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"Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns", schrieb einst Franz Kafka. Silke Heimes erläutert in ihrem Buch die vielfältigen Funktionen des Lesens und schöpft dabei aus Befragungen von Menschen mit verschiedenen Berufen zu ihren Lektüreerlebnissen. Bücher trösten, bieten Gesellschaft und zugleich Rückzugsraum. Sie haben Vorbildfunktion und Identifikationspotenzial, entführen in fremde Welten und lassen den Leser bei sich selbst ankommen. Bücher regen zum Denken an und vermitteln fremde Kulturen und Weltentwürfe. Sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und geben Halt und Orientierung in einer zunehmend komplexen Welt. Sie lassen innehalten und Zeit und Raum vergessen. Bücher haben Wirkungen und Nebenwirkungen: phantastische und eskapistische. Sie sind Medizin – Lesen macht gesund. Erich Kästner hatte eine "Lyrische Hausapotheke". Spätestens nach der Lektüre dieses Buches möchte man sich auch eine zulegen und eine Notration Bücher neben dem Bett aufbewahren.
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Seitenzahl: 152
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Silke Heimes
Lesen macht gesund
Die Heilkräfte der Bibliotherapie
Vandenhoeck & Ruprecht
»Die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte. Wenn mir die eine auf die Nerven fällt, nächtige ich bei der anderen. Das ist meinetwegen unanständig, aber dafür nicht langweilig.«
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99853-4
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
Umschlagabbildung: gorstevanovic, Young Woman
Reading/Shutterstock.com
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Vorwort
I Vorüberlegungen
Definition der Bibliotherapie
Geschichte der Bibliotherapie
Erzählen als Grundhaltung
Bedeutung der Lesebiographie
Buchempfehlungen: Ja/Nein?
II Wirkungen der Bibliotherapie
Hilfe und Heilung
Entwicklung und Förderung
Spiel und Experiment
Information und Begleitung
Kreativität und Phantasie
Möglichkeiten und Freiheiten
Denken und Handeln
Welt- und Lebensentwürfe
Rückzug und Erholung
Orientierung und Halt
Ankommen und Innehalten
Gemeinschaft und Kommunikation
Identifikation und Modellfunktion
Ermutigung und Mobilisierung
Trost und Resilienz
Selbsterkenntnis und Gefühlsschlüssel
Selbstbewusstsein und Veränderung
Sinnhaftigkeit und Existenzielles
Grenzen und Nebenwirkungen
III Anhang
Leitfadeninterview/Lesebiographie
Kurzbiographien der Interviewten
Danksagung
Literatur
Vorwort
»Seien Sie vorsichtig mit Gesundheitsbüchern – Sie könnten an einem Druckfehler sterben.« (Mark Twain)
Wer hätte nicht schon erfahren, dass Lesen eine beruhigende und heilsame Wirkung hat. Sind wir traurig, kann ein Buch uns trösten. Es kann uns ein Begleiter in schwierigen Zeiten sein und die Figuren in den Büchern können uns eine Gesellschaft sein, die uns nicht überfordert, die uns an ihrem Leben und Schicksal teilhaben lässt, ohne dafür etwas von uns zu erwarten. In Büchern begegnet uns ein Leben, das uns mitunter sehr real erscheint, umso realer, je mehr wir uns darin selbst erkennen und wiederfinden. Manchmal gelingt es uns sogar, so tief in eine Erzählung einzutauchen, dass wir uns mit den Menschen und Ereignissen identifizieren und die Welt des Buches uns eine Zeitlang eine Art Heimat bietet, so dass wir eine Auszeit von unserer eigenen, unter Umständen nicht immer einfachen Realität nehmen können.
Lesen bedeutet aber auch Freiheit: die Freiheit, in Geschichten einzutauchen und wieder auszusteigen, sich einzulassen und mitzufühlen oder als Zuschauer am Rand zu stehen. Die Freiheit, ein Buch zu öffnen und zu schließen, wo und wann wir wollen, an jeder beliebigen Stelle anzufangen und aufzuhören. Lesen eröffnet uns die Freiheit zu phantasieren. Es bietet uns die Möglichkeit, anderen in ihre Gedankenwelt zu folgen und einen Weg in unsere eigene Gedankenwelt zu finden. Beim Lesen, Denken und Phantasieren kann uns niemand etwas vorschreiben und niemand kann uns einschränken. Nicht umsonst wurden und werden Bücher in diktatorischen Gesellschaften als gefährlich angesehen und verboten oder sogar verbrannt.
In einer zunehmend komplexeren und komplizierteren Welt können Bücher Halt und Orientierung bieten. Die im Buch dargestellten Situationen sind überschaubar, insofern, als sie zwischen zwei Buchdeckel passen und einen Anfang sowie ein Ende haben, so offen dieses zuweilen auch sein mag. Lesen ermöglicht es uns, bei uns selbst anzukommen. Es entschleunigt und lässt uns innehalten. Lesend erleben wir eine Zeit außerhalb der Zeit, eine Zeit mit einem ganz eigenen Tempo, unserem Lesetempo und der Geschwindigkeit, in der die Dinge im Buch geschehen. Somit kann Lesen uns beruhigen und für eine Zeit der Hektik des Alltags entheben.
Lesen vermittelt uns fremde Kulturen und Denkansätze sowie Weltentwürfe. Es erweitert unseren Horizont, lässt uns multiperspektivisch denken und handeln und macht uns liberaler und toleranter. Was wir beim Lesen erleben, prägt und begleitet uns, es ist ein Wissens- und Erfahrungsschatz, den uns niemand nehmen kann. Lesen dient der persönlichen Entwicklung und Reifung. »Entfaltung und Lektüre bedingen sich gegenseitig«, schreibt die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert (2000, S. 17) in einem Essay über das Lesen.
Lesend kommen wir uns selbst auf die Spur, erfahren etwas über unsere Stärken und Schwächen, unsere Vorlieben und Abneigungen, über unseren Mut und unsere Ängste. Wir folgen den Helden1 unserer Lektüre und fragen uns, ob wir den gleichen Weg gehen könnten, den Mut aufbringen würden. Manchmal löst Lesen sogar eine solche Sehnsucht aus, dass es uns gleichermaßen zu einer Art Handlungsaufforderung wird, dass es uns motiviert und hilft, Veränderungen in Angriff zu nehmen und selbst aufzubrechen, so wie die Helden im Buch.
Im 18. Jahrhundert waren Lesekuren fester Bestandteil medizinischer Behandlungen und in England gibt es Bücher auf Rezept. Kästner gab seine »Lyrische Hausapotheke« (1936) heraus, in der er Gedichte zum Therapeutikum des Privatlebens erklärte, und Psychologen halten Handbibliotheken für ihre Patienten vor oder empfehlen Wilhelm Busch als Notration neben dem Bett. Der Literaturkritiker und Autor Moritz schreibt: »Lesen ist lebensnotwendig […]. Literatur […] verstört, verblüfft, verwirrt und bereichert – obwohl man manchmal erst viel später erkennt, was Bücher in einem bewegten« (2012, S. 11).
Die Psychologin und Kunsttherapeutin Ina Tilmann antwortet auf die Frage, was sie von der Idee des heilsamen Lesens halte: »Ich halte das nicht für eine Idee, sondern ich halte die Heilsamkeit des Lesens für einen Fakt«, und die Ärztin und Psychotherapeutin Bettina Arnold schreibt, dass die Idee, dass Lesen heilsam sein könne, für sie eine »Realität darstellt«, und wünscht sich, dass die Bibliotherapie vielen Menschen zugänglich gemacht werde. Berthoud und Elderkin schreiben in »Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben«: »Unsere Heilmittel bekommt man nicht in der Apotheke, sondern in einem Buchladen und in der Bücherei« (2014, S. 9), und sind überzeugt, dass Literaturliebhaber schon seit Jahrhunderten zu Romanen greifen, um Leiden zu lindern.
Frankl erzählt in seinem Essay »Das Buch als Therapeutikum«, wie im Lager Theresienstadt ein Transport junger Menschen zusammengestellt wurde, der am nächsten Morgen nach Auschwitz fahren sollte. In der Nacht wurde in der Lagerbücherei eingebrochen und »jeder Einzelne von den Todgeweihten hatte sich Werke seiner Lieblingsdichter, aber auch wissenschaftliche Bücher in den Rucksack gestopft. Als Reiseproviant auf der Fahrt ins (zum Glück noch) Unbekannte« (1988, S. 44). Eine ganz ähnliche Geschichte findet sich in der Autobiographie »Mein Leben« von Reich-Ranicki (1999). Sie handelt davon, wie Teofila Reich-Ranicki im Warschauer Ghetto die »Lyrische Hausapotheke« von Erich Kästner abschrieb und illustrierte, weil das Buch ihrem zukünftigen Ehemann so gut gefiel und es im Ghetto nicht zu bekommen war.
Neben zahlreichen Fachbüchern, Romanen, Aussagen von bekannten und weniger bekannten Schriftstellern sind in das vorliegende Buch die Aussagen von über dreißig Ärzten, Apothekern, Psychologen, Pädagogen, Autoren und Journalisten eingeflossen, die mittels eines Fragebogens interviewt wurden2. Der Fragbogen, der eine Art Lesebiographie darstellt, ist am Ende des Buches abgedruckt und kann von Ihnen ausgefüllt werden, sofern Sie Lust dazu haben.
Die Interviewten haben die Beantwortung des Fragebogens jedenfalls als spannende Reise erlebt, die ihnen ihr Verhältnis zur Literatur und Lektüre deutlich gemacht und Erinnerungen an Bücher und Wegbegleiter hervorgerufen hat. Mein ganz besonderer Dank gilt der Bereitschaft der Interviewten, sich auf diese Reise einzulassen und ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit den Lesern und mir zu teilen. Damit auch Sie die Interviewten ein wenig kennenlernen, finden Sie am Ende des Buches deren Kurzbiographien.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erkenntnis, gute Laune und Leselust, sowohl beim Lesen diesen Buches als auch aller anderen Bücher.
Ihre Silke Heimes
_________________
1In diesem Buch verwende ich durchgängig die männliche Schreibweise, alle anderen sind aber selbstverständlich mitgemeint.
2Zitierte Autoren und Studienautoren werden nur beim Nachnamen genannt und finden sich mit ihren Werken im Literaturverzeichnis, während die Interviewten mit Vor- und Nachnamen genannt werden.
I Vorüberlegungen
Definition der Bibliotherapie
»Liebt das Buch. Es wird euch freundschaftlich helfen, sich im stürmischen Wirrwarr der Gedanken, Gefühle und Ereignisse zurechtzufinden.« (Maxim Gorki)
Die Bibliotherapie ist eine Therapieform, die von der Idee ausgeht, dass Lesen eine heilsame Wirkung hat. Die Palette von Büchern, die in der Bibliotherapie eingesetzt werden, umfasst die Belletristik mit Romanen, Erzählungen und Gedichten ebenso wie Sachbücher, Ratgeber und Aufklärungsbroschüren. Der Begriff der Bibliotherapie wurde wahrscheinlich zum ersten Mal 1916 von McChord Crothers verwendet, der zur Linderung von Beschwerden empfahl, die Lektüre fiktiver sowie nichtfiktiver Werke mit einem Therapeuten zu besprechen (Aringer, 2010).
Klosinski (2008) beschreibt sogar eine noch frühere Verwendung des Begriffs durch Jacobi, der 1834 Büchereien für psychisch Kranke forderte. Der Begriff sei dann aber wieder in Vergessenheit geraten, bis er 1916 von Crothers wiederentdeckt wurde. 1941 wurde der Begriff jedenfalls erstmalig in ein medizinisches Wörterbuch aufgenommen (Eichenberg, 2007) und 1949 wurden das Konzept und der Einsatz der Bibliotherapie zum ersten Mal systematisch von Shrodes beschrieben.
Während einige Autoren den Begriff sehr allgemein verwenden und darunter die »Behandlung durch Bücher« im Allgemeinen verstehen (Pardeck, 1991), geben andere umfassendere Beschreibungen und definieren Bibliotherapie als den »therapeutischen Einsatz von Literatur jeder Art zur Heilungsunterstützung, zur Heilung selbst und zum persönlichen Wachstum« (Vollmer und Wibmer, 2002). Wieder andere betonen die pädagogischen Aspekte und verstehen unter Bibliotherapie die dynamische Interaktion zwischen Leserpersönlichkeit und Literatur, die zur persönlichen Entwicklung genutzt werden kann (Russel und Shrodes, 1950). In einigen Definitionen werden explizit weitere Medien (zum Beispiel Audiodateien) in die heilsame Wirkung von Literatur einbezogen (Rubin, 1978).
Die Lektüre im Rahmen der Bibliotherapie kann einzeln oder in Gruppen erfolgen, angeleitet oder als Selbstlektüre mit nachfolgender Reflexion. Das Gelesene kann als Grundlage dienen, Zugang zum eigenen Erleben zu finden, aber auch dafür, Ideen und Vorstellungen zu entwickeln und umzusetzen. Wie Heidenreich (2014) sagt, liest sich jeder selbst in jedem Buch und aus dem Lesen erwächst Selbstvertrauen und aus dem Selbstvertrauen der Mut zum Denken und Handeln.
Literatur kann die Auseinandersetzung mit Konflikten einleiten und die Bereitschaft wecken, sich auf sich selbst einzulassen sowie schwierige Situationen und Herausforderungen anzunehmen. Folgt der Lektüre eine Gesprächsphase, kann das während des Lesens Assoziierte, Akkumulierte und Rekonstruierte kommuniziert werden. Es kommt zu einem Diskurs, in dem sowohl eine intellektuelle Auseinandersetzung über das Gelesene und Erlebte möglich ist als auch Fragen nach dem Sinn und zukünftigen Wegen gestellt werden können (Wittstruck, 2000).
Ein Vorteil der Bibliotherapie besteht darin, dass mit ihr viele verschiedene Menschen erreicht werden. Solche, die lange auf einen Therapieplatz warten und die Zeit überbrücken müssen, ebenso wie jene, die weite Anfahrtswege haben und nur schlecht an einem Psychotherapieangebot vor Ort teilnehmen können, sowie Menschen, die vielleicht aus Angst vor Stigmatisierung keine Therapie in Anspruch nehmen. In diesen Fällen eröffnet die Bibliotherapie die Möglichkeit, Probleme selbstständig oder mit geringer Hilfestellung anzugehen (Helbig und Kollegen, 2004). Den Boer und Kollegen (2004) wiesen nach, dass Bibliotherapie effektiver ist als Wartelisten, was eine hilfreiche Erkenntnis darstellt, wenn man bedenkt, wie lange Patienten mitunter auf einen Therapieplatz warten müssen.
Bibliotherapie kann sowohl mit fiktiven als auch nichtfiktiven Texten durchgeführt werden. Werden fiktive Texte verwendet, wird sie mitunter auch als inspirierende Bibliotherapie bezeichnet (Pardeck, 1992). In dieser Form der Bibliotherapie kommen vor allem Romane, Erzählungen, Dichtungen und (Auto-)Biographien zum Einsatz. Hierbei handelt es sich insbesondere um ein Lernen am Modell. In der nichtfiktiven Bibliotherapie, die auch als informative Bibliotherapie genannt wird, werden vor allem Ratgeber und Selbsthilfemanuale mit oftmals direkten Handlungsanweisungen genutzt.
Die Bibliotherapie mittels nichtfiktiver Texte wird zuweilen auch als instruktionale oder instruktive Bibliotherapie bezeichnet und firmiert in der englischsprachigen Literatur manchmal unter dem Begriff des self-administered treatment. Wobei letzterer Ausdruck für eine Form der Behandlung steht, die in geschriebener Form präsentiert wird und so konzipiert ist, dass sie vom Patienten selbstständig durchgeführt wird (Scogin und Kollegen, 1990a).
In der angeleiteten Bibliotherapie können verschiedene Intensitätsgrade der Interaktion zwischen Therapeut und Patient unterschieden werden. Angefangen von einer minimalen therapeutischen Begleitung – bei der der Patient weitgehend eigenständig arbeitet, aber immer die Möglichkeit hat, den Therapeuten zu kontaktieren – über Textempfehlungen durch den Therapeuten bis zur regulären Psychotherapie, in die Texte eingebunden werden. Das Ausmaß der Unterstützung variiert dabei sehr stark in Art, Häufigkeit und Dauer des Kontakts zwischen Patient und Therapeut (Elgar und McGrath, 2003).
Es sei angemerkt, dass einige Autoren das selbstangeleitete Lesen nicht als bibliotherapeutische Maßnahme verstehen, sondern die Begleitung durch einen Therapeuten als Voraussetzung dafür nehmen, um das Lesen als Zeitvertreib von der Bibliotherapie als einer therapeutischen Intervention abzugrenzen (Rubin, 1978). Andere Autoren wiederum haben für das selbstangeleitete Lesen einen eigenen Begriff geprägt und bezeichnen dieses als selbstverantwortete Bibliotherapie (Grahlmann und Linden, 2005).
Anders als die eher therapeutisch orientierte Bibliotherapie zielt die Bibliotherapie mit didaktischen Texten, auch als didaktische Bibliotherapie oder Psychoedukation bezeichnet, auf Informationsvermittlung und kognitives Lernen ab. Ziele dieser eher sachorientierten Bibliotherapie sind es, Informationen zu geben, zur Einsicht in Probleme zu verhelfen, Diskussionen anzuregen, Werte und Einstellungen zu kommunizieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass andere Menschen mit ähnlichen Problemen fertig geworden sind und Lösungen anzubieten haben.
In der didaktischen Bibliotherapie werden vor allem störungsspezifische Texte verwendet, um dem Leser ein besseres Problemverständnis zu ermöglichen. In Studien wurde durch den Einsatz der didaktischen Bibliotherapie ein deutlicher Rückgang von Therapieabbrüchen beobachtet (Reis und Brown, 2006; Hardy und Kollegen, 2001; Webster, 1992) und Treasure und Kollegen (1996) konnten zeigen, dass eine der Psychotherapie vorangeschaltete Bibliotherapie die Anzahl der nachfolgenden Sitzungen zu senken vermochte.
Ähnlich positive Ergebnisse zeigten sich in Studien zur Bibliotherapie als therapiebegleitende Maßnahme. Hier konnte nachgewiesen werden, dass ein kombiniertes Vorgehen von Psycho- und Bibliotherapie sowohl der reinen Selbsthilfe als auch der reinen Psychotherapie überlegen war. Dies zeigte sich insbesondere bei Menschen mit Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten (Evans und Kollegen, 1999; Carter und Fairburn, 1998). Muth erklärt in »Heilkraft des Lesens« (1988), dass die begleitende Lektüre die Selbstheilungskräfte fördern und stützen kann, weil das Lesen von Büchern innere Bewegungen begünstigt.
Adams und Pitre (2000) untersuchten, aus welchen Gründen Therapeuten bibliotherapeutische Materialien nutzen, und fanden heraus, dass zwei Drittel der Befragten Texte und Bücher einsetzen, um die Selbsthilfeanteile der Patienten zu stärken. Interessanterweise wurde die Bibliotherapie als ergänzende Maßnahme umso häufiger eingesetzt, je mehr klinische Erfahrung die Therapeuten hatten.
Obwohl die Bibliotherapie zunächst für Patienten entwickelt wurde, wird sie zunehmend zur Entwicklungsförderung und als präventive Maßnahme (Biblioprophylaxe) genutzt und manchmal sogar für diagnostische Zwecke eingesetzt (Bibliodiagnostik) (Grahlmann und Linden, 2005). Muth (1988) spricht vom Buch als Therapeutikum im Vorfeld einer Erkrankung, also im Sinne der Prävention, und dass die Kunst der Bibliotherapie darin bestehe, das richtige Buch zur richtigen Zeit zu vermitteln.
In Amerika hat sich die Bibliotherapie als entwicklungsbegleitende Maßnahme an Schulen längst etabliert und ist dort zu einem bewährten Konzept geworden, um in Einzel- und Gruppendiskussionen emotionale sowie intellektuelle Bedürfnisse von Kindern anzusprechen und die Persönlichkeitsentwicklung über die Identifikation mit literarischen Figuren zu unterstützen. Dies erfolgt vor allem in der Hochbegabtenförderung und firmiert oft unter dem Begriff der entwicklungsfördernden Bibliotherapie (Aringer, 2010).
Kinder und Jugendliche waren aber schon früher Adressaten einer pädagogisch ausgerichteten Bibliotherapie, denkt man beispielsweise an den »Struwwelpeter« des Frankfurter Arztes und Psychiaters Hoffmann aus dem Jahr 1845 oder andere Werke für Kinder und Jugendliche, die mehr lehren und formen als unterhalten sollen. Der entwicklungsbegleitende bibliotherapeutische Ansatz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er auf das Wachstum der Persönlichkeit zielt und sich an gesunde Menschen richtet, die mit typischen Herausforderungen zu kämpfen haben, die sich durch neue Lebensabschnitte ergeben.
Seit Sommer 2012 erproben die Jugendgerichte München und Fürstenfeldbruck im Rahmen eines Modellversuches Leseweisungen als pädagogische Strafmaßnahme. Wegen Drogenmissbrauch, Ladendiebstahl, Fahren ohne Führerschein oder ähnlicher Vergehen, die ansonsten mindestens Sozial- oder Arbeitsstunden eingebracht hätten, erhalten jugendliche Straffällige eine sogenannte Leseweisung.
Die erste Empfehlung für die »Straflektüre« kommt dabei vom Gericht oder der Jugendgerichtshilfe und steht meist in direktem Bezug zu der Tat. Jeder Jugendliche bekommt sodann einen Mentor, mit dem er sich bis zu sechs Mal trifft, um das Gelesene zu besprechen. Dabei kann die Lektüre im Verlauf des Mentoring angepasst werden. Die Idee der Leseweisung ist es, einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, sowohl über das Gelesene als auch über die eigene Situation sowie die begangene Straftat. Die Möglichkeit der Leseweisung gibt es mittlerweile auch in anderen Städten wie etwa Dortmund oder Lübeck (Fenzel, 2013).
Sogar im brasilianischen Hochsicherheitsgefängnis Catanduras gibt es eine Regierungsinitiative, die sich »Erlösung durch Lesen« nennt. Inhaftierte können ihre Haftzeit durch Lesen verkürzen, und zwar um vier Tage pro Buch. Lesen die Gefangenen innerhalb von vier Wochen ein Buch und weisen in einem Gespräch nach, dass sie verstanden haben, um was es in dem Buch geht, werden ihnen vier Tage Haftstrafe erlassen. Dabei dürfen sie so viele Bücher lesen, wie sie wollen und schaffen (Gerk, 2015).
Erweitern kann man die bisher präsentierte Einteilung um die symbolische oder induktive Bibliotherapie, bei der an die bibliotherapeutische Maßnahme ein kunsttherapeutisches Verfahren angeschlossen wird, wie etwa die Maltherapie. Bei dieser Form der Bibliotherapie liegt der Schwerpunkt auf dem intuitiven Arbeiten, das unter anderem dazu dienen soll, Assoziationsräume zu öffnen (Vollmer und Wibmer, 2002).
Geschichte der Bibliotherapie
»Ein schönes Buch ist wie ein Schmetterling. Leicht liegt es in der Hand, entführt uns von einer Blüte zur nächsten und läßt den Himmel ahnen.« (Lao-Tse)
In den »Bekenntnissen« des christlichen Kirchenlehrers Augustinus, die in den Jahren 397 bis 401 n. Chr. entstanden, spricht der Kirchenlehrer vom Sturm der Tränen, der ihn angesichts seines ganzen Elends erfasste und erschütterte, und beschreibt zugleich seine seelische Gesundung durch Lektüre: »Ich wollte nicht weiterlesen – es war auch nicht nötig, denn bei dem Schlusse dieses Satzes strömte das Licht der Sicherheit in mein Herz ein, und alle Zweifel der Finsternis verschwanden« (1914, S. 184). Man könnte sagen, dass er zum christlichen Glauben fand, indem er seinem eigenen Diktum folgte, das da lautete: »Nimm und lies.«
Bereits 1198 empfahl der Arzt Maimonides in seiner Schrift »Regimen sanitatis« (Diätetik für Seele und Körper), die vitalen Kräfte der Patienten durch Erzählungen anzuregen. Man solle den Kranken Geschichten erzählen, die ihre Seele erfreue und ihre Brust tiefer atmen lasse, man solle sie durch humoristische Neuigkeiten ablenken und zum Lachen bringen. Im Jahr 1272 legte das Al-Mansur Spital in Kairo seinen Patienten die Lektüre des Korans zur Unterstützung des Heilungsprozesses nahe und 1705 veröffentlichte der Theologe Götze eine »Krancken-Bibliothec« (Rubin, 1978).