The Moment I Fell For You - Maya Hughes - E-Book + Hörbuch

The Moment I Fell For You Hörbuch

Maya Hughes

3,0

Beschreibung

"Ihre Stimme war einfach vollkommen. Sie brachte Dinge zum Vorschein, die so tief versteckt waren, dass sie mir Angst einjagten."

Für einen kurzen Moment fühlt es sich an, als würde Dares Welt stillstehen. Als der Highschool-Footballspieler eines Abends seine Nachbarin Bay singen hört, löst ihre Stimme etwas in ihm aus, das er noch nie gefühlt hat. Eigentlich kennt Dare seine Mitschülerin kaum: Die beiden bewegen sich nicht im gleichen Freundeskreis und Bay gehört ganz sicher nicht zu den begeisterten Fans, die Dare auf dem Football-Feld anfeuern. Doch nun gehen ihm Bays Stimme und die Gefühle, die sie in ihm auslöst, einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und je mehr er über Bay erfährt, desto faszinierter ist Dare von ihr. Kurz vor dem Highschool-Abschluss bleibt ihm aber nicht viel Zeit, das Herz der Frau zu erobern, die seines so sehr berührt hat ...

"Ihr müsst dieses Buch lesen, wenn ihr New-Adult-Geschichten liebt!" NADINE BOOKAHOLIC

Band 1 der LOVING-YOU-Trilogie

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:9 Std. 47 min

Sprecher:Wiebke BierwagVincent Fallow
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

Die Autorin

Die Romane von Maya Hughes bei LYX

Impressum

Maya Hughes

The Moment I Fell For You

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck

Zu diesem Buch

Für einen viel zu kurzen Moment fühlt es sich an, als würde Dares Welt stillstehen. Als der attraktive Highschool-Footballspieler eines Abends in seinem Garten steht, hört er etwas, das ihn vollkommen aufwühlt: den Gesang seiner Nachbarin Bay. Ihre Stimme und die Gefühle, die sie in ihm auslöst, gehen Dare einfach nicht mehr aus dem Kopf, und er spürt den Drang, mehr über Bay zu erfahren. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn sie besuchen zwar dieselbe Highschool, bewegen sich aber in unterschiedlichen Freundeskreisen. Und während Dare für seine Erfolge auf dem Football-Feld gefeiert wird, gehört Bay ganz sicher nicht zu denjenigen, die ihn anfeuern oder gar anhimmeln. Im Gegenteil – sie hat nicht nur die Fähigkeit perfektioniert, nicht aufzufallen, sondern scheint Dare und seine plötzliche Aufmerksamkeit auch absolut nicht zu mögen. Doch Dare lässt sich nicht entmutigen. Er hat nur drei Monate, bis sich ihre Wege nach dem Abschluss trennen, und ist fest entschlossen, seiner Faszination für Bay auf den Grund zu gehen …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die potenziell triggern können. Diese sind:

Erfahrungen von Tod, Verlust und Trauer; Gewalt in der Familie; ausgrenzende Erfahrungen in der Schule

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

1

Bay

»Wenn du dieses Baby in meinem Zimmer bekommst, verzeihe ich dir das nie.« Ich trug einen weiteren Karton aus dem Flur in mein Zimmer. Das neue Studentenwohnheim war als Vorbereitung für das Sommertrainingslager der Los Angeles Lions frisch gestrichen worden – weiß mit einem marineblauen Streifen in der Mitte.

Felicia legte schützend eine Hand auf ihren gerundeten Bauch, der über Nacht noch größer geworden zu sein schien, und öffnete einen Karton, auf dem mein Name stand. Die Einzimmerwohnung der Wohnheimleitung gehörte jetzt mir, da Felicia mit ihrem Ehemann zusammengezogen war, der gerade seinen Doktor machte.

»Seit drei Generationen ist jedes Franklin-Kind mindestens zwei Wochen zu spät gekommen. Ich denke, du brauchst dir keine Sorgen machen.«

Ich stellte den Karton kurz auf meinem Schreibtischstuhl ab. »Trotzdem bist du in der fünfunddreißigsten Woche, es könnte jeden Moment so weit sein.«

»In dem Fall darfst du meinen Job als Heimleitung übernehmen.«

»Willst du, dass ich schon am ersten Tag kündige?«

»Du bist meine rechte Hand, du kannst nicht kündigen. Oder, Becca?« Sie streichelte sich über den Bauch und schaute mich mit ihrem Hundeblick an.

»Du zeigst ihr schon im Mutterleib, wie der Hase läuft, was?« Den Karton ließ ich auf dem Boden neben meinem Bett stehen. »Man sollte ja meinen, dass uns wenigstens richtige Betten zustehen würden.«

Sie lachte. »Hier bekommt keiner eine Sonderbehandlung. Nicht mal die Football-Spieler. Bereite dich besser jetzt schon auf eine Menge Beschwerden darüber vor, dass sie die ›guten‹ Betten brauchen. Als hätten wir hier irgendwo Kingsize-Betten versteckt.«

»Warum kommen die überhaupt her? Ich hätte gedacht, Profispieler schlafen während ihres Trainings in Fünf-Sterne-Hotels oder so.«

»Nö. Anordnung der Coaches. Auf einem fast leeren Campus gibt’s weniger Ablenkungen. So kann man die Spieler besser im Auge behalten, und sie haben keinen Grund, das Gelände zu verlassen, da sich Fitnessstudio, Football-Feld und Verpflegung an einem Ort befinden.« Sie lehnte sich rüber und flüsterte mit viel zu lauter Stimme. »Außerdem ist es billig.« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Verhältnismäßig billig.«

»Ich habe noch drei Kartons.«

»Hol dir einen Rollwagen. Warum trägst du die alle einzeln?« Sie öffnete meinen Koffer und fischte einen meiner Slips heraus. »In so was habe ich auch mal reingepasst.«

Ich riss ihr den Slip aus der Hand und stopfte ihn in eine leere Schublade. »Finger weg. Wenn du unbedingt beim Auspacken helfen willst, dann nimm dir die Kartons vor.«

»Hey, ich dachte, ich wär hier der Boss.«

»Ein Boss, der seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen.«

Ich joggte die Steintreppen an der Rückseite des Gebäudes hinab. Wenigstens war ich im Erdgeschoss und musste mein Zeug nicht mehrere Treppen hochschleppen. Der Nachteil daran war allerdings, dass mein Zimmer zum Innenhof rausging, wo sich am Wochenende die Feiernden versammelten. Ich würde mir ein ausgeklügeltes Seilzugsystem ausdenken müssen, um ihnen aus dem Weg gehen zu können. Wobei es in den Sommerferien hoffentlich nicht ganz so schlimm werden würde.

Es war seltsam, hier zu sein, obwohl ich keine Studentin mehr war. Ich arbeitete jetzt hier, wenn auch nur übergangsweise. Mein letzter Sommer auf dem Campus. Die Abschlussfeier war vor weniger als einer Woche gewesen, ich war jetzt eine echte College-Absolventin und offiziell erwachsen. Nun gab es kein Entkommen mehr vor der realen Welt. Aber ich fühlte mich nicht anders als vorher. Na ja, wenn man mal von der erdrückenden Panik absah, ausgelöst von dem Gedanken daran, dass ich jetzt erwachsen war und trotzdem nicht wusste, was zur Hölle ich mit meinem Leben anfangen sollte.

Ich schnappte mir den letzten Karton aus meinem Auto und schloss den Kofferraum. An meinem Rückspiegel hing das Schild, das es mir übergangsweise erlaubte, hier zu parken. Sobald ich die letzte Kiste drinnen abgeliefert hatte, würde ich umparken müssen.

Ein älterer Mann in Windjacke und Khakihose hielt mich auf dem Weg die Treppe hoch auf. Sein gesunder Teint ließ darauf schließen, dass er viel Zeit draußen verbrachte.

»Entschuldigen Sie, ich bin von den L. A. Lions. Man hat mir gesagt, ich soll nach jemandem mit einem hellgrünen T-Shirt Ausschau halten.«

Ich blickte auf mein grünes Mitarbeiter-Shirt herab. »Das bin dann wohl ich. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Soll ich das für Sie tragen?« Er zeigte auf den Karton.

»Der ist nicht schwer. Außerdem hab ich es nicht weit.« Ich nickte in Richtung meiner offen stehenden Tür.

»Einige der Spieler kommen heute schon an, aber wir haben bisher nur die Schlüssel für die Trainer. Könnten wir noch die Schlüssel für die anderen Räume bekommen?«

»Natürlich. Die Wohnheimleitung und ich geben sie Ihnen gerne. Dafür müssen Sie nur ins Büro gehen, das sich genau beim Haupteingang befindet, und dort die Zimmernummern heraussuchen. Die Zimmer sind gestern schon alle vorbereitet und inspiziert worden, es ist also alles bezugsfertig.«

Er nickte und ging.

Ich betrat mein Zimmer.

»Was bedeutet Dare?« Felicia wedelte mit einem Notizbuch mit vergilbten, gewellten Seiten vor ihrem Gesicht herum.

Mir rutschte der Karton aus den Händen und knallte auf den Boden, sodass meine Lehrbücher und der ganze andere Krimskrams herausfiel.

»Warst du früher Fan von Daredevil? Bist du ein Comic-Nerd oder so was?«, neckte sie.

Während sie weiter durch das grün-weiße Heft blätterte, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Wäre es doch bloß irgendetwas Albernes oder Peinliches, etwas Belangloses, das man schnell vergaß. Stattdessen enthielt das Büchlein einen Querschnitt meines gebrochenen Herzens. Die Kanten des Papiers waren wellig von all den Tränen, die ich mir geschworen hatte, nie wieder zu vergießen.

Ich sprang über die Box mit den ausgeschütteten Sachen und riss ihr das Heft aus der Hand. »Das geht dich nichts an.«

Sie zuckte zurück.

Jetzt, wo ich das Notizbuch in der Hand hielt, beruhigte sich mein Herzschlag allmählich wieder. Doch mein Atem kam stoßweise, und meine Finger zitterten.

Nun klang Felicia besorgt. »Tut mir leid, Bay.« Sie musterte mich verwirrt, während ich mich zu beruhigen versuchte.

Ich schob das Heft unter einen Stapel Bücher, holte einmal tief Luft und drehte mich dann mit einem breiten Lächeln wieder zu ihr um. »Nein, mir tut es leid. Ist kein Ding.«

Sie griff sich an den Bauch, und ich fühlte mich gleich noch schlechter.

Ein Klopfen durchbrach den unangenehmen Moment.

»Entschuldigen Sie, Miss. Ich habe die Zimmernummern. Einer der Spieler ist schon angekommen, er wird gleich hier sein.« Der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und den freundlichen Augen stand in der Tür.

Ich klopfte mir die Hände an der Hose ab. »Natürlich. Das ist Felicia, die Wohnheimleitung.«

Felicia setzte ein professionelles Lächeln auf. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie schüttelte ihm die Hand.

»Ich bin Hank. Ich bin der Assistenztrainer für die Tight Ends. Wie war noch Ihr Name?«

»Bay.« Der Klang der tiefen Stimme durchfuhr mich, als wäre ich von einem Pfeil getroffen worden.

In der Tür stand ein junger Mann, der einerseits so anders aussah als in meinem letzten Jahr an der Highschool und andererseits noch so sehr wie damals, dass es wehtat. Ich spürte einen scharfen Stich in der Brust.

»Dare.«

2

Dare

Sie sah immer noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Es war beinahe wie damals, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, und mir kamen fast die Tränen.

Es war ewig her. Ohne die Zeichnungen von ihr in meinem Skizzenbuch hätte ich geglaubt, dass ich sie mir nur ausgedacht hätte. Dass sie nur ein Produkt meiner Fantasie wäre, das mir geholfen hatte, die dunkelsten Zeiten meines Lebens zu überstehen.

Aber jetzt stand sie wahrhaftig vor mir. Und sie starrte mich mit demselben Hass und derselben Wut an wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte. Vor diesem verhängnisvollen Tag, an dem ich ihr und mir selbst das Herz gebrochen hatte, war sie das Mädchen gewesen, von dem ich meinen Blick nicht hatte abwenden können.

Vier Jahre zuvor.

Dumpfer Schmerz pochte in meinem Unterarm. Vermutlich war der Knochen bei dem Schlag, den ich vorhin geblockt hatte, geprellt worden. Er hatte mich erwischt, als ich es am wenigsten erwartet hatte. Ich war nachlässig geworden, viel zu sorglos. Mein eigenes Zuhause war nicht sicher, solange er da war.

Die einzigen Geräusche in der Garage waren das Pendeln der Glühbirne über mir und mein abgehackter Atem.

Der polierte Lack meines Football-Helms reflektierte das Licht und warf wilde Muster an die Wände, sodass der Raum wirkte wie ein abgefuckter Nachtclub. Ich beugte mich vor und packte das Gitter meiner Facemask fester. Dabei starrte ich mein Auto an, dessen Motor noch warm war, und schnappte so schwer nach Luft, als hätte ich mehrere Hundert-Meter-Läufe hinter mir.

Die Schließkassette, in der ich mein Geld aufbewahrt hatte, lag aufgebrochen auf dem ölverschmierten Betonboden, das Metall verbogen und zerkratzt. Anstatt sie wie sonst in meinem Zimmer zu verstecken, war ich nachlässig geworden und hatte sie draußen rumstehen lassen. Mein Blick wurde unscharf und verschwommen. Dieser verdammte Dreckskerl.

Das Geld, das ich in den letzten sechs Monaten angespart hatte, um zum Titan Combine in Chicago fahren zu können, das nächsten Monat stattfand – praktischerweise genau dann, wenn er das nächste Mal hätte zu Hause sein sollen –, war futsch.

Ich hatte es zusammengekratzt, indem ich Gelegenheitsjobs und Autoreparaturen erledigt und altes Zeug verkauft hatte, das ohnehin weg musste, wenn ich demnächst aufs College ging. Hätte Aaron Smith mich nicht verarscht, sodass ich mein Geld mit Gewalt hatte eintreiben müssen, wäre ich zu Hause gewesen, um mein Erspartes vor meinem Dad zu verstecken.

Da er seit einiger Zeit vermehrt längere Strecken fuhr, begegneten wir uns immer seltener. Es war, als würde er sich für zunehmend längere Strecken entscheiden, je mehr ich im Kraftraum an Muskelmasse aufbaute. Dank seiner Truck-Touren quer durchs ganze Land war er kaum noch zu Hause. Und das war gut so. Endlich war er derjenige, der Angst hatte.

Ich hob die Box auf und drehte sie um. Ein Vierteldollar fiel mir in meine Handfläche. Ich schloss die Faust um die Münze und schleuderte die Box quer durch die Garage. Die Werkzeuge an der Wand auf der anderen Seite klapperten und schwankten. Ich hatte beide Hände zu Fäusten geballt.

Die Druckluftbremsen eines Trucks quietschten vor der Garagentür. Mein ganzer Körper verspannte sich. War er zurückgekommen?

Die Eingangstür unseres Hauses wurde laut aufgerissen. Ich schnappte mir einen Schraubenschlüssel von der Werkzeugbank und umklammerte das kalte Metall mit klammen Fingern. Er war kleiner als der Schraubenschlüssel, mit dem mein Vater mich einmal geschlagen hatte. Aber vielleicht würde ich dieses Mal nicht erstarren, nicht wieder zu dem Achtjährigen werden, der die schweren Schritte vor seiner Zimmertür hörte.

Seine stampfenden Stiefel ließen die Wand hinter mir vibrieren. Mein Herzschlag wurde schneller, das Pulsieren erfasste meinen gesamten Körper und drohte, mir den Atem zu rauben. Mir kam die Galle hoch und jede Zelle meines Körpers schrie nach Rache, aber ich saß nur wie erstarrt da und rührte mich nicht. Die Schritte entfernten sich, und dann wurde die Tür zugeschlagen. Draußen hörte ich, wie Reifen über den Kies in der Sackgasse vor dem Haus knirschten.

Ein erdrückendes Gefühl der Scham stieg in mir auf. Ich hätte rauslaufen und ihn zusammenschlagen sollen. Er war immer schon größer gewesen als ich, aber ich war stärker. Und schneller. Außerdem war ich nicht quasi rund um die Uhr sturzbetrunken. Ich hätte ihn k. o. schlagen können, dann hätte er es nie wieder gewagt, mich anzurühren. Stattdessen hatte ich in der Garage gehockt, war nicht einmal in der Lage gewesen, den Türknauf zu drehen.

Auf dem Feld dachte ich nie zweimal darüber nach, wenn ich jemanden umwarf, um den Weg für unseren Quarterback Bennet frei zu machen. Aber mein alter Herr versetzte mich immer noch in Schockstarre.

Heiße Wut vernebelte mir die Sicht und ich stieß einen Schrei aus, von dem ich mir wünschte, er könnte das Dach der Garage sprengen.

Unbändiger Zorn zerschlug, zertrümmerte und vernichtete alles um mich herum. Ein Laut drang durch die Zerstörungswut. Er kratzte an den Rändern des blinden Zorns, in den ich verfallen war und der nichts anderes zuließ außer wilde, urtümliche Instinkte.

Das rhythmische Dröhnen in meinen Ohren wurde langsamer. Ich machte einen Schritt nach vorne und trat mit meinen Schuhen auf Glassplitter. Das holte mich endgültig aus dem Nebel und befreite mich aus den Tiefen meiner Raserei.

Ein Augenpaar schaute mir entgegen, das ich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Der Blick meiner Mutter traf meinen durch das gebrochene Glas des zersplitterten Bilderrahmens.

Ich ließ den Helm fallen und rutschte an der Werkbank entlang zu Boden. Brennender Schmerz flammte in meinen Seiten auf.

Ich drehte den kaputten Rahmen um und holte das Bild raus. Eine neue Welle von Scham überkam mich mit voller Wucht. Das dumpfe Pochen meiner geprellten Rippen war nichts im Vergleich zu dem Kloß in meinem Hals.

Ich schüttelte den letzten Rest des Wutrauschs ab und stand auf, als würde ich Wurzeln durchreißen, die mir aus den Füßen gewachsen waren. Ich begutachtete den Schaden. Das Glas glitzerte im Licht, das von der schwingenden Glühbirne ausging, und knirschte auf dem Betonboden unter meinen Füßen.

Selbst in meiner blinden Wut hatte ich mein Auto größtenteils verschont. Es hatte ein paar Kratzer abbekommen, aber keinen Schaden davongetragen, den ich nicht selbst beheben konnte. Ich schnappte mir einen Besen und fegte das Glas, das gesplitterte Holz und das verbogene Metall zusammen. Im Gegensatz zu meinem alten Herrn räumte ich hinter mir auf. Abgesehen von dem Kratzen und Klirren der Glassplitter, die im Mülleimer landeten, war nichts zu hören. Was hatte ich vorhin gehört?

Niemand war verletzt worden. Dieses Mantra wiederholte ich wieder und wieder. Meinen Dad interessierte es nicht, an wem er die Wut über sein Scheißleben ausließ – meistens war ich derjenige, den es erwischte. So ist das, wenn man Schuld daran ist, dass die Frau von jemandem gestorben war.

Zumindest ließ ich meine Wut nur an Gegenständen aus. Die bluteten nicht, aber das interessierte ihn wenig.

Jetzt konnte ich es hören. Musik.

Der Klang ertönte erneut, diesmal lauter. Es war kein Radio. Die Melodie fing an und hörte wieder auf, wie ein Auto, das Probleme beim Anspringen hatte. Als wäre eine Schnur in der Mitte meiner Brust befestigt, zog mich das Geräusch zur Rückseite der Garage.

Ich öffnete die Tür, die in den Garten führte. Da die letzten Sonnenstrahlen mich blendeten, schirmte ich mir die Augen mit der Hand ab und suchte nach dem Ursprung der Musik. Sie kam aus meinem Garten. Nein, aus ihrem Garten.

Bay Bishop saß mit geschlossenen Augen auf ihrer Hintertreppe, während sie mit den Fingern langsam die Saiten ihrer Gitarre zupfte und anschlug, als könnte nichts auf der Welt sie dazu bewegen, die Melodie schneller zu Ende zu bringen. Aber es war nicht das Gitarrenspiel, das mich endgültig von meiner Wut befreite.

Ihr Kinn war Richtung Himmel gestreckt, und ihre Stimme hallte durch unsere Gärten. Sie trug ihr Haar offen und nicht wie üblich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Tintenschwarze Wellen fielen ihr über Schultern und Rücken. Ein übergroßes T-Shirt verschluckte die Hälfte ihres Körpers, darunter trug sie Jeans. Die Gitarre thronte auf ihrem Schoß.

Der linke Fuß wippte im Takt, und sie wiegte sich mit der Melodie.

Die Worte verloren sich im Wind, doch die Kraft ihrer Stimme – süß und stark, ausdrucksvoll und verletzlich – traf mich mit voller Wucht. Obwohl sie schon länger in der Stadt wohnte, war sie erst vor Kurzem in das freie Haus neben meinem gezogen. Genau zum Start unseres letzten Schuljahrs.

Ich hatte nicht mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt, obwohl wir seit dem zweiten Jahr an der Highschool jedes Jahr mindestens zwei Kurse zusammen gehabt hatten. Ab und zu hatten wir gemeinsam eine Gruppenarbeit machen müssen, aber solche Dinge liefen meist so ab, dass immer jemand die Kontrolle an sich riss und die ganzen Infos für sich behielt, nur um sich am Ende beschweren zu können, dass keiner mitgeholfen hatte. Nicht dass irgendjemand Hilfe von mir erwartete hätte. Also hatte ich mich immer zurückgelehnt und die anderen die Arbeit machen lassen, während ich im Kopf die Strategie für unser nächstes Spiel durchgegangen war.

Bay hatte mich nie wie einen hirnlosen Idioten behandelt. Sie hatte mich eigentlich auf gar keine Art behandelt. Schließlich hatte sie mich nie direkt angesprochen.

Was zur Hölle sollte das eigentlich? Sechs Kurse in drei Jahren und sie hatte nicht einen einzigen Satz mit mir gewechselt? Die meisten Leute buhlten um meine Aufmerksamkeit.

Doch sie nickte lediglich oder schüttelte ihren Kopf; ich wusste nicht mal, ob sie je ein Wort zu mir gesagt hatte.

Ich lehnte den Besen gegen den Türrahmen und wischte mir die blutigen Knöchel an der Jeans ab. Das Pochen wurde mit jeder Sekunde stärker. Ich sollte die Hand kühlen, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Da unsere Gärten ziemlich uneben waren, diente der Zaun dazwischen eher als eine Art Trennlinie und trug nur wenig zur Privatsphäre bei. Ihre Hintertreppe war deutlich sichtbar, fast schon erhöht, so als wollte Mutter Natur ihr eine Bühne für ihre Performance zur Verfügung stellen.

Sie war noch nie hier draußen gewesen. Ihre Stimme wäre mir nicht entgangen. Sie klang warm und voll, umwob mich und traf mich mitten in die Brust. Wie ein Tackle nach dem Abpfiff.

Ich stand in der Tür und hätte sie eigentlich schließen sollen. Meine Finger umklammerten das gesplitterte, verwitterte Holz, aber ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Der Song handelte von Hoffnung und Sehnsucht nach einer besseren Zeit. Einer glücklicheren Zeit. Auch wenn ich solche glücklichen Tage voller Sonnenschein nicht kannte, ließ mich ihr Lied glauben, dass es anders war. In mir kamen Erinnerungen hoch, die ich nie erlebt hatte. Und sie ließen mich hoffen, dass es da draußen irgendwo einen Ort gab, an dem ich doch noch Frieden finden konnte.

Sie lächelte, ja lachte beinahe, während die Worte aus ihr herausströmten. Sie wiederholte den Refrain, einmal, zweimal, während sie versuchte, die nächste Strophe zu finden. Ich hätte mir die Worte für die nächsten hundert Jahre in Dauerschleife anhören können. Sie verstummte, blickte auf das Notizbuch neben sich herab und dann wieder hoch.

Mit geschlossenen Augen setzte sie erneut beim Refrain ein. Ihre Finger zupften die Saiten, wieder und wieder.

Die Pause in der Musik sandte eine Welle der Sehnsucht durch meinen Körper. Meine Fingerknöchel pochten schmerzhaft, genau wie meine Arme und meine Rippen.

Ich sehnte den nächsten Ton herbei. Brauchte ihn wie die Luft zum Atmen.

Plötzlich öffnete sie die Augen und schaute mich wie erstarrt an.

Erwischt. Irgendwie war das schlimmer, als wenn ich in ihr Zimmer geplatzt wäre, während sie sich umzog.

Ein lautes Hupen durchbrach den hypnotischen Ruf der Melodie, die sich tief in meiner Brust festgesetzt hatte. Es kappte die Verbindung, als hätte jemand ein Stromkabel mit einem Bolzenschneider durchtrennt.

Ich schälte die Finger vom Türrahmen und nahm Abstand von den Tönen, die etwas in mir hervorgerufen hatten, das ich nicht benennen konnte.

Ich schlug die Tür zu und schüttelte die Gefühle ab, die von mir Besitz ergriffen hatten, bevor ich mir meine Jacke vom Boden schnappte und nach draußen lief.

»Warum hat das so lange gedauert?« Knox hing mit dem Oberkörper aus dem Fenster an der Fahrerseite und trommelte auf die Motorhaube.

»Was willst du? Du hast erst vor knapp zwanzig Sekunden gehupt.«

»Das sind zwanzig Sekunden weniger, die wir zum Saufen haben.« Er rutschte zurück auf den Fahrersitz und ließ den Motor aufheulen. Knox »immer-für-eine-Party-zu-haben« Knight war nicht gerade für sein Feingefühl bekannt.

»Ich bin mir sicher, das holst du schnell wieder auf.« Ich rutschte auf den Beifahrersitz.

Eine Sekunde nachdem mein Fuß den Boden verlassen hatte, fuhr er bereits los.

»Aber so was von.« Er schlug mit der Faust gegen die Decke und steckte schreiend den Kopf aus dem Fenster.

Ich griff ans Lenkrad, damit wir nicht von der Straße abkamen. »Willst du uns umbringen, bevor wir überhaupt irgendwo ankommen, Arschloch?«

Er plumpste wieder auf den Sitz. »Keine Niederlage diese Saison. Vierfache State Champions. Wir sind Götter!«, brüllte er aus dem Fenster.

»Götter, die kein bisschen unverwundbar sind.« Ich rammte ihm die Faust in die Schulter. Die Prellung, die genau auf den Rippen an meiner linken Seite prangte, würde über Nacht deutlich sichtbar und von Minute zu Minute dunkler werden. Genau wie die restlichen blauen Flecken. Das Adrenalin, das immer noch durch meinen Körper gepumpt wurde, dämpfte den Schmerz zwar, ließ aber allmählich nach. In einer Stunde würde selbst Stehen die Hölle sein. Ganz zu schweigen vom Training morgen.

»Alter.« Er sah mich wütend an und rieb sich die Schulter. »Wir sind nicht mehr auf dem Feld. Die Saison ist vorbei.«

Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Es war vorbei. Die Chance, gedraftet zu werden, wurde mit jedem Tag kleiner. Gab es einen besseren Weg, sich darauf vorzubereiten, in die Armut abzurutschen und in Vergessenheit zu geraten, als sich auf einer Party komplett abzuschießen, bei der am nächsten Morgen alle mit dem Wunsch aufwachen würden, vom Tod erlöst zu werden?

Doch das Ende der Saison bedeutete wenigstens, dass das Team sich morgen nicht aufs Feld schleppen musste, um beim Training schon bei den Warm-ups zweimal zu kotzen, weil uns der Coach rückwärts laufen ließ, während wir Gurkenwasser tranken. Nein, das erwartete nur mich.

Der Frühling war für die zukünftigen Seniors, aber ich würde mich ihnen anschließen, um mich am letzten Fünkchen Licht festzuhalten, das am Ende des immer dunkler werdenden Tunnels noch zu sehen war.

Knox legte den Kopf schief und grinste mich an.

»Du bist total irre. Bring uns einfach nur heil zu dieser Party.«

Irgendein Mädchen versuchte, mich von der Couch zu locken, indem es vor mir herumtanzte. Sie kam mir vage bekannt vor, doch es war schwer einzuschätzen, ob ich sie tatsächlich kannte. Hier schienen fast alle Mädels der Schule anzugehören, die das Schminken von Schmolllippen und Highlights als höchste Form der Kunst betrachtete.

Sobald sie herausfand, dass ich in Bezug auf meine Aussichten, gedraftet zu werden, nicht etwa einen auf cool machte, sondern einfach keine hatte, würde sie sich einen neuen Kerl für ihre private Tanzeinlage suchen. Gut, dass ich nicht interessiert war. Sie auszublenden fiel mir nicht schwer. Ich nahm sie mehr als schemenhafte Gestalt mit fuchtelnden Gliedmaßen wahr, allerdings kam sie mir allmählich etwas zu nahe. Ich trank den letzten Schluck meines Biers und schüttelte dann die Flasche vor ihrer Nase herum.

»Hol mir noch ein Bier.« Kein Bitte. Die übliche Herangehensweise – Augenkontakt vermeiden und mit allen reden außer mit ihr – hatte bisher keine Wirkung gezeigt.

Sie lächelte breit, nahm die Flasche und eilte zu dem mit Eis gefüllten Planschbecken, um eine neue zu holen. Innerhalb der letzten Stunde war es hier drinnen ganz schön heiß geworden, und mir lief der Schweiß am Nacken herunter. Warum war ich überhaupt hier? Es würde der ganzen Demütigung noch die Krone aufsetzen, wenn alle Anwesenden wüssten, dass ich hier festsitzen würde, während der Rest einen Platz am College ergattert hatte. Lieber nahm ich in Kauf, nach jedem Übungsspiel zu kotzen, als den Leuten zu offenbaren, wie viel Angst ich davor hatte.

»Sie ist kurz davor, deinen Schwanz rauszuholen und dir vor versammelter Mannschaft einen zu blasen.«

»Mein Schwanz und ich sind uns absolut einig, dass das nicht passieren wird.«

»Wir reden hier von Bethany. Die ist verdammt heiß.«

Sie bückte sich, um ihre Hände auf der Suche nach einem Flaschenöffner durch das Eis wandern zu lassen, obwohl an der Wand vor ihr einer hing. Dabei rutschte ihr Rock so hoch, dass ihr halber Arsch zu sehen war.

Knox’ Kinnlade hing ihm praktisch bis auf den Schoß. Sein Schwanz und er waren sich wohl auch absolut einig, wie mit der Bethany-Sache zu verfahren war.

»Dann schlaf du doch mit ihr.«

»Würde ich sofort, wenn das eine Option wäre. Aber sie hat sich total auf dich eingeschossen.«

»Da wird sie aber bitter enttäuscht sein.«

»Du hast nicht das geringste Interesse daran, eins der heißesten Mädchen der Schule flachzulegen?«

Ich stand auf und zuckte vor Schmerzen zusammen. Scheiße, tat das weh. »Kein bisschen.«

Bethany kam vor mir zum Stehen und hielt mir die offene Bierflasche wie eine Opfergabe entgegen. »Wenn das mal nicht mein liebster Tight End mit dem knackigsten Arsch ist.« Sie biss sich auf die Lippe und setzte ihren besten Schlafzimmerblick auf.

»Ich muss mal pissen. Kannst du das Knox geben? Die ganze Sache mit den College-Scouts macht ihm zu schaffen. Selbst jetzt, wo er einen Vertrag unterschrieben hat, sind noch immer so viele Teams an ihm interessiert, dass er nicht weiß, was er tun soll.«

Ihre Augen leuchteten auf. »Klar.«

Auf dem Weg in die Küche schaute ich mich noch einmal um. Knox standen tatsächlich sämtliche Türen offen. Er hatte eine erstklassige Saison abgeliefert und Colleges waren immer auf der Suche nach herausragenden Wide Receivern, um die Passrate des Teams zu verbessern. Er hatte zwar schon einen Vertrag unterschrieben, doch die Angebote anderer Colleges wurden immer besser.

Knox formte ein Danke mit den Lippen, als Bethany sich auf seinen Schoß setzte.

Als Tight End schützte ich unseren Quarterback und schlug mich durch die Defense Line, damit unser Tailback sein Ding machen konnte. Daher dachten die meisten, dass mir die Colleges die Tür einrennen müssten. Aber so war es nicht – nicht mehr. Mir brannte der Magen und meine Knochen pochten. Während meiner gesamten Football-Karriere hatte ich nur ein Spiel verpasst. Ein einziges Spiel vor einem Jahr. Das war jedoch offenbar das einzige Spiel, das zählte. Und ich hatte es damit verbracht, Blut auf den Badezimmerboden zu spucken.

Ich würde für immer in dieser Scheiß-Stadt versauern. Das ganze Gerede davon, dass ich in ein paar Monaten weg sein würde, machte alles nur noch schlimmer. Zu Hause würde ich es nicht mehr lange aushalten, der Drang abzuhauen wurde von Tag zu Tag stärker. Wen interessierte schon ein Highschool-Abschluss? Aber dies waren die letzten Monate, in denen mich ein Scout entdecken konnte. Bei einem Probetraining mitmachen konnte ich auch nicht, da mich kein College angenommen hatte. Ich hatte nur noch eine Chance. Eine einzige Chance, nicht als der Typ zu enden, der in der Highschool mal jemand gewesen war.

Nur so konnte ich beweisen, dass ich kein Möchtegern-Star werden würde, der seine Wut über sein verpatztes Leben an allen ausließ, die in Schlagreichweite waren. Und sich, wenn die anderen Glück hatten, früh ins Grab saufen würde. Ich würde kein verbittertes Arschloch werden, für das sich keiner interessierte. Ich würde einen Weg finden, hier wegzukommen, und beweisen, dass ich nicht war wie er und es auch nie sein würde.

Ich schnappte mir ein Sixpack aus dem Kühlschrank und ging in den Garten.

Die Kältewelle war zurückgekehrt. Der Frühling hatte einen kurzen Moment des Triumphs gehabt, doch der Winter hatte das nicht lange zugelassen. Mein Atem waberte als Dunstwolke vor meinem Gesicht herum und die Kälte kroch durch mein Thermoshirt.

»Die Party findet drinnen statt, Dare.« Bennet kam um die Hausecke, einen Arm um eine Tussi aus dem Football-Fanclub gelegt. Die Haare klebten ihr an der einen Seite des Gesichts und sein Hosenstall war offen. So viel zu etwas Ruhe.

»Ich weiß, brauchte nur ein bisschen frische Luft.« Ich schlug den Deckel der Bierflasche an der Stufe hinter mir ab, sodass er zwischen die Holzplanken fiel.

»Wann feiern wir mal wieder bei dir? Du hast uns die ganze Saison über hingehalten. Allmählich bist du auch mal dran.«

»War beschäftigt.« Ich hatte außerdem die Löcher in den Wänden im Wohnzimmer, Flur und Badezimmer reparieren müssen, bevor ich überhaupt daran denken konnte, wieder jemanden ins Haus zu lassen.

Meine Teilnahme an den illegalen Trinkgelagen war jedoch nicht optional. Vor unserem Abschluss am dritten Juni wurde von mir erwartet, dass ich mindestens eine Party schmiss. Dieses Datum hatte sich in mein Hirn eingebrannt. Der Tag, an dem ich alles verlieren würde.

Wenn der Quarterback der Sohn des Coaches war – der wiederum meine einzige Chance darstellte, hier rauszukommen –, konnte er sich so einiges erlauben. Bennets Arm war wie ein Granatwerfer, aber sein Mundwerk stand dem in nichts nach. Er war in der Zehnten erwischt worden, genau wie ich. Nur war sein Fluchtweg nicht von einem alkoholkranken Trucker mit einem fiesen rechten Haken versperrt worden.

Die Partys fanden abwechselnd bei allen statt, deren Eltern entweder nie zu Hause waren oder denen es am Arsch vorbeiging. Das hieß, ich hatte meinen Beitrag dieses Jahr schon zur Genüge geleistet.

Ich ging wieder rein. Ein klarer Verstand war gefährlich. Ich ging Spielzüge in meinem Kopf durch, so oft, dass die Bewegungen in Fleisch und Blut übergingen und ich sie im Schlaf ausführen konnte. In ein paar Wochen gab es kein Football mehr für mich. Dann war es vorbei. Mit achtzehn schon am Ende.

Vier Stunden, drei Bier und zwei Tanzpartnerinnen später hatte ich die vorgeschriebene Anwesenheitszeit abgesessen und suchte nach Knox. Ich fand ihn in einem der oberen Zimmer, schlafend mit Bethany im Arm. Wenigstens einer von uns hatte Spaß gehabt.

Draußen vor dem Haus machte ich meine Jacke zu und spähte die Straße hinab. Bis zu mir nach Hause war es nicht allzu weit. Aber der Schmerz in meiner Seite und im Arm würde mich morgen beim Training umbringen.

»Dare, willst du mitfahren?«, rief einer der Jungs aus dem Team mir zu.

Die fünf Kilometer Fußweg erschienen gleich viel länger, wenn eine warme, kurze Autofahrt zur Verfügung stand. »Ja, danke.«

Zehn Minuten später fuhren wir den Hügel zu meinem Haus hoch.

»Ist das nicht die Neue?« Mein Teamkamerad starrte aus dem Fenster.

Bay? Mein Blick zuckte in dieselbe Richtung.

Sie fuhr mit ihrem Fahrrad die Straße herunter, weg von ihrem Haus.

Ich sah auf die Uhr. Wo wollte sie um ein Uhr nachts noch hin? Sicher nicht zu der Party, von der ich gerade kam.

Schließlich hatte ich noch nie beobachtet, dass sie auch nur an einer der Partys vorbeigefahren wäre, auf denen ich gewesen war, seitdem sie in Greenwood wohnte.

Ihr Mantel flatterte hinter ihr im Wind. Die rosa Handschuhe bildeten einen starken Kontrast zur pechschwarzen Nacht.

Die Frage schwirrte mir noch durch den Kopf, als ich schon zu Hause angekommen war. Die Stille im Haus beruhigte mich. Kein Sportkanal, der aus dem Fernseher dröhnte. Keine klappernden Alkoholflaschen oder markerschütterndes Schnarchen. Selbst der Gestank von billigem Fusel, der den kaputten Sessel umgab, verflog langsam. Ich riss die Fenster auf, um zu lüften. Nichts als glückselige Stille.

Mir kam die Melodie von vorhin wieder in den Kopf. Der laute Bass und die betrunkenen Jugendlichen – die ihr Bestes gegeben hatten, in einer Nacht jeden einzelnen Teenie-Film nachzustellen, den sie je gesehen hatten – hatten sie eine Weile übertönt.

Ich sah aus meinem Fenster auf das dunkle Haus hinter meinem. Hatte sie sich rausgeschlichen, indem sie aus dem Fenster geklettert war?

Ein Mädchen wie Bay hätte jetzt ihre Schulbücher zuklappen und schlafen gehen sollen, ohne auch nur an das Chaos zu denken, das der Alkohol am anderen Ende der Stadt verursachte.

Ein Mädchen wie Bay hatte eine Stimme, die Emotionen in mir hervorrufen konnte, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie empfinden konnte. Und jetzt sehnte ich sie herbei wie ein Drogensüchtiger auf der Suche nach dem nächsten Schuss.

Ein Mädchen wie Bay würde nie etwas mit jemandem wie mir zu tun haben wollen. Und ich sollte mich von so einem Mädchen fernhalten.

Was also machte ein Mädchen wie sie so spät noch außerhalb ihres Hauses? Ich lag in meinen Bett und starrte an die Decke.

Sie hielt sich im Hintergrund, wollte nicht bemerkt werden, gleichzeitig besaß sie eine derartige Stimme. Und erst die Melodie, die in meiner Brust vibrierte wie ein perfekter Fünfzig-Yard-Pass. Sie wollte vielleicht nicht auffallen, doch wenn irgendjemand sonst sie singen hörte, würde sie nie vergessen werden. In weniger als drei Minuten hatte sie mich beängstigende Dinge fühlen lassen, vor denen ich weglaufen sollte.

Warum wollte ich nach nur einem Song wissen, welche Geheimnisse sie sonst noch vor der Welt verbarg? Und warum beunruhigte mich das?

3

Bay

Ich schloss die Tür und ließ damit die Wärme unseres Hauses hinter mir. Mit der Martin-Gitarre meines Dads auf dem Schoß setzte ich mich auf die Stufen. Hatten wir nicht eigentlich April?

Zum ersten Mal seit Langem war das Wetter nicht absolut scheiße und ich musste unbedingt nach draußen. Unerwartete Schneestürme, Eisregen, Hagel, peitschender Wind und prasselnder Regen hatten den Winter viel zu lange andauern lassen, während ich sehnsüchtig auf etwas warmen Sonnenschein gehofft hatte.

Aber ich sollte mich nicht beschweren. Wenigstens war der Boden nicht klatschnass.

Als der Song Mamma Mia aus meinem Handy plärrte, schrak ich hoch.

»Hey, Mom.«

»Hey, Süße. Meine Schicht fängt gleich an, aber ich wollte dir noch schnell sagen, da ist ein Teller …«

»Für mich im Kühlschrank. Ich weiß, Mom. Wir machen das doch schon seit Monaten so. Auch wenn du kein Abendessen für mich vorbereitet hättest, könnte ich mir selbst was machen. In weniger als sechs Monaten bin ich auf dem College.« Sechs lange Monate noch.

»Warum erinnerst du mich daran? Willst du mich umbringen?«

»Denk nur mal, wie frei du sein wirst, wenn du nicht mehr wegen mir an diesen Ort gebunden bist.«

»Dadurch wird das Haus bloß entsetzlich leer wirken. Hast du Pläne für heute Abend?«

»Nur Hausaufgaben. Vielleicht ein bisschen Fernsehen.« Schuldgefühle ließen mein Herz klopfen, aber meine Stimme blieb ruhig.

»Klingt, als wärst du draußen.«

Verdammt, erwischt. »Ich bringe nur den Müll raus.«

»Okay.« Dabei zog sie das Wort in die Länge, so als würde ich einknicken, wenn sie drei Silben daraus machte. »Pass auf dich auf und denk dran …«

»Abzuschließen, bevor ich schlafen gehe. Natürlich, Mom. Weiß ich. Nächstes Jahr muss ich auf eigenen Beinen stehen. Mach dir keine Sorgen. Ich wünsche dir eine angenehme Schicht und wir sehen uns morgen. Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Ihre Stimme klang ein wenig misstrauisch. Vielleicht lag es daran, dass sie mich vor sechs Monaten dabei erwischt hatte, wie ich um drei Uhr nachts nach Hause gekommen war. Ich war selbst schuld gewesen. Seitdem verließ ich das Haus nicht mehr vor elf Uhr. Wenn es Probleme mit ihrer Schicht gab, dann immer vor elf. Die Chance, erwischt zu werden, verringerte sich also, wenn ich einfach etwas wartete. Das hieß allerdings auch, dass ich manchmal total fertig aussah und kaum geradeaus denken konnte, wenn ich in der Schule saß. Zum Glück hatte mich bis jetzt noch keiner meiner Lehrer zu einem Gespräch mit dem Schulpsychologen geschickt.

Mom und ich hatten beide unsere Schwierigkeiten, uns an ein Leben ohne Dad und in einem anderen Staat zu gewöhnen. Selbst jetzt noch. Die nicht enden wollende Herausforderung herauszufinden, wie genau wir dieses Leben leben sollten, hatte kein bisschen nachgelassen. Vier Umzüge in vier Jahren. Wenigstens hatte ich bei den letzten Umzügen quer durch die Stadt an derselben Schule bleiben können – auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das ein Segen oder ein Fluch war. Zumindest brauchte ich vom neuen Haus aus nur noch vierzig Minuten, wenn ich mich rausschlich. Ich hatte zwar schon zweimal Hausarrest bekommen, doch das hielt mich nicht davon ab. Vor allem, weil ich das Gefühl hatte, kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Ich war so nah dran, die Töne rauszubringen, die stets in meiner Kehle stecken blieben, bevor ich sie dann doch wieder herunterschluckte.

Trotzdem nagten Schuldgefühle an mir wie ein Marder an Autokabeln. Meine Finger strichen über die Saiten, wodurch dieser typische quietschende Ton entstand.

Ich zog die Ärmel so weit herunter, dass sie meine Hände fast komplett bedeckten. Jetzt wo die Sonne hinter dem Haus verschwunden war, fuhr mir die abendliche Kälte noch stärker ins Mark.

An der Wand neben der Tür hingen Bilderrahmen. In diesem Haus gab es genug Platz, um sie alle aufzuhängen, und der Vermieter hatte nichts dagegen, dass wir Nägel in die Wand schlugen.

Im ersten Rahmen aus Kirschholz waren meine Eltern und ich zu sehen. Sie hatten mich gezwungen, einen spitzen rosa Partyhut zu tragen, obwohl ich dreizehn geworden war. Seitdem hatten wir das Bild jedes Jahr nachgestellt. Das Foto darunter zeigte nur Mom und mich mit zwei gigantischen Kuchen in der Form einer Eins und einer Acht. Die Regisseurin des Theater-Clubs hatte sich darüber lustig gemacht, dass ich mit einem riesigen Kuchen in Form einer Acht angekommen war. Aber alle von der Bühnen-AG und dem Theater-Club hatten ihn innerhalb weniger Minuten verschlungen.

Ich starrte das letzte Foto in der unteren Reihe an. Es war eins der letzten Fotos von uns dreien zusammen. Er wäre heute einundvierzig geworden. Mom und ich hatten zu seinem Geburtstag immer einen Kuchen und irgendein schreckliches Geschenk ausgesucht, meistens war es etwas mit der Aufschrift »Bester Dad«. Beim Auspacken hatte er immer so getan, als wäre es das beste Geschenk, das er je bekommen hatte.

Mom hatte in den letzten Tagen mehrere Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet. Noch mehr als normalerweise. Das tat sie immer, wenn das Winterwetter dem Jahreszeitenwechsel nachgeben musste und dieser eine Tag näher rückte, so langsam, aber unaufhaltsam wie der tauende Frost.

Nach ihrer Dusche fiel sie immer sofort in tiefen Schlaf. Wenn wir doch nur alle so viel Glück hätten haben können. Das Einschlafen fiel mir immer schwerer. Ständig spürte ich ein unangenehmes Kribbeln im Hinterkopf, so als hätte ich das Garagentor offen gelassen oder vergessen, den Herd auszumachen. Also hatte ich kurzerhand meinen Schrank geöffnet und den einzigen Gegenstand herausgeholt, der dieses Rauschen in meinem Kopf beruhigen konnte. Das vertraute Gefühl des abgenutzten Griffs des Gitarrenkoffers ließ es leiser werden, allerdings nicht ganz verstummen.

Ohne das Ganze zu hinterfragen, hatte ich mir die Gitarre geschnappt und war rausgegangen. Die dunkle Maserung des Holzes bildete einen starken Kontrast zu dem hellen, glatten Korpus. Die mahagonifarbenen Seiten hatten ein paar Dellen und Kratzer von der Zeit, als mein Dad das Instrument von Gig zu Gig und Studio zu Studio geschleppt hatte. Manchmal hatte ich mitkommen dürfen, dann hatte ich immer über die Saiten gestrichen und gelächelt, wenn sie dieses Quietschen von sich gegeben hatten, bevor er mich auf seinen Schoß gesetzt und mir das Spielen beigebracht hatte. Ich lehnte meine Stirn gegen das glatte Holz der Gitarre. Meine Finger fanden sofort ihre Positionen auf dem Griffbrett. Das Metall der Saiten schnitt mir ins Fleisch. Die Hornhaut, die ich mir über die Jahre hart erarbeitet hatte, war in den letzten sechsunddreißig Monaten weicher geworden. So lange war es her, seit ich seine Gitarre – nun war es meine Gitarre – wieder in die Hand genommen hatte.

Ich füllte meine Lungen mit Luft und ließ alles los. Mein Fokus lag nur noch auf meinem Herzschlag, den zirpenden Grillen und dem Vibrieren der Saiten. Ich verlor mich im Rhythmus der Musik, die Noten transportierten mich in eine Zeit, in der ich nicht gewusst hatte, was es bedeutete, jemanden zu verlieren. Nach drei Jahren hatte ich mich endlich dazu durchgerungen, das Instrument wieder anzufassen. Jetzt musste ich einfach spielen.

In der Dunkelheit wurde meine Stimme von der sanften Brise davongetragen. Ich war ein wenig eingerostet, doch die Worte strömten aus mir heraus wie ein unaufhaltsamer Wasserfall. Fangen spielen im Garten. Sonntagsfrühstück mit Marky-Maus-Pancakes, dem leicht entstellten Cousin von Micky. Die Mickys gerieten immer etwas schief, und man konnte nie so recht erkennen, ob es sich um eine zweiköpfige Maus mit nur einem Ohr handelte oder zwei schrecklich unterschiedliche Ohren auf dem Kopf einer Maus. All die Stunden, in denen er mir das Spielen beigebracht hatte, ohne je ungeduldig zu werden oder aufzugeben.

Hab dich lieb, Dad.

Die Worte durchfluteten mich. Durch meine leicht geöffneten Augen nahm ich eine Bewegung wahr. Ich konnte die Hitze eines Blicks auf mir spüren. Normalerweise versagten mir in solchen Fällen die Stimmbänder, dieses Mal machte ich jedoch einfach weiter, konzentrierte mich auf die Worte und die schattenhafte Gestalt, die mich beobachtete. Als der letzte Laut ertönte, öffnete ich die Augen komplett, um zu sehen, wer diesen Moment gestört hatte. Seit Jahren hatte mich niemand mehr spielen gehört.

Ich blinzelte die Tränen weg, die sich in meinen Augenwinkeln gebildet hatten. Der Damm war nicht gebrochen, doch zumindest fühlte es sich an, als hätte jemand ein Ventil aufgedreht, wodurch der tobende Sturm in meinem Kopf nachgelassen hatte, sodass ich wieder atmen und denken konnte.

Über den Zaun hinweg sah ich, wie sich jemand rührte. Die Bewegung durchbrach den Schatten, der ihn vorher wie einen Teil der Garage hatte wirken lassen. Er stand still und konzentriert da.

Ruckartig setzte ich mich aufrecht hin und starrte der Gestalt entgegen, die mich in der Dunkelheit beobachtete.

Dare.

Seine Gestalt wurde vom Licht einer Glühbirne in der Garage hinter ihm beleuchtet. Dadurch war seine Statur deutlich erkennbar, die durch die kurzen Ärmel seines T-Shirts nur noch mehr betont wurde. Mit dem angespannten Bizeps gegen den Türrahmen gelehnt stand er da. Er würde hervorragend in das College-Team passen, das ihn sicherlich bereits angeworben hatte. Hätte man ihn neben einen College-Senior gestellt, wäre kaum ein Unterschied zu erkennen gewesen. Von den Bartstoppeln bis hin zu seinem durchdringenden Blick war Dare noch nie einem Gegner begegnet, dem er nicht gewachsen gewesen war.

Er war attraktiv, auf eine Ich-verführe-dich-mit-blutigen-Knöcheln-Art. Er war der Inbegriff eines Bad Boys, nur dass er kein Motorrad, sondern ein Muscle-Car fuhr.

Wir waren schon seit sechs Monaten Nachbarn, doch das war das erste Mal, dass er mich ansah. Also, nicht das erste Mal. Das allererste Mal hatte er mich wesentlich intensiver angeschaut, hart und ablehnend. Dieses Mal war es ganz anders …

In meinem Bauch kribbelte es. Aber die Flügelschläge darin gehörten nicht zu Schmetterlingen, eher zu Kolibris oder Spatzen – viel größer als die sanften Schwingen eines zarten Tagfalters.

Sein eindringlicher Blick brannte sich quer über unsere beiden Gärten hinweg in meine Augen. Und dann war er fort. Der Knall der Garagentür hallte in unserer stillen Nachbarschaft nach.

Dir auch ein freundliches Hallo, Nachbar. Er hatte sich nicht verändert, seitdem ich ihn das erste Mal gesehen hatte.

Mit meiner Gitarre in der Hand blickte ich hinauf in den Nachthimmel. Er war tintenschwarz, aber auch wolkenverhangen, also würde es vermutlich jede Sekunde zu regnen anfangen. Ein passendes Ende für einen aufwühlenden Tag.

Drinnen holte ich mein Abendessen aus dem Kühlschrank und ging in mein Zimmer.

Dort kritzelte ich schnell ein paar Zeilen in mein Notizbuch. Während ich sie noch einmal durchging, wartete ich darauf, dass die Gefühle von vorhin zurückkehrten.

Ich hatte für Dare gesungen. Also, nicht direkt für ihn, aber während er zugehört hatte. Tief im Inneren hatte ich gewusst, dass er es war. Schon bevor ich ihn richtig gesehen hatte. Warum hatte ich vor ihm singen können?

Ich träumte davon, Musik zu machen. Aber Träume waren alles, was ich hatte, solange ich vor anderen Leuten einfach nicht singen konnte. Jedes Mal wenn ich es versuchte, versagte meine Stimme – bis heute. Ich hatte so gehofft, meinen Dad stolz machen zu können, indem ich seinen Traum lebte, stattdessen war ich dazu verdammt, genau wie er dem sicheren Weg zu folgen.

Ich starrte die Bilder auf meinem Tisch an. Unsere fröhliche kleine Familie bewegte sich nur noch schleppend durchs Leben. Und in ein paar Monaten würde auch ich fortgehen.

Das schrille Plärren meines Weckers riss mich abrupt aus dem Schlaf. Ich schoss aus dem Bett hoch und wühlte nach meinem Handy. Schnell oder effizient waren nicht die Worte, mit denen ich beschreiben würde, wie ich den Alarm abstellte.

Ich beugte mich zu hastig nach vorn und fiel dumpf zu Boden. Mein Handy rutschte unter das Bett, als hätte es jemand an einer Schnur daruntergezogen, nur um lustig zu sein. Ich griff danach und stellte es ab. Ohne das Krächzen, das an das Geräusch von Nägeln erinnerte, die über eine Tafel kratzten, senkte sich Stille über mein Zimmer. Während ich mir den Schlaf aus den Augen rieb, gähnte ich und begann meine übliche Routine.

Anziehen. Einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass ich bei Piper übernachtete, für den Fall, dass Mom früher nach Hause kommen sollte. Warme Klamotten anziehen.

Jedes Klicken und Klacken meines Fahrrads klang in meinen Ohren wie ein Donnerschlag. Dabei schlich ich mich nicht einmal richtig raus. Mom war schließlich gar nicht da.

Ich setzte meinen Helm auf und sprang aufs Rad. Mit dem Rucksack auf den Schultern begann ich, die Straße hinabzuradeln. Oben auf dem Hügel fuhr ein Auto an mir vorbei, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Aber es war nicht Moms grauer Wagen. Das fremde Fahrzeug nahm die Kurven äußerst effizient und segelte förmlich über die Kreuzungen.

In den etwa achtzehn Monaten, seit ich angefangen hatte, mich rauszuschleichen, war ich nur zweimal erwischt worden. Der Wind blies mir ins Gesicht, und meine Wangen wurden taub, aber in meiner Brust hämmerte es vor Aufregung.

Mit einem Ohrstöpsel im Ohr fuhr ich die fast lautlose Straße entlang. Die Häuserblöcke wurden dichter und weniger weitläufig. Kurvige Straßen wurden zu geraden Linien, die von einem Stadtplaner entworfen worden waren. Ich sauste an dunklen Ladenfassaden vorbei. Die einzigen beleuchteten Geschäfte waren Schnapsläden und Apotheken.

Dann erreichte ich mein Ziel: eine unauffällige Treppe, die hinab zu einer grünen Tür führte.

Ich sprang von meinem Fahrrad und packte es an Rahmen und Lenker, um es die Stufen hinunterzutragen.

Als ich auf der letzten ankam, wurde die Tür geöffnet, und ein Schatten ragte vor mir auf.

»Ich habe mich schon gefragt, ob du heute noch kommst.« Freddy verschränkte die Arme. Sein graumelierter Bart reichte ihm fast bis auf die Brust.

»So schnell wirst du mich nicht los.«

»Wäre ja auch zu schön.« Er hielt mir die Tür auf, nahm mein Rad mit einer Hand, als wäre es nur eine Broschüre, und hing es an der Halterung an der Wand auf, die er für mich dort angebracht hatte.

»Singst du heute, oder arbeitest du?«

In meiner Brust wurde es eng und heiß, als hätte ich ein Stück glühende Kohle verschluckt. Er hatte mich schon mal singen gehört, als mein Dad noch gelebt hatte. Jedes Mal stellte er die gleiche Frage, und jedes Mal wollte ich antworten: »Ich singe. Ich werde mir die Seele aus dem Leib singen, so wie früher.« Aber ich konnte es nicht. Die Töne blieben mir im Hals stecken, außer wenn ich alleine sang. Und was brachte mir das, wenn ich doch unbedingt auf die Bühne wollte, um dort vor Publikum zu singen? Seit mein Dad gestorben war, hatte ich vor niemandem mehr gesungen. Außer vor Dare. Als er mich beobachtete hatte, hatte sich mir nicht die Kehle zugeschnürt, als würden sich unsichtbare Finger um meinen Hals legen und mir die Luft aus den Lungen pressen. Ich hatte einfach weitergemacht, fast als wäre es unmöglich aufzuhören. Aber das war vor einer Weile gewesen und jetzt war jetzt.

»Ich arbeite.« In meinem Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus, sobald ich nur daran dachte, vor jemandem aufzutreten. Na ja, vor jemand anderem. Schließlich hatte ich schon vor Dare gesungen und wollte das Ganze nicht sofort wiederholen. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter.

Kopfschüttelnd ging Freddy tiefer ins Gebäude hinein. Ich folgte ihm und winkte den anderen Tontechnikern und Produzenten im Vorbeigehen zu.

Goldene und Platin-Schallplatten aus mehreren Jahrzehnten hingen an den Wänden.

»Sollte dich das nicht freuen?«

Er schnaubte. »Nein, ich muss dich ja dafür bezahlen.«

Ich tätschelte ihm die Schulter. »Dafür musst du aber auch weniger arbeiten.«

»Wohl eher mehr. Schließlich muss ich alles prüfen, was du machst.« Er drückte die Tür zum kleinsten Raum im Studio auf.

Jetzt war ich an der Reihe zu schnauben. »Und wie oft habe ich schon einen Fehler gemacht?«

Als Antwort grummelte er nur.

Auf der anderen Seite der doppelt verglasten Scheibe saß ein Kerl, der sich mit Mühe und Not hinter ein Klavier geklemmt hatte, und kritzelte etwas auf das Notenblatt vor sich. »Ist sein erstes Mal. Sei nett zu ihm.«

»Bin ich doch immer.«

Freddy verschränkte erneut die Arme vor der Brust und blieb im Türrahmen stehen. »Weiß deine Mom diesmal, dass du hier bist?«

Ich hielt meinen Blick starr auf die Regler und Schalter vor mir gerichtet. »Klar.«

»Mein Gott, bist du eine verdammt schlechte Lügnerin. Wenn sie die Bullen ruft, sage ich denen, du bist hier eingebrochen.«

»Ich bin eingebrochen, um Demotapes für Künstler zu mixen, die dafür bezahlt haben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Kids heutzutage sind verrückt.« Er schloss leise die Tür.

Ich zog meinen Mantel aus und legte ihn auf die Couch hinter mir. Auf jeder freien Oberfläche standen Bierflaschen und Aschenbecher mit alten Joints. Home, sweet home.

Ich betätigte den Schalter der Sprechanlage. »Bist du so weit?«

Der Kerl mit dem Beanie und der Jeansjacke schreckte hoch. Er schirmte seine Augen ab, damit er besser durch die Scheibe in den dunklen Raum sehen konnte, in dem ich saß.

Ich schaltete das Licht ein und winkte.

Sein Kopf zuckte überrascht zurück. »Wie alt bist du? Zwölf?«

»Achtzehn, das versichere ich dir. Du hast für zwei Stunden bezahlt, die Zeit läuft. Sollen wir anfangen?«

Sein Blick verengte sich, und er nickte skeptisch.

Ich machte das Licht auf meiner Seite wieder aus und überprüfte noch einmal mein Soundboard. »Wenn du bereit bist, kann es losgehen.«

4

Bay

Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei – was nicht daran lag, dass ich keine Lust auf die Schule hatte. Die war zwar nicht mein Lieblingsort, aber ich hasste sie auch nicht. Vielmehr blickte ich dem Montag mit gemischten Gefühlen entgegen, weil es unmöglich sein würde, Dare aus dem Weg zu gehen, da wir drei Kurse zusammen hatten. Außerdem litt ich unter Schlafentzug wegen meiner Ausflüge zum Tonstudio. Beim letzten Mal wäre ich sogar beinahe wieder erwischt worden: Mom hatte auf dem Festnetz angerufen, genau in dem Moment, als ich die Haustür schließen wollte. Das war ziemlich knapp gewesen. Sie rief eigentlich nie so spät an, jedenfalls hatte sie das die letzten achtzehn Monate nicht getan. Aber ab und zu tat sie es dann doch und behauptete, dass sie mich auf dem Handy nicht hatte erreichen können. Ich hatte anschließend noch zwanzig Minuten mit klopfendem Herzen neben dem Telefon gesessen, für den Fall, dass sie noch mal anrief.

So müde wie ich war, konnte ich es nicht verhindern, dass meine Gedanken ständig zu Dare schweiften.

Hatte er mich spielen gehört? Lachte er sich darüber kaputt, wie schlecht ich gewesen war? Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Ich schob mir das letzte Stück Pop Tart in den Mund und setzte mir den Helm auf. Brauner Zucker, Zimt und ich hatten jeden Tag ein Frühstücksdate.

Essen war schließlich Treibstoff für den Körper, nicht wahr?

Wenigstens konnte ich seit dem Umzug mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Von unserem alten Haus aus hatte ich immer den Bus nehmen müssen, was außer mir sonst kein anderer Schüler im Senior-Jahrgang gemacht hatte. Piper, meine beste Freundin – so ziemlich meine einzige Freundin –, und ich waren anscheinend die Einzigen, bei denen kein cooles neues Auto im Führerschein mit inbegriffen gewesen war. Daher mussten wir andere Wege finden, zur Schule zu gelangen. Wir hatten beide ein Problem mit der bescheuerten Hackordnung an der Highschool und hatten uns daher direkt angefreundet. Vielleicht lag es auch daran, dass wir in dieser seltsamen Hierarchie irgendwie keinen Platz hatten.

Auf dem letzten Stück bergab drückte mir der Wind meine Brille gegen das Gesicht.

Unten wartete Greenwood Senior High, ein nicht sonderlich strahlender Tempel des Wissens, vor dessen Einfahrt die Autos Schlange standen.

Ich schlängelte mich zwischen den Fahrzeugen hindurch, die auf den Schulparkplatz wollten. Vom Fahrrad abgestiegen bahnte ich mir einen Weg über den Fußgängerübergang, als jemand hupte und den Motor aufheulen ließ.

»Mach hin, Neue«, rief ein Typ mir durch das Fahrerfenster zu. Er und seine Freunde lachten. »Oder hast du wieder einen Kloß im Hals?« Er legte sich die Hände an die Kehle und gab erstickte Laute von sich.

Meine Hände verkrampften sich am Lenker. Noch drei Monate. Ich musste diesen Mist nur noch drei Monate lang ertragen. Aus irgendeinem dämlichen Grund hatte ich in meinem ersten Jahr hier gedacht, ich könnte am Talentwettbewerb der Schule teilnehmen. Einen Song für meinen Dad singen. Um ihm zu zeigen, dass er sich nicht in mir getäuscht hatte. Dass ich es draufhatte.

Der Plan war gewesen, dass ich mich einfach auf die Bühne schwingen und die Töne aus mir herauspressen würde. Das war so was von nach hinten losgegangen, und ich spürte noch drei Jahre später die Hitze der Demütigung am Nacken.

Natürlich war ich von der Bühne gerannt. Und niemand hier ließ mich das vergessen. Dabei hatte sich mein Spitzname »Die Neue« etabliert, nachdem irgendjemand das auf meine Intro-Karte geschrieben hatte.

Die Cliquen der coolen Kids hingen immer bis zum letzten Klingeln bei ihren Autos herum, um anzugeben. Ich hatte verschlafen, in der Hoffnung, heute nicht zur Schule zu müssen, weil ich mir einen Virus eingefangen hatte … oder vielleicht auch Ebola.

Vor dem Unterricht musste ich noch an meinen Spind. Das bedeutete, ich würde mich dem Gedränge im Gang stellen müssen, bis sich alle erinnerten, warum wir uns eigentlich an einem Montagmorgen in diesem Betonklotz aus den Siebzigern befanden, der nicht einmal funktionierende Heizungen besaß.

Noch immer strömten nagelneue Autos und alte Klapperkisten auf den Parkplatz. So wie es aussah, war ich nicht die Einzige, die heute zu spät kam. Die hinterste Reihe an Stellplätzen war für das Football-Team reserviert. Am weitesten vom Schulgebäude entfernt, aber dem Football-Feld am nächsten.

Die Spieler lachten, gaben sich High Fives und warfen sich einen Football zu, als würden sie nicht schon bei den Spielen und beim Training genug Zeit mit diesem Ball verbringen. Meine Augen zuckten in ihre Richtung und huschten über die Gruppe, dabei raste mein Herz aus Angst, dass Dare meinem Blick begegnen könnte. Aber warum sollte jemand wie er in Kauf nehmen wollen, dass einer seiner Kumpels ihn dabei ertappte, wie er die Neue ansah?

Ich stellte mein Fahrrad ab und ließ das Schloss mit einem Klicken einrasten. Dann ging ich ins Gebäude und ließ die Greenwood Grizzlies hinter mir zurück. Der Gang war mit Bannern und Flyern für alle möglichen Veranstaltungen dekoriert, die zum Schuljahresende anstanden. Ausflug der Abschlussklasse, Frühlingsmusical, Abschlussball, Talentwettbewerb. Aber die größten Banner gehörten zum Bedlam-Bowl-Football-Spiel, bei dem die Juniors gegen die Seniors antreten würden. Es nahm mehr Platz ein als jedes andere Event an der Schule, obwohl es nur ein Übungsspiel innerhalb unseres eigenen Teams war. Das zeigte, wie sehr Football unsere Schule regierte. Selbst das Training der Mannschaft stand an erster Stelle.

Ich öffnete das Zahlenschloss an meinem Spind, als plötzlich jemand von hinten gegen mich stieß und mein Kopf dabei gegen das Metall knallte.

Ich trat zurück und rieb mir die Stirn. Als ich mich umdrehte, konnte ich nicht erkennen, wer es gewesen war, weil die Person bereits in der Menschenmenge untergetaucht war. War das Absicht gewesen oder war ich so unbedeutend, dass man mir nicht mal ausweichen musste? Ich wusste nicht, was schlimmer gewesen wäre.

Als ich genervt meinen Spind aufriss, teilte sich gerade die Menge am Ende des Gangs. Keine Verbeugungen oder Wedeln mit Palmenblättern? Welch Überraschung. Kleinstädter liebten ihren Sport, aber Gewinnerteams? Eigentlich war es ein Wunder, dass sie nicht konstant mit Rosenblättern und Glitzer beworfen wurden. Selbst nach drei Jahren in dieser Stadt verstand ich diese Heldenverehrung immer noch nicht.

Allen voran marschierte Dare mit einer Selbstsicherheit durch den Korridor, die nicht mal die Lehrer besaßen. Er war nicht der Quarterback – Bennet sorgte dafür, dass niemand vergaß, wer diese Position innehatte –, aber das hielt die Leute nicht davon ab, Dare anzuhimmeln.

Ich drehte mich wieder zu meinem Spind um und wühlte darin herum. Die Mathehausaufgaben, die ich letzte Woche gemacht und hier gelagert hatte, waren nicht in meinem Matheordner. Eine Ecke des Blattes ragte aus der kaum vorhandenen Lücke an der Seite meines Spinds hervor. Mit spitzen Fingern und konzentriert herausgestreckter Zunge versuchte ich, den Zettel herauszuziehen, ohne ihn zu zerreißen. Die Aufgaben vor dem Unterricht noch mal neu zu machen war keine Option. Dafür blieb nicht genug Zeit. Warum bekamen wir eigentlich noch richtige Hausaufgaben? Hatten alle nicht schon längst ihre Bewerbungen losgeschickt?

»Letterman-Jacken für die Parade heute, was?« Die Spinde wankten, als Piper ihren Platz neben mir einnahm. Die Parade der Football-Spieler war eine inoffizielle Tradition an der Greenwood Senior High. Jeder Spieler bekam zum Saisonanfang eine Letterman-Jacke, also eine Art Fliegerjacke aus Baumwolle in Marineblau und Gelb. Mit so einer kletterte man auf der Leiter der sozialen Rangordnung mindestens zehn Stufen höher. Die Spieler ließen nicht mal ihre Freundinnen die Jacken tragen.