The truth behind your lies - Silke Heimes - E-Book

The truth behind your lies E-Book

Silke Heimes

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Beschreibung

Selbstdarstellung im Netz, Umgang mit sozialen Medien und Probleme von Heranwachsenden – ein Roman, voll von aktuellen Themen Nach dem Abi fahren Flo, Jens, Emmy, Rod und Ann in die Schweizer Berge und verbringen dort einige gemeinsame Tage. Die Hütte dafür hat ihnen Außenseiter Jan organisiert. Hätten die Freunde das Angebot mal lieber nicht angenommen, denn er hat einen gefährlichen Plan: Das perfekte Leben der Fünf hat viele Schattenseiten, und die will Jan der Welt offenbaren. Dafür hat er überall Kameras versteckt und sich den Youtube-Kanal "The truth behind" erstellt. Doch was Jan damit ins Rollen bringt, ist viel größer als erwartet ... Ein spannender, kritischer Thriller, der einen nicht mehr loslässt!

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Über das Buch

Nach dem Abi fahren Flo, Jens, Emmy, Rod und Ann in die Schweizer Berge und verbringen dort einige gemeinsame Tage. Die Hütte dafür hat ihnen Außenseiter Jan organisiert. Hätten die Freunde das Angebot mal lieber nicht angenommen, denn er hat einen gefährlichen Plan: Das perfekte Leben der Fünf hat viele Schattenseiten, und die will Jan der Welt offenbaren. Dafür hat er überall Kameras versteckt und sich den Youtube-Kanal „The truth behind“ erstellt. Doch was Jan damit ins Rollen bringt, ist viel größer als erwartet …

Ein spannender, kritischer Thriller, der einen nicht mehr loslässt.

INHALT

#1 JAN

#2 EMMY

#3 JAN

#4 EMMY

#5 JAN

#6 EMMY

#7 JAN

#8 EMMY

#9 JAN

#10 EMMY

#11 JAN

#12 EMMY

#13 JAN

#14 EMMY

#15 JAN

#16 EMMY

#17 JAN

#18 EMMY

#19 JAN

#20 EMMY

#21 JAN

#22 EMMY

#23 JAN

#24 EMMY

#25 JAN

#26 EMMY

#27 JAN

#28 EMMY

#29 JAN

#30 EMMY

#31 JAN

#32 EMMY

#33 JAN

#34 EMMY

#35 JAN

#36 EMMY

#37 JAN

#38 EMMY

#39 JAN

#40 EMMY

#41 JAN

#42 EMMY

#43 JAN

#44 EMMY

#45 JAN

#46 EMMY

#47 JAN

#48 EMMY

#49 JAN

#50 EMMY

#51 JAN

#52 EMMY

#53 JAN

#54 EMMY

#55 JAN

#56 EMMY

#57 JAN

#58 EMMY

#59 JAN

#60 EMMY

#61 JAN

#62 EMMY

#63 JAN

#64 EMMY

#65 JAN

#66 EMMY

#67 JAN

#68 EMMY

#69 JAN

#70 EMMY

#71 JAN

#72 EMMY

#73 JAN

#74 EMMY

#75 JAN

#76 EMMY

#77 JAN

#78 EMMY

#79 JAN

TRIGGERWARNUNG

NACHBEMERKUNG

DANKSAGUNG

#1 JAN

Mister Isangs Barthaare vibrieren wie die Saiten eines Cellos. Ein leichter Wind kämmt das Fell der Maus mit spitzen Fingern. Ähnlich einem Erdmännchen auf Wachposten sitzt sie an der Ecke der Bank und späht auf die Gipfel der Berge. Fehlt nur noch, dass die Maus ihre Knopfaugen mit den Pfoten gegen die Sonne abschirmt, die seit dem Mittag auf der Bank vor der Hütte liegt und den Staub glänzen lässt.

»Isang.« Jan reibt die Fingerspitzen aneinander, um die Maus zu sich zu locken.

»Na komm schon.« Er schnalzt mit der Zunge.

Aber die Maus ist viel zu schlau. Sie weiß, dass Jan keinen Käse in der Hand hat. Es wundert ihn ohnehin, dass sie überhaupt noch Käse anrührt. Er hat keine Ahnung, wie lange sie mit dem winzigen Eckchen in der Lebendfalle gehockt hat, in die Jans Mutter sie gelockt und aus der Jan sie wieder befreit hat. Aber es kann kein schönes Erlebnis gewesen sein.

»Na komm.« Dieses Mal ködert Jan seinen Freund mit einem Stück echtem Schweizer Emmentaler, den er im Migros-Supermarkt gekauft hat, gleich nachdem er am Mittag in der Schweiz angekommen ist.

Vorsichtig greift Isang danach. Er ist mit seinen winzigen, filigranen Pfoten so geschickt, dass er Jans Meinung nach damit glatt Geige spielen könnte.

»Musst dir nix einbilden«, sagt Jan, während Isang vor sich hin knabbert. »Die Löcher haben die nicht extra für dich da reingebohrt.«

Isangs Ohren bewegen sich hin und her, als verstünde er jedes einzelne Wort.

Jan blickt zum Tschingel, auf dessen Spitze noch Schnee liegt, und hört das leise Plätschern des Seilibachs, der hinter der Hütte vorbeifließt. Er hofft, dass sein Onkel niemals herausfindet, was er hier treibt. Oder besser gesagt: herausfinden wird, was er getrieben haben wird. Futur II.

Vielleicht hat die Clique doch recht und er ist ein Nerd. Das Abi ist vorbei und er denkt an Futur II.

Er hält Mister Isang, dessen Fell in der Sonne rötlich schimmert, ein zweites Stück Käse hin. »Das hast du dir verdient. Du warst die ganze Fahrt über so brav.« Mit dem Zeigefinger streichelt er die Maus zwischen den Ohren und fährt ihr Rückgrat entlang. Mister Isang zuckt wohlig. Wenn Jan die Maus kitzelt, gluckst sie wie ein Baby.

Er nimmt sein Cello aus dem gefütterten schwarzen Koffer und klemmt es sich zwischen die Beine. Dort liegt es wie eine Verlängerung seines Körpers. Nicht unbedingt Stradivaris Mara, aber handgefertigt und exakt auf Jans Körpermaße und Bedürfnisse zugeschnitten.

»So, Mister Isang. Hör gut zu.« Jan setzt den Bogen an. Bachs Suite No. 1 in g-Moll. Genau das Richtige, um seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Enthusiastisch streicht Jan über die Saiten, schwingt den Bogen im Sechzehnteltakt, bis er die Melodie abrupt abreißen lässt, um mit einem raschen Klangfarbenwechsel fortzufahren, sich die Tonleiter nach oben zu arbeiten und in einem alles erlösenden Akkord zu enden. Wie beim Orgasmus. Oder so wie Jan sich einen Orgasmus vorstellt. Mit einem Mädchen. Mit dem Mädchen! Sofort taucht ihr schmales Gesicht vor seinen Augen auf. Die blasse Haut, die über das ganze Gesicht gesprenkelten Sommersprossen, die roten Haare und ihre grünen Augen.

Jan lehnt den Rücken an die Hauswand und drückt die Daumen auf die Augen, bis sich ihre Gesichtszüge in wirbelnden Farbkreisen auflösen.

Er setzt den Bogen erneut an. »Wollen doch mal sehen, was der gute alte Bach sonst noch so zu bieten hat.«

Er spielt das Lieblingslied seines Vorbildes Isang David Enders, Namenspate seiner Maus und bester Bachinterpret aller Zeiten. Findet Jan jedenfalls.

Nachdem die letzten Töne der Suite No. 5 verklungen sind, lässt Jan den Bogen sinken. Er blickt zu Isang. Aber die Maus sitzt nicht mehr auf der Bank.

Jan legt das Cello in den Koffer und klickt den Bogen in den Magnethalter. Er steht auf und blickt den Hang hinunter. Weit und breit keine Maus. Allerdings ist das von gelbem Klee durchzogene Gras so hoch, dass man darin nicht einmal eine Katze sehen würde. Irgendwo kreischt eine Eule. Jan läuft den Hang ein Stück nach unten und durchpflügt das Gras mit den Füßen.

»Isang!«

Wieder und wieder ruft er nach der Maus.

Schließlich stiefelt er den Hang wieder nach oben. Wie konnte er nur so dumm sein, Isang unbeobachtet aus dem Käfig zu lassen? Einen kleinen Mäuserich, der nicht weiß, was ein Falke ist, und keine Ahnung hat, wie man einer Schlange entkommt.

Als Jan gerade ein weiteres Mal nach seiner Maus rufen will, entdeckt er sie unter der Bank. »Mensch, Isang«, sagt er und merkt selbst, dass seine Stimme wie die eines Zehnjährigen klingt, wie immer, wenn er aufgeregt oder ängstlich ist. Aber Hauptsache, er hat Isang gefunden.

Die Maus wälzt sich auf dem Boden und fiept. Jan beugt sich zu ihr und streckt die Hand aus. Anders als sonst klettert Isang nicht sofort drauf, sondern reibt nur weiter den Rücken auf dem Boden. Obwohl Jan die Maus normalerweise in Ruhe lässt, wenn sie nicht kommen will, greift er jetzt nach ihr und setzt sie auf seine Handfläche. Er führt die Maus so nah ans Gesicht, dass ihre Schnurrhaare seine Nase kitzeln. Aber Isang dreht und windet sich, als versuche er, mit seiner Schnauze den eigenen Rücken zu erreichen.

»Was ist?« Jan fährt mit dem Finger die Wirbelsäule der Maus entlang, kann aber nichts Besonderes feststellen.

»Jetzt bekommst du erst einmal etwas Feines!« Jan setzt Isang auf die Baumwolle, die er extra für die Reise in den Käfig gelegt hat. Er zieht das bereits leicht weich gewordene Snickers aus der Seitentasche seiner Cargohose, bricht ein Stück ab und legt es Isang vor die Schnauze.

So wild Isang sonst auf alles ist, was nach Nüssen riecht, dieses Mal leckt er nur kurz an Jans klebrigen Fingern und gräbt sich dann so tief wie möglich in die Baumwolle.

Etwas ratlos schließt Jan die Tür des Käfigs, hebt ihn an und geht in die Hütte.

Im Flur stinkt es nach totem Waschbär. Der Gestank kommt vermutlich von dem Flickenteppich, an dessen Rand ein Fleck zu sehen ist. Dunkelrot wie von getrocknetem Blut. Oder kommt der Geruch von den schlammverkrusteten Gummistiefeln neben dem Teppich? Der Burberryjacke, die an der Garderobe mit den Hirschgeweihen hängt?

Jan ist jedenfalls froh, dem Mief zu entkommen.

In der Küche stellt er Isangs Käfig auf den Tisch. Unter einer Plexiglasplatte liegt eine Wanderkarte, auf der ein paar Wege rot markiert sind. Um den Tisch herum stehen sechs Stühle mit herzförmigen Löchern in den Lehnen. Die Sitze sind mit grünem Stoff bezogen, auf dem Hirsche herumspringen, die sich auch auf den Vorhängen wiederfinden. Jan stöhnt. Irgendwie hat er die Hütte anders in Erinnerung. Zumindest die Küchenschränke sind weiß und ohne Alpenflair.

Er lässt sich auf einen der Stühle fallen, der bequemer ist, als er aussieht, und schiebt Isangs Käfig zur Seite, um die unmittelbare Umgebung der Hütte auf der Karte zu studieren.

»Der Tschingel, siehst du?« Jan schiebt den Käfig noch ein Stück zur Seite, um auch das Kleine Wellhorn und das Chaltenbrunner Moor zu sehen. Mitten im Nirgendwo hat jemand drei rote Kreuze auf die Karte gemalt. Vielleicht Hochsitze oder sonst etwas für die Jagd.

Das Quietschen des Laufrades reißt Jan aus seinen Gedanken. Erleichtert, dass mit Isang doch alles in Ordnung zu sein scheint, blickt er hoch und sieht gerade noch, wie es die Maus aus dem Laufrad schleudert.

»Oh Mann.« Jan öffnet den Käfig und nimmt Isang heraus. »Was ist nur mit dir los?« Nachdenklich betrachtet er Isang. Er kann aber erneut nichts Ungewöhnliches feststellen und setzt die Maus wieder in den Käfig.

»Tut mir leid, dass ich jetzt nicht mit dir spielen kann, Kumpel«, sagt er. »Aber ich muss echt loslegen.«

In diesem Augenblick steigt ein stechender Geruch aus dem Käfig in seine Nase. Fast so schlimm wie der Gestank im Flur. Jan hat keine Ahnung, was das ist, zumal er die Streu auf der Fahrt gewechselt hat. Aber der Gestank ist unerträglich. Entschlossen greift er nach dem Käfig und trägt ihn vor die Hütte. Er zieht das angebrochene Snickers aus der Tasche und bricht es in der Mitte durch. Die eine Hälfte schiebt er durch die Gitterstäbe, die andere steckt er sich selbst in den Mund. Dann geht er zurück in die Küche.

Okay, der Tisch sollte auf jeden Fall zentral zu sehen sein. Da die Kameras eine Weite von zehn Metern und einen Winkel von hundertfünfzig Grad abdecken, dürfte die Deckenlampe das beste Versteck sein. Überdies lässt sich der Magnet sicher leicht an das Metall der Lampenhalterung klicken. Natürlich wäre das auch der erste Ort, an dem man eine Kamera vermuten würde, aber die Dinger sind gerade einmal so groß wie eine Walnuss, und wenn man nicht darauf achtet, entdeckt man sie nicht.

»Was meinst du, Mister Isang, sollen wir …?« Jan bricht ab. Peinlich genug, sich mit einer Maus zu unterhalten, aber mit einer, die gar nicht im Zimmer ist?

Nachdem er die Kamera in der Deckenlampe installiert hat, geht er in den Flur und öffnet die Tür zur Toilette. Die Wände sind grün, von der Decke baumelt eine Glühbirne, das Toilettenpapier liegt auf dem Boden, in der Ecke steht eine abgenutzte Klobürste. Die Toilette ist so winzig, dass man sich beim Sitzen die Knie an der Tür stößt. Nichts, wo man eine Kamera verstecken könnte. Aber egal. Dann installiert er eben nur im Badezimmer im ersten Stock eine, lohnt sich wahrscheinlich ohnehin mehr.

Er geht ins Wohnzimmer. Gegenüber der Tür befindet sich ein offener Kamin, neben dem ein gefährlich aussehender Schürhaken und eine riesige Greifzange hängen. Vor dem Kamin steht ein geblümtes Sofa, das von zwei Sesseln flankiert wird. Dahinter prangt ein Ölgemälde, das schon ganz rissig ist. Eine Jagdszene. Klar. In einer Ecke des Wohnzimmers steht ein Schaukelstuhl, auf dem Beistelltisch liegt ein Buch über Pflanzenkunde.

Jan installiert eine Kamera in der Halbschalenlampe über dem Kamin und eine an der Wand neben dem Schaukelstuhl auf dem Podest des ausgestopften Marders. Nur gut, dass er die selbst klebenden Magnethalter noch gekauft hat, sonst hätte er jetzt ein Problem, da an dem Marder nichts Metallisches ist.

Er verlässt das Wohnzimmer und stößt die dritte Tür auf, die direkt neben der Treppe liegt und in das kleinste der insgesamt drei Schlafzimmer führt. In ihm befindet sich ein französisches Bett, das zu beiden Seiten einen schmalen Gang von etwa zwanzig Zentimetern frei lässt. Die Wände sind in einem unnatürlichen Himmelblau gestrichen und über dem Kopfende des Bettes hängt ein weiteres Ölgemälde. Diesmal ein Fasan. An der Decke in der Mitte des Zimmers befindet sich ein Kristalllüster. So seltsam er sich in der Hütte ausnimmt, so perfekt eignet er sich als Versteck für die Kamera.

Jan streift seine Vans ab und klettert aufs Bett, dessen Matratze dermaßen durchhängt, dass er beinahe runterfällt.

Als er sich nach dem Kristalllüster streckt, fehlen ihm schlappe zehn Zentimeter. Also steigt er auf das wackelige Bettgestell, von dem aus er es gerade so schafft. Mit einem satten Klicken haftet der Magnet an der Lampe. Na bitte! Bleibt zu hoffen, dass die Internetverbindung wirklich so stabil ist, wie gedacht.

Jan springt vom Bett, schlüpft in seine Schuhe und steigt die Stufen in den ersten Stock hoch. In dem Zimmer, das der Treppe gegenüberliegt, sind die Wände in einem seltsamen Beige gestrichen. Das Bett ist zwei mal zwei Meter groß und hat einen soliden Holzrahmen mit geschnitzten Ornamenten. Hirsche. Klar. Aber das Schärfste ist das Geweih über dem Kopfende. Nicht nur das Geweih, sondern gleich noch der Kopf dazu. Er wirkt so echt, dass Jan das Gefühl hat, der Hirsch glotze ihn direkt an.

Nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hat, schmeißt er sich aufs Bett und lacht, während er den Hirsch, dessen Schnauze so feucht ist, dass er unmöglich tot sein kann, noch eine Weile im Blick behält.

Schließlich rollt er sich auf den Bauch, stützt das Kinn in die Hände und sieht aus dem Fenster. Auf die Berge. »Hier lässt es sich aushalten, was? Obwohl …« Er blickt zum Hirsch. »Big deer is watching you.«

Auch in diesem Zimmer muss Jan aufs Bettgestell klettern, um die Kamera hinter dem Geweih zu positionieren. Mit den sagenhaften Klebestreifen, die … Vor der Hütte ertönt ein Scheppern. Jan hält wie eingefroren inne.

Es scheppert erneut.

Was ist das? Der Deckel einer Tonne? Jan erinnert sich nicht, ob die Mülltonnen aus Metall sind.

Er rast die Stufen nach unten, bremst im Flur kurz ab, strafft die Schultern und tritt vor die Hütte.

Die Sonne steht bereits so tief, dass er zunächst kaum etwas erkennt. Erst als er die Augen mit der Hand abschirmt, sieht er den Schotterweg. Alles sieht so aus, wie er es kurz zuvor zurückgelassen hat. Der verbeulte grüne Toyota steht genau da, wo Jan ihn abgestellt hat, Isangs Käfig steht noch auf dem Tisch und der Cellokoffer lehnt an der Bank.

Jan geht seitlich an der Hütte entlang. Er muss sich nah an der Hüttenwand halten. Nur wenige Zentimeter zu seiner Linken geht es steil in die Tiefe, von der ihn lediglich eine bröckelig aussehende Abbruchkante trennt.

Der Weg zum Schuppen wird von einer Brombeerhecke und ihren Ranken überwuchert. Jan schiebt eine der Ranken zur Seite, lässt sie aber schnell wieder los. Wahrscheinlich war es ohnehin nur ein Waschbär, der die Mülltonne umgeworfen hat.

Auch auf dem Rückweg hält er sich eng an der Hüttenwand. Auf halber Strecke stolpert er allerdings und knallt aufs Knie.

Puh! Das war knapp. Mit angehaltenem Atem blickt Jan in die Tiefe. Bestimmt zwanzig Meter bis zum Boden. Nichts, woran man sich festhalten kann. Nichts, was den Fall bremst. Da ist ein angeschlagenes Knie eine Kleinigkeit. Sein rechter Handballen brennt allerdings ziemlich heftig. Jan wischt die Steinchen von der Haut und begutachtet die Verletzung. Nur oberflächlich. Glück gehabt. Nichts, was ihn am Cellospielen oder seiner Mission hindert.

Als er vor der Hütte ankommt, klingelt sein Handy. Bis er es jedoch aus seinem Rucksack geholt hat, ist es verstummt.

Die Anrufliste zeigt einen verpassten Anruf seiner Mutter. Uff! Besser so. Wenn er jetzt mit ihr reden müsste, wäre das … Aber da kommt bereits eine Nachricht von ihr an: Hoffe, du bist gut in Budapest angekommen. Wünsche euch ein perfektes Auftaktkonzert.

#2 EMMY

»Autsch.« Emmy reibt sich die Stirn. Jetzt ist sie schon zum dritten Mal an diesem Abend gegen den Deckenbalken in Rods Dachwohnung gestoßen.

»Was ist?« Rod streckt den Kopf zur Badezimmertür heraus, die Augenbrauen hochgezogen. Sein muskulöser Oberkörper glänzt im Deckenlicht, um die Hüften hat er ein Handtuch geschlungen, dessen Knoten kurz davor ist aufzugehen.

Emmy reibt sich noch immer die Stirn. »Das gibt eine echt fette Beule.«

»Im Gefrierfach sind Coolpacks.« Das Handtuch rutscht. Rod bedeckt seinen Schritt mit der Hand.

Emmy lacht. »Da ist nichts, was ich nicht schon ein paarmal gesehen habe.« Sie öffnet das Gefrierfach. »Hier sind keine Coolpacks.«

Rod ist schon wieder im Badezimmer. »Das Eis. Mist! Vanille. Stimmts? Kann ich noch holen. Oder? Ich meine …« Dann folgt erst mal nichts.

Normalerweise findet Emmy Rods Marotte, Sätze anzufangen und nicht zu beenden, ganz charmant, aber jetzt will sie einfach was Kaltes für ihre Stirn. »Rod?« Sie schließt die Kühlschranktür, in der die Flaschen fürs Abendessen klirren.

»Ach ja. Warte. Die Coolpacks hab ich rausgetan. Sind unten bei Mum. Soll ich sie holen?«

»Wenn du fertig bist, gerne.« Emmy reibt sich ein letztes Mal die Stirn, dann zieht sie den Topf mit dem Reis vom Herd. Hoffentlich kann sie die Beule später überschminken. Die vorerst letzten Fotos für ihren Blog sollen natürlich top werden. Wie das Sushi auch.

Emmy knetet den Reis. Das stand so in dem Rezept. Auch wenn sie nicht weiß, ob das wirklich nötig ist, hält sie sich an die Anweisung. Daran soll das Essen schließlich nicht scheitern.

Der Reis fühlt sich schleimig an, klebrig. Angeblich der beste Reis für Sushi. Sie werden sehen. Emmy sollte aufhören, sich selbst immer so zu stressen. Aber sie macht echt drei Kreuze, wenn sie endlich im Zug sitzen.

So! Genug geknetet, gewalkt oder wie immer man das nennen mag. Sie begutachtet den Reis. Ganz weiß ist er noch immer nicht, obwohl sie ihn vor dem Kochen dreimal gewaschen hat. Ob das mit dem krebserregenden Arsen zusammenhängt? Das sich im Reis ja angeblich nicht ganz vermeiden lässt, aber im Basmatireis so gut wie nicht vorhanden sein soll.

Vielleicht hat die Farbe auch mit was anderem zu tun. Manchmal weiß Emmy echt nicht mehr, was sie noch guten Gewissens in dem Blog empfehlen kann. Lieber Biogurken in Plastik eingeschweißt oder doch eher unverpackte Standardware? Milch von Demeter-Kühen aus der Region oder pflanzliche Sojamilch aus Brasilien? Emmy seufzt. Sie und Flo haben den Blog extra back to nature genannt. Aber manchmal hat sie das Gefühl, dass sie gar nicht weiß, wie man sich am besten auf die Natur besinnt. Außerdem weiß sie nicht, ob der Blog wirklich das ist, was sie in Zukunft machen will. Am liebsten würde sie ja einen Roman schreiben. Mit sieben hatte sie die Idee, ein Jahr im Wald zu leben und darüber zu schreiben. Aber was weiß man mit sieben schon vom Schreiben? Vom Wald? Und davon, wie lang ein Jahr ist?

In den letzten Tagen hat Emmy sich manchmal vorgestellt, wie es wäre, allein in die Hütte in den Schweizer Bergen zu fahren. Nur sie, ihr Notizbuch und die Stille und Einsamkeit der Berge. Ein überwältigender Gedanke, der ihr fast die Tränen in die Augen treibt.

Emmy nimmt ihr Handy und startet die Aufnahmefunktion: »Ein optimal zubereiteter Reis ist das A und O für dein Sushi. Klebt der Reis nicht, hast du ein Problem.«

Sie stoppt die Aufnahme. Nein, so geht das nicht. Viel zu oberlehrerinnenhaft. Sie startet noch mal: »Du kannst es dir selbst ein wenig leichter machen, indem du Reis nimmst, der besonders gut klebt.«

»Wer klebt gut?« Rod kommt in frischen Klamotten aus dem Bad. Emmy hat sich noch immer nicht an seine raspelkurzen Haare gewöhnt. Aber Rod haben seine Locken genervt. Falsch. Die Locken mochte er. Nur die Leute nicht, die ungefragt reingefasst haben. Seit ihrer Beziehung mit Rod weiß Emmy, dass nicht nur Frauen mit dem Problem zu kämpfen haben. Auch wenn große Männer deswegen seltener angegrapscht werden.

Rod drückt ihr einen Kuss in den Nacken. Dann beugt er sich über die Spüle und kippt das Dachfenster. Ohne sich am Deckenbalken zu stoßen. Obwohl er einen Meter neunzig ist und Emmy nur einen Meter achtzig! Okay, ist auch seine Wohnung.

»Für was ist der denn?« Amüsiert zeigt Rod auf den Fächer mit den Kirschblüten und den chinesischen Schriftzeichen, den Emmy am Vortag noch kurz vor Ladenschluss im Asia Markt ergattert hat.

»Damit fächelt man den Reis, um ihn abzukühlen.«

»Echt jetzt?« Ein amüsierter Zug liegt um Rods Mund.

»Föhnen geht auch«, sagt Emmy.

Rod schüttelt ungläubig den Kopf. »Du verarschst mich doch.« Er greift nach einem Stück Lachs.

»Nicht.« Spielerisch schlägt Emmy ihm auf die Finger. »Den brauchen wir.«

»Jeden einzelnen Streifen?« Rod setzt diesen Welpenblick auf, dem Emmy nur schwer widerstehen kann.

Aber heute geht es um die Fotos für den Blog. Deswegen sagt Emmy versöhnlich: »Nach der Fotosession.« Sie legt ihren Kopf an Rods Brust und atmet seufzend ein. »Scheiße riechst du gut.«

»Nur Nivea.«

»Ich weiß.«

Rod streicht über Emmys Stirn. »Alles o. k.?«

»Ich will halt, dass das Sushi gut wird.«

»Weiß ich doch.« Rod vergräbt seine Nase in Emmys Locken und atmet ebenfalls seufzend ein. Das hat er von ihr. Wie sie das mit den Küssen auf die Nasenwurzel von ihm hat. Persönliches Erkennungszeichen hat er es genannt und Emmy hat es tatsächlich noch bei keinem anderen Paar gesehen.

»Weißt du, wenn wir den Blog nach dem Urlaub …«

»Genau! Nach dem Urlaub«, sagt Rod.

»Ich muss einfach professioneller werden, wenn ich das weitermachen will. Ich habe viel zu viel Essig in den Reis geschüttet.«

»Das sieht man auf den Fotos doch nicht.« Rod fährt mit dem Daumen über Emmys Lippen. »Und wenn du den Reis erst mal gefächelt hast.« Er grinst und küsst sie. »Stress dich nicht so. Du machst das prima.« Er hebt sie hoch und trägt sie zum Sofa.

»Nicht, Rod, bitte.«

»Nur ganz kurz?«

»Flo und Jens kommen gleich.«

»Ganz schnell?«

Emmy schüttelt den Kopf, auch wenn sie sich selbst dafür nicht besonders mag. Sie wäre auch gerne lockerer. Nicht immer so perfektionistisch. Sie überlegt, sich zu entschuldigen und Rod zu sagen, dass es auch wieder anders wird. Aber nicht mal das kann sie ihm versprechen. Denn es liegt ja nicht nur an ihrem Perfektionismus. »Hör zu …«

Rod legt ihr einen Finger auf die Lippen. »Schon okay. Wirklich.« Er küsst sie auf die Nasenwurzel. »Kann ich dir helfen?«

Emmy nickt und schüttelt dann den Kopf. Das ist ja Teil des Problems. Dass sie selbst nicht mehr weiß, was helfen könnte.

Doch in diesem Augenblick klingelt es und Rod geht zur Tür und drückt den Öffner. Auf der Treppe sind Schritte zu hören und kurz darauf wirbelt Flo ins Zimmer, gefolgt von Jens, der in der einen Hand eine Flasche Sekt und in der anderen Flos Kamera hält.

Flo schreitet an den Tellern auf der Küchenanrichte entlang, auf denen Emmy bereits Gurken, Karotten, Avocado, Paprika und Lachs arrangiert hat.

»Uih, mega. Und alles in Streifen.« Flo drückt Emmy einen Kuss auf die Wange. »Das werden supergute Fotos. Bei den Farben.« Mit einer schnellen Bewegung steckt sie sich einen Streifen Lachs in den Mund.

»Mensch, Flo, lass das! Wir brauchen die Sachen echt für die Fotos.«

»Du bist die Beste«, sagt Flo ganz einfach und gibt Emmy noch einen Kuss. Ihre Lippen sind vom Lachs ein wenig fettig und Emmy wischt sich über die Wange. Die Fotos!

»Ich leg die Kamera auf den Tisch, okay?«, fragt Jens.

Flo nickt.

»Und den Sekt stell ich in den Kühlschrank?«, fragt er.

Flo nickt ein weiteres Mal.

Emmy würde Jens’ Unterwürfigkeit nerven, wenn sie seine Freundin wäre, das gescheitelte Haar und die immer korrekte Kleidung. Aber Flo scheint das alles nicht zu stören.

»Ihr müsst jetzt mal für ’ne halbe Stunde verschwinden, Jungs. Wir brauchen den Tisch für die Fotos und …« Flo macht eine Handbewegung, als verscheuche sie Hühner. »Ruhe. Absolute Ruhe und Konzentration. Ihr versteht?« Sie lacht.

Wenn Emmy das gesagt hätte, hätte es sicher wieder Stress gegeben. Aber Flo verzeiht man das. Sie ist halt so. Klein, schnell und resolut.

»Wir holen dann mal das Eis«, sagt Rod. »Muss das auch mit auf die Fotos? Vielleicht mit Himbeersoße? Wegen der Farbe?« Er schlägt sich gegen die Stirn. »Ach und die Coolpacks! Sorry.«

Jens tippt Rod auf die Schulter. »Wir sollten gehen. Emmy wirkt schon etwas angepisst.«

Typisch. Irgendwie landet der Schwarze Peter immer bei ihr. Dabei hat Flo die beiden quasi rausgeworfen und sagt jetzt auch noch kackfrech: »Bye, bye.«

»Musik für euch?« Rod greift nach seinem Handy. »Fire?«

Schon erklingen die ersten Takte und Rod beginnt zu singen, bevor Barns die Gelegenheit dazu hat. Nur dass Rod leider keinen einzigen Ton trifft. Dafür singt er umso lauter: »Lonely shadows following me.«

»Dein Einsatz war mal wieder viel zu früh.« Jens grinst anzüglich, packt Rod am Ärmel und zieht ihn aus der Wohnung.

»Haben die überhaupt Geld dabei?«, fragt Emmy.

Flo verdreht die Augen. »Kennst doch Jens. Der hat seine Kreditkarte immer parat.« Sie nimmt eine Bambusmatte, legt ein Noriblatt darauf, schaufelt eine Handvoll Reis oben drauf und garniert das Ganze mit Gurkensticks und Lachsstreifen. Sie betrachtet ihr Kunstwerk. »Perfekt«, sagt sie dann und Emmy beneidet Flo mal wieder darum, dass sie nicht lange fackelt, sondern einfach macht. Allerdings redet sie auch nicht gerne über Probleme. Aber Emmy muss mit ihr reden. Am besten sofort. Damit sie die Sache aus dem Kopf bekommt. »Flo?«

»Hm?«

»Können wir noch mal über das Sponsoring durch Kooperationen für den Blog sprechen?«

Flo stöhnt und verdreht ihre blauen Augen.

»Bitte. Ich fühl mich dabei echt unwohl. Die Ortovox-Jacke ist schweineteuer. Merinowolle! Und was ist, wenn die Schuhe unbequem sind? Müssen wir dann trotzdem schreiben, wie super wir die finden? Und dass der Rucksack praktisch ist, obwohl die vielen Schnallen nerven?« Emmy hat so schnell geredet, dass sie erst mal Luft holen muss. Sie wartet darauf, dass Flo etwas sagt, aber die rollt nur weiter ihre Algenblätter. Aber das wenigstens so, wie Emmy es ihr gezeigt hat.

Emmy quetscht einen Reisklumpen zwischen ihren Fingern hindurch. Wahrscheinlich nicht besonders hygienisch, aber, hey, Rod würde sagen, dass man das auf den Fotos ohnehin nicht sieht.

»Die haben doch gesagt, dass wir uns bei den Bewertungen total frei fühlen sollen«, sagt Flo schließlich und zuckt mit den Schultern. »Also mach dir keinen Kopf.«

»Aber wir machen uns abhängig! Darum geht es doch bei Kooperationen, oder nicht? Man wird beeinflussbar.«

Flo hört auf zu rollen. »Ist das nicht immer so? Meine Mutter muss in ihrer Marketingagentur doch auch springen, wie die Kunden das wollen.« Flo schiebt energisch die Ärmel ihres pinken Hoodies nach oben.

»Mag sein, aber …«

»Außerdem kann man doch immer auch Nein sagen.« Ärmel runter.

»Wenn das so einfach wäre.«

»Ist es.« Ärmel wieder hoch.

Dieses Ärmel hoch und runter nervt Emmy, aber sie weiß, dass Flo das nur macht, wenn sie nervös ist. Was wiederum ein gutes Zeichen ist, weil es bedeutet, dass Flo die Sache ernst nimmt.

In diesem Augenblick klingelt Emmys Handy, das neben dem Kühlschrank liegt. Flo, die näher dran ist, schielt aufs Display. »Ann.« Sie nimmt das Handy und hält es Emmy hin.

Emmy senkt den Blick und starrt auf Flos schwarze Chucks mit den weißen Häschen, als stünde dort eine Regieanweisung.

»Willst du nicht rangehen?« Flo hält Emmy noch immer das Handy hin.

»Schon, aber …«

»Scheißsituation?«

Emmy nickt. Nickt und nickt. Wie so ein Scheißwackeldackel auf der Hutablage im Auto.

#3 JAN

Die Schotterstraße windet sich in Serpentinen den Hang hinab. Immer wieder kreuzt sie den Seilibach, der im Sommer ganz harmlos vor sich hin plätschert, bei der Schneeschmelze im Frühjahr allerdings leicht mal über die Ufer treten und die Straße überfluten kann. Unaufhörlich schlagen Steine von unten gegen den Wagen und alle hundert Meter muss Jan ein Schlagloch umfahren. Oder mitten durch. Er umklammert das Lenkrad, seine Hände sind vor Anspannung ganz feucht. Hinter der nächsten Spitzkehre liegt ein Ast quer auf der Fahrbahn. Jan muss voll in die Bremsen treten. Der Motor stottert und erstirbt. Der Wagen kommt knapp vor dem Ast zum Stehen. Jan zittert am ganzen Körper. Er blickt zu Isang, dessen Käfig gegen das Armaturenbrett gerutscht ist. »Alles okay, Kumpel?« Sogar seine Stimme zittert. Er schiebt den Käfig zurück auf den Sitz, atmet tief ein, gibt sich einen Ruck und steigt aus.

Der Ast stammt von einer Fichte und ist schwerer, als er aussieht. Jans Füße finden kaum Halt auf dem Schotter und sein aufgeschürfter Handballen brennt höllisch. Zentimeter für Zentimeter zieht er den Ast von der Straße, steigt wieder ein, schnallt sich und den Käfig fest und fährt los.

Er versucht, sich die Windungen des Weges so gut wie möglich einzuprägen. Auch wenn er nicht vorhat, die Strecke im Dunkeln zu fahren, weiß man schließlich nie.

Nachdem Jan den Wald verlassen hat, wird es schlagartig heller. Er passiert Wiesen und Äcker mit braun gefleckten Kühen, um deren Hälse dicke Glocken hängen. Es riecht nach frisch gemähtem Gras und Jan summt Strawberry Fields forever von den Beatles vor sich hin. Das Zusammenspiel von Cello und Gitarre in diesem Lied fasziniert ihn. Außerdem liebt er die Zeile: »It’s getting hard to be someone.« Genau, verdammt schwer, jemand zu sein.

Die Schattenhalb sieht aus, als habe ein Riese mal eben ein paar Häuser auf ein paar Hügel geworfen. Die Straßen weisen keinerlei Systematik auf und Jan muss den Ort zweimal abfahren, bevor er die Pension in einer Sackgasse entdeckt. Ufem Egg steht auf einem verwitterten windschiefen Schild. Auf dem Parkplatz steht ein roter VW Bus mit deutschem sowie ein blauer Land Rover mit Züricher Kennzeichen. Jan stellt seinen grünen Toyota neben den Land Rover.

Auf der angrenzenden Wiese grasen Schafe. Auch sie tragen Glöckchen. Kleiner und heller als die der Kühe. Jan grinst darüber, dass in der Schweiz nicht nur die Kühe, sondern auch die Schafe Glöckchen haben.

Leider riecht es kein bisschen mehr nach frisch gemähtem Gras, sondern vielmehr nach frisch ausgefahrener Gülle, und Jan kurbelt schnell das Fenster nach oben.

Als sein Blick auf Isang fällt, schlägt er sich gegen die Stirn. »Mist. Ich habe bei der Anmeldung vergessen zu sagen, dass du dabei bist.«

Isang wühlt in der Baumwolle. Jan macht sich noch immer Sorgen, ob mit ihm auch wirklich alles in Ordnung ist. Keinesfalls möchte er die Maus über Nacht allein im Wagen lassen.

»Wir warten, bis es dunkel ist, okay? Dann schmuggle ich dich rein«, sagt er, als es plötzlich an der Seitenscheibe klopft und ein Mädchen mit pinken und grünen Haarsträhnen durchs Fenster blickt.

Als Jan die Fahrertür öffnet, rutscht ihm der Griff aus der Hand, die Tür schwingt auf und knallt in die Angeln. Das Mädchen kann gerade noch rechtzeitig zur Seite springen. Jan spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt.

»Ganz schö’ wild.« Das Mädchen lächelt. Es hat Grübchen in den Wangen.

»Jan, oder? Ich bin d’ Maira.« Sie hebt die Hand zum Gruß und streicht sich eine pinke Strähne aus dem Gesicht.

»Kannst drüben parkiere?« Sie zeigt ans andere Ende des Platzes. »Morgen kommen die Bauarbeiter.«

»Da drüben parken?« Jan ist sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hat.

Doch da beugt Maira sich zu ihm ins Auto und zeigt auf Isang. »Jöh, is die härzig.«

Maira riecht leicht nach Aprikose. Entweder ist es ihre Haut oder es sind die Haare oder …

»Mister Isang«, stellt Jan die Maus vor. »Ich hatte vergessen zu sagen, dass …«

Maira beugt sich noch weiter ins Auto, um den Käfig zu erreichen und die Maus zu streicheln. Als ihre Brust Jans Wange streift, glüht sein Gesicht noch heftiger. Doch so weit Maira sich auch streckt, sie erreicht den Käfig nicht und richtet sich schließlich wieder auf, wobei sie sich eine grüne Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. »Mir haben Chüngle«, sagt sie.

Jan nickt. Er hat nicht vor zu fragen, was Chüngle sind. Nicht, solange sein Gesicht dermaßen glüht. Solange sein Gesicht so leuchtet, wird er gar nicht …

Doch da übersetzt Maira das Wort schon. »Hasen«, sagt sie lächelnd und wieder erscheinen diese Grübchen in ihren Wangen.

»Soll ich Bärndütsch rede?«, fragt sie, als habe sie gerade erst bemerkt, dass Jan ein klitzekleines Problem mit ihrem Dialekt hat.

Er nickt dankbar, um beim nächsten Satz festzustellen, dass dieses Bärndütsch genauso klingt wie das, was Maira zuvor gesprochen hat.

In diesem Moment klopft Maira salopp aufs Autodach und verschwindet in Richtung Haus.

#4 EMMY

»Nimm mich mit, bitte!« Mike liegt auf Emmys Bett, die Hände flehentlich in ihre Richtung gereckt.

»Hör schon auf.« Emmy sitzt aufrecht am Schreibtisch und zieht konzentriert ein elfenbeinfarbenes Falzmesser über ein rotes Blatt Papier.

»Es ist wichtig! Bitte. Sonst werde ich … Ich werde ganz sicher …«

Aus den Augenwinkeln sieht Emmy, wie ihr kleiner Bruder die Zunge herausstreckt und schielt. »Mike!« Emmy bemüht sich um einen strengen Tonfall, auch wenn sie kurz davor ist zu lachen. Hoffentlich sieht Mike das nicht an ihren leicht bebenden Schultern, sonst nutzt er das sofort aus. »Du kannst nicht mit«, sagt sie ernst und faltet das Papier erst der Länge und dann der Breite nach. Wieder zieht sie das Falzmesser über die Kanten. »Aus dem einfachen Grund, dass du weder zur Clique gehörst noch Abi gemacht hast.«

Mike seufzt und angelt sich einen von Emmys neuen kanariengelben Wanderschuhen. »Du weißt aber schon, dass die total scheiße aussehen?« Er lässt den Schuh am Schnürsenkel hin und her baumeln. Emmy faltet das Papier erst in die eine und dann in die andere Diagonale.

»Ich meine, klar, spart die Signalpistole. Aber mal ehrlich …« Er nickt mit dem Kinn in Richtung des ebenfalls neuen türkisfarbenen Rucksacks. »Wie kann man der Natur so was antun? Menschen mit diesen Farben auf sie loslassen?« Mike pendelt den Schuh noch mal hin und her, dann lässt er ihn los. Der Schuh knallt gegen die Balkontür und rutscht zu Boden.

»Mensch, Mike!« Emmy merkt, dass sie viel angepisster klingt, als es angemessen wäre. »Sorry, aber …« Sie zuckt mit den Schultern, weil ihr nichts weiter dazu einfällt. Dann faltet sie das Papier ein weiteres Mal, sodass es wie ein zusammengepresstes Quadrat aussieht.

»Der wievielte Kranich ist das? Numero tausend?« Ihr Bruder sieht zur Decke, wo Kraniche in allen Farben und Größen an beinahe unsichtbaren Fäden hängen und durch den Raum zu schweben scheinen.

»Basteln beruhigt mich halt«, sagt Emmy.

Mike rafft sämtliche Kissen zusammen, die auf Emmys Bett zu finden sind, und stapelt sie zu einem Turm. Er verpasst dem obersten Kissen in der Mitte einen Handkantenschlag und legt seinen Kopf zufrieden grinsend darauf, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Ich hab das noch immer nicht kapiert«, sagt er. »Was ist, wenn dir die Schuhe nicht gefallen?«

Emmy versteht erst, was ihr Bruder meint, als er ein Paar Socken auf den Wanderschuh pfeffert, der an der Balkontür liegt.

»Ich meine, wenn die total kacke sind und voll unbequem? Musst du dann trotzdem schreiben, dass sie super sind? Nur weil du die umsonst bekommen hast?«

»Problem erkannt.« Emmy seufzt.

»Ich würde mich für so was ja nicht hergeben.«

»Dir bietet so was ja auch niemand an.«

Mike pustet in Richtung der Kraniche, als seien sie Teil eines Mobiles. Da sie aber bestimmt einen halben Meter über seinem Kopf schweben, bewirkt sein Pusten gar nichts. Trotzdem pustet er ein weiteres Mal, bevor er leise sagt: »Ich könnte doch wenigstens für ein oder zwei Tage kommen.«

Emmy dreht sich um und blickt ihrem Bruder fest in die Augen. »Er ist nicht dabei.« Zur Sicherheit wiederholt sie es: »Er. Ist. Nicht. Dabei.« Doch kaum dass sie zu Ende gesprochen hat, tut es ihr schon leid, einen so schroffen Ton an den Tag gelegt zu haben. Mike sieht kein bisschen aufmüpfig mehr aus, sondern eher traurig und verloren. Kurz ist Emmy versucht, zu ihm zu gehen, ihn in die Arme zu ziehen und ihm einen Kuss auf seine rotblonden Haare zu drücken. Aber dann beschränkt sie sich darauf, einfach nur zu fragen: »Warum er?«

Mike zuckt hilflos mit den Schultern. Dann zieht er den rotweiß gestreiften Kater, der gerade ins Zimmer getigert ist, an sich und drückt ihn so fest, dass er erschrocken maunzt.

»Er spielt Cello!«, sagt Emmy, als handele es sich dabei um eine Krankheit.

»Na und?«, sagt Mike trotzig.

»Bei deinen Gitarrenriffs kann doch kein Cello mithalten.« Emmy bemüht sich um ein Lächeln. Sie steht auf und setzt sich zu ihrem Bruder. »Du bist gut. Du bist in einer tollen Band. Ihr habt Auftritte. Du, du …« Emmy kramt in ihrem Gehirn nach etwas, das ihren Bruder trösten könnte. Dabei weiß sie ganz genau, dass es das nicht gibt. Schließlich sagt sie lahm: »Cello und Gitarre, das passt doch gar nicht.«

»Coldplay, Nirvana, One republic. Die mixen alle Pop und Klassik«, sagt Mike. »Seit Jahrzehnten! Eleanor Rigby und Strawberry Fields forever. Songs von den Beatles. Falls dir das was sagt. Da spielen auch Gitarre und Cello zusammen.« Mike blickt sie flehend an.

Emmy hat keine Ahnung, was sie sagen soll.

»Ich war auf einem seiner Konzerte«, sagt Mike nach einer ganzen Weile und zeigt auf das Datum, das er sich jeden Morgen von Neuem auf den Unterarm schreibt, weil ihre Mutter ihm kein Tattoo erlaubt. Die Bedeutung hat er bisher vor Emmy geheim gehalten.

»Oh. Die Zahlen stehen für den Konzertabend im April? Wo du mit Mama und Papa warst? Aber hast du da überhaupt mit ihm gesprochen?«

Mike zuckt mit den Schultern.

Emmy seufzt. Die erste Liebe. Sie weiß noch genau, wie sich das anfühlt. Nur dass Rod ihre Gefühle von Anfang an erwidert hat. Und der Richtige war. Damals jedenfalls.

»Was hältst du von einem Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade?« Emmy wuschelt ihrem Bruder durchs Haar. »So wie früher.«

#5 JAN

Maira schreitet so energisch voraus, dass ihr kleiner gelber Rucksack auf und ab wippt. Bei jedem Schritt verströmt sie diesen herrlichen Aprikosenduft, den Jan schon am ersten Tag gerochen hat. »Mein Vater hätt’ die Pension beinahe in den Ruin getrieben«, sagt sie. »Deswäge.«

Jan erinnert sich, Maira beim Frühstück gefragt zu haben, warum sie Betriebsökonomie studiert. Obwohl sie sich noch nicht besonders lange kennen, ist Jan bereits aufgefallen, dass sie manche Fragen erst mit einer ziemlichen Zeitverzögerung beantwortet.

Sie haben die Schattenhalb gerade hinter sich gelassen, als Maira über einen Weidezaun klettert. »Das isch die Wiese vom Toni«, sagt sie und fordert Jan auf, ihr zu folgen.

Dass Maira den Besitzer der Wiese kennt, beruhigt Jan kein bisschen. Denn kaum dass er auf der anderen Seite des Zauns auf den Boden gesprungen ist, kommen ein paar riesige Kühe in atemberaubendem Tempo auf sie zu.

»Die haben Kälber, da sind sie immer wild«, sagt Maira, was sie nicht davon abhält, sich todesmutig der ersten auf sie zustürmenden Kuh in den Weg zu stellen. Das Tier bremst unerwartet elegant ab und Maira streichelt ihm das Maul.

Jan versucht, sich möglichst unauffällig an ihr und den Tieren vorbeizudrücken. Das Gras ist jedoch taufeucht und er rutscht mehr auf die Kühe zu als an ihnen vorbei. Die Tiere muhen und schütteln die Hälse, dass die Glocken nur so läuten.

»Einfach ruhig vorbeigehen«, sagt Maira.

Jan, dem der Schweiß den Rücken hinunterläuft, hat Mühe, nicht hysterisch zu lachen. Einfach ruhig vorbeigehen? Toller Ratschlag. Nur etwas schwierig in der Umsetzung. Er scannt die Wiese, um am Ende nicht noch aus Versehen in die Nähe besagter Kälbchen zu geraten. Aber entweder hat die Panik seine Sicht getrübt oder es sind gar keine Kälber auf der Wiese. Immerhin scheint Maira seine Not bemerkt zu haben und schiebt sich wie ein lebender Schutzschild zwischen ihn und die Kühe. Das bringt Jan zum Lachen. Als könne Mairas zarter Körper ihn auch nur eine Sekunde vor den bulligen Tieren schützen.

»Die Mütter sind sowieso wild, auch wenn die Kälber im Stall sind. Hormone halt«, sagt Maira und beantwortet damit die Frage, die Jan gar nicht gestellt hat. Doch er ist so darauf konzentriert, den Zaun am anderen Ende der Wiese zu erreichen und dabei nicht auch noch in Kuhscheiße zu treten, dass er nur stumm nickt. Er fühlt sich ähnlich gedemütigt wie im Sportunterricht in der Zehnten, als alle es an den Seilen bis zur Decke geschafft haben, nur er nicht.

»Alles o. k.?«, fragt Maira und prinzipiell ist es das auch, weil sie endlich den gefühlt fünf Kilometer entfernten Zaun erreicht haben, aber Jans Knie sind so weich, dass er erst einmal innehalten muss, bevor er auch nur daran denken kann, über den Zaun zu klettern. Er schämt sich dermaßen, ein solcher Angsthase zu sein, dass er unverwandt auf seine dreckverschmierten Vans blickt.

Doch als er es endlich schafft hochzusehen, ist in Mairas Gesicht kein Spott zu erkennen, sondern lediglich Besorgnis.

»Die Schweizer Kühe sind schon sehr speziell«, sagt sie und Jan ist ihr dafür so dankbar, dass er sich an einem Lächeln versucht und sich so dynamisch wie möglich über den Zaun in Sicherheit bringt. Zugleich hofft er, dass sie damit die letzte Kuhwiese auf dem Weg zum Tschingel überquert haben.

Während Mairas drahtiger Körper wie für die Berge gemacht zu sein scheint, ist Jan schon nach einer Stunde völlig fertig. Am schlechtesten geht es seinen Füßen. Es fühlt sich an, als hinge die Haut an seinen Fersen bereits in Fetzen. Vans sind eben keine Wanderschuhe und Jan ist definitiv nicht der Outdoortyp. Aber er ist schließlich auch nicht zum Wandern in die Berge gekommen. Er hat einfach nur gedacht, dass es nichts schadet, sich ein wenig mit der Umgebung vertraut zu machen. Woraufhin Maira ihm angeboten hat, ihm die Gegend zu zeigen und mit ihm zum Tschingel zu gehen. Also heißt es jetzt, Zähne zusammenbeißen und weiterlaufen.

Jan ist dankbar, dass Maira nicht so viel redet wie die meisten Mädchen aus seiner ehemaligen Klasse. Nur ab und zu macht sie ihn auf einen Vogel aufmerksam, dessen Namen Jan im nächsten Augenblick allerdings schon wieder vergessen hat. Gedanklich checkt er nämlich noch immer die Kameras in der Hütte, auch wenn er sie bereits mehrfach überprüft hat und alles in Ordnung ist.

In diesem Augenblick legt Maira eine Hand auf Jans Arm und bedeutet ihm, still zu sein. Sie beugt sich so nah zu ihm, dass er neben dem Aprikosenduft noch einen zarten, aber nicht unangenehmen Schweißgeruch wahrnimmt.

»Murmeli«, flüstert sie und ihr Mund ist so nah an Jans Ohr, dass die Härchen darin ihn kitzeln und Jan eine Gänsehaut bekommt.

»Schau.« Maira zeigt ins Gebüsch.