Who's to blame - Silke Heimes - E-Book

Who's to blame E-Book

Silke Heimes

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Beschreibung

Eine Geschichte, die das Blut in den Adern gefrieren lässt Es ist der letzte Schultag vor den Ferien und Deutschlehrer Moritz Brandl betritt das Klassenzimmer seines Leistungskurses. Doch statt des Unterrichts beginnt ein Spiel um Leben und Tod: Brandl verriegelt die Tür und zieht eine Waffe. Er will herausfinden, wer sein Leben ruiniert hat. Seine Frau hat vor Kurzem Suizid begangen und in seiner Verzweiflung versucht er, die Schuldigen zu finden. Nur wenn die Klasse zusammenhält, haben alle eine Chance zu überleben … Direkt, brutal, realitätsnah – ein neuer spannender Jugendthriller von Silke Heimes über ein brandaktuelles Thema

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Seitenzahl: 207

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Who’s to blame

Für Lennart

Hinweis:

Dieses Buch enthält Inhalte, die potenziell triggern könnten.

Falls du vor dem Lesen auf traumatische Reize

hingewiesen werden möchtest, findest du auf der letzten Seite

eine Content Note.

1. Auflage 2024

© Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2024

ISBN 978-3-7641-7151-3

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Lektorat: Cassandra Müller

Umschlaggestaltung: Suse Kopp

unter der Verwendung von Fotos von istockphoto.com:

© by-studio, © tiero

Innenillustrationen: Suse Kopp nach einem Entwurf von Susanne Geminn

Druck und Bindung: CPI books GmbH

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Gedruckt auf Papier aus geprüfter nachhaltiger Forstwirtschaft.

www.ueberreuter.de

SILKE HEIMES

WHO’STOBLAME

ueberreuter

13:17 Raum 221 Liam

Es ist brütend heiß im Zimmer. Die Sonne sticht durch die Fenster. Direkt in meine Augen. Ich verschränke die Arme auf dem Tisch und lege den Kopf darauf. Bis ich gestern Nacht im Café aufgeräumt hatte, war es nach zwei. Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, das Paar rauszuschmeißen. Wenn ich mich das erste Mal so richtig verliebe, wünsche ich mir, dass meine Freundin mich genauso ansieht, wie die Frau gestern diesen Typ. Die Welt würde stillstehen oder ganz verschwinden. Keine Geldnot mehr, keine Jobs, kein Deutsch-LK an einem Freitagnachmittag.

»Pennst du, oder was?« Ben lässt sich neben mich fallen und stellt seinen Rucksack auf meinen Fuß.

»Danke auch.«

»Chill mal, Digga.« Er schiebt mich zur Seite. »Alles lässig?«

»Die Hitze grillt mir das Hirn.«

»Du hast ein Hirn?« Er macht eine kurze Pause und seufzt. »Hast du Melli heute schon gesehen?«

»Was hat das mit meinem Gehirn zu tun?« Die Sonne blendet mich so, dass ich nichts erkenne. Die Rollos sind seit Anfang des Sommers kaputt. Angeblich gibt’s kein Geld für eine Reparatur. Dafür haben wir jetzt überall Smartboards.

Ich schirme die Augen mit der Hand ab und blicke mich um.

Nur Ben und ich.

Ich checke mein Handy: 13:19. »Sollte es nicht bald losgehen? Wo sind alle?«

»Chill, Digga.«

»Ja, Mann, das sagtest du schon. So wird das nichts mit den 98ern und der Bundesliga.«

»Krieg eh Medientraining, für Kameraauftritte und so. Bleib du mal bei deinen Spielfilmen, Digga.« Ben grinst. Dann hat er wieder diesen entrückten Ausdruck. Entweder träumt er von seiner Fußballkarriere oder von Melli. Hat ihn voll erwischt.

Er beugt sich zu mir und obwohl wir allein sind, flüstert er: »Was ist? Hast du Melli gesehen? Heute, meine ich.«

»Ich weiß, dass du unsterblich …«

Er boxt mir gegen den Arm.

»Ist doch niemand da. Außerdem glaubst du ja wohl nicht, dass eure Knutscherei auf der Party jemandem entgangen ist. Dass du in Melli verknallt bist, lässt sich nicht nicht bemerken.«

»Pst.« Er blickt zur Tür. Echt süß, dass er so heftig verliebt ist. Nur steht Melli nicht auf ihn.

»Hat Brandl nicht halb zwei gesagt?«, frage ich.

Ben starrt noch immer zur Tür.

»Scheiß auf die Podiumsdiskussion«, sage ich. »Dann üben wir halt nicht.«

»Ich habe Melli vor ein paar Minuten auf dem Parkplatz gesehen. Sie müsste längst hier sein.« Ben verdreht die Augen. »Keine Ahnung, wo sie bleibt. Muss jeden Moment da sein. Was dauert da so lang, ey.« Er starrt zur Tür, als könne er Melli mittels Willenskraft ins Zimmer beamen.

Ich werde ebenfalls unruhig, wenn auch nicht wegen Melli. »Vielleicht haben wir was falsch verstanden und sitzen voll umsonst hier.«

Ben zuckt mit den Schultern.

»Wenn der Unterricht heute Morgen gewesen wäre, hätte uns doch jemand Bescheid gesagt, oder?«, frage ich, als gerade Chris den Raum betritt und sich in die Reihe vor uns setzt.

Ben beugt sich wieder zu mir. »Also Melli, Digga, die ist heute so was von …«

»Ja, ich hab’s kapiert.«

Ben stöhnt.

»Oh, voll vergessen.« Ich schlage mir gegen die Stirn. »Heute wird doch entschieden, ob du ins Trainingscamp darfst, oder?«

»Säße ich dann hier?«, fragt Ben.

Zum ersten Mal an diesem Tag sehe ich ihn richtig an und entdecke die dunklen Ringe unter seinen Augen.

»Alles okay?«, frage ich. »Oder hat es Ärger gegeben?«

»Sichtung wurde verlegt«, nuschelt er.

»Okay«, sage ich.

»Okay«, sagt er und flüstert: »An der Tür, jetzt.« Dann tut er so, als würde er nicht hinsehen, obwohl er so was von auffällig zur Tür starrt, dass es auffälliger nicht geht.

Melli betritt das Zimmer in einem schwarzen Minirock, dazu schwarze High Heels. Die Augen schwarz umrandet, die Lippen blutrot.

»Starr sie nicht an«, zischt Ben, als Melli zu ihrem Platz geht.

Irgendwann probiere ich mal, ob ich auf solchen Absätzen überhaupt einen einzigen Schritt machen kann. Als angehender Regisseur sollte man so viel wie möglich ausprobieren, um zu wissen, wie sich Dinge für seine Charaktere anfühlen.

Die Schulglocke läutet. Halb zwei. Das Startsignal für den Nachmittagsunterricht.

Arvid betritt das Zimmer in einem blauen Hoodie mit dem weißen Logo der Darmstadt Diamonds auf der Brust. Die Kapuze auf dem Kopf. Ohne Ben und mich eines Blickes zu würdigen, geht er zur letzten Reihe und setzt sich auf den Stuhl am Fenster. Mitten in die Sonne. Der Typ ist echt leidensfähig.

Esther, die als Nächste kommt, ruft freundlich: »Hey Liam, hey Ben, hey Chris.« Sie geht zu ihrem Platz in der ersten Reihe und tauscht Wangenküsschen mit Melli. Keine Ahnung, warum die beiden befreundet sind. Die sind genauso verschieden wie Esther und ihr Bruder Arvid und die haben sich ja auch nichts zu sagen.

13:33 Raum 221 Sam

Brandl bestellt uns an einem Freitagnachmittag kurz vor den Sommerferien für vier Unterrichtsstunden in die Schule und ist dann selbst nicht da?

Wenn er in fünf Minuten noch immer nicht hier ist, gehe ich nach Hause. Außer uns ist sowieso niemensch in der Schule. Der Meyer vielleicht noch. Der gerne mal die Rollos reparieren dürfte. Hier drinnen ist es ultraheiß.

Ich wechsele zum Tisch an der Wand, wo es jedoch leider genauso heiß ist wie am Fenster.

Trotzdem ein guter Platz, weil ich hinter Ben und Liam nicht direkt in Brandls Blickfeld sitze.

»Ätzend, das mit der Podiumsdiskussion«, sage ich zu Arvid. »Warum müssen wir das machen? Interessiert doch eh niemensch, was wir zum Tod in Venedig zu sagen haben. Nur ein weiterer Roman eines weiteren alten, weißen Mannes.«

Arvid reagiert nicht.

»Wir sollten jemensch vom Kultusministerium zu unserer Diskussion einladen, damit in Zukunft mal ein paar aktuelle Bücher auf den Lehrplan kommen.«

Arvid reagiert noch immer nicht. Hat er Earpods drinnen?

»Hey, Arvid«, sage ich etwas lauter.

Betont langsam dreht er sich um. »Was?«

»Ich will das Bildungssystem reformieren und brauche deine Hilfe.«

»Ha, ha«, macht er.

»Im Ernst. Unser Mindset wird sich erst verändern, wenn wir anfangen, anders zu denken, zu lesen und zu diskutieren.«

»Schon klar.« Arvid zieht die Kapuze seines Hoodies noch tiefer ins Gesicht. Nuschelnd fragt er: »Und warum willst du mich dabeihaben?«

»Weil du klug und witzig bist.«

»Willst du mich verarschen?«

»Ich stelle nur Tatsachen fest. Oder liege ich falsch?«

»Ich werde aus dir einfach nicht schlau.«

»Frag mich, wenn du was wissen willst.«

»Nee, danke.« Arvid zuckt mit den Schultern.

»Lass uns ein Gedankenspiel machen«, sage ich. »Stell dir vor, deine Schwester …«

»Oh, nein.« Arvid winkt ab. »Kein Bedarf, mir in Bezug auf meine Schwester irgendwas vorzustellen.«

»Geht es um mich?« Esther winkt mir zu. Sie ist so nett. Von ihr fühle ich mich immer gesehen.

»Sam will eine Revolution starten«, ruft Arvid.

»Bitte nicht an einem Freitagnachmittag«, stöhnt Chris.

»An jedem anderen Tag aber schon?«, frage ich.

»Witzig«, sagt Esther. Und dann: »Deine Sommersprossen sind echt cool, Sam.«

Ich spüre, wie ich erröte.

Warum sagt sie das genau jetzt?

Warum sagt sie es überhaupt?

»Ja, du hast echt viele Sommersprossen«, sagt Arvid und mustert mich so unverhohlen, dass ich noch mehr erröte.

»Nur im Sommer«, sage ich und blicke auf mein Handy, um meine Verlegenheit zu überspielen. 13:43.

»Genug gewartet«, sage ich, nehme meinen Rucksack und stehe auf.

Genau in diesem Augenblick betritt Brandl das Zimmer. Er geht zum Lehrerpult, legt seine alte, abgewetzte Ledermappe darauf und pendelt zurück zur Tür, wo Jessica, Linus und Lisa noch schnell ins Zimmer schlüpfen. Brandl schließt die Tür, zieht einen Stuhl heran und klemmt die Lehne unter die Klinke.

»Warum blockieren Sie die Tür?«, fragt Esther.

»Was, wenn ich pinkeln muss?«, fragt Ben.

Brandl setzt sich ans Pult, öffnet die Ledermappe und zieht eine Pistole heraus.

13:45 Raum 221 Liam

Ich starre in die Mündung der Pistole, die Brandl auf uns gerichtet hat.

»Soll die für unsere Podiumsdiskussion sein?«, fragt Ben. »Ich meine klar, Waffen sind auch ein Argument, aber …«

»Seien Sie still.« Brandl reibt sich mit der freien Hand über die Augen.

Hatice meldet sich.

Arvid gähnt demonstrativ.

»Ist die echt echt?«, fragt Linus.

»Nee, die ist echt fake«, sagt Chris.

»Ist ja ein netter Auftritt«, sagt Luk. »Aber was sollen wir daraus lernen?«

»Was geht denn hier ab?«, fragt Melli.

»Geiles Teil«, sagt Ben. »Wo haben Sie die her?«

Brandl läuft der Schweiß übers Gesicht, die Haare kleben ihm am Kopf. Ich stelle mir vor, Agenten des MI6 würden sich vom Dach abseilen. In den Bäumen und auf den gegenüberliegenden Dächern würden Scharfschützen liegen und …

»Sie geben mir jetzt alle Ihre Handys«, sagt Brandl.

»Was? Wieso?« Ben schnaubt verächtlich.

»Ey, es is’ Freitagnachmittag«, sagt Chris. »Sie können froh sein, dass wir hier sind.«

»Ich habe mein Handy nicht dabei«, sagt Melli.

Bens Blick schnellt zu ihr und sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Allein der Klang ihrer Stimme macht ihn glücklich.

»Jetzt!« Brandl fuchtelt mit der Waffe in der Luft herum.

»Die Pistole ist heftig«, sagt Arvid. »Aber was soll der Scheiß mit den Handys?«

»Sie können unsere Handys nicht einkassieren«, sagt Luk, der seit diesem Jahr Klassensprecher ist. »Schließlich gibt’s so was wie Persönlichkeitsrechte.«

»Sofort«, schreit Brandl. »Jetzt!«

Ben sieht mich fragend an. »Was ist denn mit dem los?«

Ich schüttele den Kopf. »Keine Ahnung.«

Hatice steht auf, ihr Handy in der Hand.

Ivy steht ebenfalls auf. »Also gut«, sagt sie. »Wenn Sie uns dafür früher gehen lassen.«

»Wenn wir früher gehen dürfen, gebe ich mein Handy auch ab«, sagt Chris und springt auf.

Linus und Lisa stehen ebenfalls auf.

»Dafür dürfen wir aber schon um drei gehen«, ruft Linus. Sein Stuhl knallt zu Boden, als er hochspringt.

Ich erhebe mich ebenfalls.

»Stopp«, ruft Brandl.

Ich verharre mitten in der Bewegung.

»Setzen!«, brüllt unser Deutschlehrer.

Ich halte das Handy in die Höhe. »Wie sollen wir Ihnen unsere Handys geben, wenn …«

»Setzen!«

Ich setze mich.

Chris und Linus setzen sich.

Hatice und Ivy setzen sich.

Hatice flüstert Ivy etwas ins Ohr und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mein Blick fällt auf die bunten Bändchen, die beide seit ein paar Tagen am Handgelenk tragen.

»Hände auf die Tische«, sagt Brandl.

Ben sagt: »Wie sollen wir Ihnen unsere Handys geben, wenn …«

»Alle!«, brüllt Brandl.

Ben zuckt zusammen und legt die Hände auf den Tisch.

Und nach und nach legen alle ihre Hände auf die Tische.

Sogar Arvid, der sonst nie macht, was man ihm sagt.

Die Stimmung ist seltsam. So einen Aufriss hat Brandl noch nie veranstaltet. Er zieht scharf die Luft ein. »Wir starten in der ersten Reihe. Dario, wenn Sie … alle anderen lassen die Hände auf den Tischen, sodass ich sie sehe.«

Hatice meldet sich.

»Später«, sagt Brandl.

»Aber, Herr Brandl. Wir …«

»Später!«

»Los, Dario.« Brandl richtet die Waffe auf ihn.

In Slow Motion holt Dario sein Handy aus der Tasche.

In Slow Motion steht er auf.

In Slow Motion geht er zum Pult.

»Danke«, sagt Brandl.

Das ist so was von schräg.

Was will er?

Ist das Teil der Argumentationskette für die Diskussion?

»Jetzt Sie, Charlie«, sagt Brandl.

»Ich kapiere nicht, was los ist«, sagt Charlie.

»Einfach nur Ihr Handy.«

Charlie nickt, hebt seinen Rucksack vom Boden und legt ihn auf den Tisch. Langsam öffnet er den Reißverschluss, atmet vernehmlich aus, holt sein Handy heraus und bringt es nach vorne.

»Jetzt Sie, Esther«, sagt Brandl. »Und bringen Sie Melanies Handy gleich mit.«

Esther nimmt ihr Handy und das von Melli und steht auf.

»Alle anderen lassen ihre Hände auf den Tischen.« Brandl blickt drohend in unsere Richtung.

Wir haben unsere Hände auf dem Tisch!

»Noch einmal und …« Brandl fuchtelt mit der Waffe in der Luft herum.

Das geht jetzt echt zu weit. Was immer er uns demonstrieren will, wir alle wollen den Unterricht nur so schnell wie möglich hinter uns bringen und dann ab ins Wochenende.

»Was Sie hier abziehen, ist nicht lustig«, sagt Ben.

»Was ich hier abziehe?«, fragt Brandl.

»Ja, genau«, sagt Ben.

»Ich ziehe hier gar nichts ab. Aber, was Sie alle in den letzten Wochen und Monaten abgezogen haben, darüber sollten wir mal reden. Besonders Sie.« Er zielt mit der Pistole auf Ben.

»Hä?« Ben wirft sich mit dem Rücken gegen die Stuhllehne. »Ich?« Mit großer Geste tippt er sich auf die Brust.

»Ich warne Sie«, sagt Brandl. »Gerade Sie.«

»Was soll Ben denn getan haben?«, fragt Melli, wobei sie die Worte wie Kaugummi zieht. »Was sollen wir getan haben?« Ich glaube, sie hat tatsächlich einen Kaugummi im Mund.

»Mir reicht’s!« Ben greift nach seinem Rucksack und steht auf. »Ich mache diesen Blödsinn nicht länger mit.«

»Setzen!«, schreit Brandl.

Ben wirft sich den Rucksack über die Schulter. »War nett mit euch, aber …«

Ein Schuss ertönt.

Hallt von den Wänden wider.

Hallt in meinen Ohren.

14:07 Raum 221 Sam

Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen. Niemensch sagt ein Wort. Nichts raschelt. Keine Bewegung. Schockstarre. Ben liegt neben dem Tisch auf dem Boden.

Liam beugt sich zu ihm, rüttelt an seiner Schulter. »Sag was, Ben.«

»What the fuck!«, ruft Arvid.

»Scheiße«, murmelt Luk.

Charlie fasst nach Darios Hand.

»Setzen und die Hände auf die Tische«, sagt Brandl.

Liam rüttelt an Bens Schulter. »Bist du verletzt?«

Ein Zipfel von Bens Hemd hängt aus seinen Shorts und lässt ihn verletzlich aussehen.

Blut ist nirgends zu sehen.

Oder doch?

Ich weiß es nicht. Bens Shirt ist schwarz.

Liam rüttelt noch einmal an Bens Schulter.

»Ich habe an die Decke geschossen«, sagt Brandl. »An die Decke.«

»Ben?«, frage ich und schlucke. Und es dauert eine Ewigkeit, bis ich wieder genug Spucke im Mund habe, um zu fragen: »Bist du okay?«

Bens Haare, die sonst sorgfältig nach vorne gekämmt sind, stehen in alle Richtungen. Er sieht aus wie ein aus dem Nest gefallener Vogel.

»Niemand wurde getroffen.« Brandls Blick schweift über unsere Köpfe, als müsse er sich selbst davon überzeugen.

»Ben?«, frage ich noch einmal.

»Er ist okay«, sagt Liam. »Er ist okay. Er ist …«

»Alle setzen sich auf ihre Plätze«, sagt Brandl. »Und legen die Hände auf die Tische.«

Chris schiebt seine Hände so zaghaft auf den Tisch, als habe er Angst, etwas kaputt zu machen. Und Lisas Hände zittern so heftig, dass ihre Finger auf dem Tisch trommeln.

Ivy dreht sich um und sieht mich flehend an.

Was erwartet sie von mir? Dass ich mich auf Brandl stürze, weil ich Karate kann?

Der Typ hat eine Pistole!

So eine habe ich schon einmal gesehen.

Eine Heckler und Koch P30.

Selbstladepistole.

15 Schuss.

Wir sind 15.

Ein Schuss ging in die Decke.

Bleiben 14.

Chris würgt und kotzt auf seine Hände, weil Brandl uns befohlen hat, die Hände auf dem Tisch zu lassen.

Der Gestank, der sich augenblicklich ausbreitet, ist unerträglich. Ich kann Blut sehen und Kacke riechen, aber bei Kotze drehe ich durch.

Ich versuche, nur durch den Mund zu atmen. Am liebsten würde ich mir die Nase zuhalten. Aber ich will die Hände nicht vom Tisch nehmen.

Chris kotzt im Schwall.

Linus, der vor ihm sitzt, springt auf.

»Sitzen bleiben«, schreit Brandl.

In diesem Moment springt auch Charlie auf, rennt zur Tür und zieht den Stuhl unter der Klinke weg.

Ein Schuss.

Der zweite.

Hallt durchs Zimmer.

Ich will schreien.

Bekomme keine Luft.

Jemensch wimmert.

Meine Ohren dröhnen.

Alle sitzen auf ihren Stühlen, nur Charlie liegt auf dem Boden neben der Tür.

»Ruhe«, sagt Brandl. »Setzen.«

Ich höre alles gedämpft, wie unter Wasser.

Ich bewege meinen Kiefer, in meinen Ohren knackt es und alles wird wieder normal laut.

Arvid zeigt auf das Loch in der Wand und von da zum Loch in seinem Tisch. »Ein Querschläger«, murmelt er fassungslos.

Charlie liegt auf dem Boden.

Ist das Blut auf seiner Hose?

»Darf ich?« Ich zeige zur Tür. »Darf ich zu ihm?«

»Ich habe an die Wand geschossen. Erst an die Decke, dann an die Wand. Niemand wurde verletzt«, sagt Brandl und wiederholt das wie ein Mantra.

Im Flur knallt etwas gegen eben diese Wand, nur von außen. Ist das der Meyer mit seinem Putzwagen?

Brandl hat es ebenfalls gehört. Er legt den Finger auf die Lippen und schüttelt den Kopf.

»Was ist mit Charlie?«, flüstert Esther und will aufstehen.

Brandl richtet die Pistole auf sie.

Nein! Bitte nicht! Nicht Esther.

Arvid springt auf.

Die Pistole ruckt zu ihm.

Esther setzt sich wieder.

Arvid bleibt stehen, die Hände zu Fäusten geballt.

Im Flur ist es jetzt still. Viel zu still.

»Arvid, bitte nicht.« Esthers Stimme ist heiser.

Die Mündung der Pistole wandert wieder zu ihr.

Esther presst die Hand vor den Mund.

Arvid steht noch immer mitten im Zimmer.

Soll ich um Hilfe rufen?

Oder erschießt Brandl mich dann?

Rennen?

Über Charlie hinwegspringen?

Die Tür aufreißen und …

Charlie setzt sich auf und blickt verwundert an sich herunter. Dann bewegt er langsam Arme und Beine, als könne er selbst nicht glauben, dass alles in Ordnung ist.

14:13 Raum 221 Liam

Ben sitzt erstarrt neben mir. Ich passe mich seiner Atmung an. Ein, aus. Ein, aus. Zu schnell. Aber passend für das, was gerade passiert ist.

Ich kann noch immer nicht glauben, dass Brandl erneut geschossen hat. Aber da ist ein Loch in der Decke und eins in der Wand, wo die Kugel von einem Stahlträger abgeprallt ist, von dem ich nicht einmal wusste, dass es ihn gibt. Und da ist ein Loch in Arvids Tisch. Ein Wunder, dass die Kugel ihn nicht erwischt hat.

Aber Arvid ist unverletzt.

Ben und ich sind unverletzt.

Und auch Charlie ist unverletzt und sitzt wieder auf seinem Platz neben Dario.

Mein Herz rast noch immer, meine Augen brennen.

Ich schließe die Lider.

Öffne sie wieder.

Brandl sieht aus wie immer.

Zugleich ist er ein völlig Fremder.

Was macht er?

Warum?

Ist in letzter Zeit irgendetwas passiert, das ich nicht mitbekommen habe?

Seine Hände zittern. Die Hand mit der Waffe und die, mit der Brandl jetzt ein Fläschchen aus seiner Mappe zieht.

Ich weiß, dass er trinkt, weil ich ihn vorm Unterricht in seinem Auto habe trinken sehen. Aus so einem Fläschchen, wie er es jetzt aus der Mappe zieht, und wie sie im Supermarkt an der Kasse liegen, diese Minifläschchen.

Er versucht, die Flasche mit einer Hand zu öffnen, während er in der anderen die Pistole und uns in Schach hält.

Ivy macht Luk irgendwelche Zeichen von wegen der Fenster.

Aber sollen wir jetzt kollektiv zu den Fenstern rennen und springen, oder was?

Wir sind im zweiten Stock!

Außerdem schießt Brandl sicher, wenn wir das machen.

Immer wieder rutschen seine Finger vom Drehverschluss ab. Er stöhnt frustriert.

Hatice meldet sich. »Soll ich Ihnen helfen?«

Sie war schon immer die Nette. Sobald es etwas zu organisieren gibt, Party oder Klassenfahrt, ist sie dabei.

Brandl errötet. »Ich denke nicht, ich meine, ich bin nicht … Sie sollen nicht glauben, dass … ich weiß ja, dass Sie das ohnehin, aber …«

»Ich glaube gar nichts«, sagt Hatice, steht auf und geht nach vorne.

Als wäre heute ein ganz normaler Tag.

Als hätten wir ganz normalen Unterricht.

Als würde sie mal eben zum Smartboard gehen.

Kurz verstellt sie Brandl die Sicht auf uns. Ich nutze die Chance und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.

Hatice öffnet Brandls Fläschchen.

Ich schiebe die Hand mit dem Handy auf mein Bein.

Hatice reicht Brandl das Fläschchen.

»Danke«, sagt er und winkt sie zur Seite, als habe er eben erst bemerkt, dass sie ihm die Sicht verstellt.

Die Schulglocke läutet. Viertel nach zwei. Ende der ersten Nachmittagsstunde.

Hatice geht zurück zu ihrem Platz.

Ich sitze wieder voll in Brandls Blickfeld.

Das Handy auf dem Bein.

Die Hand auf dem Handy.

»Alle Hände auf die Tische.« Brandl starrt mich an.

Flach atmen.

Bein ruhig halten.

Hand langsam wegziehen.

Handy zwischen Bein und Tisch einklemmen.

Aber das Handy gerät ins Rutschen.

Ich ziehe das Bein ruckartig hoch.

Zu spät. Das Handy knallt auf den Boden.

Ich zucke zusammen.

Brandl zuckt zusammen und richtet die Pistole auf mich.

14:17 Polizeirevier Alex

Ich starre auf die Worte, die über den Bildschirm flimmern:

++ AMOK-ALARM ROSE-AUSLÄNDER-GYMNASIUM

++ AMOK-ALARM ROSE-AUSLÄNDER-GYMNASIUM

++ AMOK-ALARM ROSE-AUSLÄNDER-GYMNASIUM

Der Alarm, der in unserem Großraumbüro schrillt, ist mehr als deutlich. Mario, der gerade telefoniert, hält sich das freie Ohr zu. Franka hört auf zu tippen.

»Amok-Alarm am Rose-Ausländer-Gymnasium«, sage ich und wäge ab. Erst die Schule anrufen und fragen, was los ist, oder besser gleich das SEK verständigen?

»Alex?« Beatrix zeigt auf den Monitor und sieht mich fragend an, als könne ich die Meldung übersehen und das Schrillen überhört haben. Sie rückt ihre Brille zurecht.

Ich sollte mich an das Prozedere halten. Keine Zeit verlieren. Nichts riskieren.

Ich greife zum Telefon und verständige das SEK. Danach rufe ich in der Schule an und spreche mit dem Hausmeister, der einen Schuss gehört und daraufhin den Alarm ausgelöst hat. Es sei so kurz vor den Sommerferien an einem Freitagnachmittag überhaupt nur eine Klasse in der Schule. Der Deutschleistungskurs eines Lehrers namens Moritz Brandl. 15 Schüler*innen.

»Ich schicke alle vor Ort verfügbaren Einsatzkräfte«, sage ich. »Unternehmen Sie nichts, bis wir bei Ihnen sind.«

»Gut«, sagt der Hausmeister. »Ich warte auf dem Parkplatz.«

Bea rückt ihre Brille zurecht und verständigt die Streifenwagen. Zwei sind in der Nähe und in drei Minuten vor Ort.

Ich alarmiere den Rettungsdienst.

Bea wedelt mit den Autoschlüsseln.

Ich verspüre eine leichte Übelkeit.

Geht Sam nicht aufs Rose-Ausländer-Gymnasium?

14:19 Raum 221 Sam

Es knistert in den Lautsprechern, eine blecherne Stimme ertönt: »Bitte bleiben Sie in den Zimmern. Verschließen Sie die Tür und schieben einen Tisch davor.«

Brandl starrt den Lautsprecher an. »Amok-Alarm«, keucht er und lacht freudlos. »Es gibt da so eine gelbe Box. Wie für den Feueralarm, nur in Gelb.«

Er lacht immer heftiger.

Oder weint er?

Seine Haare glänzen fettig und hängen ihm ins Gesicht. Erfolglos versucht er, sie zur Seite zu streichen und sagt: »Jetzt müsste ich Sie wohl gehen lassen.«

Die automatisierte Stimme vom Band wiederholt: »Bitte bleiben Sie in den Zimmern. Verschließen Sie die Tür und schieben einen Tisch davor.«

Verschließen Sie die Tür?

Voll der Witz!

Gibt es diese gelbe Box wirklich?

Und hat der Meyer den Alarm ausgelöst?

»Das wäre toll«, sagt Melli. »Wenn Sie uns jetzt gehen lassen würden, meine ich.«

Esther reibt über ihre nackten Knie. Wieder und wieder.

»Ja, bitte, lassen Sie uns gehen«, sagt Ivy, auf deren Tisch ein Exemplar vom Tod in Venedig liegt, bei dem fast jede Seite mit einem bunten Klebezettel markiert ist.

»Ist der Amok-Alarm nicht eigentlich für Schüler?«, fragt Luk. »Wenn Schüler Amok laufen, meine ich.«

»Schüler*innen«, sage ich ganz automatisch, obwohl, eigentlich erinnere ich mich nur an Amokläufe von Schülern.

»Ich habe Angst«, flüstert Liam.

Erneut knistert es im Lautsprecher. Aber es erfolgt keine weitere Durchsage.

Unter dem Dach hört man das dumpfe, dunkle Gurren der Tauben.

Es riecht nach Kotze und Angstschweiß.

»Sie müssen uns gehen lassen«, sagt Charlie. »Bitte.«

»Die Polizei wird gleich hier sein«, sagt Dario. »Und …«

»Ich will nicht sterben«, sagt Linus. »Ich will nicht.« Er atmet immer schneller. Seine Hände verkrampfen sich. Ich kenne das von meiner Mutter und hole meine Brottüte aus der Tasche.

Brandl richtet die Pistole auf mich.

Ich zeige auf Linus. »Er muss in eine Tüte atmen, sonst kippt er um. Ich kenne das von meiner Mutter, die hyperventiliert, wenn sie Panikattacken hat.«

Brandl nickt.

Ich ziehe das Brot aus der Tüte, lege es auf den Tisch und gehe mit der Tüte zu Linus. »Die musst du vor Mund und Nase halten«, sage ich und als Linus nicht reagiert, fasse ich seinen Hinterkopf und halte ihm die Tüte vor Mund und Nase. Er ist völlig verschwitzt. Sein Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. Die Tüte bläht sich auf und fällt wieder zusammen.

Ich warte, bis seine Atmung sich so weit beruhigt hat, dass Linus die Tüte selbst halten kann. Dann gehe ich zurück zu meinem Platz und stecke das Brot ohne Tüte in die Tasche.

»Was ist eigentlich los, Herr Brandl?«, fragt Ivy. »Warum machen Sie das?«

»Ruhe.« Brandl hebt die Pistole. »Ich muss nachdenken.«

Es ist mörderisch heiß.

Die Riemchen von Lisas Sandalen quetschen ihre Zehen ab.

Die Sandalen sehen neu aus.

Neu und grün.

»Okay.« Brandl richtet die Pistole auf Liam. »Ihr Handy.«

Liam nickt.

Zittert.