The Time I Stayed With You - Maya Hughes - E-Book + Hörbuch

The Time I Stayed With You Hörbuch

Maya Hughes

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Beschreibung

Mit ihr zusammen zu sein war so, als würde jemand meinen Namen singen, nachdem ich ein Leben in absoluter Stille verbracht hatte.

Nachdem Bay in einer Nacht vor sechs Jahren aus dem Bett und dem Leben ihrer ersten Liebe Dare verschwunden ist, kann dieser sie immer noch nicht vergessen. Er versteht, weshalb Bay nicht bei ihm bleiben konnte: Zu tief sind die Wunden, die Dares Verhalten in der Vergangenheit auf Bays Seele hinterlassen hat. Doch er glaubt fest daran, dass sie gemeinsam ihre gebrochenen Herzen heilen können und dass er nur mit Bay die Chance auf eine glückliche Zukunft hat. Da greift das Schicksal erneut ein und lässt die beiden wieder aufeinandertreffen. Aber werden Bay und Dare dieses Mal den Mut haben, für ihr Happy End zu kämpfen?

»Bay und Dare sind das perfekte Paar, und ich habe jede Minute ihrer zu Tränen rührenden, bewegenden und spannenden Geschichte geliebt.« @JOREADSROMANCE

Abschlussband der LOVING-YOU-Trilogie

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Zeit:13 Std. 6 min

Sprecher:Wiebke BierwagVincent Fallow
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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Die Romane von Maya Hughes bei LYX

Impressum

Maya Hughes

The Time I Stayed With You

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck

Zu diesem Buch

Für einen kurzen Moment war das Glück für Darren Keyton zum Greifen nah – die Jahre des Wartens und Sehnens vergessen. Doch dieses Gefühl sollte nur von kurzer Dauer sein. Denn Bay, die einzige Frau, mit der er jemals glücklich war, konnte ihm die Fehler der Vergangenheit nicht verzeihen und hat die einmalige Chance ergriffen, ihre Träume zu leben. Sechs Jahre ist es nun her, dass Bay ihre erste Liebe Dare verlassen hat. Inzwischen hat sich das Leben beider völlig verändert: Während Bay mit ihrer Musik weltberühmt wurde, ist Dare ein erfolgreicher Footballspieler geworden. Doch plötzlich greift das Schicksal erneut ein, lässt die beiden wieder aufeinandertreffen und gibt ihnen eine letzte Chance. Sie sind zwar längst nicht mehr die verliebten Teenager, die sie damals waren, aber ihre Gefühle füreinander warten nur auf einen kleinen Funken, um erneut entfacht zu werden. Diesmal müssen sie endgültig entscheiden: Können sie sich von den Fesseln der Vergangenheit lösen und haben den Mut, für ihr Happy End zu kämpfen oder werden sie den leichteren Weg gehen und einander für immer aufgeben?

Liebe Leser:innen,

wir möchten darauf hinweisen, dass dieses Buch folgende Themen enthält:

Verarbeitung von Tod, Verlust und Trauer, Erinnerungen an Gewalterfahrung und Schilderungen von toxischem männlichem Verhalten.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis. Euer LYX-Verlag

1

Bay

Die Busse hielten neben dem Hotel, das direkt am Strand lag und in dem Maddy und die Band sich anscheinend am liebsten einquartierten, wenn sie in L. A. waren. Mein Magen zog sich zusammen, als der Bus quietschend zum Stehen kam und die Abdichtung der Tür laut zischte.

Vor fünfundzwanzig Tagen hatte ich diesen Ort verlassen. Vor fünfundzwanzig Tagen hatte ich ihn verlassen. Vor fünfundzwanzig Tagen hatte mich die Angst übermannt, und ich war geflohen. Damit hatte ich es so eilig gehabt, dass ich seit dem Tag, an dem das Fuhrwerk des Flugzeugs von der Rollbahn des Flughafens abgehoben hatte, der sich zwanzig Minuten Fahrtweg entfernt befand, nicht mehr zu Atem gekommen war. Vor fünfundzwanzig Tagen hatte ich den größten Fehler meines Lebens begangen.

Ich hatte geglaubt, dass ich mich ein für alle Male von der Gitarre neben mir verabschiedet hätte, als ich sie in der Mülltonne vor meinem Haus in Greenwood entsorgt hatte. Doch nun war sie zwischen die Sitzbank und den festgeschraubten Tisch im vorderen Bereich des Tourbusses geklemmt.

Als sie bei mir angekommen war, hatte ich nicht anders gekonnt, als mir die Hand vor den Mund zu halten, während meine Finger ganz taub geworden waren. Irgendwie hatte er es geschafft, sie zu reparieren. Die blassen Linien des gesplitterten Holzes waren auf dem glänzenden schweren Korpus der Gitarre kaum noch zu erkennen. Sie hörte sich jetzt anders an, besaß einen satteren, tieferen Klang. Das Stück, das ich vor der Abfalltonne bewahrt hatte, steckte nach wie vor im Gitarrenkoffer, der mich nun überallhin begleitete.

Meine Hände zitterten, und ich starrte aus dem Fenster in Richtung Campus. Mein Handy lag auf meinem Schoß, und das Leuchten des Bildschirms strahlte mir entgegen, während ich versuchte, Worte zu finden. Andere Worte als die, die ich geschrieben hatte, bevor ich fortgegangen war. Oder die, die ich Hunderte Male getippt und dann doch wieder gelöscht hatte, weil ich mich davor fürchtete, sie abzuschicken.

Regentropfen sprenkelten die getönte Scheibe.

»Bay, hier ist deine Schlüsselkarte.« Maddy schob sie mir über den Tisch zu. Ich öffnete den laminierten Pappordner. Darin befand sich mittlerweile eine ganze Sammlung. Eine Sammlung, von der ich nicht wusste, warum ich sie besaß. Vielleicht als Andenken. Als Erinnerung an diese Zeit. Ich war mit einer der weltgrößten Bands unterwegs gewesen. Hatte meinen Augenblick im Rampenlicht gehabt, auf den ich würde zurückblicken können, wenn ich auf der Tribüne saß und ihn anfeuerte.

Doch Maddy ging nicht an mir vorbei, um den Jungs ihre Karten zu geben.

»Holden, kannst du die hier für mich verteilen?« Sie reichte ihm den Stapel, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde.

Der Bus leerte sich, und ich starrte auf die Schlüsselkarte auf dem Tisch, als hätte ich vergessen, worum es sich dabei handelte und wofür man sie benutzte.

»Wie fühlst du dich, Bay?«

Mein Blick zuckte nach oben, begegnete ihrem, und ich zuckte die Achseln, um so zu tun, als würde ich nicht gerade innerlich völlig aus den Fugen geraten. Als stünde ich nicht kurz vor einem Nervenzusammenbruch – genau wie schon die letzten vier Wochen über.

»Gut. Bin nur müde.« Ich hatte noch nie einen so auslaugenden Monat erlebt wie den letzten. So hatte ich mir das Leben auf Tour nicht vorgestellt. Die Aufregung eines Auftritts jagte mir das Adrenalin direkt ins Herz, doch alles darum herum fühlte sich gedämpft und ausgeblichen an. So als würde ich das Leben von jemand anderem führen. Als wäre mir ein Teil meines Ichs gestohlen worden, nein, als hätte ich es verloren. Und dies ließ meine Sinne abstumpfen und nahm mir das, was meine Leidenschaft entfacht hatte. Dare und Keyton – ein und dieselbe Person, nicht länger an meiner Seite.

Die Monotonie des Reisens war definitiv ungewohnt gewesen. Vor jedem Auftritt hatte ich mich übergeben müssen. Nachdem Holdens Schuhe dem Desaster einmal knapp entkommen waren, hatte er stets einen Mülleimer bereitgehalten. Wenn wir nicht in einem Hotel übernachtet hatten, hatte ich mich im Anschluss an die Auftritte immer in meiner Kabine im Tourbus zusammengerollt. Und ich hatte geschrieben. Ich hatte so viel geschrieben, dass mir die Finger vom Halten des Stifts und dem Anschlagen meiner Gitarre wehgetan hatten. Ich hatte mein Notizbuch gefüllt, als würden die Körner in der Sanduhr bald verrinnen. Und möglicherweise taten sie das auch.

»Du wirkst mehr als nur müde.« Maddy setzte sich neben mich und stupste mich mit dem Ellenbogen an.

»Es ist seltsam, so bald schon wieder hier zu sein.«

»Es fühlt sich ganz anders an, obwohl weniger als ein Monat vergangen ist, oder?«

Ich nickte nur, da meine Kehle wie zugeschnürt war. Keyton befand sich irgendwo da draußen in der Stadt. Ich hatte die Spiele verfolgt. Und obwohl sein Name kein einziges Mal gefallen war, hatte ich stets die Seitenlinie nach ihm abgesucht. Die Neuigkeit, dass Vince aus dem Team geworfen worden war, nachdem er unter Einfluss von Drogen gefeiert und nach einem Unfall Fahrerflucht begangen hatte, hatte es in die Nachrichten geschafft. Das war also ein Problem weniger, mit dem Keyton sich im Team würde herumschlagen müssen. Allerdings würde ich dafür möglicherweise ein anderes in sein Leben zurückbringen – mich.

»Hat das hier vielleicht gerade was damit zu tun, dass du morgen für den Rest der Tour nicht wieder in diesen Bus steigen möchtest?«

Mein Kopf schnellte hoch. »Was? Nein! Ich weiß, dass das hier eine Gelegenheit ist, für die andere töten würden.« War es so offensichtlich gewesen? Schwebten meine Gedanken etwa in einer Sprechblase über meinem Kopf, ohne dass ich etwas davon wusste?

»Aber du bist nicht ›andere‹, Bay.« Ihr Blick wurde weicher, und sie faltete die Hände auf dem Tisch. »Es gibt eine lange Liste mit Gründen für das, was wir tun. Der Lohn für all die Mühe ist unvorstellbar und aufregend, doch wenn du nicht mit ganzem Herzen dabei bist – wenn dein Herz woanders ist, dann wird es dir nie das geben, was du dir wünschst.«

Das Brennen in meiner Brust nahm zu und fühlte sich an, als könnte es mich in Sekundenschnelle versengen. Ich dachte jede Nacht an ihn. Träumte von ihm.

»Was ist, wenn mein Herz nicht haben kann, was es sich wünscht? Wenn ich die einzige Chance, es zu bekommen, zerstört habe?«

Sie öffnete den Mund und griff nach meinen Händen. »Mach dir keinen Vorwurf, weil du diese Gelegenheit wahrgenommen hast, Bay. Ich weiß, wie schwer so was sein kann. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man in die Augen von jemandem blickt und glaubt, er könnte einem die Welt zu Füßen legen. Aber so läuft das nicht immer. Und wenn du darauf wartest, dass jemand genau das tut oder genau diese Person für dich ist, dann kannst du nur enttäuscht werden.

Du bist zweiundzwanzig. In deinem Leben kann sich noch vieles ändern, aber du musst dir sicher sein. Du musst das hier wirklich wollen, denn es ist kein leichter Job, und das wird es auch nie sein. Egal, wie du dich entscheidest, ich stehe hinter dir. Der Bus fährt morgen früh um sieben ab. Ich hoffe, du wirst da sein und mitfahren, könnte es allerdings absolut verstehen, wenn es nicht so wäre.« Sie erhob sich und ging auf den Ausgang des Busses zu.

»Bay?«

Ich lehnte mich zur Seite, um ihr durch den Gang hinterherzublicken.

»Wenn er nicht für dich da ist, kannst du dich immer noch für die Musik entscheiden. Ich habe gesehen, was du erschaffen kannst. Und es ist ein Geschenk, dem du dich nicht verschließen solltest.« Sie verschwand auf der Treppe, und ich blieb allein in der Stille zurück.

Die Angst, die in mir aufstieg, wenn ich daran dachte, was er in mir sah, wurde von der Panik aufgewogen, die bei dem Gedanken hochkam, ihn nie wiederzusehen. Felicia hatte mir Dads Gitarre zugeschickt und eine Nachricht beigefügt, dass sie von Keyton war. Und das hatte mich gebrochen. Ich strich mit den Fingern über die Risse und Splitter, die durch den glatten Lack wirkten, als würde man sie durch Museumsglas betrachten. Als wäre die Gitarre konserviert worden, damit sie für immer bei mir bleiben konnte. So hatte ich mich gefühlt, als ich sie zum ersten Mal wieder in Händen gehalten hatte, wobei meine Finger so sehr gebebt hatten, dass ich die Gitarre aus Angst, sie kaputt zu machen, indem ich sie fallen ließ, hastig zurück in den Koffer gelegt hatte.

Ein Teil unserer Vergangenheit war wieder zusammengesetzt worden, und ich hatte uns aufs Neue auseinandergerissen.

Direkt nach dem Auftritt hatte ich mich mit Eiscreme und einer Wärmeflasche im Hotelzimmer eingeschlossen und mich gefühlt, als würde ich an meinen Tränen ersticken. Sie hatten mir die Kehle zugeschnürt und in meinen Augen gebrannt. Meine Haut war so heiß gewesen, dass ich gedacht hatte, das Wasser müsste einfach auf meinen Wangen verdampfen, was natürlich nicht geschehen war. Der Schmerz war jedoch geblieben.

Und nun war ich zurück. Doch was erwartete mich hier?

In einem Monat konnte sich vieles verändern. Die komplizierten Gefühle, die ich für Keyton hegte, hatten sich vertieft, ausgedehnt und die Lücken in meiner Seele auf eine Art und Weise ausgefüllt, wie ich es vorher noch nie erlebt hatte. Allerdings fürchtete ich mich auch vor ihnen – so sehr hatte ich mich noch nie vor etwas gefürchtet. Diese Angst war größer als damals, in dem Moment, als er mit den Splittern von Dads Gitarre um uns herum über mir gestanden hatte. Oder als ich ihn am Tag unseres Abschlusses auf dem Feld hatte stehen lassen. Und so viel größer als meine Furcht davor, mich ihm wieder zu öffnen.

Nun war ich allerdings wieder dort, wo ich angefangen hatte. Und ich fühlte mich wie eine Außerirdische, die das Kommunizieren neu erlernen musste.

Mein Handy lag immer noch auf meinem Schoß, nur dass der Bildschirm jetzt aus war, sodass mir mein eigenes Spiegelbild von der schwarzen Oberfläche entgegenblickte. Ich wollte ihn nicht noch mehr verletzen, als ich es ohnehin schon getan hatte.

Ich schleppte mich aus dem Bus und schnappte mir meine einsame Tasche, die daneben auf dem Asphalt lag. Der Pförtner des Hotels hielt mir die Tür auf. Aus dem Restaurant, das zum Hotel gehörte, drangen Gelächter und der Lärm von Gesprächen in die Lobby. Glücklicherweise war der Fahrstuhl auf meinem Weg nach oben leer. Auf den Fluren war es still. Das Schloss an meiner Tür piepte, und ich betrat ein weiteres Hotelzimmer. Nach den ersten zehn oder zwölf hatte die Begeisterung rapide nachgelassen.

Da ich mich noch nicht traute, Keyton zu schreiben, und er keinen Account in den sozialen Medien besaß, schaute ich mir Knox’ Feed an. Er hatte Fotos davon gepostet, wie er und Keyton zusammengezogen waren. Darunter befanden sich auch einige Selfies mit seinen Eltern. Das war erst vor wenigen Stunden gewesen. Die Gebäude im Hintergrund gehörten zum Campus.

Er war hier. Er war in der Nähe.

Ich sprang vom Bett auf und zog mir schnell meine Schuhe wieder an.

Im Aufzug überlegte ich mir einen Plan. Knox postete häufig Updates, beispielsweise ein Video von einem Besuch am Strand, in dem seine Eltern lächelnd neben ihm standen. An dem Strand, auf den ich während meines Gesprächs mit Maddy hinausgeblickt hatte.

Aufregung floss durch meine Adern. Sie waren also nicht weit entfernt. In der Lobby eilte ich Richtung Ausgang, stolperte dann jedoch rückwärts und versteckte mich hinter einer Marmorsäule.

Keyton trat mit Knox und dessen Eltern durch die Tür, durch die ich vor weniger als einer Stunde hereingekommen war.

Mir gefror der Atem in der Lunge, als hätte mich jemand in einen gefrorenen Teich gestoßen. Wollte mir das Universum etwa mitteilen, dass ich nicht alles ruiniert hatte? Vergab es mir meinen Egoismus und die Feigheit?

Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Bis auf die Farbe des Hemds waren Knox und er gleich gekleidet.

Mein Herz schmerzte und verzehrte sich nach ihm. Während ich umgeben von Fremden allein in einer Schlafkabine des Tourbusses gelegen hatte, hatte ich den Trost seiner starken Arme vermisst.

Er lachte und schloss seinen Regenschirm. Knox’ Eltern hatten ebenfalls einen. Er sah gut aus. Lächelte. Er wirkte nicht müde oder wütend.

Ich wollte zu ihm laufen. Wollte mich ihm entgegenwerfen und mich entschuldigen. Ihm sagen, wie sehr es mir leidtat und wie falsch es gewesen war, dass ich auf diese Art und Weise gegangen war.

Da ich mich nicht länger zurückhalten konnte, holte ich mein Handy heraus und tippte auf seinen Namen. Während ich vor den Shows im Backstage-Bereich gewartet hatte, hatte ich stundenlang auf die leere Fläche im Messenger gestarrt. Und noch länger, während ich im Tourbus gesessen hatte und von der Fahrtbewegung hin und her gewiegt worden war, ohne dass meine Finger einen vollständigen Satz hatten tippen können.

Doch nun, da ich ihn sah, konnte ich nicht anders. Dabei entging mir die Ungerechtigkeit der Situation nicht. Ich hatte ihn verlassen, kam nun jedoch zurück. Zurück zu ihm.

Mit bebenden Fingern tippte ich eine Nachricht.

Ich: Ich bin bald in L. A. Ich würde dich gerne sehen.

Immer noch lächelnd senkte er den Kopf und hielt die Unterhaltung am Laufen, während er sein Handy herausfischte und auf den Bildschirm starrte. Dann gefror sein Lächeln schlagartig, und mir rutschte das Herz in die Hose.

Lange, qualvolle Minuten blickte er auf sein Handy.

So lange, dass ich den Puls an meinen Fingern spürte, weil ich mein eigenes so fest umklammert hielt.

Seine Finger verkrampften sich.

Selbst aus der Entfernung konnte ich seine Anspannung erkennen. Ich nahm den Aufruhr in seinem Inneren wahr.

Meine Sicht verschwamm, und in meinem Rachen setzte ein Brennen ein, das mir die Tränen in die Augen trieb.

Ich wusste, es war unfair. Ich hatte ihn nicht verdient. Diesen Fehler würde ich nicht rückgängig machen können, und dennoch hoffte ich mit jeder Faser meines Körpers, dass ich noch einmal mit ihm würde sprechen könnte. Also schickte ich eine weitere Nachricht.

Ich: Bitte.

Der dunkle Bildschirm in seiner Hand leuchtete auf. Dann schaltete er ihn mit dem Daumen aus und steckte das Handy in seine Hosentasche.

Er schloss zu seiner Gruppe auf und flüsterte Knox etwas zu. Mit großen Augen blickte dieser Keyton an.

»Mom und Dad, Planänderung fürs Abendessen. Es gibt da ein anderes Restaurant, das wir während des Trainingscamps entdeckt haben. Das wird euch gefallen.«

Seine Eltern musterten ihn überrascht, doch dann führten sie ihre lockere Unterhaltung fort und verschwanden wieder durch die Tür.

Währenddessen fühlte ich mich, als hätte mir jemand seinen Stiefel in die Brust gerammt und würde nun mit vollem Gewicht meine Rippen zerquetschen. Anstatt wieder auf mein Zimmer zu gehen, setzte ich mich nach etwa einer Minute in Bewegung und folgte ihnen.

Als ich den Gehweg betrat, bogen sie gerade um die Ecke. Er drehte sich kein einziges Mal um. Warum sollte er auch?

Also lief ich in die entgegengesetzte Richtung zum Strand.

Dort kickte ich mir die Schuhe von den Füßen, und meine Zehen versanken auf dem Weg zum Wasser im feuchten Sand.

Ich ließ mich nicht weit von den rauschenden Wellen entfernt nieder und schlang die Arme um meine angezogenen Beine. Das Wasser sickerte in meine Jeans und bahnte sich einen Weg bis an meine Hüften, sodass der Stoff vollkommen durchnässt war.

Der Wind wehte über den Sand hinweg und jagte mir Schauer über den Rücken. Die Wellen brachen sich in der Ferne, während ich in die Dunkelheit vor mir hinausblickte, die nur vom Mond und den kleinen Lichtern, die über dem Horizont schwebten, erhellt wurde.

Die Hoffnung, er würde auf meine Nachricht antworten, starb mit jeder Minute ein wenig mehr. Und irgendwann war alles um mich herum in völlige Dunkelheit getaucht.

Die Lichter des Restaurants am Strand waren mitsamt meiner Hoffnung verloschen.

Die Nacht erstreckte sich mit einer Traurigkeit vor mir, die mir bis ins Mark ging. Farbtupfer tauchten vor mir auf und formten meine Silhouette im Sand. Als ich mich schließlich aus meiner Erstarrung löste, keuchte ich angesichts der feinen Nadelstiche, die mir durch den Körper fuhren, auf. Hinter mir ging die Sonne auf, doch sie brachte nicht das hoffnungsvolle Versprechen eines neuen Tages mit sich. Stattdessen erstreckte sich eine Leere vor mir, die mir das Gefühl gab, als würde meine Seele in den Schatten übergehen, der sich vor mir auf dem Sand erstreckte.

Das Akku-Symbol auf meinem Handy nahm ein wütendes Rot an. Die Prozentzahl sank in den einstelligen Bereich. Und immer noch keine neue Benachrichtigung.

Taub und unter Schmerzen musste ich auf dem Weg zurück ins Hotel stolpernd das Gehen wieder neu lernen. Unter der Dusche ließ das heiße Wasser meine Haut prickeln und brennen. Doch die Wärme reichte nicht bis in mein Inneres. Das konnte sie nicht. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das, was mir noch geblieben war.

Liedzeilen gingen mir durch den Kopf. In ein Handtuch gewickelt schnappte ich mir meinen Notizblock, bevor die Worte regelrecht aus mir herausströmten. Meine Tränen vermischten sich mit der Tinte auf dem Papier.

Meine Klamotten stopfte ich unordentlich in meine Tasche zurück und nahm die Treppe, um zum Parkplatz zu gelangen, wo der Bus stand. Der untere Gepäckraum war offen und voller Taschen und Ausrüstung.

Maddy kam mit geweitetem Blick die Stufen des Busses herunter. »Du bist hier.«

Ich zog die Schultern hoch und starrte auf den Boden zwischen uns. »Wenn das für dich okay ist.«

Sie schlang die Arme um mich, ihre Stiefel sorgten dafür, dass wir uns fast auf Augenhöhe befanden. »Natürlich ist es das. Ich habe dich gerne dabei. Ich …« Sie löste die Umarmung und trat einen Schritt zurück. »Ich weiß, du hast dir etwas anderes gewünscht, aber du bist nicht allein. Denk an die Musik, und halt sie nah an deinem Herzen.«

»Ich habe ein paar neue Songs geschrieben.« Zum Ende des Satzes brach meine Stimme.

Sein letztes Geschenk an mich. Er hatte das Einzige in mir freigesetzt, was mich von ihm forttreiben würde.

Ich würde mich von meiner Gitarre, den Melodien, die mir durch den Kopf gingen, und den Texten, die mich an ihn erinnerten, trösten lassen.

Wenn er nicht körperlich in meiner Nähe war, würde ich ihn wenigstens in meinen Träumen bei mir tragen, bis ich gelernt hatte, ihn gehen zu lassen.

2

Keyton

»Ich habe genug Geld. Ich möchte mit Wisconsin reden.« Ich goss mir Wasser über den Kopf und erhöhte für die letzten fünf Minuten meines Workouts die Geschwindigkeit des Laufbandes.

»Weißt du, wie kalt es da oben ist?«, murrte Ernie durch den Lautsprecher meines Handys.

Meine Schritte klangen laut auf dem Trainingsgerät, das im zweiten Schlafzimmer meines Apartments stand, das sich auf der fünfundfünfzigsten Etage befand und einen Ausblick auf die Skyline von Philadelphia bot. Die Lokalnachrichten im Fernseher gingen zum Sportteil über.

»Ich habe Kälte schon mal erlebt. Du tust so, als hätte ich noch nie in Wisconsin gespielt.«

»Dort zu spielen und dort zu leben sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Die Gehaltsobergrenze des Teams wird uns nicht viel Spielraum lassen.« Ernies Stimme, der man deutlich anhörte, dass er früher eine ganze Packung Zigaretten pro Tag geraucht und schon so einiges miterlebt hatte, grollte wie ein alter Dieselmotor.

»Ist mir egal. Wenn sie mich einsetzen wollen, möchte ich sehen, was bei dem Gespräch rauskommt.« Ich erhöhte die Geschwindigkeit erneut um einen halben Schritt. Nach dem Trainingscamp hatte ich mich mehr angestrengt als je zuvor, und trotzdem saß ich immer noch auf der Bank. Nachdem ich mich allerdings auf dem Feld bewiesen hatte, war ich zum ersten Ersatzspieler aufgestiegen und kam mir vor wie ein außerordentlich gut bezahltes Maskottchen. Es hatte jedoch auch seine Vorteile. Zum Beispiel hatte ich so eine Stiftung gründen können, die Kindern wie mir eine Chance auf ein besseres Leben bot. Heute Abend würde ich einige Leute zu einem Without-Grey-Konzert begleiten, da sie dies bei einer Auktion meiner Stiftung gewonnen hatten. Immer wenn ich die Musik der Band hörte, musste ich an Bay denken.

Es half auch nicht gerade, dass ihre Hits in den letzten Jahren ununterbrochen in den Charts gelandet waren. Doch ihre Songs waren nicht der einzige Grund, warum ich das Radio mied und nur Musik aus längst vergangenen Jahrzehnten streamte.

Die Musik von Without Grey schien untrennbar mit meinem Leben verbunden zu sein, obwohl ich den Mitgliedern nur wenige Male begegnet war. Dennoch würde ich für die Gewinner der Auktion heute Abend bei dem Konzert den guten Gastgeber spielen. Ihr Gebot war großzügig gewesen und würde viel Gutes bewirken.

Ernies raue Stimme unterbrach meinen Kurztrip in die Vergangenheit. »Sie zahlen weniger. Komm schon, Keyton. Du machst es mir gerade echt schwer. Ich habe drei College-Ausbildungen zu bezahlen.«

»Deine zehn Prozent werden die mehr als decken können. Und denk nur an die ganzen Werbekampagnen, die ich bekommen werde, wenn ich tatsächlich spiele.«

Ich hatte gedacht, im Football gäbe es keine zweiten Chancen, doch wie sich herausgestellt hatte, sorgte Aberglaube dafür, dass allerhand Regeln neu geschrieben wurden.

»Die Deals, die ich bis jetzt ausgehandelt habe, sind schon verdammt gut.«

»Und jetzt stell dir die doppelte Summe vor. Wir haben ein wesentlich besseres Druckmittel in der Hand, wenn ich derjenige bin, der das Team zum Sieg führt.«

»Oder du brichst dir wieder das Bein.«

»Das war vor drei Jahren.« Ich drückte genervt auf den Knopf, um meine Geschwindigkeit erneut zu erhöhen, damit ich meinen gesamten Frust ausschwitzen konnte. Charlotte hatte mich in meiner ersten Saison nach dem Wechsel zu den Lions eingesetzt. Ich hatte fünf Spiele gespielt. Und wir hatten alle fünf verloren, doch das tatsächliche Problem war ein brutaler Tackle gewesen, der für einen zweiwöchigen Streckverband an meinem Bein gesorgt hatte, auf den eine Operation und monatelange Reha und Physiotherapie gefolgt waren. Anschließend hatte ein Trade nach Miami stattgefunden, und verglichen mit anderen Verträgen hatte ich dort so gut wie nichts bekommen, allerdings war meine Gesundheit wiederhergestellt, und ich war erneut bereit zum Spielen gewesen. Sie hatten hingegen andere Pläne für mich gehabt, und diese hatten nichts mit dem Feld zu tun. Doch ich hatte so wenigstens einen weiteren Championship-Ring für mein Regal abgestaubt, und das Glück war mir wieder hold gewesen, als ich in meiner fünften Saison zu Philly gewechselt war. Die sechste würde in weniger als einer Woche starten.

»Und das war die einzige Saison, für die du keinen Ring bekommen hast. Das möchte doch niemand riskieren. Es ist sicherer für dich, wenn du brav auf der Bank sitzt und hübsch aussiehst.«

»Ich möchte nicht mehr auf der Bank sitzen.«

Am anderen Ende der Leitung wurde schwer nachgedacht. »Mir gefällt das immer noch nicht.«

»Muss es auch nicht. Mir muss es gefallen, und ich will sehen, welche Optionen mir zur Verfügung stehen.«

Es folgte ein unwilliges Grummeln. »Na gut, aber wenn sie uns für dumm verkaufen wollen, gehen wir.«

»Erst mal hören wir uns das Angebot an und entscheiden dann, ob sie uns für dumm verkaufen wollen oder nicht.«

Das Trainingslager war vorbei. Eine weitere Saison stand bevor. Ein weiteres Jahr voller Siege. Fünf weitere Monate, in denen ich nutzlos herumsitzen und Platz verschwenden würde.

Fünf Championship-Ringe befanden sich im Safe in meinem Schrank. Fünf Ringe von drei verschiedenen Teams. Es wurde heiß spekuliert, ob ich die nächste Saison in Philly verbringen oder mein Glück woanders versuchen würde. Mir ging die gleiche Frage durch den Kopf, seitdem ich von Konfetti und Feuerwerk umgeben das Feld betreten und eine glänzende goldene Trophäe in die Höhe gehalten hatte.

Jedes Jahr zu dieser Zeit kamen diese Erinnerungen in mir hoch. An den Sommer, der mein Leben verändert hatte. Den Sommer, in dem ich Bay und beinahe auch alles andere verloren hatte.

Ich drückte energisch auf den Cool-down-Knopf und ging vom Sprinten zum Joggen und letztendlich zum Gehen über.

Sechs Jahre, zwei Monate und drei Tage.

Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte ich ihr gesagt, dass ich nie wieder so viel Zeit verbringen wollte, ohne sie zu sehen. Und dieser Wunsch war mir erfüllt worden, als hätte ich ihn mir von einer Sternschnuppe gewünscht.

Sie war in Musikvideos, der Werbung, auf dem roten Teppich, bei Preisverleihungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen erschienen. Ich hatte keine sechs Jahre ohne ihren Anblick auskommen müssen. Stattdessen hatte ich sie beinahe täglich gesehen, was es nur schlimmer gemacht hatte – so viel schlimmer.

Neben der Wasserflasche, die ich auf dem Bedienfeld des Laufbandes abgestellt hatte, leuchtete mein Handy auf.

»Knox, was gibt’s?«

»Willst du nicht mit einem Exklusivbericht rausrücken?«

Ich lachte und drückte auf Stopp. »Jetzt schon ein waschechter Reporter, was?« Ich griff mir mein Handtuch, mit dem ich mir Nacken und Gesicht abtrocknete.

»Ich versuche nur, mich zu beweisen, jetzt, da ich nicht mehr auf dem Feld bin.«

»Wenn du weiterhin dein Shirt ausziehst, dann werden die Ratings der Damen dir deinen Platz schon sichern.«

»Die Cookies haben in der Nebensaison leider ihren Tribut gezollt.« Er seufzte, klang jedoch kein bisschen reumütig. »Mein Sixpack ist nicht mehr das, was es mal war.«

Ich warf mein Handtuch in den Wäschekorb, kickte mir die Schuhe von den Füßen und ging in die Küche. Der Kühlschrank war voll von Protein-Shakes, gegrilltem Hähnchen und Gemüsegerichten, die nach Anweisung meines Ernährungsberaters in Portionen aufgeteilt waren.

»Ich interpretiere dein Schweigen mal so, dass du körperlich wie immer in Topform bist.«

»Die Vorbereitung auf das Spiel ist schon die halbe Miete.« Die andere Hälfte bestand darin, auch tatsächlich aufs Feld zu dürfen.

»Du solltest wie Dagobert Duck in deinem Geld schwimmen und dich mit Kuchen vollstopfen, wann immer du kannst. Wie viele Typen schaffen es in die sechste Saison?«

»Vermutlich einige Kicker da draußen.«

Sein Lachen ließ das Handy in meiner Hand vibrieren.

Ich nahm mir einen der grünen Shakes und schloss die Kühlschranktür. »Und wie viele Typen haben in fünf Saisons weniger als eine komplette Spielzeit auf dem Feld verbracht?«

»Sind wir schon wieder bei diesem Thema gelandet? Nimm die Kohle und lauf. Oder lass es. Abgesehen von den Kosten für das Apartment, zu dem Alice dich überredet hat, gibst du dein Geld vermutlich noch genauso aus wie früher, als du noch in der Trainingsmannschaft warst.«

Das extrem stilvolle Apartment im Four Seasons. Wer hätte gedacht, dass man in einem Hotel wie diesem wohnen konnte? Ich jedenfalls nicht. Die Aussicht war atemberaubend. Die Fassade des One-Liberty-Place-Hochhauses glänzte direkt vor meinem Fenster. Die Nebenkosten für ein Jahr in dieser Wohnung hatten geschmerzt wie der Angriff eines Bienenschwarms, dem aufgefallen war, dass ich hinter seinem Honig her war. Doch es war ein Kompromiss gewesen. Alice hatte nicht hierherziehen wollen. Sie hatte sich ein Haus mit Garten gewünscht. Einen Ort, um eine Familie zu gründen.

Das Apartment war ein Kompromiss gewesen und der Anfang vom Ende.

»Folgt da jetzt eine Unterhaltung, oder soll das eine Predigt werden?«

»Ich mache mir Sorgen um dich, Mann.«

»Nicht nötig. Mir geht’s gut. Ging mir nie besser. Die Stiftung läuft gut. Ich habe ein weiteres Jahr als rein dekorativer Spieler eines Teams vor mir, das es voraussichtlich zur Championship schaffen wird. Wie lange war ich jetzt schon nicht mehr in eine Schlägerei verwickelt? Vier Jahre.« Nach zwanzig Jahren Freundschaft sorgte er sich immer noch um mich, als wäre ich nach wie vor das Kind, das sich damals in Greenwood in seinem Keller versteckt hatte. Seine Sorge war völlig unnötig, allerdings ließen sich alte Gewohnheiten nicht so schnell ablegen – so war es auch mit jenen, an denen ich selbst arbeitete. Ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass er seine eigenen besaß. Seine Gewohnheiten führten wenigstens nicht dazu, dass er hinterher mit lädierten Fingerknöcheln und einer aufgeplatzten Lippe dastand.

»Du weißt, was ich meine.«

Das tat ich.

Es folgte ein langer und schwerer Atemzug am anderen Ende der Leitung. »Hast du darüber nachgedacht, Kontakt zu ihr aufzunehmen?«

»Nein.« Natürlich hatte ich das. Unsagbar oft. In so vielen Nächten hatte ich an die Decke gestarrt und mir gewünscht, ich könnte mit ihr sprechen. Allerdings gab es einfach zu viele Gründe dafür, sie das Leben führen zu lassen, das für sie vorherbestimmt war. Genau wie dafür, sich nie wieder dem Schmerz zu öffnen, der daraus resultierte, wenn man sich selbst und dazu noch jemand anderen beinahe zerstörte.

»Warum nicht?«

»Was würde das bringen?« Es würde mir nur beweisen, dass sich rein gar nichts geändert hatte. Und das war angsteinflößender als jede Tür, die mir vor der Nase zugeschlagen werden konnte.

In diesem Moment klingelte es an der Tür.

Ich spähte um die Ecke in den Flur. Der Zugang zu dieser Etage war nur Leuten erlaubt, die auf eine Liste gesetzt worden waren, und den Menschen, die hier lebten. Und meine Nachbarn waren nicht gerade dafür bekannt, sich mal etwas Zucker zu leihen. »Ich muss los. Es ist jemand an der Tür.«

»Okay, wir sehen uns nächste Woche. Und denk drüber nach.«

»Mach ich.«

Ich warf einen Blick durch den Türspion und nahm einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen. Als ich die Tür öffnete, lächelte ich meine Besucherin an. Früher war sie mehr als jemand gewesen, der an der Tür klingelte und dann darauf wartete, dass ich ihr öffnete.

Alice stand im Flur. Sie trug den beigefarbenen Mantel, den ich ihr letztes Jahr gekauft hatte, obwohl die Blätter sich gerade erst rot färbten. Ihr blondes, glattes Haar hatte sie sich im Nacken zu einem Knoten festgesteckt.

Als ich ihr das erste Mal begegnet war, hatte ich geglaubt, dass ich endlich bereit für etwas Ernstes wäre. Sie war wunderschön, freundlich und unkompliziert. Und nach jenem Sommer war ich nur mit Frauen ausgegangen, die auf keinen Fall mit Bay verwechselt werden konnten. Als ich vor zwei Jahren etwas mit Alice getrunken hatte, war ich davon ausgegangen, dass dies einen Fortschritt bedeutete und ich endlich in der Lage sein würde, die verrückten, verworrenen Gefühle für Bay hinter mir zu lassen. Doch so war es nicht gewesen.

»Kann ich reinkommen?« Sie zog an ihrem Ohrläppchen, sodass ihr Ohrring klimperte.

Ich trat zurück. »Natürlich.«

Mit der überteuerten Kaffeemaschine bereitete ich ihr einen Cappuccino so zu, wie sie ihn mochte, und setzte mich ihr gegenüber in einen Stuhl. Die Stuhlbeine rutschten über den Marmorboden.

Wir hatten seit Monaten nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl wir völlig sang- und klanglos auseinandergegangen waren. Als sie an dem Abend gegangen war, war das beinahe lautlos vonstattengegangen. Kein dramatisches Geschrei, zerbrochene Gläser oder gewaltige Emotionen. Es war vorbei gewesen, und wir hatten es beide gewusst.

»Wie geht es dir?«

Da ich irgendetwas mit meinen Händen tun musste, nahm ich einen Schluck von meinem grünen Shake. Wir saßen uns wortlos gegenüber wie zwei Fremde, die miteinander allein gelassen worden waren, nachdem ihr gemeinsamer Freund auf die Toilette verschwunden war.

»Gut. Sehr gut sogar.« Ihre Tasse klirrte auf der Untertasse, als sie sie abstellte. Ein peinliches Schweigen kroch die Wände hoch und versuchte, dem Unbehagen im Raum zu entkommen. Ihr Lächeln wirkte höflich, aufrichtig, doch es war nicht das gleiche wie jenes, das sie mir geschenkt hatte, als ich ihr nach dem Umzug erzählt hatte, dass ich einen Ort zum Leben für uns gefunden hatte. Sie trug noch ihre Handschuhe und den Mantel, als wollte sie jederzeit bereit sein, aus dem Zimmer zu flüchten.

Willkommen im Club.

War es immer so unangenehm mit Verflossenen? Auch wenn es mit Bay vermutlich um einiges unangenehmer wäre, hatte zwischen uns stets eine gewisse Vertrautheit geherrscht, selbst wenn sie damit gedroht hatte, mir die Eier abzureißen.

Alice und ich waren beinahe achtzehn Monate lang zusammen gewesen. Nach drei Monaten Trennung fühlte es sich nun an, als hätten wir uns jahrelang nicht gesehen. Während ich ihr gegenübersaß, hatte ich das Gefühl, wir wären nie viel mehr als Bekannte gewesen.

»Wie läuft es denn so? Mir ist noch mehr Gerede über einen Trade zu Ohren gekommen.«

»Gerade eben habe ich deshalb mit Ernie telefoniert. Es finden Gespräche statt, aber noch ist nichts in trockenen Tüchern.« Der Wasserhahn tropfte. Warum war sie nach Monaten der Funkstille plötzlich hier aufgekreuzt? Bei dem Gedanken, dass sie womöglich wieder zusammenkommen wollte, wurde mir ganz schlecht. Wir hatten nicht zueinander gepasst. Das hatte ich ganz deutlich daran erkannt, dass sich nach unserer Trennung so gut wie nichts an meinem Leben geändert hatte. Sie hatte etwas Besseres verdient als einen Mann, der sie einfach gehen ließ, ohne dass es ihn fast umbrachte.

Ich dachte darüber nach, was ich noch sagen konnte. Es musste doch etwas geben – wie zum Beispiel ihren neuen Freund, der Wide Receiver für New York war. »Mac führt diesbezüglich auch gerade Gespräche, oder?«

Ihre Hände zuckten, sodass der Kaffee in ihrer Tasse überschwappte und ein paar Tropfen auf dem Kastanienholz der Tischplatte landeten. »Sorry.« Sie sprang auf und holte sich ein Küchentuch und einen Schwamm, bevor sie an den Tisch zurückkehrte. Nachdem sie ihre Handschuhe abgelegt hatte, wischte sie mit dem Schwamm über die nasse Stelle und trocknete sie anschließend mit dem Küchentuch, bevor sie beides in der Küche entsorgte. »Das tut er. Die Deadline ist schon in wenigen Monaten, also versuchen sie noch alle Details zu klären.«

Wenn sie ein Gesprächsthema vermeiden wollte, putzte sie immer. Sie hatte stets mit dem Kühlschrank angefangen, dann war mein Kleiderschrank gefolgt, und ihrer war zuletzt dran gewesen. Solche Macken fielen einem auf, wenn man eine Weile mit jemandem zusammen war.

»Du kannst es mir ruhig erzählen, Alice.«

Mit der Hand an der Schranktür, hinter der sich der Mülleimer befand, erstarrte sie. Die Tür schloss sich vollkommen lautlos. Hier gab es keine knallenden Türen. Alles war gedämpft und dezent, von den Farben über die Einrichtung bis zur Akustik. Die gesamte Einrichtung war klassisch und zeitlos gehalten, und ich hatte nach wie vor Angst, etwas auf den Sofas zu verschütten.

Mit kerzengeradem Rücken drehte sie sich um und kam auf mich zu, ihre Augen schimmerten feucht. »Ich weiß, unsere Trennung ist noch nicht sehr lange her. Daher wollte ich nicht, dass du es von jemand anderem erfährst.«

Sie löste die Hände, die sie vor sich gefaltet hatte. An einem ihrer Finger glitzerte ein beeindruckender Diamant. Seine Größe konnte es mit dem aufnehmen, den ich ihr gegeben hatte.

Ich ließ mir einen Moment Zeit. Dabei versuchte ich nicht, mich zu irgendeinem Gefühl zu zwingen. Ich prüfte jede Emotion, die mir durch den Kopf ging, ohne etwas Bestimmtes fühlen zu wollen.

Dann stand ich auf und nahm ihre Hand, um mir den Ring genauer anzusehen.

Ihre Finger zitterten, und ich bedeckte sie mit meinen. »Ich freue mich für euch beide.«

Ihr entfuhr ein schluchzendes Lachen, und sie wischte sich mit der freien Hand über die Augen. »Wirklich? Ich weiß, es ist zu früh und total verrückt. Ich habe nie …« In ihrem Blick stand absolute Ehrlichkeit. »Ich habe dich nie betrogen. Ich habe nicht mal an einen anderen gedacht, während wir zusammen waren.«

»Ich weiß.« So etwas würde Alice nicht tun. Sie war alles, was sich ein Mann nur wünschen konnte, egal ob als Freundin oder als Ehefrau. Nur eben nicht für mich. Unglücklicherweise hatte sie ihr ganzes Herz in unsere Beziehung gesteckt, und ich hatte angenommen, ich hätte das Gleiche getan. Das hatte ich jedoch nicht. »Mach dir wegen mir keine Sorgen. Ich freue mich für dich. Ich habe Fotos von euch gesehen. Ihr scheint perfekt zueinander zu passen.«

»Es ist Wahnsinn, wie schnell alles gegangen ist.« Sie grinste schief, in ihren Augen erkannte ich Unglauben und unverhohlene Freude. »Im einen Moment waren wir noch bei der Gala der Headstrong Foundation, und im nächsten hatten wir bereits drei durchgehende Wochen miteinander verbracht. In dem Monat bin ich zu ihm gezogen.«

»Manchmal weiß man einfach, dass es passt.« Ich ließ mir die Worte auf der Zunge zergehen. In ihnen lag weder Bitterkeit noch der saure Beigeschmack von Traurigkeit oder Reue. Stattdessen empfand ich Freude darüber, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihr geben konnte, was sie verdiente.

Und erst da traf mich die Trauer mitten in die Brust und versuchte, durch mein Brustbein zu brechen.

Alice entzog mir ihre Hand und schlang die Arme um mich. »Ich hoffe, du wirst sie wiederfinden.«

»Wen?« Mein ganzer Körper versteifte sich. Ich hatte Bay ihr gegenüber nie erwähnt. Abgesehen von Knox hatte ich mit niemandem über sie gesprochen. Nicht einmal mit LJ, Berk, Reece oder Nix. In all den Jahren hatten die Klatschzeitschriften nur einige triviale Fakten über uns beide ausgraben können. Wie zum Beispiel, dass wir auf dieselbe Highschool gegangen waren und dass eine der Schlägereien, in die ich am Anfang meiner Karriere verwickelt gewesen war, bei ihrem ersten Auftritt stattgefunden hatte. Ansonsten hatte es zwischen uns keine Verbindung gegeben.

Alice löste ihre Umarmung, bevor sie die Hände an meine Wangen legte. »Die Frau, an die du immer gedacht hast, während du mit mir zusammen warst.«

»Ich …«

Ihr Blick wirkte nicht verletzt. Traurigkeit angesichts dessen, was hätte sein können, schimmerte in ihnen, jedoch kein Schmerz. »Du musst nicht darüber sprechen. Ich möchte einfach nur, dass du glücklich bist. Du hast dich so bemüht, mir alles zu geben, was ich wollte. Aber du hast dir nie Zeit für die Dinge genommen, die du wolltest und verdient hast.«

Mir schnürte sich die Kehle zu, sodass ich kein Wort herausbekam.

Sie blickte mir mit ihren klaren blauen Augen entgegen, die von Mitgefühl und Besorgnis erfüllt waren. Vorsichtig neigte sie meinen Kopf und drückte mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie mich erneut umarmte. Ihr Wollmantel streifte mein Kinn.

Ich schlang die Arme fest um ihren Rücken. Ich hatte so viel Hoffnung in unsere Beziehung gesetzt, und nun erkannte ich, wie unfair dies ihr gegenüber gewesen war. Sie hatte es nicht verdient, als Beweis dafür zu dienen, ob ich nun endlich dazu fähig war, mich zu verändern, oder nicht. Allerdings war sie nicht mit der Absicht hergekommen, mir eine Ohrfeige zu verpassen. Und das, obwohl ich unsere Verlobung aufgelöst hatte. »Danke, Alice.«

»Nein, ich danke dir. Ohne dich wären Mac und ich uns nie begegnet. Ich denke, damit sind wir quitt.« Ihre Augen waren noch immer feucht, doch ihr Lächeln strahlte.

Ich räusperte mich und freute mich aufrichtig für sie. Dieses Gefühl hatte ich auch einmal verspürt – zweimal –, es war allerdings nicht genug gewesen. Ich hoffte, bei ihr wäre das anders. »Wann findet die Hochzeit statt?«

Sie steckte ihre Handschuhe in die Manteltaschen. »Am Ende der Saison.«

»Bekomme ich eine Einladung?«

Ihre Schuhe schlurften über den Boden. »Wenn du das möchtest, natürlich.«

Wir verabschiedeten uns mit einer weiteren Umarmung, und dann war ich wieder ganz allein in meinem stillen Apartment. Lange Zeit war mir die Stille ein Trost gewesen, eine Zuflucht. Sie hatte mir die Gewissheit gegeben, dass keine Gefahr um die Ecke lauerte und kurz davor war, mich zu verbrennen und völlig verkohlt zurückzulassen.

Eine ganze Weile lang war ich der Drache gewesen. Als ich in der leeren Wohnung des Trainingslagers gesessen hatte, nachdem ich sie vollkommen verwüstet hatte, hatte ich Bays Gitarre fest in meiner Hand gehalten und begriffen, zu was ich geworden war. Ich hatte es begriffen, war aber nicht imstande gewesen, das zu ändern. Die Abwärtsspirale hatte länger angedauert, als es der Fall hätte sein sollen.

Und das bevorstehende Without-Grey-Konzert ließ all die alten Erinnerungen hochkommen. Nun fühlte sich mein Apartment nicht länger wie eine Zuflucht an, sondern vielmehr wie ein Versteck oder ein Ort, an den ich verbannt worden war.

Nachdem ich im College mit den Jungs, danach dann mit Knox und schließlich mit Alice zusammengewohnt hatte, beruhigte ein leeres Haus mich nicht länger. Es erinnerte mich lediglich an alles, was ich verloren hatte.

Nun fühlte es sich verlassen an.

3

Bay

Das Scheinwerferlicht fegte über die Bühne.

Without Grey starteten mit dem vorletzten Song ihres Sets.

Holden trat vor mich und versuchte, den Blickkontakt zu mir zu halten, während ein Heer von Menschen – unter anderem Leute aus meinem Team – durch den Backstage-Bereich wuselte.

»Du performst heute Abend zwei Songs. Der erste ist ›Sweetest Goodbye‹, den zweiten werden sich die Gewinner der Wohltätigkeitsauktion aussuchen.«

Eine Hand wurde mir von hinten ins Kleid gesteckt. Die meisten Menschen waren es nicht gewohnt, dass sie im Dunkeln hinter einer Bühne unvermittelt betatscht wurden, doch nach all der Zeit erschien mir so einiges nicht mehr seltsam. Auch an meinem Haar fummelte jemand herum, und jemand anderes frischte mein Make-up auf. Als ich den Fuß hob, befestigte jemand einen Riemen an meinem Knöchel. Ich hasste diese Schuhe.

Dann wurde mir noch ein In-Ear-Monitor angelegt, den ich zurechtrückte, indem ich ihn weiter hineinschob. Die Klänge der Instrumente auf der Bühne drangen durch das kleine Gerät an mein Ohr, ohne dabei verzögert zu klingen oder von der tobenden Menge gestört zu werden. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ruhe legte sich über mich – bis sie von einem stechenden Schmerz in meiner Seite abrupt zerstört wurde.

Scharf sog ich die Luft ein, unterdrückte jedoch ein Japsen.

»Sorry, eine der Pailletten hat sich gelöst.« Emily hielt zwei Nadeln und einen Faden fast krampfhaft in der Hand.

Erneut schloss ich die Augen, um mich zu erden.

»Bay, kannst du bitte die Augen aufmachen? Du musst hochgucken, damit ich dich fertig schminken kann.«

Ich atmete zischend aus und tat, wie mir geheißen.

»Im Anschluss an die Zugabe wurde um Fotos mit den Gewinnern der Auktion gebeten. Du kannst ablehnen, da es nicht zum Paket gehört. Ich möchte nur wissen, wie ich auf die Anfrage antworten soll.« Holden stand neben mir, das Leuchten des Tablets erhellte sein Gesicht.

»Um welche Stiftung geht es?«

Die letzten Pinselstriche, Griffe ins Haar und Ausbesserungen meines Outfits waren erledigt, und das erste Mal seit gefühlten Stunden fasste mich niemand mehr an. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen war nicht immer so toll, wie einem weisgemacht wurde.

Er überprüfte die Informationen auf seinem Tablet. »Der Schwerpunkt liegt auf Kindern, die häusliche Gewalt erfahren haben. Es wurden über …«

»Natürlich. Wie viel Zeit habe ich dafür?«

»Es wäre der letzte Termin für heute, allerdings haben wir morgen früh um neun das Fotoshooting. Das heißt also, du musst bis fünf gegessen haben, damit du dein Workout schaffst und Haare und Make-up noch rechtzeitig fertig werden.«

»Können wir es nicht einfach mit einem Gerade-aus-dem-Bett-gefallen-Look versuchen? So was ist momentan doch in, oder?« Von so vielen Menschen umgeben zu sein machte mich ganz klaustrophobisch, ganz zu schweigen davon, dass ich in Kleider eingenäht wurde und mir riesige Metallklemmen ins Fleisch kniffen, nur damit alles perfekt saß. Manchmal wollte ich einfach eine Jogginghose tragen, mir mit den Fingern durchs Haar fahren und eine ganze Woche lang nur Cheetos essen, ohne dass mich jemand belehrte. Doch das Einzige, was mir zugestanden wurde, waren die zwei Tage am Anfang meiner Periode, an denen ich mich immer fühlte, als würden mir die Organe aus dem Leib gerissen. An Tagen, an denen ich ein Konzert gab, musste ich mich allerdings bis sechzehn Uhr von meiner Wärmeflasche getrennt haben und auf der Bühne die Zähne zusammenbeißen.

»Du bist urkomisch.« Seine Stimme klang flach und ausdruckslos.

Ich lachte. »Das Ganze ist nur deshalb auszuhalten, weil ich weiß, dass du sogar noch früher aufstehen musst, um mich rechtzeitig ans Set zu bekommen.«

Er grummelte vor sich hin.

Ich hielt mir als Antwort darauf eine Hand ans Ohr, wobei ich der Visagistin um ein Haar meinen Ellenbogen ins Gesicht rammte. »Sorry, kannst du das wiederholen? Ich habe dich nicht gehört.«

Er räusperte sich und beugte sich zu mir vor. »Ich habe gesagt, du zahlst mir eindeutig nicht genug.«

»Als du gestern Abend den Champagner geschlürft hast, der mir geschickt wurde, hast du dich aber nicht beschwert.«

»Wenn ich beschwipst bin, bin ich glücklicher.« Er zuckte die Achseln und kritzelte etwas auf sein Tablet.

Meine Füße pochten. Mein kleiner Zeh schrie förmlich vor lauter Schmerz, den die wunderschönen Schuhe mit der roten Sohle, dem glitzernden Kristallbesatz und den fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen verursachten. Allerdings musste selbst ich zugeben, dass sie atemberaubend aussahen.

»Geht’s dir gut?« Holden beäugte mich aufmerksam. Das taten sie alle.

»Alles bestens. Ich fühle mich gut. Ist ja nicht mal meine Show heute. Nur zwei Songs.« Ich hob ein Knie nach dem anderen, um mich selbst zu motivieren. Die Leute waren nicht hier, um mich zu sehen. Sie waren wegen Without Grey gekommen. Eine halbe Stunde, und ich würde wieder im Wagen auf dem Weg ins Hotel sitzen, wo ich mich hinlegen und schlafen können würde.

Auf der Bühne setzten die Scheinwerfer schlagartig aus, als die Jungs alle gleichzeitig in die Höhe sprangen.

Camden nahm die Flasche Wasser und das Handtuch entgegen, die ihm von einem Roadie gereicht wurden, der auf die Bühne eilte. Das Mikrofon steckte er wieder in den Ständer, bevor er gierig das Wasser trank. Im Anschluss wischte er sich mit dem Handtuch über Gesicht und Nacken.

Wenn ich während meiner Auftritte eine Pause einlegte, musste ich mich zum Trocknen buchstäblich vor einen Ventilator stellen. Denn sollte ich mir dabei je ins Gesicht fassen, würde ich aussehen wie ein irrer Clown aus dem All.

»Test, Test. Kannst du alles gut hören?« Eine körperlose Stimme sprach durch meinen Ohrhörer zu mir.

Mein Magen vollführte ein paar Saltos. Meine Finger wurden taub. Einer der Roadies drückte mir ein Mikrofon in die Hand.

»Ja, ich kann alles hören.«

»Sind die Einstellungen okay?« Die blecherne Stimme des Tontechnikers dröhnte in meinem Ohr.

»Wenn du die Höhen etwas runterdrehen könntest, wäre das super.«

»Wir haben heute etwas ganz Besonderes für euch, Philly. Wir kennen diese Künstlerin schon seit über zehn Jahren. Sie hat auf dem Album ›Hometown Whispers‹ die Gitarre für den Song ›Burnout‹ gespielt.«

Ein Raunen ging durch die Menge.

Vielleicht würde ich diesmal … keine Chance. Holden stand mit dem Mülleimer bereit.

Emily hielt mir die Haare.

Und ich vergrub den Kopf in besagtem Eimer. Das dürftige Abendbrot, das ich auf der Fahrt hierher im Auto runtergeschlungen hatte, kam wieder hoch.

Nachdem das Würgen ein Ende genommen hatte, wurde mir umgehend ein Handtuch vors Gesicht gehalten. Ich tupfte mir damit den Mund ab. Holden hielt mir eine offene Wasserflasche hin. Ich gurgelte ein wenig und spuckte die Flüssigkeit dann wieder aus. Ihm wurde alles abgenommen, und die Stylisten drängten sich um mich.

Emily gab mir ein Dragee für frischen Atem.

Ich legte es mir auf die Zunge, und sofort überkam mich der beißende Pfefferminzgeschmack. »Tut mir leid. Ich war mir sicher, dass das heute nicht passieren würde.«

»Ist okay. Ich habe der Visagistin gesagt, dass sie nur den Lipliner auftragen soll.« Sie lachte.

Anscheinend hatten alle außer mir damit gerechnet.

»Und weil ihr das absolut beste Publikum seid, haben wir heute Abend für euch …« Camden streckte den Arm in meine Richtung aus.

Ich setzte ein Lächeln auf und trat an meinem Team vorbei, um schnell auf die Bühne zu gelangen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Allerdings nicht wie üblich vor einer Show, sondern mehr wie …

In diesem Augenblick kollidierte mein Blick am Bühnenrand mit seinem. Er wirkte so verändert und dennoch genauso wie früher, sodass es sich anfühlte, als hätte mir jemand einen Speer in die Seite gerammt. Sechs Jahre. Sechs Jahre war es her, dass ich ihm erneut meine Liebe gestanden und ihn anschließend verlassen hatte. Vor sechs Jahren war die Gitarre meines Dads auf dem Weg von Illinois nach O’Hare in meinem Schoß gelandet. Die Gitarre, die Dare mir genommen hatte. Die Gitarre, die Keyton mir zurückgegeben hatte. Und vor sechs Jahren hatte ich ihm eine Nachricht geschickt, da ich gehofft hatte, ihn wiederzusehen. Und er hatte mich ignoriert.

Wer war er jetzt? Dare oder Keyton? Oder jemand völlig anderes?

»Bay!«

Ich strauchelte. Mein Absatz blieb an einem der festgeklebten Kabel hängen, die über die Bühne liefen.

Ruckartig streckte er die Hände vor, doch ich fing mich wieder und verwandelte das Stolpern in einen lockeren Lauf auf die Bühne, obwohl meine Zehen merklich protestierten.

Ich hob einen Arm über den Kopf und winkte dem Menschenmeer zu, das das Stadion füllte.

»Hallo, Philly. Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich die Party crashe, oder?« Mein Magen verkrampfte sich, und ich warf einen Blick über die Schulter.

Im Schatten der Seitenbühne überragte er alle um mindestens einen Kopf. Seine Schultern waren noch breiter als zuvor. Das passierte wohl, wenn man Profi-Footballer war.

Ist seine Verlobte heute auch da? Die Fotos des Antrags waren auf den Seiten derselben Zeitschriften abgedruckt gewesen wie die Bilder von mir direkt im Anschluss an die Grammys. Dieser Tag hatte nach Double-Chocolate-Eiscreme mit Brownie-Stückchen verlangt. Doch er hatte glücklich ausgesehen. Die beiden hatten einander verliebt in die Augen gesehen, und sie hatte allen ihren funkelnden Ring präsentiert, indem sie die Hand auf seine Brust gelegt hatte.

Während meiner ersten Tour damals mit Without Grey hatte ich die Bühne betreten und darauf gehofft, dass die Auftritte das ausgleichen würden, was ich verloren hatte. Doch die Zweifel, die ich vor sechs Jahren sicher in einem Safe verwahrt hatte, hämmerten immer stärker gegen das Metall und machten es mir schwer, meine eigenen Gedanken zu hören.

Camdens Stimme riss mich aus meinem Gedankenchaos. »Hast du heute vor, Gitarre zu spielen?« Er winkte einen Roadie heran.

Das Jubeln der Menge ließ die Bühne unter meinen Füßen vibrieren.

Meine Lippen teilten sich, und ich musterte die wunderschöne Martin-Gitarre, die über seiner Schulter hing, bevor ich die anschaute, die der Roadie in den Händen hielt. Schließlich blickte ich auf meine Nägel hinab. Lachend schüttelte ich den Kopf und hielt sie in seine Richtung. »Sehen die hier aus, als könnte ich damit Gitarre spielen?«

Morgen hatte ich ein Shooting für die Werbekampagne eines Parfüms, und die Bedingung, dass ich mit makellosen Nägeln kam, war Bestandteil des Vertrags. Das bedeutete auch, dass ich seit einigen Wochen nicht mehr gespielt hatte. Fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Ich würde mich danach erkundigen müssen, wann ich das nächste Mal eine Pause hatte. Vielleicht durfte ich die künstlichen Nägel entfernen lassen, wenn ich mehr als nur ein oder zwei Tage für mich hatte.

»Sehen eher wie die Nägel eines Superschurken aus.«

Ich warf ihm einen verspielt-hinterhältigen Blick zu und strich mir mit den Nägeln übers Kinn. »Ich habe so meine Momente. Und jetzt lass uns was für deine wunderbaren Fans spielen, die heute hier sind.«

Aus der Menge schrien uns einige Fans entgegen: »Ich liebe dich, Bay.« Und: »Ich liebe deine Frisur.«

Erneut winkte ich und warf obendrein noch mein Haar nach hinten. Sämtliche Blicke waren auf mich gerichtet, was es mir immer sehr schwer machte, mich zu konzentrieren, wenn ich nicht gerade sang.

»Irgendwelche Wünsche?«, rief Camden dem Publikum mit ausgestreckten Armen zu.

Es wurde so ziemlich jeder unserer Songs gerufen. Darunter waren alle, die Holden im Voraus genehmigt hatte. Den Blick hielt ich auf die Masse vor mir gerichtet, das strahlende Lächeln weiterhin im Gesicht.

Doch ich spürte seinen Blick auf mir, die allgegenwärtige Hitze, mit der er hier vor dieser Menschenmenge Schichten von mir freilegte, von denen ich gedacht hatte, dass sie nicht offenbart werden konnten.

Die Jungs von Without Grey hatten sich geeinigt, und die Wahl war zufällig genau auf den Song gefallen, der bereits zuvor festgelegt worden war. Schon lustig, wie das so funktionierte. Doch ich verstand es. Selbst nach nur drei Alben war es schwierig, sich an jeden einzelnen Song des gesamten Repertoires zu erinnern, vor allem wenn man ihn schon eine Weile nicht mehr gesungen hatte.

Die Band feierte die Wahl und bat die Person aus dem Publikum auf die Bühne, die am lautesten gebrüllt hatte.

Währenddessen riskierte ich einen Blick zur Seitenbühne. Er stand dort im Anzug neben den Gewinnern der Auktion. Für jemanden von seiner Statur musste es unmöglich sein, Kleider von der Stange zu kaufen. Außer man wollte aussehen wie der Hulk kurz vor einem Wutanfall.

Er hatte sich nicht sehr stark verändert. Er wirkte älter, kultivierter. Die Zähigkeit der Highschool und die Härte des Colleges hatten sich in die Robustheit eines Erwachsenen verwandelt. Der glattrasierte Look betonte seinen Kiefer und den kräftigen Nacken, der von einem gestärkten marineblauen Kragen umgeben war.

Hat er mich vermisst?

Schmerz machte sich in meiner Brust breit. Allerdings war er nun verlobt und würde bald heiraten. Wann fand die Hochzeit statt? Waren sie womöglich bereits verheiratet? Nach der Neuigkeit über seine Verlobung hatte ich mir geschworen, dass ich mir für den Rest meines Lebens keine Klatschnachrichten mehr ansehen würde.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Publikum zu, das vor mir im Schatten lag. Die Handybildschirme der Fans erhellten den Raum wie ein riesiger Schwarm Glühwürmchen. In meinem Inneren machten sich die Leichtigkeit und das Kribbeln breit, die ich immer spürte, wenn ich die Bühne betrat. Auch wenn ich mich vorher jedes Mal übergab. In diesen Momenten sang ich die Lieder, die ich zuvor in langen Nächten in einem Studio oder stundenlang im Tourbus gesummt hatte. Wenn die Worte lebendig wurden, war es das alles wert.

Doch das Wissen, dass diese Lichter zu Menschen gehörten, brachte die Nervosität umgehend zurück. Fest packte ich das Mikrofon und schloss die Augen, um mich auf den Text zu konzentrieren, auf die Geschichte, die erzählt werden musste, auch wenn ich das bereits Tausende Male getan hatte.

Austin zählte den Takt mit seinen Drumsticks an, und wir starteten mit »Sweetest Goodbye«. Dieses Lied hatten wir zusammen für mein erstes Album geschrieben, und es hatte mir dabei geholfen, die Charts zu erklimmen.

Alle paar Takte musste ich einfach nachsehen, ob er noch da war.

Die Gewinner der Auktion tanzten, klatschen und streckten die Hände in die Höhe.

Er stand neben ihnen wie ein Babysitter oder Bodyguard, nicht wie jemand, der die Show genoss. Doch vielleicht hatte er das, bevor ich aufgetaucht war.

Während das Publikum applaudierte und jubelte und Austin die letzten Takte auf den Drums schlug, lief Lockwood zur Seitenbühne, damit ihm die Gewinner ihren Wunschsong mitteilen konnten, bevor er sie auf die Bühne führte. Sie bebten förmlich vor Aufregung, und ich umarmte sie kurz, während ich zu Keyton blickte.

»Wir haben hier ein paar großartige Leute, die einen Haufen Geld an die Headstrong Foundation gespendet haben. Gebt ihnen bitte einen großen Without-Grey-würdigen Applaus.«

Das Toben der Menge traf mich wie ein übersteuerter Bass. Es würde wirklich niemals jemand sagen können, dass die Fans von Without Grey nicht begeistert von Wohltätigkeit waren.

Keyton blieb allerdings an der Seitenbühne stehen.

»Wir würden gerne ›Craving Chaos‹ hören«, rief die Zwanzigjährige, die zusammen mit ihren Eltern da war, ins Mikrofon.

Camden wandte sich der Band und mir zu. »Glaubt ihr, das lässt sich einrichten?«

Ich hob mein Mikrofon. »Ja, verdammt.«

Erneut ertönte tosender Jubel, und das Stadion war erfüllt von funkelnden Handylichtern.

Wir legten direkt los, und ich schloss die Augen, um die Nervosität zu verdrängen. Dieses Mal war es einfacher, da er hier war – nicht nur in meinem Kopf, sondern live und in Farbe.

Nach dem zweiten Song lief ich über die Bühne bis ganz nach vorne und schluckte dabei den Kloß in meinem Hals herunter.

»Was haltet ihr davon, wenn ich noch einen dritten Song singe?«

Das Publikum kreischte, und die Bühne bebte unter meinen Füßen.

Durch den In-Ear-Monitor in meinem Ohr hörte ich mehrere Stimmen, die wissen wollten, was ich da tat. Also zog ich ihn heraus und wandte mich mit einem breiten Lächeln an Camden, bevor ich mir auf die Lippe biss und sagte: »Bring mich bitte nicht um.«

Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ein Rückblick. Von meinem ersten Album. Den Song spielte ich immer als Akustikversion. Seinen Song.

Camden lachte und wanderte über die Bühne zu mir herüber, bevor er den Kopf sinken ließ, denn selbst mit meinen Absätzen war er noch um einiges größer als ich.

Ich flüsterte ihm ins Ohr. Sein Blick weitete sich, bevor er über seine Schulter zur Seitenbühne blickte und nickte. Dann lief er über die Bühne, um den anderen davon zu erzählen. Den Song hatten wir in den letzten Jahren bereits einige Male gespielt. Einfacher Tonartwechsel, simple Melodie. Es war mein erster Nummer-eins-Hit.

Ich schloss die Augen und legte beide Hände ans Mikrofon. Der Stoff, mit dem das Mikrofon umwickelt war, passte zu meinem Outfit. Holden hatte dafür gesorgt, dass mein Mikrofon immer damit ausgestattet war, nachdem es mir zum fünften Mal aus der verschwitzten Hand gerutscht war.

Der Song startete mit einem Gitarrenakkord, und ich öffnete die Augen, um das Meer aus Menschen zu betrachten. Auch nach all dieser Zeit war es immer noch sein Blick, der mich durch meine Auftritte trug. Egal, was passierte, ich wusste immer, dass es zumindest eine Person gab, die mich angesehen hatte, als wäre ich der einzige Mensch auf dieser Welt.

Daran klammerte ich mich fest, während ich auf einer Bühne nach der anderen tief durchatmete und das Scheinwerferlicht den Anfang einer Show ankündigte, nachdem ich mich übergeben hatte.

In meinen Wimpern glänzten Tränen, doch ich blinzelte sie fort. Aus diesem Grund spielte ich diesen Song nicht länger live. Das überwältigende Gefühl unserer Vergangenheit prallte auf meine Gegenwart und machte mir das Atmen schwer. Doch er musste ihn jetzt hören, er musste wissen, dass ich immer noch an ihn dachte.

Es war ungerecht und dumm, genau wie damals, als die Angst in mir zu groß gewesen war, um der Mittelpunkt seiner Welt zu sein. Um zu genau darüber nachzudenken, was aus uns hätte werden können.

Er würde bald heiraten. Ich wünschte einfach, ich könnte mit ihm reden und ihm sagen, wie sehr ich mich freute, dass er den Fels in der Brandung gefunden hatte, der ich nicht für ihn hatte sein können. Dann würde ich diese Tür für immer schließen können, in dem Wissen, dass er sein Glück gefunden hatte. Seine Liebe.

»Danke, Philly.« Mit einem Lächeln winkte ich der Menge zum Abschied zu.

Als ich mich der Seitenbühne zuwandte, sah ich noch, wie seine Schulter hinter dem Vorhang verschwand. Also rannte ich in Richtung des nun verlassenen und dunklen Bereichs.

Seine Gruppe wurde von einem Typen mit einem Headset weggeführt.

Auf der Bühne setzte erneut Musik ein.

»Da … Keyton!« Mein Rufen wurde von Austins hektischem Trommeln übertönt.

»Bay!« Holden eilte mir nach.

Trotz High Heels stellte ich mich auf die Zehenspitzen, wie ich es vor einigen Monaten für eine Werbekampagne für Chanel getan hatte, und rannte ihm nach. »Keyton!« Er neigte den Kopf so, als hätte er mich gehört, blieb jedoch nicht stehen oder drehte sich um.

Köpfe wurden in meine Richtung gedreht, und ich konnte von Glück reden, dass mich niemand zu Boden stieß, weil ich so einen Lärm verursachte.

Jemand hielt ihnen den schwarzen Vorhang auf.

Mein Herz raste und schlug heftig gegen meine Rippen. »Keyton!«

Er blieb stehen und drehte sich um. Genau wie die Leute um ihn herum, die mich allesamt fragend anblickten.

Ich kam schlitternd vor ihm zum Stehen und strauchelte.

Er machte keinerlei Anstalten, mich vor einem Sturz auf die Nase zu bewahren.

Während ich ihn anstarrte, wurde mein Mund trockener als eine wochenalte Kontaktlinse. Es wäre gut gewesen, wenn ich mir vorher überlegt hätte, was ich sagen wollte. Mist.