1 Hurra, noch sind wir in der Krise
Wo man steht und geht, hinsieht und hinhört, überall Krisenstimmung und manifeste Krisen: wirtschaftliche, ökologische, gesundheitspolitische und gesamtgesellschaftliche. Wie es scheint, gab es noch nie so viele und schlimme Krisen wie in dieser Zeit. Banken benötigen finanzielle Unterstützung, das Gesundheitssystem ist marode, die Renten sind schon lange nicht mehr sicher, die Kinderarmut steigt und das Bildungssystem verspricht nur noch dem Namen nach Bildung.
Auch wenn es historisch und faktisch nicht zutreffen mag, dass die aktuelle Krise die schlimmste ist, ist sie doch die schlimmste gefühlte Krise, was der ausschlaggebende Faktor ist und ein Näheverhältnis zum subjektiven Leiden eines jeden Menschen herstellt, um den es in der Medizin und insbesondere in den Künstlerischen Therapien geht.
Geht man hypothetisch einmal davon aus, dass es sich aktuell tatsächlich um eine der schwersten globalen Krisen in der Geschichte der Menschheit handelt, beinhaltet dies zugleich eine der größten Chancen der Menschheit, bedenkt man, dass das griechische Wort krisis so viel wie Entscheidung bedeutet und eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Situation bezeichnet, die noch ergebnisoffen ist und nicht zwangsläufig in einer Katastrophe enden muss.
Eine Krise ist, dem Wortsinn nach, also primär nicht negativ konnotiert. Erst, wenn eine Situation in einen dauerhaft negativen Verlauf mündet, spricht man von einer Katastrophe, die dann tatsächlich einen negativen Sachverhalt meint. Nicht die Krise als solche ist schlimm, sondern die drohende, imaginierte Katastrophe, die sich sowohl im Globalen als auch im Persönlichen durch überlegtes und sinnvolles |9◄ ►10|Denken und Handeln vielleicht verhindern lässt. Man könnte also sagen: Hurra, noch sind wir in der Krise.
Es ist ein Wendepunkt, ein Punkt der Entscheidung erreicht – was die Chance birgt innezuhalten, gewahr zu werden, zu analysieren, nachzudenken, sich zu orientieren, auszurichten, neue Perspektiven zu entwickeln und zu handeln. Sprich: Es besteht die Möglichkeit, Einfluss auf den Verlauf der Krise zu nehmen und Katastrophen zu verhindern. Bildlich gesprochen steht man auf einem Gipfel und hat die Wahl zwischen verschiedenen Wegen. Vom Gipfel aus kann es zunächst zwar, zumindest zu Fuß, nur abwärts gehen, aber es gibt durchaus reizvolle Wege und nicht alle führen ausschließlich nach unten, sondern einige winden sich um den Berg herum oder haben einen wellenförmigen Verlauf.
Auch die persönliche Krise, die oft zugleich eine psychische Krise ist, beinhaltet eine Chance. In der Psychologie versteht man unter einer psychischen Krise im weitesten Sinn ein überraschendes Geschehen, das in der Regel mit einem schmerzhaften seelischen Empfinden einhergeht und zu einer Situation führt, die mit den gewohnten, zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Problemlösungsstrategien nicht in ausreichendem Maß bewältigt werden kann. In Krisensituationen, wenn die eigenen Problemlösungsstrategien nicht mehr ausreichen, ist es also angebracht, sich Unterstützung zu holen, um neue Strategien zu entwickeln, Ressourcen zu entdecken und neue Fähigkeiten zu erwerben.
In einer Krise sind kreative Fähigkeiten gefragt, die ungewohnte Perspektiven eröffnen und helfen, Lösungsstrategien zu entwickeln. Dabei bedürfen sowohl der Hilfesuchende als auch der Hilfegewährende der kreativen Fähigkeiten, um gemeinsam Konzepte und Visionen zu entwickeln, Schritte zu planen und diese probeweise zu gehen. Nur durch den Einsatz kreativer Fähigkeiten können bisher nicht bekannte Lösungsansätze gedacht und gefunden werden. Je breiter das kreative Angebot, je mehr Zeit, Raum und Aufmerksamkeit zur Verfügung stehen, umso mehr potenzielle Lösungsansätze werden sich ergeben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, individuelle Wege zu finden.
Wird eine Krise als Chance begriffen, ist es die Aufgabe der Künstlerischen Therapien, auf kreative Weise bei der Bewältigung der Krise zu helfen. Dafür bedarf es eines fundierten Wissens, der Flexibilität |10◄ ►11|und Empathie auf Seiten des begleitenden Kunsttherapeuten, sowie der Bereitschaft, des Vertrauens und Mutes auf Seiten des Patienten; nicht zuletzt müssen adäquate finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, die einen angemessenen Arbeitsrahmen ermöglichen.
2 Medialität und Intermedialität
2.1 Komplexität der Gesellschaft
Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft werden immer komplexer, die Lebenszusammenhänge anspruchsvoller. Menschen sind international vernetzt und kommunizieren mittels zahlreicher Medien, die zuweilen simultan geschaltet sind. Die Sinneseindrücke, die das menschliche Gehirn jeden Augenblick zu verarbeiten hat, sind immens, mehrere Sinne sind zugleich gefordert, manchmal sogar überfordert, und der Mensch ist gezwungen, sich auf irgendeine Weise zu den Herausforderungen und Veränderungen ins Verhältnis zu setzen.
Er kann versuchen, diese multiplen, schnell auf ihn einströmenden Reize ebenso schnell und flexibel zu beantworten, wie sie ihm dargeboten werden, oder er kann sich ihnen verweigern, sich gegen sie so weit wie möglich abgrenzen und sie unbeantwortet lassen. Verweigert er sich, besteht die Gefahr, dass er den Anschluss an eine Gesellschaft verliert, die einen flexiblen, extrem belastbaren, schnellen und leistungsfähigen Menschen auf dem neuesten Stand des Wissens und in bestem Funktionszustand fordert, vergleichbar einem Hochgeschwindigkeitszug, der technisch perfekt, aber für Störungen von außen und kleinste Funktionsfehler im Inneren besonders empfindlich und anfällig ist und nur schwer reparierbar, da die technischen Module so kompliziert sind, dass es anderer komplizierter technischer Module bedarf, um das Problem überhaupt zu erkennen. Hochgezüchtete Rennpferde fallen einem ein, auch sie extrem schnell und leistungsfähig, zugleich hypernervös und krankheitsanfällig.
Die Vergleiche und die angeführten Handlungsextreme verdeutlichen das Spannungsfeld, dem der Mensch in einer zunehmend medial organisierten Welt ausgesetzt ist. Will er in dieser Welt bestehen, wozu er meist gezwungen ist, muss er sich zu den Veränderungen in seinem |11◄ ►12|Lebens- und Arbeitsumfeld auf angemessene Weise verhalten und sich daran anpassen. Dabei geht es um eine Balance zwischen Veränderung und Beständigkeit, Geschwindigkeit und Verlangsamung, Entäußerung und Zentrierung, Anspannung und Entspannung.
Über den Sinn und die Notwendigkeit dessen, was in der Welt vorgeht und auf den Menschen einwirkt, lässt sich kontrovers diskutieren. Schon Friedrich Schiller beklagte in der Romantik, dass der Fortschritt in Technik und Wissenschaft zur Verarmung des Einzelnen in Hinblick auf die Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte führe. Indem sich das Ganze als Totalität zeige, so Schiller, höre der Einzelne auf zu sein, was er gemäß eines idealisierten Vorbildes der Antike war, nämlich eine Person als Totalität im Kleinen. In Alltag und Berufswelt an Bruchstücke gefesselt, bilde auch der Mensch sich nur mehr als Bruchstück heraus und entwickle nie die Harmonie seines kompletten Wesens. Nur im Spiel der Kunst könne der Krebsschaden, den die Gesellschaft verursacht habe, kompensiert werden.
Tatsache ist, dass der Mensch den Vorgängen und Veränderungen um sich herum ausgesetzt ist und einen aktiven Umgang mit den Anforderungen finden muss, will er nicht zum passiven Spielball der Gegebenheiten werden. Überließe er sich dem Lauf der Dinge, fände er sich bald in einer abgeschlagenen, ohnmächtigen Position und hätte nicht mehr die Möglichkeit, aktiv zu entscheiden, wann, wo und auf welche Weise er auf die an ihn gestellten Ansprüche und Forderungen reagieren möchte.
In einer leistungsorientierten Welt, in der Schlachtrufe wie Everything is possible und No limits erklingen, sind auch Krankheit und Gesundheit längst zu Schlagworten geworden, die sich Politiker in Wahlen an die Köpfe werfen, und die keine Aussagekraft mehr haben, weil sie den Menschen als Individuum mit seinen spezifischen Lebensraumbedingungen und Bedingtheiten, seinen Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und sozialen Kontexten nicht mehr oder nicht ausreichend zu berücksichtigen vermögen.
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2.2 Moderne Medizin und Gesundheit
1964 definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit als einen Zustand des völligen körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Wohlbefindens. Und obwohl ein solcher Zustand nur schwer vorstellbar und noch schwerer zu realisieren scheint, hat die Weltgesundheitsorganisation damit immerhin erreicht, dass Gesundheit heute umfassender verstanden wird denn als Zustand, der sich lediglich durch die Abwesenheit von Krankheit auszeichnet.
Mittlerweile allerdings hat die Medizin, die ja vor allem die Gesundheit des Menschen im Blick haben sollte, die adaptiven Leistungen, die vom Menschen im Alltag erwartet werden, selbst nicht zu leisten vermocht, sondern sich im Gegenteil immer weiter spezialisiert und diversifiziert. Die moderne Medizin hat den menschlichen Körper auseinandergenommen und seine vermeintlichen, in realitas jedoch fiktiven Einzelteile immer kleineren Fachgebieten zugeordnet, wodurch sie sich den Blick auf den Menschen als einheitliches Ganzes, als denkendes, fühlendes und handelndes Wesen partiell verstellt hat und in der Folge nicht mehr in der Lage ist, dem Menschen als Individuum auf ganzheitlicher Ebene zu begegnen und zu helfen.
Dabei nimmt es nicht Wunder, dass die Menschen, die die Zersplitterung und Spezialisierung begünstigt und vorwärts getrieben haben, unter anderem Gesundheitspolitiker und Ärzte, selbst nicht gern von ihr betroffen sind, sondern sich trotz ihres Fachwissens, sollten sie einmal krank werden, in der Medizinmaschine ebenso hilflos und verloren fühlen wie jeder Laie.
Kein Mensch möchte technisiert, fragmentarisiert und funktionalisiert werden, schon gar nicht, wenn es ihm schlecht geht und er sich eine Hilfe erhofft, die anders ist als das, was ein Gutteil zu seinem Zustand beigetragen hat, nämlich Funktionalisierung und Reduzierung. Um den Menschen und seine Lebensrealität in seiner Ganzheit wieder in den Blick zu bekommen, wenigstens ansatzweise zu erfassen und – sofern gewünscht und möglich – zu begleiten, bedarf es einer umfassenden Sicht auf den Menschen, seine Belastungen und Einschränkungen, aber auch seine Fähigkeiten und Möglichkeiten.
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2.3 Mediale Herausforderungen
Will man den Menschen weder aus dem System herauslösen noch darin untergehen lassen, braucht es Ansätze, die den Gegebenheiten und Interdependenzen, in denen der Mensch sich befindet, auf sinnvolle Weise Rechnung tragen, indem sie diese bei ihrer Suche nach Antworten berücksichtigen. Weil das hochkomplexe System, in dem der Mensch sich bewegt, von zahlreichen unwägbaren Faktoren, nicht zuletzt vom Menschen selbst, beeinflusst wird, bedarf es einer Antwort, die in der Lage ist, sich den rasch wechselnden Umständen in ebenso schneller und flexibler Weise anzupassen.
Eine mögliche Antwort auf die medialen und intermedialen Herausforderungen liegt auf derselben Ebene, auf der die Forderungen an den Menschen herangetragen werden: Sie finden in einer intermedialen Kunsttherapie ihre Entsprechung. Nicht dadurch, dass der Mensch die Lebensrealität verneint oder verleugnet und sich zurückzieht, ist er in der Lage, eine gesunde Form der Bewältigung zu finden, sondern nur, indem er sich in einem geschützten Raum mit den Gegebenheiten aktiv und interaktiv auseinandersetzt, wird er Lösungsstrategien erarbeiten, die sich im Alltag als tragfähig erweisen müssen.
Die Künstlerischen Therapien stellen diesen geschützten Raum zur Verfügung, in dem sich der Mensch mit verschiedenen Medien und Ausdrucksformen beschäftigen kann und die Möglichkeit erhält, Bewältigungsstrategien zu erproben. Indem der Mensch im künstlerischen Kontext Erfahrungen sammelt, erwirbt er zugleich Fähigkeiten, die ihn in die Lage versetzen, selbst zu entscheiden, auf welche Reize und Forderungen er in welcher Art und Weise reagieren will. Dabei kann auch das Nichtreagieren als Reaktion verstanden werden, als aktive Verweigerung, die eine andere Haltung impliziert als passive Verweigerung, der eine Überforderung und keine bewusste Entscheidung zugrunde liegt.
In den Künstlerischen Therapien hat der Mensch selbstbestimmt und eigenverantwortlich an der Therapie teil und gestaltet den therapeutischen, respektive künstlerischen Prozess in interaktiver Weise mit. Zwei Experten, Patient und Therapeut, suchen, unter Einbeziehung der Lebensrealität und der Ressourcen des Patienten, gemeinsam einen individuellen Weg zu seinem Wohl. Dafür werden im intermedialen Ansatz|14◄ ►15|mehrere künstlerische Ausdrucksformen wie Sprache, Bewegung, Musik, Malen und Gestaltung miteinander kombiniert, wobei die einzelnen Medien und die mit ihnen verbundenen Reize nicht getrennt wirken, sondern simultan, so wie es der Lebensrealität entspricht.
2.4 Das menschliche Gehirn
Das intermediale Konzept trägt aber nicht nur der komplexen Lebensrealität des Menschen Rechnung, sondern zugleich der neuronalen Verschaltung des menschlichen Gehirns. Ein durch den intermedialen Einsatz künstlerischer Mittel und Methoden gefördertes vielfältiges Angebot an Sinneseindrücken korrespondiert am besten mit der Organisation des Gehirns, in dem eine Synchronisation visueller, auditiver, somatosensorischer und motorischer Sinneseindrücke auf neuronaler Ebene stattfindet.
Schon in früher Kindheit schaltet das Gehirn Merkmalsbedeutungen zusammen, um die Umwelt ganzheitlich wahrnehmen und erleben zu können. Verschiedene Sinnesdaten werden zu kohärenten Wahrnehmungseindrücken zusammengefasst, ohne die die Wahrnehmungswelt eine Anhäufung von Eindrücken ohne Sinn und Zusammenhang bliebe.
Gerade Kinder sind in besonderer Weise in der Lage, die in der einen Sinnesmodalität aufgenommenen Informationen in eine andere zu übersetzen. Diese Fähigkeit bleibt prinzipiell lebenslang erhalten und kann, auch wenn sie durch Alltagszwänge in den Hintergrund gedrängt wurde, aktiviert und gefördert werden.
2.5 Ressourcenaktivierung
Unter der Voraussetzung des dosierten und achtsamen Umgangs mit den verschiedenen Medien können die vielfältigen, simultanen Sinnesanregungen zur Stimulation des Gehirns beitragen. Sie ermöglichen es dem Menschen Verhaltensweisen zu generieren, die ihn befähigen, im Alltag schneller und leichter zu reagieren, so dass ihn die dort ebenfalls zahlreich auf ihn einströmenden Reize nicht mehr überfluten.
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Dabei geht es in den Künstlerischen Therapien nicht in erster Linie um Kunsthandwerk oder -fertigkeit, sondern darum einen adäquaten Ausdruck zu finden, der einen befriedigenden Umgang mit Gefühlen und Gedanken ermöglicht. Dabei hängt die Wahl der Ausdrucksmittel des Einzelnen von zahlreichen in der Gegenwart und Vergangenheit des Individuums begründeten Faktoren ab und ist im Prozess variabel.
Je mehr Erfahrungen mit den verschiedenen Medien und Materialien existieren, umso leichter und fließender lassen sich Übergänge gestalten, umso flexibler können die Ausdrucksformen genutzt werden. Auf diese Weise wird in den Künstlerischen Therapien ein alternativer Erfahrungsraum geschaffen, der gestaltend genutzt werden kann, um neue Erfahrungen zu sammeln und Ressourcen zu aktivieren, die zu einer sinnerfüllten Alltagsbewältigung beitragen.
3 Wahrnehmung und Wahrnehmungspsychologie
Als Grundlage für die Wahrnehmung dient dem Menschen ein komplexes, differenziertes Sinnessystem, das Eindrücke über die Sinnesorgane aufnimmt und vermittels Nervenbahnen an das Gehirn leitet, wo sie verarbeitet werden.
Es wurden zahlreiche Versuche unternommen, die verschiedenen Sinne durch Einteilung zu systematisieren. Der britische Neurophysiologe Charles Sherrington, der sich an Lage und Wirkrichtung von Rezeptoren orientierte, kam auf dreizehn Sinne: Stellungs-, Spannungs-, Lage-, Bewegungs-, Tast-, Geschmacks-, Druck-, Berührungs-, Temperatur-, Schmerz-, Gesichts-, Gehör- und Geruchssinn (Sherrington 1906). Der österreichische Philosoph Rudolf Steiner sprach in seiner Sinneslehre von zwölf Sinnen und ordnete den körperorientierten Sinnen den Lebens-, Sprach-, Wort-, Gedanken- und Ichsinn bei (Steiner; Vorträge 1922/23).
Neben den Sinnesorganen und den leitenden Nervenfasern spielt das Gehirn als verarbeitendes und steuerndes System von Reizen eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung. Es umfasst bei Frauen etwa neunzehn und bei Männern ungefähr dreiundzwanzig Milliarden Nervenzellen.
Da bei der Geburt annähernd alle Nervenzellen vorhanden sind, resultieren|16◄ ►17|Gewichts- und Größenwachstum des Gehirns in erster Linie aus der Vernetzung der Neuronen und dem Dickenwachstum der Verbindungen. Die Vernetzung von Nervenzellen vollzieht sich vorwiegend in den ersten Lebensjahren, wobei diese Prozesse nie ganz abgeschlossen sind und sowohl für die primäre als auch die sekundäre Vernetzung stimulierende Reize unabdingbar sind (Heimes 2008).
Eine weitere für die Wahrnehmung entscheidende Struktur im Gehirn ist das limbische System, in dem alle Signale verarbeitet werden und eine emotionale Komponente erhalten. Dabei erlebt und deutet jede Spezies ihre Umwelt über die Informationen, auf deren Verarbeitung ihre Sinnesausstattung programmiert ist. Nur der Mensch verfügt neben der physiologischen Sinnesausstattung über die Fähigkeit, symbolisch vermittelte Informationen aufzunehmen und sich darüber neue Perspektiven zu eröffnen.
Steht der Begriff der Wahrnehmung in der Biologie ganz grundlegend für die Fähigkeit eines Organismus, mit seinen Sinnesorganen Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, werden in der Psychologie für die Wahrnehmung nur jene Sinnesreize als bedeutsam erachtet, die der Anpassung des Individuums an seine Umwelt dienen oder ihm Rückmeldungen über die Auswirkungen seines Verhaltens geben.
Gemäß dieser Definition dienen also nicht alle Sinnesreize der Wahrnehmung, sondern nur die, die kognitiv verarbeitet werden und der Orientierung und Ausrichtung des Wahrnehmenden helfen. Eine unter diesem Aspekt betrachtete Wahrnehmung ermöglicht sinnvolles Handeln und planerisches Denken und kann als Grundlage von Lernprozessen verstanden werden.
Die menschlichen Sinne sind Vermittler von Empfindungen, wobei die Sinnesorgane nur einen Teil der vorhandenen Reize aufnehmen und jede Wahrnehmung zuerst in einem sensorischen Speicher auf ihren Nutzen hin untersucht wird, bevor sie, sofern relevant, weiterverarbeitet wird. Wahrnehmungen sind also von Erinnerungen und Erwartungen abhängig: Ein Mensch kann nur wahrnehmen, was er wahrzunehmen bereit ist und gelernt hat. Kognitive Beurteilungsprogramme entscheiden, was wahrgenommen wird, so dass Wahrnehmung immer zugleich an die Biographie des Wahrnehmenden gebunden ist.
Um Beunruhigung und Verunsicherung zu vermeiden, stellt das Gehirn, das verschiedene Reize gleichzeitig verarbeitet, aus einzelnen, zunächst|17◄ ►18|