gar nicht mehr entspannt. Jetzt war er in seinem Element, absolut konzentriert; zweifellos beeindruckend. Der beeindruckende John Pond stellte seinen von Pillen zersetzten Geist wieder scharf. Er richtete sich kerzengerade auf und streckte die Finger, um seine ganz persönliche Philosophie zu verkünden. Der Guru der Carnaby Street, der alle möglichen bisher ungedachten Mittel und Wege enthüllte.

»Ich will es mal so formulieren … Der Besitzer dieses Unternehmens, John Carter, hat nicht unbedingt einen musikalischen Hintergrund. Ganz und gar nicht. Sein Hintergrund ist Weißblech. Also Dosen. Er ist im Konservendosengeschäft. Baked Beans, Sardinen … Mandarinenspalten – kriegt man alles in Dosen, richtig?« Pond stand auf und schob seinen Sessel zurück, während er seine Gedanken mit unfreiwillig komischen Gesten unterstrich.

»Ursprünglich hat er mit Dosen gehandelt. Aber das Geschäft ist inzwischen von den Amerikanern aufgekauft worden. Darum macht er inzwischen in Autos und Schiffen … und wahrscheinlich auch Munition. Alles, was man aus Blech so machen kann. Er fördert Zinn in Bergwerken in Cornwall, wo er auch den größten Teil seiner Zeit verbringt, Gott sei Dank – und nicht hier.«

Pond spielte wieder mit seinem Pony, wischte ihn von einer Seite auf die andere. Er starrte ins Nichts, posierte ganz bewusst vor einer Goldenen Schallplatte und blies dabei hörbar Rauchringe hinaus in den Flur, wartete dann, ob Cornelia und Sandra wenigstens ein bisschen beeindruckt waren von seinem Schall und Rauch. Er lehnte sich an den Rahmen der Bürotür, ganz bei sich und zufrieden mit seinem Schützling und der Welt im Allgemeinen.

»Schon mal da unten gewesen?«

»Was?«

»Cornwall? Schon mal da gewesen?«

Der Junge hatte sich ebenfalls beruhigt.

»Nein … nein, da war ich noch nie. Doch, einmal war ich da, im … Familienurlaub … als Kind …«

»Der Chef, John … John Carter meine ich. Er ist ein guter Kerl und so, aber er hat wirklich nicht viel Ahnung von der Popszene. Oder überhaupt von Musik. Hat aber niemand. Ist ja was ganz Neues, darum hilft einem Ahnung auch nicht weiter. Aber ich … es ist eben mein Job, klar. Mein Spezialgebiet, das ist es. Da kenne ich mich aus.« Der Manager ging wieder zu seinem Schreibtisch, beugte sich darüber und griff zum Telefonhörer. »Weißt du was … Hättest du was dagegen, mal einen Augenblick draußen bei Cornelia zu warten? Na, wer kann dagegen schon was haben, hm?« Er begann zu wählen. »Gib mir einfach ein paar Minuten, Mann …«

In Cornwall sind Zinngewinnung und Blechverarbeitung aussterbende Gewerbe. Vor einem Jahrhundert gab es überall in den Grafschaften Penwith und Pendeen Minen. Noch hundert Jahre früher predigte John Wesley unter freiem Himmel zu riesigen Gemeinden, von Quarry Bank bis nach Carn Point. Die Blechschmiede in Redruth und Morvah hingen an seinen Lippen. Heute liegen eintausend aufgegebene Bergwerke und Fabriken über die raue Küstenebene verstreut, wo es früher fünfzigtausend aktive Gruben gab.

Irgendwoher müssen Zinn und Blech ja stammen, wo heute alles aus Dosen kommt, oder? Sogar das Lachen. Nicht umsonst steht der Name Tin Pan Alley für die etablierte Musikindustrie. Aus der Dose ist es hygienischer. So wie wir es erwarten vom … Jetzt! Aber heutzutage kommt diese ganze Konservenware aus Amerika. In Cornwall und ähnlichen Gegenden, wo die industrielle Verarbeitung der natürlichen Rohstoffe die lokale Wirtschaft nicht mehr trägt, müssen sich die Menschen einen anderen Lebensunterhalt suchen. Und hier kommen die neuen Pop-Unternehmer ins Spiel, und von hier stammen sie – mit den erstaunlichsten beruflichen Hintergründen. Im Fall des einundzwanzigjährigen John Pond von JCE ist es der TUC – der Trades Union Congress, der Dachverband der Gewerkschaften. Die Körperschaft, die für Großbritanniens notleidende Arbeiterschaft faire Löhne und faire Bedingungen aushandelt, war der frühere Zahlmeister des Managers, seine »Alma Mater«, wenn man so will.

Als sich herausstellte, dass die Position »Regulierung der Jugendarbeit« hauptsächlich aus Schreibtischdienst bestand, blieb der ehrgeizige Universitätsabsolvent nur für die pflichtgemäßen zwölf Monate dabei und floh dann in die groovy Umgebung der Carnaby Street. Vor dem TUC war der frühreife Pond Vorsitzender der Studentenvertretung in Bristol gewesen, wo er Bergbau studiert hatte. Und diese … kleine Verbindung … hatte ihm den Kontakt mit John Aldebaran Carter verschafft. Dem Herrn der Zinnminen. Mr. Tin Mine.Mr. JCE.

Die Universitäten und Kunsthochschulen Großbritanniens sind inzwischen Brutstätten des Pop, da man schnell erkannt hat, dass hier ein florierendes Geschäft lockt, das ordentlich Kleingeld abwirft. Hier spielt die Musik. Schwer vorstellbar, wie ein Universitätsexamen in Quantenphysik in ein schäbiges Hinterzimmer am Oxford Circus führen kann, aber so ist das heute eben. Man muss am Puls der Zeit sein.

Nimm Johnny Johnson, den Manager der Witchdoctors. Er kam vom Boxen, wo er drei Landesmeister trainiert hatte, bevor er seine Kontakte in die Unterhaltungsindustrie nutzte, um der Rockband von Canvey Island Engagements bei einigen der größten Festivals zu sichern. Oder Johnny Storm, der die neuen Shootingstars Polly Pops betreut (sie waren mal die alte Rock-’n’-Roll-Band The Vampires); er besitzt nebenbei noch eine ganze Reihe von Damen- und Herrenfriseursalons in den Midlands, wo er seine geschäftliche Laufbahn begonnen hat. »Stormy« Storm, so genannt wegen seiner gewitterartigen Launen, war der erste Mensch, der den Begriff Unisex verwendete. Darauf gründet sich noch immer sein Ruhm.

Tatsache ist: Heute ist alles möglich. Wenn man es also schaffen will und nach London kommt und etwas ans Laufen kriegt, dann … dann steht einem die Welt offen, oder? Die unwahrscheinlichste Geschichte ist die von Johnny »Dave« Davison, derzeitiger Besitzer der neuen Undergroundpostille Grass. Dave hat sich ursprünglich politisch in der National Teenage Party1 engagiert, wo er sich für die Senkung des Wahlalters und den Umweltschutz einsetzte. Eines Abends entdeckte er auf seiner Wahlkampftour in einem Pub in Mile End die Band Strawberry Quick – damals hießen sie noch The Periwigs – und führte sie bis an die Spitze der Charts. Die Periwigs brauchten Geld, um ihre Debütsingle aufzunehmen, also sprach Davison den alten Johnny Carter an, den er aus der Welt der Dosenfrüchte kannte. Und so kam es: Strawberry Quick wurde die erste Erfolgsgeschichte für JCE! Ihre Single »Lovely Louvre« soll im neuen Film von John Schlesinger verwendet werden, und John Barry hat neulich in einem Radiointerview erzählt, dass er sie sehr gut findet.

1 Die National Teenage Party, 1963 von David »Screaming Lord« Sutch gegründet, war Vorläufer der immer noch existierenden Monster Raving Looney Party.

Cornelia kam wieder aus dem Büro des Managers und betrachtete den Jungen mit neuer Begeisterung.

»John … meinst du, dass du heute Nachmittag um vier bei der Zeitschrift GIRL sein könntest?«

»Oh, aber ich … ich meine, ich bin gar nicht … ich … also, äh, nein! Auf keinen Fall!« Der Junge klang entschlossen. »Da sitze ich schon wieder im Zug zurück nach Cambridge.«

»John möchte, dass du dich dort um vier mit dem Bildredakteur triffst. Sie bringen einen Artikel über Stars, die studiert haben. Akademiker …«

Cornelia fand den Neuling auf einmal sehr viel attraktiver und nahm selbst eine eher linkische Model-Pose ein – die typische Twiggy-Haltung mit X-Beinen –, als wollte sie schon mal für die Zukunft üben. Sie hielt den Ordner mit Nachwuchshoffnungen weit weg von ihrer Bluse, um ihre Figur besser zur Geltung zu bringen, während sie ihren klassisch und perfekt proportionierten Körper auf Slingpumps balancierte.

»Es ist einfach absolut perfekt für dich, John …« Die junge Frau machte einen kleinen Schritt vorwärts, um nicht umzufallen. »Sie haben Jonathan Miller und Jonathan King2, aber sie wollen auch noch jemand Neuen. Brandneu …« Cornelia hob provozierend die Augenbrauen, als sie den verlegenen jungen Mann ansah.

2 Jonathan King, vormals Kenneth King

»Aber ich … ich meine, ich … ich bin doch kein ›Popstar‹, oder? Ich bin überhaupt kein Star …«

Cornelia lehnte sich zurück und tippte anzüglich auf ihren Klemmordner. »Ich glaube, es würde dir gefallen, John.«

»… ich glaube nicht, dass ich …«

»Aber was hast du denn zu verlieren?«

»… na ja … ich weiß nicht … ich … ich würde bestimmt nicht …«

Eigentlich klangen die Worte des Jungen ablehnend und endgültig, aber vielleicht suchte er auch nur einen Grund, seine Meinung zu ändern. Einerseits dachte John Nightly an die grüne Gitarre und den Motorroller, andererseits war er auch neugierig darauf, wie diese unschuldigen und vor allem »ausländischen« Models leibhaftig wirken mochten. Das Spielchen mit der hübschen Sekretärin ging weiter. »Ich weiß ja nicht mal, wo …« Aber Cornelia musste jetzt weitermachen, ihre Arrangements treffen. »Wardour Street, John. Zwei Minuten zu Fuß von hier …«

»… ich habe so etwas noch nie gemacht …«

Der Junge seufzte und spielte mit seinem Schal. Wenn er dieses Angebot aus heiterem Himmel ablehnte, könnte es das angefixte Management womöglich davon abbringen, den wirklich wichtigen Deal des Tages mit ihm abzuschließen, den goldenen Plattenvertrag.

»… ich … äh … vielleicht kann ich ja doch …«, murmelte er an niemand Bestimmten gewandt, als er sich umdrehte, um zu gehen. »Solange ich meinen Zug zurück nach Cambridge noch kriege …«

Trewin House, Porthcreek, Cornwall. Samstag, 27. August 2006.

»Könnte ich wohl Mr. Nightly sprechen, bitte?«

»Wer ist denn da?«

»Hier ist Neil … Neil Winters …«

»… ich bin Mr. Nightly.«

»Ah … hallo … John. Bitte entschuldigen Sie die Störung … und ich … ich hoffe, ich belästige Sie nicht in einem unpassenden Augenblick, aber … also, worum es geht: Ich habe gestern den Artikel über Sie im Cornishman gelesen …«

»… ja …«

»Über Ihre Canna-Züchtungen …«

»… ah, ja …«

»Es ist so … Ehrlich gesagt, bin ich ein Fan von Ihnen aus alten Zeiten …«

Klick.

John Nightly legte den Hörer auf, wie so oft in all den Jahren. Langsam und verständnislos. Dann wandte er sich wieder seiner Tätigkeit zu: Er topfte seine Sammlung von Dorotheanthus bellidiflorus um, die er illegal aus dem Botanischen Garten Kirstenbosch in Kapstadt, Südafrika, importiert hatte. Tausende grüner Schösslinge warteten auf Pflege, und John konnte es kaum erwarten, sich um sie zu kümmern; die Schmuggelware stand eng gepackt auf den gebogenen Regalbrettern der stetig wachsenden Gewächshaussiedlung und gerade erst ausgebauten Sonnenhäuser, in denen seine teuersten und heiß geliebten Arborealis Expirus untergebracht waren. BLATTWERK NICHT MIT BLOSSEN HÄNDEN BERÜHREN. VERURSACHT BRENNEN UND JUCKREIZ.

Normalerweise wäre John Nightly gar nicht ans Telefon gegangen. Er hatte seit vollen neun Jahren kein Wort mit irgendwem gesprochen, außer einmal in Jahr drei, als die Leute von British Gas nach dem Leck in einer Gasleitung suchten, wofür sie zunächst eine gerichtliche Verfügung erwirken mussten, um einen halben Meter auf sein Grundstück vorzudringen, und einmal in Jahr neun, als die British Telecom auf sein Anwesen musste, um Telefon- und Faxleitungen zu installieren, hauptsächlich für Nightlys im Haus lebenden Krankenpfleger John RCN.

Der Mann, der einmal das Aushängeschild britischer Popmusik gewesen war, ein Pin-up-Boy für alle hübschen jungen Dinger im Lande – nicht zu reden von einigen ihrer Mütter –, von der farbigen Beilage der Sunday Times als »schönster Mann Englands« tituliert, dessen Melodien und Texte und Ideen und Kleider und vornehme Manieren und strohblonde Haare und blaue, blaue Augen der Inbegriff all dessen waren, was jugendlich und angesagt, aber zugleich irgendwie bedeutsam und ernsthaft war an Swinging London, wie man es einst genannt hatte – dieser Mann kam mit der Welt überhaupt nicht mehr in Berührung.

John Nightly kam nicht einmal mehr mit sich selbst in Berührung. John Nightly … hielt einfach nur durch. Seit vierunddreißig Jahren hatte er kein Musikinstrument mehr angefasst. Er hatte in dieser ganzen Zeit keinen Knopf gedrückt, um einen Verstärker oder ein Keyboard oder ein Aufnahmegerät anzuschalten, womit er eine seiner zerbrechlichen modalen Kompositionen auf Band bannen konnte. Die Epochen der Musikkassetten und der Stereoanlagen waren an ihm vorbeigegangen. Bei dem Wort iPod hätte er automatisch an das herbstliche Sammeln von Samenkapseln gedacht oder an eine Augenverletzung. Alle zwölf Monate nur öffnete John Nightly den Mund zum Singen, am Heiligen Abend, wenn er in Porthcreek zur Mitternachtsmesse ging, in die kleine Kirche St. Eina, wo er zusammen mit John RCN immer am selben Fleck stand – in der hinteren Ecke der Marienkapelle im alten Glockenturm –, falls ein rascher Abgang nötig wäre, wie damals an jenem schicksalsschweren Heiligabend 1991.

Jedes Jahr schenkte John dem dankbaren Kirchenvorstand seine allerschönste Canna der Sorte »Luxor«, seiner eigenen Züchtung, immer vom dunkelsten Rosa. Er hatte es sogar geschafft, die herbstliche Blütezeit dieser südafrikanischen Schönheiten so zu verschieben, dass sie alle gemeinsam am Michaelistag erblühten. So konnten sie ihre prachtvollsten Blüten, die ganz oben am Stängel saßen, zur Weihnachtszeit in bestem Zustand präsentieren. Diese Zeit und die jährliche Gartenschau von Porthcreek waren die beiden Großereignisse in John Nightlys Kalender. Genauer gesagt … die einzigen Ereignisse. Und so hatte er es gern. So und nur so würde es bleiben. Nur so würde es jemals »laufen«.

Auch einer Frau waren seine Hände in der ganzen Zeit nicht nahe gekommen. Im Sommer 1971, in dem Jahr, als John und Iona sich zum ersten Mal trennten, war John mit Donna Vost, Kassandra Parker-Pope, Myra Knoll, der Contessina Rafaella van der Weyden, Flora Wood und Teri-Ann Christie ausgegangen. Mit anderen Worten, sechs der schönsten Frauen der gesamten Christenheit. Johns Probleme kamen da bereits an die Oberfläche, doch der Funken, der das Pulverfass zur Explosion brachte, war Teri-Ann: Sie war nicht erfreut, von dem jungen Burschen sitzen gelassen zu werden, und stellte ihn im wahrsten Wortsinn in einer Fotostrecke über ihren gemeinsamen Aufenthalt im Savoy Hotel in News of the World bloß. Die Bilder zeigten ein verdorbenes, dekadentes Paar ohne jeden Bezug zur Realität. Ein nackter und verschwommener John bestieg Teri-Ann offenbar im marmornen Badezimmer der königlichen Suite. Das war das letzte inoffizielle Foto, das von John Nightly gedruckt wurde – bis zum Artikel im Cornishman diese Woche.

John hatte in England zwar offiziell nie eine Single veröffentlicht; doch im Frühjahr 1968 hatte er einen Nummer-Eins-Hit in Frankreich und Deutschland, in den Niederlanden, in Belgien, Italien, Spanien, Griechenland, Ungarn, Polen, Schweden, Norwegen, Dänemark, Südafrika, Madagaskar, Australien und Neuseeland. Überall gleichzeitig. Die Tourneen waren chaotisch, aber lukrativ. JCE buchte hektisch überall zusätzliche Konzerte und Fernsehauftritte, wo John Nightly auf der Bühne stand. Er wurde aus dem eingeschneiten Stockholm ausgeflogen, erlitt in Canberra einen Hitzschlag, wurde in München von einer Gruppe hysterischer Fans »als Geisel genommen« und weigerte sich in Johannesburg, vor einem nach Hautfarben getrennten Publikum aufzutreten, womit er politische Unruhen auslöste, als er das Land wieder verließ, ohne einen einzigen Ton gesungen zu haben.

Marginalie: Gartenkulturkalender: Januar.

Besondere Freude macht zu dieser Zeit des Jahres die Kultivierung verschiedener Obst- und Gemüsesorten im Gewächshaus, doch im Januar lässt sich alles noch recht langsam an. Falls das Gewächshaus über Stromversorgung und damit eine Beheizung verfügt, sollte diese sparsam genutzt werden. Der Gartenfreund behält das Wetter im Auge und schützt die Pflanzen mit Stroh oder alten Zeitungen vor Frost. Wolfsmilchgewächse, Schlumbergera, Sedum-Arten, Astrophyten und andere Sukkulenten dürfen bei sonniger Witterung einmal in der Woche gegossen, aber nicht übermäßig gewässert werden. Die Knollen von Cannas und Begonien sollte man aus dem Boden nehmen und bis zur Verwendung im Frühjahr in Torf lagern. Jetzt ist die Zeit, das Gewächshaus zu lüften und zu reinigen, um es für die Aussaat vorzubereiten.

GIRL, Ausgabe #5. Freitag, 30. Januar 1966.

GIRL ist die Zeitschrift zur Zeit. Das Magazin des Moments. Diese Woche ist Brian Jones auf dem Titel. Im Innenteil spricht Dennis Wilson von den Beach Boys über das Surfen auf kalifornischen Wellen, und Mary Quant erklärt, wie man den Minirock im Winter trägt. Vidal Sassoon gibt auf Seite sechs Frisurentipps, und die Fotostrecke zeigt das fabelhafte neue Urlaubsziel Torremolinos in Spanien: Machen Sie mit bei unserem Gewinnspiel und schlürfen Sie Sangria mit Sandie oder machen Sie ein Paella-Picknick mit Petula. Unser regelmäßiger Filmüberblick beschäftigt sich diesmal mit Lynn Redgrave und Hayley Mills. Auf der letzten Seite versorgen Hardy Amies und »Teasy-Weasy« Raymond die jüngere Generation mit hart erarbeiteten Weisheiten. Und dann natürlich noch unser regelmäßiges Beatles-Feature. Die Beatles sind der Grund, warum wir weitermachen. Der eigentliche Grund, wieso es uns alle überhaupt gibt. Wenn John Zahnschmerzen hat, hören wir es nachmittags in den BBC-Nachrichten!

Schlagt Seite einundzwanzig auf. Ein neues Gesicht! Cambridge-Absolvent John Nightly sitzt in seinem lila Oberteil von John Smedley und dem blauweißen College-Schal im Büro von Sotheran Books, dem berühmten altehrwürdigen Buchladen in Mayfair, zusammen mit Iona Sandstrand. Genau, die Iona Sandstrand! Dänisches Model und jüngste Ex-Freundin des Schauspielers John Paul. Ihre langen braun gebrannten, überversicherten Beine umschlingen Mr. Nightly, während sie beide auf einem großen Diwan von James St. James liegen. Im Hintergrund hat der Kunsthändler John Kasmin ein Gemälde von einer Sonnenfinsternis platziert, und im Vordergrund hat die Textildesignerin Celia Birtwell ein paar gazedünne Stoffe mit Blumenmuster drapiert, um dem traditionellen Buchladen einen brandaktuellen marokkanischen Look zu verleihen.

Im fünfseitigen Mittelteil schauen diese beiden schönen Menschen, denen ihre Schönheit offenbar gar nicht bewusst und daher auch herzlich egal ist, einander von oben bis unten an; auf John Christians leuchtenden Fotos albern sie herum und heucheln dann Desinteresse füreinander. Auf einem Bild starrt Iona John an, als sei er der schönste Mann, den sie je zu Gesicht bekommen hat. Der schönste Mann der Welt. Und das liegt daran, dass er es ist!

Genau dieses Bild schaue ich mir gerade an, nachgedruckt auf dem Titelbild von Fashion USA, Ausgabe April ’66. Fashion USA ist die Bibel der amerikanischen Modeindustrie. Sie berichtet über die neuesten Trends überall in den Vereinigten Staaten und setzt sie gelegentlich auch selbst. »Fashion USA in Swinging London« verspricht der Titel der Ausgabe. Das Foto hat John Farjeon ausgewählt, der Bildredakteur von Fashion USA in New York, weil sich damit am besten die Hoffnung auf, der Wille zum, das Verlangen nach Fortschritt illustrieren lassen, die dieses Land erfasst haben: England, Großbritannien … London, Europa. Ein Königreich, das weder von Vietnam-Protesten noch von Rassenunruhen oder Präsidentenmorden erschüttert wird. Dieses England. Unser England. Unser Pendel. England swingt – sagt man jedenfalls. Im Augenblick zumindest. Und jetzt wollen alle mitswingen. Ohne Rücksicht auf die Flugsicherung macht sich die ganze Welt auf den Weg in unsere eigene tickende und pulsierende Metropole.

Weekend World, 15. April 1966: »London – die Swinger«

»London swingt, und wir sind süchtig danach!«

Titelgeschichte von Sandro Timpani

Tomorrow, 1. Mai 1966: »London – eine swingende Szene«

»Okay, Leute, steigt einfach ins Flugzeug und fliegt nach London, und zwar sofort!«

Exklusivreportage von Marvin Sandberg

US News Today, Juni 1966: »London – die City swingt«

»Dies sind also die swingenden Londoner und ihr bunter Stilmix aus Jahrhundertwende, Viktorianischer Epoche und Regency-Zeit. Sie müssten eigentlich lächerlich aussehen, aber weil sie Briten sind, tun sie es nicht.

Sie sehen fabelhaft aus, ›fab‹, ›groovy‹, ›swinging‹ …«

London-Tagebuch von Sandy Weitzman

John JCE hatte seine Sache gut gemacht. Ein einziger Anruf bei einer Ex-Freundin, und schon hatte er sich diese fünfseitige Fotostrecke im angesagtesten Magazin gesichert. Als John Nightly in Diana Winterbottoms Büro am Ende der Wardour Street trat, war ihr innerhalb von etwa 2,5 Sekunden klar, dass dieser schlaksige, zappelige, unbeholfene, bescheidene, selbstkritische, unbehaglich wirkende, nervöse junge Mann mit dem frischen Teint, dass dieser potenzielle Mitarbeiter – Risikofaktor 9 – mit den strohblonden Haaren, den durchdringenden Augen, der markanten Knochenstruktur und den sehr guten, sehr übertriebenen, sehr altmodischen Manieren … das Gesicht des Jahres werden würde.

Aber so sieht John Nightly nicht mehr aus.

Vor mir steht ein sehr müder Sechzigjähriger. Ein erschöpfter alter Knabe. Zittriger Nacken, brüchige Haut, aufgesprungene Lippen, dünne Haarsträhnen, ein grauer … alter … Sack. John Nightly sieht nicht aus wie sechzig. Er sieht aus wie neunzig. Er sieht aus, als hätte er seit mindestens fünfzig Sommern keine Orange und keine Vitamintablette, keinen Sonnenstrahl und keine frische Luft mehr abbekommen. Hat er aber natürlich. John Nightlys armes altes Wrack von Leib erhält die besten und gesündesten biologisch angebauten Lebensmittel, die man mit Plattentantiemen kaufen kann.

Schwere Kisten saftigster Orangen aus Tanger, Zitronen und Limetten aus Sizilien, Kartons mit üppiger Wasserkresse und Weizenkeimen, dazu Fläschchen mit Vitamin- und Mineralpräparaten sowie alle möglichen lachhaft teuren Nahrungsergänzungsmittel werden jeden Monat zur Trewin Farm geliefert, Teil einer sorgsam kontrollierten Geldverschwendung, die John RCN ihm verschrieben hat. John Nightly läuft jeden Tag die acht Kilometer um sein Küstengrundstück herum – meist mit seinem Hund Alexandre. Der alte Knabe geht los und marschiert einfach weiter. Immer weiter herum gehen sie, bis er irgendwann weiß, dass er die Runde vollendet hat. Und manchmal wagt er sich, heutzutage in Begleitung von John RCN, auch auf den Küstenpfad selbst, bis sie beide – von Regen und Nebel durchweicht und wachsam wegen der Anfälligkeit für Bronchitis, Lungenentzündung und dergleichen – wieder umkehren.

Nun, das schöne Gesicht ist jedenfalls Vergangenheit. Und da es keine Kommunikation gibt, keinen täglichen Schwatz, kein Gespräch über das Wetter oder Umweltverschmutzung oder darüber, dass es mit dem Land bergab geht, ist auch kein Leben mehr in seinem Gesicht. Kein Lachen, keine Zustimmung oder Ablehnung, denn es ist niemand da, dem er beipflichten oder widersprechen könnte. Niemand, den er etwas fragen könnte, und ganz gewiss niemand, der ihm antworten würde. Nichts und niemand, für den er sich bereit machen müsste. Niemand zum Beeindrucken, niemand, dem er Rechenschaft schuldig wäre.

In John Nightlys Gesicht ist nichts als Anstrengung zu sehen. Reine Mühe. Die Last des Lebens. Der Existenz. Die Last … er zu sein. Die Last unerfüllter Versprechen, unerkannter Fähigkeiten, unverwirklichten Potenzials.

Und als Empfänger einer wahrhaft göttlichen Gabe ist da natürlich auch noch die ungeheure Last, nichts mehr damit anfangen zu können. Und natürlich die Beschwernis, nicht in der gleichen Position zu sein, nicht so verehrt und gepriesen zu werden wie seine Altersgenossen und Rivalen. Seine Reisegefährten. Die heute anscheinend in ewiges Licht getaucht sind. Die Last, nicht Michael Philip Jagger oder Reginald Kenneth Dwight zu sein.

Im Lauf der Jahre hatten so viele Menschen versucht, John zu kontaktieren. Ihn »zurückzuholen«. Sogar Iona. Die naive Unschuld, die einst in GIRL ihre gebräunten Beine um ihn geschlungen hatte. Und die nach ihrer allzu langen, von sexueller Abhängigkeit geprägten Liebesgeschichte selbst versucht hatte, sich umzubringen, und von John gerettet und ins Leben zurückgeholt worden war, als sein geistesgegenwärtiges Handeln sie vor dem Tod bewahrte. Iona, inzwischen Lady St. John Firmin, hatte John Nightly mehrfach in Porthcreek besucht. Doch sie hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Außer eines Freitagmorgens, als er das Haus verlassen hatte, um die riesigen stromverschlingenden Heizlüfter im größten Glashaus anzuwerfen, das der Straße am nächsten lag und daher vom Drahtzaun aus gerade noch zu sehen war. Doch als sie ihm etwas zurief …

»John, ich bin es … Iona … Darling … … … …«

Da bekam sie als Antwort nur …

»Nein …«

Bevor John mit seinen Blattlausmitteln, Kalkmessgeräten und Sprühflaschen durch eine Schiebetür wieder verschwand.

Selbst Eric, Eric Clapton – Gott –, war im Sommer 1985 unangekündigt nach Porthcreek gekommen, wahrscheinlich auf Ionas Bitte hin; und weil er der war, der er eben war, hatte Pfleger John RCN (Royal College of Nursing) Eric hereingelassen und ihm einen Stuhl angeboten. Gott hatte mit John und John in der alten Bauernhausküche gesessen, eine Tasse Beuteltee getrunken, einen Keks gegessen und dem alten Sack erzählt, wie sehr er seine Musik vermisse, wie sehr er ihn bewunderte und wie schön er es fand, dass er jetzt »wieder da« sei.

Eric sagte, er wolle mit John Nightly ins Studio gehen, um ein neues Album aufzunehmen, weil er glaubte, genau das würde ihn wirklich »zurückholen«. John hörte geduldig zu, zwinkerte sogar und tappte mit dem Fuß, als Eric erwähnte, dass Pete Townshend zu den Aufnahmen kommen und mitspielen wolle; doch nachdem Eric wieder gegangen war, wandte sich der alte Knabe nur an seinen Pfleger und fragte: »Was wollte er?«