THE TALE OF WYCCA: Hunt (WYCCA-Reihe 2) - Sandy Brandt - E-Book

THE TALE OF WYCCA: Hunt (WYCCA-Reihe 2) E-Book

Sandy Brandt

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Beschreibung

Auf der Suche nach dem wahren Mörder gerät Raevan in eine Schlinge aus Intrigen und Verrat, und schon bald kann er niemandem mehr trauen, außer seinen Freunden … oder? Währenddessen jagen Tyresian und Pray ihre eigenen Dämonen. Dabei kommen sie einem Geheimnis auf die Spur, das dem Frieden zwischen Menschen und Wycca gefährlich werden könnte. Die Zeit rennt, denn eine mysteriöse Krankheit befällt die Wycca in ganz Avastone. Ist das die Waffe, die den König stürzen soll?

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Was bisher geschah …
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
EPILOG

Sandy Brandt

 

The Tale of Wycca

Hunt

(Band 2)

Dieser Artikel ist auch als Hardcover und Hörbuch erschienen. THE TALE OF WYCCA: Hunt

 

 

Copyright

© 2024 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben werden.

 

 

Lektorat und Korrektorat: Madeleine Seifert

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von 123rf

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz,

unter Verwendung von Motiven von Canva

 

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

ISBN: 978-3-98718-133-7

Für dich, wenn du wie Tyresian auf der Jagd nach einem

Für Immer bist.

 

Jage auch in der Dunkelheit.

Wycca, der, die. [wit͡ʃɐ]

 

 

Genmutation. Ein Mensch mit der entsprechenden Genmutation (umgangssprachlich Wycca) unterscheidet sich durch drei Merkmale von einem normalen Menschen:

 

1. Äußere Mutation

Die Augenfarbe eines Wycca kann in jeder Farbe auftreten.

 

2. Innere Mutation

Das Herz des Wycca gleicht von der Form her einem Stern (größeres Zentrum in der Mitte, acht dünne, wegführende Streben). Im Normalzustand ist das Organ zu einem winzigen Punkt zusammengeschrumpft. Bei starken Gefühlen schwillt es an (s. h. Ableben). Herz und Blut eines Wycca sind schwarz.

 

3. Psychische Mutation

Wycca verfügen über besondere, vom Geist ausgehende Fähigkeiten. Bekannt sind folgende Ausprägungen der Gedankenkontrolle: Pyrokinese (Feuer entzünden), Kryokinese (Wasser gefrieren lassen), Aerokinese (Kontrolle über Luft), Ferrokinese (Kontrolle über Magnetismus und Energie) und Biokinese (Einfluss auf biologische Systeme).

 

Lebensspanne: Mit der Vollendung des vierundzwanzigsten Lebensjahres ist der Alterungsprozess der Wycca beendet und die Lebensspanne unbegrenzt.

 

Merkmale des Körpers: Die Magie der Wycca liegt in ihrem Blut und schützt somit Haut, Fleisch und Muskeln vor äußeren Einwirkungen. Die Knochen weisen eine höhere Dichte auf und sind weniger anfällig für Verletzungen.

 

Ableben: Sollte ein/e Wycca sein/ihr Leben beenden wollen, muss sein/ihr Herz durchbohrt werden. Im Normalzustand ist dies jedoch nicht möglich (s. h. 2. Innere Mutation). Der Tod tritt darüber hinaus nur durch die Einwirkung anderer Wycca-Kräfte ein.

 

Nachfahren: Wenn zwei Wycca Nachfahren bekommen, wird die Mutation ausnahmslos weitervererbt. Wird ein Wycca mit einem Menschen gepaart, besteht für jedes Blut eine fünfzigprozentige Chance auf Dominanz. Entweder trägt der Nachkomme dominantes Wycca-Blut und besitzt alle Genmutationen wie ein Vollblut-Wycca oder der Nachkomme besitzt dominantes Menschenblut. Die Genmutation kann jedoch bei folgenden Generationen auftreten, besonders wenn Menschenblut erneut mit Wycca-Blut vermischt wird.

Was bisher geschah …

Nach dem Tod seiner Familie wird der Wycca Raevan unfreiwillig König des Landes Lyzara. Die Trauer und der Verrat derer, die an dem Attentat beteiligt waren, hinterlassen ihre Spuren. Rae hat seine Kräfte – Pyrokinese, Kryokinese und Biokinese (Gedankenkontrolle) – nicht unter Kontrolle.

Am anderen Ende der Stadt erhält der Wycca Tyresian den Auftrag, den König zu töten. Doch im letzten Moment entscheidet er sich dagegen und die beiden werden Freunde. Gemeinsam mit Raes Freund Pray machen sich die drei auf die Suche nach der Blutkrone, die beweisen soll, dass Raevan der rechtmäßige König ist.

Kurz bevor das Veri stattfindet, lernt Rae die Menschenfrau Azalea kennen und verliebt sich in sie. Doch er ist verheiratet und auf Ehebruch mit dem König steht die Todesstrafe. Dennoch kann er seine Gefühle nicht unterdrücken und die beiden kommen sich näher. Die Vorzeichen stehen schlecht: Nach dem erfolgreichen Abschluss des Veri leuchtet der Mond blutrot am Himmel.

Bei einem Angriff der Menschen sterben mehrere Wycca und die Stimmung im Land wird angespannter. Rae konzentriert sich verstärkt auf die Suche nach der Blutkrone, um seinen Anspruch auf den Thron zu untermauern. Zusammen mit seinen Freunden wird er fündig. Dabei verletzt Raevan seinen Freund Pray schwer, weil er seine Kräfte nicht unter Kontrolle hat. Rae beschließt, dass er kein König sein sollte, und will abdanken.

Bevor er seinem Onkel Enyas die Nachricht überbringen kann, wird dieser brutal ermordet. Kurz darauf findet Rae mithilfe der Blutkrone heraus, dass er nicht der rechtmäßige Erbe ist. Das kann nur bedeuten, dass sein Vater nicht mit ihm blutsverwandt war. Von seiner Cousine Rebecah erfährt er, dass Enyas sein richtiger Vater war und Rebecah seine ältere Halbschwester ist. Damit hat sie den ersten Anspruch auf den Thron und steckt hinter den Attentaten der Menschen, die sie benutzt, um Unruhe zu stiften.

In einem Kampf kann Rae sie besiegen und Rebecah wird festgenommen. Doch die gläserne Garde, deren Anführer Rebecah ist, zweifelt an Rae als rechtmäßigem Herrscher. Er nutzt seine Fähigkeit der Gedankenkontrolle, um sie umzustimmen.

Nach dem Triumph gelingt es Raevan, seinen Blutrat von der ersehnten Scheidung zu überzeugen, damit er Azalea heiraten kann.

Doch noch in derselben Nacht dringt jemand in das Zimmer der Königin ein und tötet sie.

PROLOG

 

Tyresian Joyce sollte das Herz stehen bleiben, während er die Spitzen seiner Haare blutrot färbte.

Er hatte die ersten Monate seines Lebens im Palast gebraucht, um sich an den morgendlichen Trubel zu gewöhnen, den die Bediensteten und Bewohner mit sich brachten. Inzwischen war er immun gegen jedes Geschrei, jedes Poltern oder das gelegentliche Donnern an seiner Tür, das einen ungeduldigen Besucher ankündigte.

Nur einen solchen Schrei hatte er noch nie gehört.

Mitten in der Bewegung blieb er stehen, den schwarzen Plastikpinsel in der einen, die blonden Strähnen in der anderen Hand. Der Schrei hallte durch seinen Körper und unterbrach den Rhythmus seines Herzens.

Hatten sie etwas übersehen? Hatte Rebecah Tennyson noch Verbündete, die sich gegen Raevan verschworen hatten, um ihm den Thron zu rauben?

In den letzten Wochen, seit Rae seine Cousine eingesperrt und die gläserne Garde auf seine Seite gebracht hatte, war das Leben im Palast friedlich gewesen. Aber wenn jemand gegen den König intrigierte …

Ty warf den Pinsel ins Waschbecken und riss sich das Handtuch von den Schultern, das Farbspritzer auf seiner nackten Brust verhindern sollte. Ohne nachzudenken, rannte er in den Flur.

Der Rest des Palastes schlief friedlich – im Gegensatz zu Ty wurden die meisten nicht von schlafraubenden Albträumen geplagt. Er blieb kurz stehen, vergrub seine nackten Zehen im roten Teppich und lauschte. Die Stille hauchte ihm ihren kalten Atem in den Nacken.

Ein Schluchzen erklang, dicht gefolgt von einem weiteren Schrei, der wie Eiskristalle in seinem Blut prickelte. Sofort sprintete er los. Angst schlang sich um seinen Brustkorb, hielt ihn in einem Würgegriff gefangen, dämpfte Farben und Geräusche.

Bis er erkannte, dass das Schluchzen nicht aus Raes Zimmer kam.

Sondern aus dem nebenan.

Ty stürmte in den Raum. Durch das offene Fenster an der gegenüberliegenden Wand drangen die ersten Vogelrufe durch die zugezogenen Vorhänge. Das fröhliche Gezwitscher verlor sich in der grauen, nebligen Dunkelheit.

Wieder ertönte das Schluchzen und Tys Kopf fuhr herum. Hinter der angelehnten Tür zum Nebenzimmer kauerte eine Frau auf dem Boden. Ruckartig hob und senkte sich ihr Brustkorb, während sie ihren Nacken mit den Armen umschlang, sich vor und zurück wiegte.

Tyresians Sicht verschwamm, alles verengte sich auf diesen einen Punkt. Benommen hob er eine Hand und stieß die quietschende Tür auf. Das Schluchzen der Frau übertönte alles andere, wie Nägel auf einer Tafel. In Tys Kopf schwirrten die Gedanken wie vom Rauch benebelte Bienen.

Vor ihm erstreckte sich das Schlafzimmer der Königin. Ihr Bett lag im Licht der durchs Fenster einfallenden Sonne, deren erste Strahlen sich golden über den reglosen Körper ergossen.

Als hätte dieser Anblick einen Alarm ausgelöst, kehrten die Geräusche um Tyresian zurück, prasselten wie ein Hagelschauer auf ihn ein. Das Schluchzen der Frau, die vor dem Bett kniete, dröhnte in seinen Ohren, und als wären die Vögel vor dem Fenster wütend über diese Misstöne, schrien sie dagegen an.

Ty hatte in seinem Leben viele Tote gesehen. Für einige war er selbst der letzte Anblick gewesen. Nach dem ersten Mord hatte er gelernt, den Teil von sich loszulassen, der im Angesicht des Todes etwas fühlte. Er hatte eine Mauer zwischen sich und seine Taten gezogen.

Als er an das Bett trat und den roten Strich am Hals des leblosen Körpers betrachtete, drängte ihn auch jetzt eine betäubende Kraft, diese Mauer zu errichten. Den Teil auszuschalten, der für das Donnern in seinem Kopf und die Enge in seiner Brust verantwortlich war.

Doch das, was vor ihm lag, war kein fremder Körper. Vor ihm lag die Leiche der Königin von Lyzara.

Raevans Frau. Katleem.

Schritte ertönten aus dem Nebenraum. Tys Muskeln spannten sich an, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Katleem Tennysons Haar lag ausgebreitet wie ein roter Fächer auf dem Samtkissen. Ihre Lider schimmerten blassviolett, sodass die Adern darunter hervortraten. Ihre Hände ruhten seitlich am Kopf, die Finger gekrümmt, als hätte sie sich gerade irgendwo festgekrallt.

»Was bei den toten Dichtern …« Raes Stimme ließ Ty zusammenzucken, und er blickte auf. Sein Freund hatte offenbar die erstbeste Kleidung angezogen und trug eine Mischung aus Trainingshose und Wollpullover. Er machte einen taumelnden Schritt vorwärts. Entsetzen erfüllte den Raum, verdichtete die Luft und ließ die Körper der Anwesenden ungläubig erstarren. Ein Schatten huschte über Raes Gesicht, verdunkelte es so sehr, dass Ty automatisch nach seinem Arm griff.

»Nicht.«

Doch Raevan schüttelte ihn ab, stolperte zum Bett und kniete sich auf die Matratze. Fahrig tastete er Katleems Hals, ihr Gesicht und die Handgelenke ab, wobei er unverständliche Worte murmelte, die immer hektischer wurden. Als er ihren Kopf anhob, sackte dieser leblos zur Seite. Rae zuckte zusammen und stieß einen erstickten Laut aus, der sich in die Stille mischte – ein Echo der Unwirklichkeit, das sich unaufhaltsam ausbreitete und alles in einen fahlen Nebel hüllte. Entsetzen stand in seinen Augen, als wäre er eine seiner Leinwände, auf die jemand Bilder des Schreckens und des Verlustes bannte. Zitternd vergrub Rae die Hände in seinen schwarzen Locken.

Hinter Ty erklang erneut ein Schluchzen. Katleems Hofdamen waren eingetroffen und fielen sich gegenseitig in die Arme.

Eine von ihnen war Azalea.

Ihre Augen stachen aus dem blassen Gesicht hervor und sie krallte ihre Fingernägel in die dünne Haut ihrer Armbeuge. Fragend erwiderte sie Tys Blick und er nickte leicht. Mit zusammengekniffenen Lidern grub sie die Nägel so tief, dass es ihr die Blutzufuhr abschnüren musste. Aber sie rührte sich nicht. Stattdessen sah sie Ty aus schimmernden Augen an und deutete anschließend mit dem Kinn in Richtung des Königs.

Sie konnte sich ihm nicht nähern. Nicht hier, nicht vor Zeugen.

Und schon gar nicht unter diesen Umständen.

Aber Rae brauchte jemanden. Ty riss sich zusammen, atmete tief durch und hockte sich neben seinen Freund. Behutsam legte er ihm eine Hand auf die Schulter.

Raes Kopf zuckte in seine Richtung, und sofort schlug Ty eine Hitzewelle entgegen, die ihn zurücktaumeln ließ. Der Geruch von verbranntem Stoff stieg ihm in die Nase und für einen Moment befürchtete er, der König würde sie alle mit seiner Feuerkraft zu Asche verbrennen.

»Rae«, flüsterte Ty so leise, dass es niemand hören konnte. Erkennen blitzte in den silbrig glänzenden Augen auf und der wilde Ausdruck wich einer Schwere, die sich lähmend um Tys Herz schloss.

Raevan sog zittrig die Luft ein. »Sie ist tot.« Die kratzige Stimme, die seine Kehle verließ, drang zu den Hofdamen hinter ihnen durch und sie heulten auf. Behutsam, als würde er eine Seite in einem Buch umblättern, strich Rae seiner Frau das rote Haar aus der Stirn. Tränen fielen auf ihr blasses Gesicht.

Das Zimmer füllte sich mit Bediensteten. Sie scheuchten die anderen hinaus, redeten auf den König ein, er müsse von der Königin wegtreten. Die Ärzte müssten sie untersuchen.

Rae schüttelte den Kopf und strich mechanisch über Katleems Wange, schickte sie alle weg. Die ganze Zeit ließ Ty seine Schulter nicht los, betrachtete die Szene vor sich, unfähig, sich zu bewegen.

Die Minuten verschwammen. Er wusste nicht, wie lange sie dasaßen. Irgendwann ersetzten Polizisten die Bediensteten. Auch sie forderten den König auf, das Zimmer zu verlassen – bestimmter als vorher.

Rae ignorierte sie.

Erst als sich eine andere vertraute Stimme einmischte, sah er auf.

»Komm schon, Raev.« Pray fasste ihn am Arm. »Du musst sie ihren Job machen lassen. Wir können nichts weiter tun.«

Und als verfügte Pray über Kräfte, die niemand anderes besaß, stand Raevan auf. Benommen wie eine Puppe, die ohne Hilfe nicht laufen konnte, stolperte er hinter Pray her, ließ sich von ihm stumm ins Wohnzimmer führen und aufs Sofa verfrachten.

Stimmen aus dem Nebenzimmer drangen zu ihnen durch und Begriffe wie Leichenflecke, Strangulation und Totenstarre kratzten über Tys Trommelfell. Auch Rae schien sie zu hören. Er stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und vergrub seine Finger in den Haaren, bedeckte seine Ohren.

Ty setzte sich neben ihn. Der grobe Stoff des Sofas rieb über die nackte Haut an seinem Oberkörper. Auf der anderen Seite ließ Pray sich auf die Armlehne sinken und sah mit starrem Blick in Richtung der Polizisten. Er biss so fest auf seine Unterlippe, dass sie weiß anlief.

»Was ist passiert?«, flüsterte er.

Kopfschüttelnd fuhr Ty sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ich hörte den Schrei und bin hergekommen. Da lag sie schon so da.«

Alarmiert sah Pray zu Raevan, der sich jedoch noch immer nicht regte. Er schien in seiner eigenen Welt.

»An ihrem Hals …«, begann Pray, aber in dem Moment kam einer der Polizisten aus dem Schlafzimmer zu ihnen.

Im Gegensatz zu den anderen trug er keine Uniform. Doch wären seine koordinierte und starre Körperhaltung nicht Beweis genug, ließ die Marke, die an einer Kette um seinen Hals hing und auf der eine Eule zwischen den Buchstaben R und R prangte, keine Zweifel.

Mit kerzengerader Haltung kam er vor ihnen zum Stehen. »Eure Majestät.« Leicht neigte er den Kopf. Das kantige Gesicht verriet keine Regung. Auch nicht, als er vergeblich darauf wartete, dass Rae ihn ansah. »Ich habe ein paar Fragen.«

In Tys Rücken schwoll das Ticken der Wanduhr in der darauffolgenden Stille an. Er schluckte.

Doch ehe sich die Stille weiter ausdehnte, hob Raevan den Kopf und straffte beim Anblick des Polizisten die Schultern. Trotz der lächerlichen Mischung aus Wollpullover und Trainingshose erkannte Ty die trainierte Haltung eines Mannes, der jahrelang eine Krone auf seinem Haupt balancieren musste. Mit stechendem Blick taxierte er schweigend den Polizisten.

Dieser erwiderte ihn. »Wo wart Ihr letzte Nacht?«

Sofort sprang Ty auf. »Ernsthaft?« Das Wort donnerte grollend hervor. Er und der Polizist standen Brust an Brust und Hitze schoss schmerzhaft wütend durch Tys Körper. Trotz seiner beachtlichen Größe überragte der Polizist ihn um einige Zentimeter und dessen violette Augen funkelten. Für einen Moment glaubte Ty, er würde ebenfalls die Beherrschung verlieren.

Aber er wandte nur den Blick ab und sah zu Rae. »Bitte beantwortet meine Frage«, sagte er im stoischen Tonfall.

»Seine Frau wurde gerade tot aufgefunden«, presste Ty zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und stellte sich wieder vor den Wycca, sodass er ihm den Blick auf Rae versperrte.

Der Polizist machte keine Anstalten, Ty aus dem Weg zu räumen. Stattdessen betrachtete er ihn aus diesen hellvioletten Augen. »Deshalb muss ich auf eine Antwort bestehen.«

Wieder setzte er zu einer Erwiderung an, doch Rae unterbrach ihn. »Lass gut sein, Ty.« Seine Stimme kroch träge wie Nebel über die Distanz zwischen ihnen.

Nicht ohne den Polizisten noch einmal wütend anzufunkeln, wandte Ty sich zu seinem Freund um. Dieser hob das Kinn und verschränkte die Hände im Schoß.

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Im Zimmer fanden wir die Durchschrift eines Briefs«, sagte er und legte dabei den Kopf schräg. »Wusstet Ihr, dass die Königin Euch fürchtete?«

Rae regte sich nicht. Nur seine Fingerknöchel traten stärker hervor. »Ja.«

Die Augenbrauen des Polizisten zuckten für eine Sekunde in die Höhe. »Bitte sagt mir, wo Ihr letzte Nacht wart.«

Schwer schluckend sah Rae zur Seite, starrte auf das Fenster, dessen Vorhänge irgendwer in den vergangenen Minuten geöffnet haben musste. Sein Kiefer mahlte.

»Majestät«, sagte der Polizist mit Nachdruck. »Ich muss auf eine Antwort bestehen.«

Ty wechselte einen besorgten Blick mit Pray, der ihm deutlich zeigte, dass sie eine ähnliche Ahnung hegten: Rae war allein gewesen. Die Nacht, in der die Frau, die er verlassen wollte, ermordet worden war, hatte er ohne Zeugen verbracht.

Als ihm das bewusst wurde, öffnete Ty den Mund. Aber jemand anderes kam ihm zuvor.

»Er wird eine Antwort geben.« Azalea stand mit verschränkten Armen in der Zimmertür. Sie hatte sich umgezogen, trug ihr übliches Outfit in Violett, passend zu den Augen des Polizisten. Obwohl die Kleidung ihre schmalen Schultern betonte, erinnerte ihre Haltung an einen Türsteher, der bereits beim Eintreten seines Gastes Ärger erwartet hatte und nun nicht enttäuscht wurde. Mit festen Schritten marschierte sie in den Raum. »Und ich werde sein Alibi gern bestätigen«, fügte sie leiser hinzu, sobald sie dicht genug bei ihnen war. »Nur nicht hier.« Ihre hellblauen Augen huschten zur Seite. Doch niemand der anderen Polizisten schenkte ihr Beachtung.

Raevans Kopf zuckte in Azaleas Richtung, wie ein Tier, das eine Falle zuschnappen hörte. Ty konnte es ihm nicht verübeln.

Hatte er die letzte Nacht wirklich mit Azalea verbracht? Wenn jemand davon erfuhr, wäre das ihrer beider Todesurteil.

»Azalea«, sagte Rae und schüttelte den Kopf.

Sie erwiderte seine unausgesprochene Warnung mit einem wackligen Lächeln. »Keine Sorge. Er wird dein Alibi – und alles Weitere – vertraulich behandeln. Nicht wahr?«, fragte sich an den Polizisten gewandt.

Dieser presste die Lippen aufeinander – nicht erfreut, dass sich eine Person ins Gespräch eingemischt hatte. Der Muskel an seinem kantigen Kiefer zuckte.

Ty hatte genug. Er würde nicht zusehen, wie Rae seinen Kopf verlor. Er würde alles aufklären und seinem Freund selbst ein Alibi verschaffen. Aber vorher musste er Azalea zum Schweigen bringen. »Weshalb sollte er das tun?«

»Weil es seine Polizistenehre von ihm verlangt. Und«, fügte Azalea mit einem Lächeln hinzu, bevor sie besagtem Polizisten eine Hand auf den Unterarm legte, »weil seine Schwester ihn darum bittet. Richtig, Coleus?«

Verblüfft sah Ty von Azalea zu dem Wycca und wieder zurück. Er hatte gewusst, dass ihr Zwillingsbruder ein Wycca war. Jetzt, da er ihn genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass sie dieselbe Augenform besaßen und dass seine Haare zwar eine Nuance heller waren, aber den gleichen Wirbel aufwiesen.

Coleus legte seine Hand auf die seiner Schwester. »Richtig.« Selbst ihre Stimmen klangen ähnlich, auch wenn seine dunkler war. Aber sie hatten dieselbe Stimmfarbe. »Dennoch werde ich keine Rücksicht nehmen, sollte es etwas geben, das meine Ermittlungen in diesem Mordfall behindert.« Mit diesen Worten nahm er Azaleas Hand von sich und straffte die Schultern.

Und er besitzt dieselbe Arroganz wie seine Schwester, ergänzte Ty in Gedanken. Am liebsten hätte er mit den Augen gerollt.

»Jemand hat die Königin getötet.« Coleus richtete sich auf und sah Rae an. »Im Moment, Eure Majestät, seid Ihr unser Hauptverdächtiger.«

KAPITEL 1

 

Es würde Krieg mit Ashland geben.

Der Gedanke begleitete Rae seit Wochen.

Er lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl zurück und sofort richteten sich fünf Augenpaare auf ihn. Mit einem tiefen Atemzug ignorierte er sie, strich sich die schwarzen Locken nach hinten und sah zur Decke.

Wie er diese vorsichtigen Blicke der anderen hasste.

So verhielten sie sich seit seinem Kampf mit Rebecah. Seitdem er an die Öffentlichkeit gegangen und seine Kräfte offenbart hatte.

Alle, bis auf eine.

Schnell biss er die Zähne zusammen und lenkte seine Gedanken auf etwas anderes. Doch sofort dachte er an die Beerdigung, die morgen stattfinden würde, und seine Atmung beschleunigte sich. Gleichzeitig drohte ihn eine Kälte zu überschwemmen, die in seinem Brustkorb schmerzte. Nein, das war nicht besser.

»Möglicherweise ist es ratsam, die Beisetzung zu verschieben«, sagte Mary-Ann. Sie rieb mit ihren Fingern über den milchig weißen Stein in ihrer Hand, als würde die glatte Oberfläche sie beruhigen. »Nur so lange, bis die Vorwürfe ausgeräumt sind.«

Bei den Worten richtete sich auch das letzte der sechs Augenpaare auf Rae. Tyresian jedoch sah ihn nicht mit diesem ängstlichen Blick an wie die anderen. Stattdessen brannte Sorge in den bunten Iriden. Doch Rae wusste, dass er sich zu Mary-Anns Vorschlag nicht würde äußern müssen.

»Unmöglich«, warf Tahnee sofort ein. »Wir haben die Beerdigung für die Ermittlungen der Polizei herausgezögert. Die Königin ist seit vier Wochen tot. Je länger wir warten, desto mehr zerreißt sich das Volk den Mund. Es wird Zeit, dem ein Ende zu setzen. Einen Abschluss zu finden.«

»Aus den Augen, aus dem Sinn«, präsentierte Mikael eine seiner Alte-Männer-Weisheiten und tätschelte Tahnee mit einem milden Lächeln die Hand. Sie erwiderte sein Lächeln, wie immer dankbar, sobald ihr Ziehvater sie lobte.

Rae unterdrückte ein Schnauben.

»Aber bis der König nicht von allen Vorwürfen freigesprochen ist«, sagte Mary-Ann und ihr Blick streifte Rae, »könnte es wirken, als …«

Offenbar wusste sie nicht, wie sie den Satz beenden sollte.

»Als würden wir etwas vertuschen«, half Rae ihr auf die Sprünge und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sofort senkte Mary-Ann den Kopf, als wäre es ihr unangenehm, diesen Gedanken überhaupt zuzulassen. Feine Schweißperlen bedeckten ihren Nacken – vor Nervosität?

»Das denkst du doch, oder?«, fragte er die Wycca mit den violetten Haaren. Sie war mit Ty zusammen das neuste Mitglied im Blutrat und nur wenige Jahre älter als er, sodass er irgendwann während der letzten Sitzungen dazu übergegangen war, sie bei ihrem Vornamen zu nennen.

Mary-Ann presste die Lippen aufeinander, hob jedoch den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. »Ich glaube nicht, dass Ihr für den Tod der Königin verantwortlich seid, wenn das Eure Frage ist, Eure Majestät«, sagte sie fest.

»Niemand von uns tut das«, warf Landon ein. Früher hatte der Wycca eine scharfe, schneidende Stimme gehabt. Doch seit einigen Wochen erinnerte er an die ausgeblichenen Seiten eines alten Buchs. Vielleicht war das dem Tod seiner zwei besten Freunde zuzuschreiben. Oder der Tatsache, dass er nun, da Enyas und Claudette tot waren, vom restlichen Rat aufgrund seines hohen Alters isoliert war.

Mary-Ann nickte zustimmend und rieb sich über die Stirn. »Dennoch finde ich es bedenklich, Beweise zu vernichten. Besonders im Hinblick auf Eure Unschuld, Majestät.« Sie griff nach ihrem Wasserglas und trank es in wenigen Zügen leer.

Rae verstand, was sie sagen wollte. Er wusste besser als jeder andere im Raum – abgesehen von Ty –, dass er nicht für Katleems Tod verantwortlich war. Und möglicherweise könnten Spuren ebendiese Unschuld bezeugen.

»Beweise vernichten«, wiederholte Sunara und klang, als würden die Wörter bitter auf ihrer Zunge schmecken. »Es ist der Körper unserer Königin, von dem wir hier sprechen. Ein Körper, der es verdient hat, zur Ruhe gebettet zu werden.«

»Aber wenn –«

»Das reicht, danke, Mary-Ann«, unterbrach Rae sie leise. Mittlerweile musste er nicht einmal mehr seine Stimme erheben. Nach der Demonstration seiner Kräfte und dem kurz darauffolgenden Tod seiner Frau behandelten sie ihn ohnehin wie eine tickende Zeitbombe. Raevan setzte sich aufrecht hin und legte die Unterarme auf den unebenen Holztisch. Die geschnitzten Figuren stachen unangenehm in seine Haut. »Ihr habt recht. Alle. Dennoch … Es ist meiner Frau gegenüber nicht fair, wenn sie auf ihren Frieden verzichten muss, nur weil man mir die Schuld zuweisen will. Das ist meine Verfehlung, nicht ihre. Sie soll nicht auch noch im Tod unter mir leiden müssen.« Er holte kurz Luft und spürte, wie Ty ihn von der Seite ansah. Ein Zeichen dafür, dass er nicht so ruhig war, wie gehofft. »Die Beisetzung findet morgen wie geplant statt.«

Für einen Moment herrschte Ruhe. Dann räusperte sich Landon.

»Wir haben noch immer keine Antwort von dem König und der Königin aus Ashland erhalten. Nicht, seit …«

»Seit dem Brief, in dem sie schrieben, dass sie den Botschafter aus Lyzara abziehen werden und kein Staatsbürger Lyzaras ihr Land betreten dürfte, bis ich mich schuldig bekenne. Ich weiß.« Rae hatte nie das beste Verhältnis zu seinen Schwiegereltern gehabt. Er nahm an, das lag zum einen an seiner Vergangenheit und zum anderen daran, dass er sich keine Mühe gegeben hatte, ihnen zu imponieren. Er hatte all seine Kraft auf Katleem verwendet.

Und am Ende hatte sich ihre Zuneigung in Hass gewandelt.

Schlimmer. Sie hatte ihn gefürchtet. Das hatte die Durchschrift des Briefs, den man bei ihr gefunden hatte – und der neben anderen Dingen den Verdacht auf Raevan nährte – bewiesen. Wieder schnitten scharfkantige Eissplitter in seine Brust, bohrten sich beim Atmen in seine Lunge.

»Wir wissen nicht, wie das Königspaar die Beerdigung auffassen wird«, ergänzte Landon.

»Wenn der König und die Königin wussten, dass Eure Majestät kurz vor der Scheidung stand, könnte das zu zusätzlichen Spannungen führen«, warf Tahnee ein.

»Wir haben keine Beweise dafür, dass sie diese Information erreicht hatte«, erwiderte Sunara.

»Und so sollte es bleiben«, ergänzte Mikael und die anderen nickten zustimmend.

Bei diesen Worten spannten sich Raes Muskeln an. Wieder einmal fragte er sich, ob es nicht besser wäre, wenn sie sein Volk von der geplanten Scheidung informierten. Niemand würde an Raevans Unschuld zweifeln, wenn sie wüssten, dass Katleems Tod auch den Untergang seiner eigenen Träume herbeigeführt hatte.

»Ein Krieg mit Ashland –«

»Ich nehme an, es gibt noch immer keine Entscheidung hinsichtlich dieser Frage.« Raes Worte unterbrachen Tahnee, doch er machte sich keine Vorwürfe. Diese Diskussion führten sie seit Katleems Tod immer wieder und er war es leid.

Katleems Eltern bestanden darauf, dass er den Mord gestand. Und auch, wenn er alles tun würde, um einen Krieg zu verhindern, wäre diese Lüge die letzte Option.

»Eure Majestät«, sagte Mikael nach einer Weile beschwichtigend. Dabei hatte Rae nicht einmal einen Funken Wut in seine Worte gelegt. Es war lediglich eine Feststellung gewesen. »Ihr müsst verstehen, dass diese Entscheidung – besonders so kurz nach dem Tod der Königin – Zeit beansprucht.«

Er hatte nichts anderes erwartet. Lag es wirklich nur daran, dass Ashland besänftigt werden musste? Oder genoss der menschliche Part des Blutrats es, ihn zappeln zu lassen? Rae fragte sich, ob es anders wäre, wenn Enyas noch am Leben wäre. Er würde ihm beistehen. Oder? Er war gegen eine Scheidung gewesen, aber nun, da diese nicht mehr nötig war, würde er Rae sicher nicht verwehren, Azalea zu heiraten. Nicht, wenn das alles war, was dieser wollte.

Immerhin war Enyas sein Vater gewesen.

Der Gedanke kam plötzlich und Rae erwartete, eine Art Schmerz zu verspüren. Darüber, dass er diese Tatsache erst nach Enyas’ Tod erfahren hatte. Aber es nistete sich nur ein dumpfes Pochen hinter seiner Stirn ein, als wäre der Gedanke zu groß, als dass sein Verstand damit umgehen könnte.

Es spielte ohnehin keine Rolle.

Niemand wusste, dass Raevan nicht der wahre Sohn des letzten Königs war und somit in der Thronfolge nicht an erster Stelle stand. Niemand außer seinen Freunden und Rebecah.

Seine Cousine, die ihn hatte töten wollen. Rae hatte erwartet, dass sie ihr Wissen mit der Öffentlichkeit teilen würde. Doch seitdem man sie in die Schwarze Festung gesperrt hatte, schwieg sie. Aus Angst, dass ein Wort von ihr Rae dazu bringen würde, den Hinrichtungsbefehl zu unterschreiben? Ahnte sie, dass er mit sich haderte und das Dokument unangetastet auf seinem Schreibtisch lag? Da es außer ihm keine Zeugen gab, konnte der Blutrat in diesem Fall nicht ohne seine Einwilligung handeln.

»Der König wünscht eine schnelle Entscheidung«, sagte Ty und meldete sich damit zum ersten Mal in der Sitzung zu Wort. Er war niemand, der sich an sinnlosen Diskussionen beteiligte – außer es ging um Dinge wie das Tragen von Hüten oder ausschweifende Feiern. »Ihr hattet ihm die Scheidung bewilligt. Ich sehe nicht, weshalb man ihm verwehren sollte, Azalea Blackwall zu heiraten. Besonders, da das Land eine menschliche Königin verlangt.«

Im Stillen bewunderte Rae seinen Freund dafür, wie schnell er sich an die Sprechweise des Rats angepasst hatte. Nur wenn sie allein waren, hörte man seinen Worten an, dass er nicht am Hof, sondern in der Sternengasse aufgewachsen war.

Rae erwartete, dass Mikael das Wort ergreifen würde, doch Sunara kam ihm zuvor. Sie stützte sich mit den Händen auf dem gewaltigen Holztisch ab und spreizte die Finger. »Das Gesetz ist eindeutig. Ein Gesetz, das der König selbst unterzeichnet hat, falls ich Euch daran erinnern muss. Es besagt, dass der Blutrat der anderen Spezies im Todesfall des Monarchen oder der Monarchin einen neuen Partner für den Hinterbliebenen wählt.«

Rae zog die Hände unter den Tisch und ballte sie zu Fäusten. Er musste nicht an seinen eigenen Fehler erinnert werden. Obwohl – wie hätte er ahnen können, dass in der Nacht, in der er das Dokument unterschrieb, der Mord an seiner Frau die geplante Scheidung nichtig machen würde?

»Im Falle einer Scheidung hättet ihr seine Wahl ohnehin akzeptieren müssen«, beharrte Ty.

Es stimmte: Sie war bereits genehmigt worden, bevor das Dokument, das es dem Blutrat ermöglichte, seine nächste Frau für ihn zu wählen, in Kraft getreten war. Doch eine genehmigte Scheidung war keine vollzogene. Und da Katleem vorher gestorben war und Rae diesen Fall in seiner Verhandlung nicht bedacht hatte, lag es in der Hand des menschlichen Blutrats.

Sie mussten seiner Wahl nicht mehr zustimmen. Raevan würde sich ihnen beugen müssen, wenn sie entschieden, wer seine nächste Frau werden würde.

Bei dem Gedanken bohrte Rae seinen Zeigefinger so fest auf eine der geschnitzten Holzfiguren, dass der Schmerz zuckend seine Hand durchfuhr.

»Lass gut sein«, sagte er zu Ty, um sich von dem Gefühl abzulenken. »Der Rat weiß von meinem Wunsch.« Mit zusammengekniffenen Lippen nickte er ihnen zu. »Und ich habe meine Position deutlich gemacht. Die Beisetzung der Königin wird morgen stattfinden. Die Obduktion ist abgeschlossen und die Polizei hat dem zugestimmt.« Wenigstens wusste niemand aus dem Rat, weshalb die Polizei von Raes Unschuld überzeugt war. Dass es an einem Alibi lag, das frei erfunden war. Er hatte die Nacht nicht mit Azalea verbracht. Doch Coleus Blackwall – der leitende Ermittler – vertraute der Zeugin. »Ich würde sagen, damit ist die heutige Sitzung beendet.«

Ohne auf Zustimmung zu warten, stand er auf und wandte sich ab. Dabei hörte Rae, wie ein einzelner Stuhl zurückgeschoben wurde. Er musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, wer ihm folgte.

Er wusste immer, wer ihm Rückendeckung gab.

Deshalb wartete er einen Moment an der Tür, bis Ty zu ihm aufschloss. Danach ließ er sie ins Schloss fallen und atmete tief durch.

»Ich muss dringend hier raus.« Müde rieb er sich über die Augen. Seit er Enyas’ Leiche gefunden hatte, schien es, als hätte er keinen Augenblick mehr für sich gehabt. Dabei lag dessen Tod Monate zurück. »Bitte sag mir, dass du Zeit hast.«

Ty strich sich durch die blonden Haare und seine Finger blieben in den bunten Spitzen hängen. Das Rot war mittlerweile ausgeblichen und erinnerte eher an ein zartes Rosa. Er warf einen kurzen Blick auf seine goldene Armbanduhr. »In einer Viertelstunde treffe ich mich mit der Garde. Aber danach habe ich frei.«

Sie sahen beide aus dem grauen Sprossenfenster. Der Frühling hatte mit seinen grünen Fingern Besitz von der Natur ergriffen, aber die Tage waren noch immer zu kurz, als dass Rae das Gefühl hatte, die Zeit reichte aus. Wenn Tys Treffen mit der Garde beendet wäre, würde das Tageslicht lange verschwunden sein.

»Schon gut«, sagte Rae und winkte ab. »Die Kinder warten auf dich. Ich muss ohnehin mit Swier sprechen.« Als Botschafter Lyzaras in Ashland war Eustace Swier am besten über die Stimmung dort informiert. In letzter Zeit sprach Rae häufiger mit dem alten Mann als mit Tyresian oder Pray, geschweige denn Azalea.

»Sicher?« Ty zog zweifelnd eine Augenbraue in die Höhe. »Meine Mitbewohner können warten, wenn du Ablenkung brauchst.«

Rae wusste das Angebot zu schätzen, besonders da Tyresian die Kinder ungern allein ließ. Doch er hatte ohnehin genug zu tun. »Sicher.« Er schlug seinem Freund leicht mit der Faust gegen die Schulter. »Wir sehen uns morgen.«

Bei dem Gedanken überkamen ihn trotz seiner leichthin gesprochenen Worte Zweifel. Morgen würde Katleems Beerdigung stattfinden. Dann wäre sie endgültig fort.

Doch er konnte Ty nicht bitten, die Nacht bei ihm zu verbringen wie ein verängstigtes Kind, nur weil er sich vor dem morgigen Tag fürchtete. Nicht, wenn wirklich Kinder auf seine Gesellschaft warteten.

Auf Rae hingegen warteten andere Dinge: Die Sorge darüber, wie er seinem Volk helfen konnte, einem Krieg mit Ashland zu entgehen.

Also ging er, bevor Ty auffallen konnte, dass Raes Körper beim Weggehen vor Unsicherheit schwankte wie eine einzelne Pflanze im Angesicht eines Tornados.

 

Tyresian biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Kiefer gegen den Schmerz protestierte. Besser das, als die Worte rauszulassen, die sich in seinem Inneren anstauten.

Durchatmen, befahl er sich. Sie testen dich nur. Weil sie eingebildete, verwöhnte Drecksäcke sind, die …

Durchatmen. Mit angespannten Muskeln hob er eine Hand, deutete auf Lio, der ihn mit einem überheblichen Grinsen ansah. Hinter ihm zogen blassgraue Wolken auf, bedeckten den blauen Himmel. Am anderen Ende des Trainingsgeländes ragten die weißen Palastmauern hervor.

»Noch einmal«, befahl Ty. »Und dieses Mal solltest du das Ziel treffen. Nicht die hundert Meter darum.«

Natürlich übertrieb er. Lios Feuerball hatte einen guten Teil der zwei Meter langen Trainingswand schwarz verrußt zurückgelassen. Aber dennoch.

Vielleicht seid Ihr blind, Lord Joyce, hatte Lio gespottet, nachdem Ty von ihm verlangt hatte, das nächste Mal besser zu zielen. Aber mein Feuerball hat das Ziel eliminiert.

Die anderen hatten gelacht und Tyresian angesehen, als wäre er ein dummer Junge. Seine Wangen kribbelten vor Hitze, obwohl der Wind zugenommen hatte und über seine Haut strich.

Das Ziel und mindestens fünf weitere Menschen oder Wycca, wenn sie danebengestanden hätten, hatte Ty erwidert, nachdem er tief durchgeatmet hatte und sich vorstellte, wie die Luft sein Innerstes abkühlte. Also, noch einmal. Immerhin war die Garde der Kopf der gesamten Armee Lyzaras. Sollte es zu einem Krieg kommen, würden sie die anderen, im Land verstreuten Truppen, anführen.

Jetzt rollte Lio mit den Augen und machte keine Anstalten, Tys Befehl auszuführen. In diesem Moment überkam ihn das altbekannte Gefühl, das ihn oft in der Sternengasse befallen hatte, bevor er sich einen Namen machen konnte. Als hätte jemand in seinen Brustkorb gegriffen und all seine erbärmlichsten Komplexe hervorgezogen, um sie ins Rampenlicht zu stellen.

So verlief das Training seit Wochen. Zu Beginn hatten die Mitglieder der gläsernen Garde seine Befehle kommentarlos ausgeführt. Selbst als sie herausgefunden hatten, dass Ty keine aktiven Kräfte besaß. Vielleicht fürchteten sie, er würde sich beim König beschweren. Doch da Tyresian Rae niemals noch mehr Arbeit aufbürden würde, als dieser ohnehin hatte, wurde ihnen schnell klar, dass sie allein Ty Rechenschaft schuldeten.

Und ab da hatte sich ihre Haltung gewandelt.

Das Brennen in seinen Wangen weitete sich auf seinen Brustkorb aus und er ballte die Hände zu Fäusten. Er wusste, er konnte ihnen helfen. Die ersten Wochen hatten sie wirklich an ihren Kräften gearbeitet und waren besser geworden.

»Das Ziel«, wiederholte Ty und zeigte auf das feuerfeste X auf der Wand, wobei er Mühe hatte, die Faust lockerzulassen. »Jetzt.«

Lio schnaubte, formte jedoch eine tennisballgroße Feuerkugel zwischen seinen Händen. Schon in dem Moment, als er ihn nach vorn schnellen ließ, wuchs er weiter an. Und als er auf die Wand traf, hatte er eher die Größe eines Fußballs. Bei der Explosion strömte Hitze in Tys Richtung, bis seine Haut unangenehm prickelte.

»Du musst die Verbindung beibehalten, wenn du ihn von dir wegschickst«, sagte er zu Lio. »Du gibst deiner Kraft im Moment des Loslassens freie Kontrolle über dich.«

Schwarzes Blut schoss in Lios Wangen. »Macht es gern vor, wenn Ihr könnt.«

Tys biss sich so fest auf die Wange, dass er Blut schmeckte. Egal, wie hilfreich seine Tipps waren – und das würde er nicht anzweifeln, immerhin hatte er Raevan ebenfalls trainiert –, sie würden ihn niemals akzeptieren. Dabei wussten sie nicht einmal alles über ihn.

Natürlich hatten einige ihn damals bewacht, als Rebecah Tennyson das Kommando gehabt hatte und er neu am Hof gewesen war. Doch die Garde hatte nie den Grund oder Tyresians wahre Herkunft erfahren. Und das sollte auch verdammt noch mal so bleiben.

Aber dafür musste er sich Respekt verschaffen. Er spannte jeden Muskel seines Körpers an, sodass er nicht zitterte, als er vortrat und sich vor Lio aufbaute. Dieser wich leicht zurück und rümpfte die Nase.

»Ich will«, sagte Ty fest und ließ den Wycca nicht aus den Augen, »dass du dich zusammenreißt, deine beschissene Kraft kontrollierst und das Ziel triffst. Bevor einer dieser Feuerbälle jemand Unschuldiges erwischt.«

»So wie das Feuer des Königs?«

Tys Kopf zuckte in die andere Richtung. Die Worte kamen nicht von Lio, sondern von Zeke, einem breitgebauten Wycca mit Eiskraft. Die restlichen Mitglieder der Garde verstummten. Selbst das hämische Lachen erstarb. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Tyresian Zeke, der von einem Fuß auf den anderen trat, als würde er bereits bereuen, etwas gesagt zu haben.

»Ihr habt es doch auch gesehen«, sagte er schließlich an seine Kollegen gewandt. »Er hat die gesamte Palastseite zerstört, als er unsere Befehlshaberin angegriffen hat.« Sein Blick huschte umher, aber seinen Worten haftete nichts Fragendes an.

Er war sich sicher.

Die anderen kauten auf ihren Lippen, runzelten die Stirn oder sahen zu Boden. Ty trat von Lio zurück und drehte sich zu Zeke. Der Palast, der in der Ferne aufragte, war so weit entfernt, dass er von hier aus unmöglich die Stelle im Gemäuer erkennen konnte, die Rae vor Wochen mit seiner Feuerkraft eingerissen hatte. Dennoch glaubte Ty, die neuen Steine ausmachen zu können, die in einem strahlenden Weiß heller leuchteten als der Rest.

»Rebecah Tennyson ist eine Hochverräterin«, stellte er klar. »Und als solche hat sie versucht, den König zu töten.«

Die anderen nickten zustimmend. Doch die Bewegungen waren träge, als spräche er mit Schlafwandlern, denen er wie ein Mantra immer dasselbe eingebläut hatte und die seine Worte nun im Kopf wiederholten.

Das Herz in seiner Brust schlug schneller, wie ein Schmetterling, der sich in einem Spinnennetz verfangen hatte. Mit verengten Augen sah er von einem zum anderen, während der Himmel sich über ihnen zuzog. Die kühle Luft biss sich in seine Haut.

An dem Tag, als Raevan und Rebecah gekämpft hatten, musste er zum ersten Mal die Biokinese einsetzen, um die Gedanken der Garde zu verfälschen. Die Krieger hätten sich sonst zugunsten ihrer Befehlshaberin gegen ihn gewandt. Und es war Rae gelungen.

Zumindest hatten sie das bisher angenommen.

Als würde er Tys Zweifel nähern wollen, schüttelte Zeke den Kopf, schwieg jedoch.

»Ihr seid für heute entlassen«, sagte Ty, bevor Zeke mehr Schaden anrichten konnte. »Wir sehen uns morgen bei der Beerdigung.«

Murmelnd zogen sie ab. Einen Moment lang starrte Ty Zeke nach, dessen blonde Locken zwischen den anderen hervorstachen.

Ty dachte an die Albträume, die ihn nachts wachhielten; an die Sorgen, die sich in seinen Geist fraßen. Wie sicher war Raes Biokinese? Würde die Garde an dem festhalten, was er ihnen eingepflanzt hatte? Oder könnten Zekes Zweifel sich in ihren Köpfen einnisten?

Bevor es so weit kam, mussten sie dringend etwas unternehmen. Denn das Letzte, was Lyzara gebrauchen konnte, war ein Volk, das nicht nur einen Krieg mit dem Nachbarland fürchtete, sondern auch seinen eigenen König.

 

 

KAPITEL 2

 

Nach dem dreistündigen Telefonat mit Swier, wusste Rae nicht wohin mit der rastlosen Energie, die seinen Körper füllte. Die Sorgen fraßen sich wie Käfer tief in sein Herz und es gab nur einen Menschen, mit dem er sie teilen konnte.

Als er aus dem Palast trat, warf er einen Blick zum Himmel. Die Wolken hingen tief, doch noch war von Regen keine Spur. Stattdessen sammelte sich eine kribbelnde Wärme auf seiner Haut. Schnellen Schrittes lief er zu den Barken, die am Ufer eines Seitenarms der Mandalay bereitstanden. Sobald die Wachen ihn sahen, bereiteten sie eines der Boote vor und ließen ihn an Bord. Da die Schwarze Festung nur auf diesem Weg zugänglich war, gab es keine Möglichkeit, seinen Besuch zu verheimlichen. Aber er vertraute darauf, dass die Wachen Stillschweigen bewahrten.

Im Flusswasser spiegelten sich die grauen Wolken wider und leichte Wellen erschütterten das Boot. Obwohl die Fahrt nicht lang dauerte, verdunkelte sich der Himmel weiter, bis sie am massiven Tor ankamen, das auf Befehl der Wache geöffnet wurde. Sie trieben hindurch und legten am Ufer der anderen Seite an. Die Dunkelheit herrschte noch nicht, dafür hatte die Umgebung mittlerweile eine bläuliche Färbung angenommen – die letzte Farbe, bevor das Schwarz Einzug hielt. Rae liebte diesen Farbton und er nahm sich vor, ihn in einem seiner nächsten Gemälde zu verwenden.

Die Wachen halfen ihm aus dem Boot und er sah zu dem Gebäude in der Mitte der Anlage hinauf, das der Festung ihren Namen schenkte.

Die gesamte Schwarze Festung bestand aus einer meterhohen, alles umringenden Mauer und mehreren einzelnen Gebäuden, die auf der von künstlichen Sandwegen durchzogenen Rasenfläche verteilt standen. Manche dieser Gebäude beherbergten Wachen, andere dienten als Lager für Rüstungen und Waffen. Eine der Bauten – ein flacher Komplex aus verblichenen Ziegeln – verbarg ihren Großteil unterirdisch und bestand aus kargen Zellen, die älter waren als die Tennyson-Dynastie.

Der schwarze Turm in der Mitte – ein Gebäude mit Türmen an allen vier Ecken – war das älteste Bauwerk der Schwarzen Festung. Die nachtschwarzen Ziegelsteine hatten ihren Namen zu verantworten.

Rae schritt auf den Turm zu und ließ sich von den Wachen die Türen öffnen. Die hohen, mit Holz und Stuck verzierten Wände erinnerten daran, dass das Gebäude ursprünglich nicht als Gefängnis, sondern als Unterkunft für Monarchen gedacht war. Auch heute gab es keine Kerker, karge Räume oder Gitter. Dennoch regte sich bei seinen Besuchen etwas in Raes Magen, als würde eine Maus in seinen Eingeweiden wühlen. Er drehte den Armreif an seinem Handgelenk hin und her und stieg die Stufen der Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock. Nur die vielen Schlösser, die sich in der richtigen Reihenfolge öffnen ließen, verrieten, wozu das Gebäude diente.

»Sie hat keine Probleme gemacht«, sagte der Wachmann, während er die Schlüssel umdrehte, und wirkte dabei außer Atem. Vielleicht mussten sie die Anzahl der Schlösser reduzieren, bevor einer von ihnen eine Gewerkschaft gründete.

»Danke«, sagte Rae und ließ sich die Tür aufhalten. Im Vorbeigehen rümpfte er die Nase – der Wachmann roch unangenehm nach Schweiß. Doch sobald er die Tür schloss, verschwand der Geruch.

Auf dem Sofa in der Mitte des Raumes saß Rebecah. Bei Raes Anblick ließ sie ihr Buch auf den Schoß sinken und legte einen Finger zwischen die Seiten. Sie lächelte nicht, zeigte wenig Regung. Aber das tat sie nie, wenn er sie besuchte.

»Ich hatte dich nicht so früh zurückerwartet.« Rebecah bettete ihr Buch auf einem Kissen neben sich. Ihr braunes Haar hatte sie zu einem losen Knoten auf dem Kopf befestigt, aber Rae entging nicht, dass es stumpf im künstlichen Schein der Lampe wirkte. Auch fehlte ihrer Haut Farbe. Dabei durfte sie in Begleitung der Wachen täglich für eine Stunde auf dem Gelände der Festung spazieren.

Rae nahm sich einen der Stühle und drehte ihn mit der Lehne nach vorn. »Ich habe mit Swier gesprochen«, sagte er und setzte sich ihr gegenüber.

Rebecah richtete sich auf. »Und?«

»Ashland lässt sich nicht besänftigen. Nicht, solange ich nicht gestehe«, sagte er und rieb sich über die Stirn.

Seine Cousine – nein, Halbschwester – führte die Hand an den Mund, ließ sie jedoch direkt wieder sinken. Rae bemerkte ihre bis aufs Bett abgekauten Fingernägel. Zu Beginn seiner Besuche hatte sie Handschellen getragen, doch mittlerweile verzichtete er auf diese Vorsichtsmaßnahme.

Wenn Rebecah ihm schaden wollte, könnte sie es auf andere Art tun. Dafür bräuchte sie ihre Kräfte nicht. Ein Wort über ihr wahres Verwandtschaftsverhältnis würde genügen.

»Sie sind überzeugt, dass du es warst«, sagte Rebecah.

»Ja.« Sein Körper fühlte sich schwer an, als er es aussprach, so als hätte er keine Energie mehr, gegen die Bedeutung dieses Wortes anzukämpfen. Er senke den Blick und ertappte sich dabei, wie er erneut an dem Armreif spielte. Sofort ließ er es los. Rebecah hatte ihm das Schmuckstück zum Geburtstag geschenkt – bevor sie seinen Tod geplant hatte.

Als er aufsah, betrachtete Rebecah den goldenen Armreif stirnrunzelnd. Rae erwartete, dass sie fragen würde, weshalb er ihn noch trug – beinahe wünschte er sich, sie würde ihn darauf ansprechen. Dann müsste er zu einer Antwort ansetzen, von der er selbst nicht ahnte, welche Gestalt sie annehmen würde.

Doch Rebecah wandte den Blick ab und fragte stattdessen: »Und glaubst du weiterhin, ich hätte etwas damit zu tun?«

Das war ebenfalls eine gute Frage. Die Wahrheit lautete: Er hatte keine Ahnung. Er gab es ungern zu, aber Rebecah war schlauer als er. Deshalb wusste er nicht, was er denken sollte. Sie hatte mehr Verbündete besessen, als Rae und die anderen je wissen würden, und war skrupellos vorgegangen.

Doch als Katleem starb, hatte sie in der Schwarzen Festung gesessen. Rae sah sich in dem Zimmer um. Es war eines von dreien, allesamt besser ausgestattet als achtzig Prozent der Wohnungen in Avastone. Lediglich die vergitterten Fenster und die Wachen vor der Tür machten deutlich, dass es sich um ein Gefängnis handelte. Rebecah durfte sich innerhalb ihrer Räumlichkeiten frei bewegen und hatte einmal am Tag bewachten Ausgang – solange sie sich unauffällig verhielt.

Bis Rae ihren Hinrichtungsbefehl unterschrieb.

War sie deshalb immer freundlich zu ihm, wenn er sie besuchte? Weil sie hoffte, er würde weiterhin zögern?

Doch freundlich war das falsche Wort. Rebecah nahm kein Blatt vor dem Mund, wenn sie miteinander sprachen. Sie verhielt sich … wie früher. Als wäre nichts vorgefallen.

Vielleicht kam Rae aus diesem Grund - ohne das Wissen seiner Freunde - hierher. Keiner der anderen verstand, weshalb er Rebecah bisher verschont hatte. Er konnte ihnen nicht erklären, dass er sich mit ihr verbunden fühlte.

Mit einer Mörderin.

»Ich glaube«, sagte Rae und fuhr langsam mit dem Zeigefinger erst über seine Unter- dann über seine Oberlippe, »du weißt mehr, als du zugibst.«

Rebecah schnaubte. Sie griff zu einem Glas Wasser, das auf ihrem Tisch stand und nahm einen großen Schluck. Ihre Hände – früher so beständig – zitterten und brachten das Wasser zum Beben. »Ich zumindest weiß, dass du einen Krieg nur verhindern kannst, indem du Ashland davon überzeugst, dass du es nicht warst.«

»Das versuche ich ja«, sagte er aufgebracht und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. »Mein Alibi überzeugt sie nicht.«

Grunzend stieß Rebecah die Luft durch die Nase aus und schüttelte den Kopf. Dieses Mal zitterten ihre Hände nicht, als sie das Glas mit einer energischen Bewegung zurückstellte. »Das Alibi, das der Bruder deiner Geliebten aufgenommen und dem Rest der Polizei versichert hat, es sei wahr, aber niemandem sagt, worum es sich dabei handelt – das überzeugt Ashland nicht? Sag bloß.« Als würde sie es nicht ertragen, ihn dabei auch nur anzusehen, starrte sie auf die gegenüberliegende Zimmerwand.

Ihre Worte trieben Rae die Hitze in die Wangen. Wenn man es so sagte … Nur Azaleas falsches Geständnis, dass sie die Nacht zusammen verbracht hatten, hatte Coleus Blackwall davon abgehalten, weitere Ermittlungen gegen Raevan einzuleiten. Alles, was zwischen ihm und schlimmeren Vorwürfen stand, war ein falsches Alibi.

Weshalb er dem niemals zugestimmt hätte, wenn es sich bei dem Polizisten nicht um Coleus gehandelt hätte. Da dieser ebenso wenig wollte, dass seine Zwillingsschwester wegen Ehebruchs mit dem König hingerichtet wurde, hatte er die Worte für sich behalten und der restlichen Polizei versichert, der König könne unmöglich am Tatort gewesen sein.

»Woher weißt du das?« Eigentlich sollte Rebecah solche Neuigkeiten in der Festung nicht erfahren.

Sie zuckte mit den Schultern und schaute wieder in seine Richtung. »Ich habe genügend Freunde.«

Rae presste die Lippen aufeinander. »Und du wunderst dich, dass ich glaube, du hängst da irgendwie mit drin.«

»Sag mir lieber, ob es stimmt. Du warst nicht wirklich so leichtsinnig und hast die Nacht mit ihr verbracht, oder?«

»Das geht dich nichts an.« Wenn es nur so gewesen wäre! Dann würde er, wenn ihre Lüge aufflog, wenigstens in dem Wissen sterben, eine Nacht mit Azalea gehabt zu haben. Aber so würde er grundlos sterben.

Rebecah schnalzte mit der Zunge und verschränkte ihre Beine. »Gut, dann sag ich dir jetzt etwas.« Sie beugte sich zu ihm vor, wobei ihre kantigen Gesichtszüge in dem Licht schärfer wirkten als sonst – wie Messer, die man unter der Rüstung trug. »Du weißt, was du zu tun hast. Der einzige Ausweg, Ashland zu überzeugen, bist du persönlich. Nicht Swier, der ohnehin auf der Seite der Menschen steht. Keine Beteuerungen der Polizei. Wenn du einen Krieg mit Ashland verhindern willst, dann mach dich sofort auf den Weg. Wie damals, als du Katleem angefleht hast, dich zu heiraten.«

»Ich kann nicht.«

»Du willst nicht. Das ist ein Unterschied.«

Möglicherweise stimmte beides. Rae rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Sie sind schutzlos, Bex – Rebecah«, korrigierte er sich schnell, als ihm ihr alter Spitzname entfleuchte. »Weißt du, was da draußen los ist?«

»Ich hatte in letzter Zeit nicht das Vergnügen.«

Er ignorierte die Spitzen in ihrer Stimme. »Es gibt täglich Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Wycca, die nicht selten tödlich enden. Mikael berichtete von Gerüchten, nach denen es den Menschen vom westlichen Kontinent irgendwie gelungen ist, Kontakt zu Leuten aus Lyzara aufzunehmen.« Der westliche Kontinent – ein Verbund mehrere Länder, die alle ausschließlich von Menschen regiert wurden. Dorthin waren Prays Eltern geflohen. Für ein Leben dort hatten sie ihren einzigen Sohn zurückgelassen. »Was ist, wenn es ihnen gelingt, hier ein Netzwerk aufzubauen? Sollte ich das Land verlassen, ist Tyresian der Einzige, dem ich im Rat vertrauen kann. Falls Lyzara angegriffen wird, und ich bin in Ashland …« Er wollte sich nicht ausmalen, was das bedeuten konnte.

»Mary-Ann ist ebenfalls vertrauenswürdig«, warf Rebecah ein. »Und Mikael würde dich nicht hintergehen.«

»Und die anderen?«

»Sie sind Menschen.«

Rae sog die Unterlippe zwischen die Schneidezähne und nickte. »Eben.« Die Wahrheit dieser Worte drückte ihn nieder. Sie gehörten einer anderen Spezies an und allein deshalb durfte er ihnen nicht trauen. »Ich will doch nur, dass Frieden herrscht. Wie schaffe ich es, dass Frieden herrscht?« Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und er schaute sich in dem Zimmer um, als fände er hier die Antwort.

Die Räume sahen genauso aus wie zu dem Zeitpunkt, als man Rebecah hier eingesperrt hatte. Er hatte den Wachen lediglich aufgetragen, einen Stapel Bücher aus ihrem Zimmer zu holen, die sich ordentlich aufgereiht auf einer Kommode stapelten, da es kein Regal für sie gab.

Rebecah schien ebenfalls keine Antwort auf diese Frage zu haben. Seufzend stand Rae auf. »Ich muss los.« Er strich sein Hemd glatt, das nach der Ratssitzung und dem anschließenden Telefonat zerknittert war.

Rebecah erwiderte nichts. Er ging zur Tür und klopfte, um der Wache zu bedeuten, ihn rauszulassen.

Noch während er die Schlüssel im Schloss hörte, drehte er sich zu Rebecah um.

»Warum hilfst du mir?« Das fragte er jedes Mal. Und jedes Mal entgegnete sie das gleiche.

»Warum kommst du mich besuchen?«

Er war sich sicher, dass keiner von ihnen je eine Antwort darauf haben würde.

 

Rae hatte sich vorgenommen, direkt ins Bett zu gehen, sobald er auf seinem Zimmer war. Doch ein Zettel, der unter seiner Tür hindurch geschoben worden war, machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

Einen sehr willkommenen Strich, bei dem sein Herz wie wild zu klopfen begann.

 

Geh zu den Ställen.

 

Auch ohne Signatur würde er die Handschrift überall wiedererkennen. Seit dem ersten Brief, den Azalea ihm geschrieben hatte, hatten sich die Bögen und Zacken ihrer Buchstaben in seinen Geist gebrannt.

Doch er hatte sich geschworen, sich von ihr fernzuhalten. Trotz Katleems Tod war er theoretisch noch verheiratet und dank des neuen Gesetzes war es ihm nicht erlaubt, seine Frau selbst zu bestimmen. Auch würde ein Treffen in der Öffentlichkeit mit ihr die Gerüchte weiter anheizen.

Aber vielleicht wollte sie ihn gar nicht treffen?

Geh zu den Ställen. Dort konnte alles auf ihn warten. Sie konnte ihm etwas hinterlassen haben.

Sich selbst möglicherweise. Seine Gedanken wanderten zu einer Azalea, die in einem durchscheinenden Kleid inmitten von mehreren Heuballen saß und in der Dunkelheit auf ihn wartete.

Seine Handflächen wurden feucht. Schnell steckte er den Zettel in die Hosentasche und schlüpfte aus dem Zimmer. Keine der Wachen hielt ihn auf, doch es war nicht so wie früher. Damals ließen sie ihn passieren, weil Enyas es befohlen hatte.

Heute wagte niemand, sich seinen Befehlen zu widersetzen. Nicht, nachdem er ihnen seine Kräfte demonstriert hatte.

Die Ställe lagen abseits und vom Weiten stieg Rae die Mischung aus Heu, Stroh und Leder in die Nase. Obwohl er den Geruch schon immer beruhigend fand, konnte er dem Reiten nie viel abgewinnen. Er bevorzugte die Schnelligkeit eines Sportwagens, auch wenn er nicht die Leidenschaft für Autos hegte wie Pray.

Angekommen, schaltete er die tragbare Elektrolampe neben dem Eingang ein und sofort begann sein Kopf zu pochen. In den Außengebäuden gab es noch keine Wycca-Energie. Der Umbau im Palast war in den letzten Monaten zum Erliegen gekommen – etwas, das er schnell wieder ändern musste. Er durchschritt das Gebäude und murmelte den schnaubenden Pferden beruhigende Worte zu, als er an ihren Boxen vorbeilief.

Azalea war nirgends zu finden. Stirnrunzelnd nahm er den Zettel aus der Hosentasche und las ihn erneut. Die Nachricht war eindeutig. Aber was sollte er hier? Wieder lief er auf und ab, bis ihm auffiel, dass eine der Boxen leer war. Und dort auf dem Boden lag ein weiterer Zettel.

Es waren Zeilen aus einem Lied der menschlichen Sängerin, die Tyresian und er zu Prays und Azaleas Missfallen so gern hörten. In dem Song führte das lyrische Ich sein Gegenüber zu einem See, an dem mehrere Dichter gestorben waren. Rae kannte die Textzeile und hatte sich oft gefragt, ob die Sängerin von demselben See sprach, in dem zwölf Dichter vor Jahrhunderten Selbstmord begangen hatten. Noch immer huldigten die Wycca dem See bei jedem Nachtgottesdienst. Doch er hatte dazu keine Quelle finden können. Mittlerweile wusste niemand mehr, wo sich dieser See befand.

Umso überraschender, dass sich unter der Textzeile, verpackt in einem sich reimenden Rätsel, eine Wegbeschreibung befand.

Rae lächelte. Er liebte Gedichte und Geheimnisse und dass Azalea ein solches für ihn hinterlassen hatte, wärmte seine Brust. Er band seine Haare nach hinten – mittlerweile waren sie so lang, dass die Locken sein Kinn berührten – und sammelte sich Sattel und Zaumzeug zusammen.

Er brauchte eine Weile, bis er eines der Pferde gesattelt hatte – bisher hatte er nur anderen dabei zugesehen. Doch sobald er in die Nachtluft hinausritt und die Kälte in seiner Brust kribbelte, fühlte er zum ersten Mal seit Langem Zuversicht. Er hatte den Himmel selten so klar gesehen. Nichts auf dem Weg deutete an, dass er richtig war, das machte ihn so sicher: Azalea hegte keinen Zweifel, dass er das Gedicht verstand, und sie war nicht der Typ dafür, ihm weitere Hinweise zu hinterlassen.

Entweder er kam oder nicht.

Nach mehreren Feldwegen ritt er durch einen Wald und ließ das Pferd im Schritt weitergehen, aus Angst, sich in dem dunklen Gehölz zu verletzen. Die Nacht roch nach Tiermoschus und Kiefern, gemischt mit dem erdigen Geruch des Waldbodens. Das Unterholz raschelte und vereinzelt stoben Vögel aus dem Dickicht, während eine rufende Eule aus den Schatten sang.

Das Pferd unter seinen Beinen schwitzte, doch bevor er zweifeln konnte, tauchten die ersten Lichter auf. Rae stieg ab und führte das Tier die letzten Meter durch dichtes Gestrüpp, bis sich der Wald zu einer Lichtung auftat, auf der sich ein Weiher erstreckte. Unzählige warmweiße Lampions säumten das Ufer, sodass die umstehenden Bäume zitternde Schatten auf die Umgebung warfen, als würden sie einen wilden Tanz aufführen.

»Gefällt es dir?« Azaleas dunkle Stimme ließ ihn aufsehen. Erst jetzt entdeckte er ihre regungslose Gestalt am Waldrand. Ein paar Meter weiter graste ihr Pferd friedlich im leichten Schein des Mondes.

»Wunderschön«, hauchte Rae und konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Sie trug nicht das Kleid aus seiner Vorstellung, sondern eine einfache Hose und eine Strickjacke, die sie viel realer wirken ließ und sein Herz sofort zum Flattern brachte. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Alles in ihm schrie danach, sie in die Arme zu schließen. Immer, wenn er sie in ihrem üblichen Outfit am Hof sah – dem Tüllrock und dem passenden Oberteil – schien sie wie eine Fata Morgana. Wunderschön, aber unerreichbar.

Sie lachte ihr hartes Lachen – als würde jemand Kieselsteine ins Wasser werfen.

»Ich dachte, du könntest etwas Entspannung gebrauchen. Vor morgen.«

Der Wald hinter ihnen schien ein lebendiges Wesen zu sein – kein stummer Beobachter, sondern Dunkelheit gefüllt mit den Geräuschen der Nacht, und Rae drehte den Kopf, auf der Suche nach wachsamen Augenpaaren. Der Schatten der Bäume fiel wie ein dichtes Netz über den Boden. Der See lag still da, ein Spiegel, der die Spannung in der Luft zu reflektieren schien. Raes Augen huschten durch die Dunkelheit der Bäume, auf der Suche nach Zeichen, nach verborgenen Beobachtern. Ein Gefühl der Unsicherheit, die er nicht abschütteln konnte, kroch über seine Haut.

»Keine Sorge«, beruhigte Azalea ihn und kam auf ihn zu. »Wir sind allein. Ich bin schon seit Stunden hier, wenn mir jemand gefolgt wäre, hätte er längst die Lust verloren. Und das Rätsel löst niemand außer dir.« Sie lächelte leicht und dieses Lächeln befreite Rae aus seiner Starre.

Er befestigte die Zügel des Pferdes am Zaumzeug, sodass es ungestört Grasen konnte, und kam ihr entgegen. Die Lampions erhellten einen Teil ihrer Gesichtszüge, hüllten andere dafür in Schatten, ließen sie wie ein expressionistisches Kunstwerk wirken. Es juckte Rae in den Fingern, diese Version von ihr auf die Leinwand zu bringen.

»Du meinst, das alles«, er deutete zu den Lichtern, »ist für mich?«

»Und für mich. Offensichtlich.« Sie ließ sich zu Boden sinken und klopfte auf den Platz neben sich und Rae setzte sich zu ihr. Noch immer hielten sie Abstand, aber gleichzeitig spürte er ihre Nähe wie das lodernde Flackern eines offenen Feuers. Ihre Anwesenheit, so nah und unerreichbar, war wie ein Lied, das er nicht singen durfte.

Seine Hand zitterte. Es wäre leicht, dem Drang nachzugeben. Sie an sich zu ziehen und zu küssen. Doch die Wahrheit der tödlichen Konsequenzen hielt ihn zurück. Hier im Wald würde sie niemand sehen, aber ihn beschlich das Gefühl, damit eine Schleuse zu öffnen, die sich nicht wieder schließen lassen würde. Ihre Berührungen waren wie eine Droge und allein Azaleas Gegenwart ließ ihn vor Verlangen danach zittern.

Er wandte seinen Blick ab, bevor er eine Dummheit beging. »Ist das wirklich der See der toten Dichter?« Mit dem Kinn deutete er zu dem Gewässer, das im Licht des Sternenhimmels schimmerte.

Azalea schnaubte. »Eher die Pfütze der komatösen Möchtegern-Poeten.« Sie nahm einen Kieselstein und warf ihn ins Wasser und die Reflexion zerbarst.

Raes Lachen durchbrach die Stille des Waldes und trug eine Woge der Befreiung mit sich. Die Last der vergangenen Wochen schien von seinen Schultern zu fallen. Die Pferde schauten bei dem Geräusch in seine Richtung, als würden sie sich über den Lärm beschweren. Eine Weile saßen sie schweigend da, warfen Steine in den See und zupften Grashalme ab. Irgendwann lehnte Azalea sich zurück, stützte die Hände hinter sich ab und sah ihn an.

»Worüber möchtest du reden?«

Eine einfache Frage. Doch es gab so viele Themen, über die er nicht sprechen wollte – die Beerdigung, die Mordanschuldigungen, die Ermittlungen, Ashland, die Heiratserlaubnis – dass eine Antwort schwerfiel.

»Hast du weitere Briefe erhalten?«

Sofort verdüsterte sich Azaleas Gesicht, als würde der Schatten aus dem Wald auf sie übergehen. »Ich habe dir gesagt, dass ich mich darum kümmere.«

Abwehrend hob Rae eine Hand, während er sich mit der anderen abstützte. »Ich habe nichts Gegenteiliges behauptet.«

»Gut.«

Er wartete einen Moment, doch sie sprach nicht weiter. »Also?«

Seufzend warf sie den Kopf in den Nacken. »Ja. Ja, es kamen weitere Briefe.«

Er schluckte. »Schlimm?«

Sie zuckte mit den Schultern, aber ihr Kiefer verhärtete sich. »Das Übliche. Ich hätte eine glückliche Ehe zerstört. Ich wäre eine Schlampe.« Rae zuckte zusammen, doch Azalea ließ ihn nicht darauf eingehen. »So viele Morddrohungen, dass ich einen weiteren Schrank bräuchte, um sie unterzubringen.«

Rae ballte die Hände zu Fäusten, während Hitze seinen Nacken emporstieg und seine Wangen erreichte. Eine Welle aus Scham und Wut durchflutete ihn, störte den Frieden, den er nur Augenblicke zuvor gefunden hatte.