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Was ist immersives Theater? Was bedeutet es, im Kontext der Theaterrezeption davon zu sprechen, dass Zuschauerinnen und Zuschauer "komplett eintauchen"? Die vorliegende Studie entwickelt anhand eines breiten Korpus von Aufführungen des partizipativen Gegenwartstheaters ein Verständnis von immersivem Theater im engen Sinn und trägt damit zur begrifflichen Unterscheidung von Partizipation und Immersion bei. Untersucht werden formale Gemeinsamkeiten der Publikumsinvolvierung in Arbeiten des Kollektivs SIGNA, von Paulus Manker, Punchdrunk und Scruggs/Woodard. Die Autorin zeigt, dass immersives Theater mit seinen multisensorischen und interaktiven Erfahrungsräumen wirkungsästhetisch auf komplexe Prozesse der Vereinnahmung zielt. Diese können sowohl in produktive Selbstreflexion umschlagen als auch unbemerkt bleiben, worin sich die gesellschaftspolitische Relevanz dieses "übergriffigen" Theaters widerspiegelt.
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Seitenzahl: 635
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Der Druck des vorliegenden Buches wurde ermöglicht durch eine Ko-Finanzierung für Open-Access-Monografien der Freien Universität Berlin und des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten SFB 1171 Affective Societies der Freien Universität Berlin. Zugleich: Dissertation im Fach Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, 2021.
Theresa Schütz
Theater der Vereinnahmung
Publikumsinvolvierung im immersiven Theater
Recherchen 164
© Texte: Theresa Schütz, 2022
© Abbildungen: Fotografinnen und Fotografen
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz BY NC ND. Die Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de
Jede kommerzielle Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages oder der Autorin.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Gestaltung: Tabea Feuerstein
Korrektorat: Iris Weißenböck
Umschlagabbildung: Das Ensemble von SIGNAs Das Heuvolk während der Abschlussszene
Titelfoto: Erich Goldmann
Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-405-4 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95749-427-6 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-428-3 (EPUB)
ISBN 978-3-95749-429-0 (Open Access)
Recherchen 164
Theresa Schütz
Publikumsinvolvierung im immersiven Theater
Dank
Einleitung
1.Theorien der Immersion
1.1Immersion als Modus ästhetischer Rezeption von Literatur, Film und Game
1.2Apparaturen der Immersion und des Worldbuildings
1.3Immersion und Theater/-wissenschaft
2.Immersives Theater
2.1Merkmale immersiver Theaterdispositive
2.1.1Von der Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum zum geteilten Erfahrungsraum
2.1.2Das mit-wirkende Publikum: Von der Kopräsenz zur Relationalität
2.1.3Die Eroberung des affektiven Zuschauer*innen-Körpers
2.2Immersives Theater im engen Sinn
2.2.1Zum Gegenstand: Aufführungen immersiven Theaters
2.2.2Immersive Theateraufführungen als ästhetische Wirklichkeitssimulationen
2.2.3Vereinnahmung als zentrale wirkungsästhetische Kategorie
2.3Zum Korpus: Kurzvorstellung der Beispielaufführungen
2.3.1Alma von Paulus Manker
2.3.2Sleep no more von Punchdrunk
2.3.3Das Heuvolk von SIGNA
2.3.4Wir Hunde von SIGNA
2.3.5Das halbe Leid von SIGNA
2.3.63/Fifths – SupremacyLand von James Scruggs und Tamilla Woodard
3.Polyperspektivismus. Von der Form zur Methode
3.1Aufführungs- und Inszenierungsanalyse als Szenen- und Situationsanalyse
3.2Multiple Polyperspektivität
3.3Über das Zusammenwirken verschiedener Wahrnehmungsmodalitäten
3.4Zum Material: Zuschauer*innen als Ethnograf*innen
4.Publikumsinvolvierung in Aufführungen immersiven Theaters
4.1Räumliche und figurenperspektivische Involvierung in Paulus Mankers Alma
4.1.1Desorientierung als dominanter Effekt der Zuschauer*innen-Involvierung
4.1.2Zur Einbettung der Zuschauenden in die Wirklichkeitssimulation
4.2Involvierung durch das Soundscape in Punchdrunks Sleep no more
4.2.1Funktionen und Effekte soundbasierter Publikumsinvolvierung
4.2.2»Is That All There Is?«: Versuch zur soundbasierten Erzeugung von Nostalgie
4.3Olfaktorische Involvierung in SIGNAs Das halbe Leid
4.3.1Funktionen von Geruchsdesign und olfaktorischer Involvierung
4.3.2Zur Vereinnahmung mit-leidender Zuschauer*innen
4.4Involvierung durch Handlungsanweisungen in SIGNAs Das Heuvolk
4.4.1Funktionen und Wirkweisen von Handlungsanweisungen
4.4.2Zur Erzeugung von Zugehörigkeit oder der Sehnsucht nach ihr
4.5Involvierung durch körperliches Berühren in SIGNAs Wir Hunde
4.5.1Berührungen als Modi der Begegnung mit der Transspezies Hundsch
4.5.2Affektive Dynamiken des körperlichen Ausgesetzt-Seins
4.6Involvierung über die affizierende Kraft von Zeichen, Diskursen und Bedeutungen in 3/Fifths – SupremacyLand von Scruggs/Woodard
4.6.1Black or White?
4.6.2Zur Relation von fiktionalem Mikrokosmos und außertheatralem Makrokosmos
4.6.3Whiteness erfahren und reflektieren
Fazit: Von vereinnahmender Publikumsinvolvierung zum Theater der Vereinnahmung
Endnoten
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhang
Die Autorin
Die vorliegende Studie ist die gekürzte, überarbeitete Publikation meiner im Sommer 2021 verteidigten gleichnamigen Dissertation und das Ergebnis meiner Mitarbeit im theaterwissenschaftlichen Projekt Reenacting Emotions. Strategies and Politics of Immersive Theater, das 2015 bis 2019 am Sonderforschungsbereich Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten an der Freien Universität Berlin angesiedelt war und seit 2019 unter dem Titel Reenacting Emotions II. Lebensformen und Technologien der Immersion in den performativen Künsten fortgesetzt wird. Mein erster und wichtigster Dank geht an Doris Kolesch, die das Projekt initiiert und geleitet hat, für ihr Vertrauen, ihre Wertschätzung, Geduld, vielseitige Unterstützung und stete Gesprächsbereitschaft.
In einem Sonderforschungsbereich zu promovieren, ist mit einigen Privilegien verbunden. Das größte ist sicherlich das dichte Umfeld von engagierten Kolleg*innen, die aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenkommen, um mit Offenheit, gegenseitigem Interesse und akademischer Leidenschaft etwas gemeinsam zu erarbeiten. In diesem Sinne danke ich dem SFB-Kollegium für die zahlreichen Austauschformate, Impulse, Feedbackrunden und Einzelgespräche, darunter zuvorderst meinem Zweitgutachter Matthias Wartstat, der von Beginn an ein wichtiger fachlicher Begleiter und produktiv-kritischer Impulsgeber meines Dissertationsprojekts war. Darüber hinaus gilt mein Dank den Kolleg*innen Christian von Scheve, Antje Kahl und Coline Kuche aus der Soziologie für ihre Unterstützung bei der Durchführung von Zuschauer*innen-Befragungen; Jan Slaby und Hauke Lehmann für ihr Interesse an meiner Arbeit und ihre hilfreichen theoriebezogenen Tipps; Ulrike Geiger für ihren perfekten administrativen Einsatz; den beiden studentischen Projektmitarbeiter*innen Marisa Burkhardt und Thore Walch für ihre Unterstützung sowie – last but not least: den theaterwissenschaftlichen Kolleg*innen Friederike Oberkrome, Hans Roth und Sophie Nikoleit für die zahlreichen anregenden Gespräche und Hinweise.
Die wichtigsten inhaltlichen Sparring-Partner*innen für dieses Buch waren Rainer Mühlhoff und Karina Rocktäschel. Ihnen gebührt ein besonders großer Dank: Karina Rocktäschel für die vielen gemeinsamen Reisen zu immersiven Aufführungen, die bereichernden Gespräche und vor allem die vielen klugen kritischen Nachfragen; Rainer Mühlhoff für die großartige Erfahrung, gemeinsam zu denken, zu schreiben, Ideen zu entwickeln und auch direkt in die Tat umzusetzen.
Neben dem SFB-Arbeitskontext gibt es so viele weitere Menschen, denen ein Dank gebührt, weil sie mich an verschiedenen Punkten dieser Reise begleitet und unterstützt haben. Ohne alle namentlich einzeln nennen zu können, möchte ich den Teilnehmer*innen der Kolloquien von Doris Kolesch und Matthias Warstat danken, den Teilnehmer*innen der Spring School »The Power of Immersion« (2017), hier insbesondere Adam Alston, Ágnes Bakk, Hilko Eilts und Jos Porath. Ich möchte all meinen Interviewpartner*innen, die sich mit mir über ihre Aufführungserfahrungen bei SIGNA unterhalten haben, wie auch allen Künstler*innen, die mit mir im Austausch standen, Danke sagen; großen Dank möchte ich auch Edda Willamowski und Anne Ebert aus meiner Schreibgruppe aussprechen, die insbesondere im letzten Jahr während der Pandemie so wichtig waren, um Motivation und Arbeitsstruktur aufrechtzuerhalten.
Danken möchte ich auch Signa Köstler für die zahlreichen erhellenden, auch persönlichen Gespräche sowie SIGNA ganz grundsätzlich dafür, eine Kunst(form) zu produzieren, die so komplex und wertvoll ist, dass sie es trägt, sich mit ihr über so viele Jahre hinweg zu beschäftigen.
Ich danke dem Verlag und der Redaktion von Theater der Zeit, dafür, dass ich bereits seit vielen Jahren für sie reisen und über Theater schreiben und nun auch meine Arbeit in der Recherchen-Reihe publizieren kann. Das freut mich wirklich sehr. Dank an Nicole Gronemeyer und Iris Weißenböck für die professionelle Zusammenarbeit.
Und zu guter Letzt danke ich Kerstin Roose für ihr gründliches Lektorat und ihre großartige Rundumunterstützung als inzwischen gleichfalls promovierte Leidensgenossin und Freundin. Ebenso danke ich meinen Freund*innen Julia Hütter, Yvonne Döring, Viviane Otto, Enrico Blasnik, Rosa Volkmann und Jessica Piggott dafür, dass sie mir – auch in den vielen Phasen des Zweifelns – stets mit Schulter, Herz und Verstand zur Seite standen. Ohne sie, und ohne den Rückhalt meiner Familie(n) und meines Freundes, wäre diese Unternehmung sehr viel schwerer gewesen. Danke!
Teile des Ökosystems des Grand Barrier Reefs aus nächster Nähe zu betrachten, ohne dafür selbst an der Nordostküste Australiens in den Pazifik abzutauchen, das ermöglicht Künstler und Architekt Yadegar Asisi seit 2015 in zwei seiner inzwischen mehr als zwölf 360-Grad-»Panometern«1 in ganz Deutschland und Frankreich. Seit 2016 bietet das Unternehmen LesMills eine »Fitness-Experience« an, die movie rides, wie man sie aus IMAX-Kinos der neunziger Jahre kennt, mit Spinning-Kursen kombiniert, sodass die Illusion einer Fahrradtour nicht mehr nur über den Takt der Musik, sondern über einen Screen, der eine Berg- und Talfahrt simuliert, erzeugt wird. Einen Kinofilm wie Dirty Dancing oder The Great Gatsby im Rahmen eines thematischen Party-Events gemeinsam im Look der Zeit zum Leben zu erwecken, bieten britische Veranstalter seit 2007 unter dem Label »Secret Cinema« an. 2013 folgt Berlin anderen europäischen Metropolen und eröffnet den Berlin Dungeon, der Tourist*innen einlädt, in einer Mischung aus Laufgeschäft, Geisterbahn und interaktivem Theater in die schaurigen Abschnitte des mittelalterlichen Berlins einzutauchen. Mit der Fortsetzung Jurassic World (USA 2015) der Jurassic Park-Filme aus den neunziger Jahren und der Serie Westworld (USA 2016)2 erlebt das Phänomen des Vergnügungs- und Themenparks eine Renaissance. Beide Fiktionen thematisieren und aktualisieren futuristische Resorts als eskapistische Parallelwelten, die ihre Besucher*innen räumlich umschließen und von ihnen am eigenen Leib erfahren und erspürt werden können. Das Eintauchen in alternative, simulierte, virtuelle Welten, die nicht real sind, sich aber real anfühlen können und so für den eintauchenden Protagonisten temporär zur Wirklichkeit werden, ist seit den siebziger Jahren ein wiederkehrendes filmisches Sujet, das aktuell vor dem Hintergrund neuester VR-Technologien mit Blockbustern wie Ready Player One (USA 2018) ebenso fortgeschrieben wird wie in Mark Zuckerbergs unternehmerischer Vision der Realisierung eines »Metaverse«. Populäre Angebote spielförmigen Eintauchens in Parallelwelten erfreuten sich in den vergangenen Jahren nicht nur über das Aufkommen zahlreicher »Escape Rooms«3, sondern auch am Beispiel sogenannter »Alternate Reality Games« (ARG) steigender Beliebtheit.4 Mal werden Mitspieler*innen über E-Mails, Werbe-Trailer oder Nachrichtendienste zu einer Art virtueller Schnitzeljagd eingeladen, die sie in ein umfängliches Netz von Fake-Homepages oder -Accounts in sozialen Netzwerken mit diversen Handlungsaufträgen, Gesprächsimpulsen oder Plot-Indizien führt. Mal greift das ARG in den Alltag der Teilnehmenden ein, ohne dass diese um Zeitpunkt, Ort, Umfang oder Gegenstand der spielerischen Intervention wissen. Auf diese Weise wird Wirklichkeit und Spielrealität systematisch miteinander verflochten, ohne dass die Verflechtung selbst erkennbar wäre. Eine dritte ARG-Variante, die sogenannten »extreme hunts«, bietet u. a. Russ McKamey seit mehr als einer Dekade auf seinem Anwesen in Südkalifornien an. Die McKamey Manor-Tour lädt ihre Teilnehmer*innen zu einem realen Horrortrip ein, bei dem diese gekidnappt, eingesperrt und gefoltert werden.5 Vergleichbar zu bestimmten Spielarten des NordicLARP6 gibt es lediglich ein Codewort, das die real durchlebte Simulation stoppen kann.
All diese sehr unterschiedlichen Beispiele der zeitgenössischen, populären, kommerziellen »experience industry« (Pine/Gilmore, 1999) zielen darauf ab, ihre Rezipient*innen, Nutzer*innen oder Mitspieler*innen multisensorisch zu umgeben, räumlich oder narrativ einzuschließen sowie körperlich und/oder mental in Beschlag zu nehmen. Sie alle firmieren als Gegenwartsphänomene unter dem, was man als Immersion bezeichnen kann. Gemeinsam ist ihnen die Privilegierung eines möglichst unmittelbaren, intensiven Erlebens, das auf Distanzminimierung und eine temporäre Verschmelzung von Fiktion und Realität setzt. Gegenstand des Erlebens ist dabei ein bestimmtes Selbst-/Weltverhältnis. Schließlich dominiert in allen Beispielen die Existenz einer gestalteten und/oder simulierten Umgebung, Fiktion oder Parallelwelt, zu der Zuschauende, Teilnehmende oder Spielende in ein Verhältnis gesetzt werden. Und dieses scheint auf einen ersten Blick einem körperlichen Spüren und intensiven emotionalen Fühlen einer distanziert-reflexiven Teilhabe den Vorzug zu geben.
»Immersion [ist] ein ubiquitäres Phänomen geworden […], insofern als damit sowohl Erfahrungen mit Texten, mit Virtual Reality, mit Kunst und Kino gleichermaßen charakterisiert werden können« (Curtis, 2008a, S. 78). Es ist gegenwärtig auch die Rede von einem »Schlüsselphänomen unserer Zeit« (Oberender, 2016) oder einer »kulturellen Dominante« (Werry/Schmidt, 2014, S. 478, dt. TS). Spätestens mit Beginn der zehner Jahre setzt sich Immersion als Begriff und Phänomenkomplex auch im Feld des Theaters durch. 2011 feiert die Produktion Sleep no more der britischen Company Punchdrunk in New York ihre US-amerikanische Erstaufführung, im Londoner Battersea Arts Center findet erstmals ein One-on-One-Festival und im französischen Lyon die Auftaktausgabe des Festivals Micromondes. Festival des Arts Immersifs statt. Bereits ein Jahr zuvor brachten unabhängig voneinander der französische Szenograf Marcel Freydefont den Begriff »théâtre immersif« (Freydefont, 2010) in den französischsprachigen und Josephine Machon das englischsprachige Pendant »immersive theatre«7 in den Diskurs ein.
Die Theaterwissenschaftler*innen Josephine Machon, Gareth White, Marvin Carlson und Daniel Schulze sind sich einig, dass die Bezeichnung »immersive theatre« ab 2011 beginnt, die Begriffe »site-specific« und/oder »promenade theatre« abzulösen (vgl. Machon, 2013, S. 65; White, 2012, S. 223; Carlson, 2012, S. 18; Schulze, 2017, S. 129). Als ein entscheidendes Merkmal von »immersive theatre«-Aufführungen kristallisiert sich die physische und multisensorische Einbindung der Zuschauenden heraus: »Immersive theatre invites audiences directly into its scenographic, installation-like environments, to explore and participate, effectively becoming performers themselves« (Allain/Harvie, 2014, S. 192). Hervorzuheben sei ferner eine damit einhergehende, signifikante »Intensivierung der Erfahrung« (Frieze, 2016, S. 5, dt. TS), nicht zuletzt im Sinne der Provokation starker Emotionen wie Aufregung, Abenteuerlust, Intimität oder Verlangen (vgl. Allain/Harvie, 2014, S. 193). Während Josephine Machon auf eine eigene Welthaftigkeit (in-its-own-worldness) von »immersive theatre« insistiert (vgl. Machon, 2013, S. 31) und Daniel Schulze von theatralen Heterotopien spricht, die Zuschauer*innen für die Dauer der Aufführung im Modus des »Fake« durchleben könnten (vgl. Schulze, 2017, S. 140, 153), zeigt sich Gareth White skeptisch gegenüber der im Immersionsbegriff angelegten Suggestion zweier distinkter Sphären, wonach es irgendein »Inneres« geben müsse, in das Zuschauer*innen während der Aufführung eintauchen könnten (vgl. White, 2012, S. 233).
Sowohl die Monografie von Josephine Machon als auch die beiden Sammelbände Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance (2016) von James Frieze und Immersive Theatre. Engaging the Audience (2017) von Josh Machamer kartografieren das Feld partizipativer, ortsspezifischer und experimenteller Performances im britischen und US-amerikanischen Gegenwartstheater. »Immersive theatre« wird dabei zu einem umbrella term, unter dem formal äußerst diverse Aufführungen versammelt werden, in denen es auf verschiedene Weisen zu einer Mobilisierung und Beteiligung des Publikums und damit zu einer »Rückkehr von Techniken der Publikumspartizipation« (White, 2012, S. 222, dt. TS) seit den sechziger Jahren komme.
Neben den beiden Monografien von Rose Biggin (2017) und Carina E. I. Westling (2020) zu Punchdrunks Theaterarbeiten gibt es bislang nur eine weitere Studie, die sich explizit mit »immersive theatre« im Sinne des von Machon kartografierten Korpus beschäftigt, um zuvorderst eine Kritik der Zuschauer*innen-Partizipation in Arbeiten von Punchdrunk, Ray Lee oder Lundahl & Seitl zu entfalten. In Beyond Immersive Theatre. Aesthetics, Politics and Productive Participation vertritt Adam Alston die These, dass es sich bei »immersive theatre«-Inszenierungen um neoliberale »experience machines« (Alston, 2016, S. 2) handle, bei denen Zuschauer*innen in eine künstlerisch gestaltete Umgebung eingelassen und ihren sinnlichen, imaginativen und explorativen Fähigkeiten überlassen würden, um bestimmte intensive Erfahrungen zu machen, die anschließend als »Kunst« objektifiziert (vgl. ebd., S. 7) und entsprechend valorisiert würden. Für die Produktion solcher ästhetisierten Erfahrungen bedürfe es teilnehmender Zuschauer*innen, die sich auf einem schmalen Grad von Unterwerfung und Offenheit mit sich und ihrer eigenen Geschichte in das Begegnungsgeschehen einbrächten (vgl. ebd., S. 3). Wenn die Erfahrung »[f]eeling thrilled or feeling affected« (ebd., S. 50) allein zum Zweck des Kunstereignisses werde, dann begünstige dies zwei dominante Teilnahmeweisen: eine narzisstische, auf das eigene intensive Erleben bezogene, und eine unternehmerische, die sich dadurch auszeichne, dass Risiken eingegangen, Mut aufgebracht und Verantwortung übernommen würden (vgl. ebd., S. 10). So übe »immersive theatre« sein Publikum in Risikobereitschaft, Flexibilität, Ellenbogenmentalität und Egoismus ein und partizipiere damit selbst an einer Form neoliberaler Subjektivierung (vgl. Alston, 2013). Aus dieser Warte heraus betrachtet, kritisiert Alston Formen der Partizipation im »immersive theatre« als immaterielle Arbeit, bei der Zuschauer*innen in der neoliberalen Logik von Produktion und Konsum, das Produkt, das sie konsumieren, maßgeblich selbst hervorbringen. Und dies liegt wesentlich daran, dass im »immersive theatre« insbesondere durch gezieltes Affizieren und Emotionalisieren der Körper der Zuschauenden zum Ort und Medium der Aufführungserfahrung wird.
Die vorliegende Studie ergänzt den existierenden Korpus, der als »immersive theatre« verhandelt wird, um künstlerische Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum und führt sie in der Analyse mit »immersive theatre«-Klassikern wie Sleep no more von Punchdrunk zusammen. Mit dem Einbeziehen der Produktionen von SIGNA oder Paulus Manker ist dabei nicht nur eine Ergänzung des Aufführungsspektrums, sondern zuvorderst die Anregung zu einer Eingrenzung verbunden. So werde ich vorschlagen, einen bestimmten Kreis gesichteter Arbeiten als immersives Theater im engeren Sinne zu begreifen. Für sie gelten alle bereits genannten Merkmale des von Machon und Co. kartografierten »immersive theatre«. Neben der Mobilisierung, der multisensorischen Einbeziehung und der Intensivierung der Aufführungserfahrung liegt ihre Spezifik allerdings darin, dass sie mit der theatralen Realisierung einer fiktiven oder fiktionalisierten Weltversion arbeiten, die im Rahmen der Aufführung als durchgestaltete Wirklichkeitssimulation behauptet und von allen teilnehmenden Zuschauer*innen gemeinsam mit den Performer*innen und/oder Darsteller*innen für mehrere Stunden durchlebt wird. Ich werde hier in Abgrenzung zur bestehenden Forschung das Immersive zuvorderst über die Dimension von Worldbuilding-Prozessen denken, um aufzuzeigen, wie immersives Theater bestimmte Selbst-/Weltverhältnisse nicht nur prägt, sondern auch hervorzubringt.
Während Immersionsphänomene wie die eingangs genannten stets im Verdacht stehen, ihre Rezipierenden physisch, psychisch, mental und emotional derart zu involvieren, dass eine Distanznahme und Reflexion unmöglich wird, besteht ein zentrales Anliegen dieser Studie darin, aufzuzeigen, dass eine solch binär gedachte Perspektive auf Immersion, welche auch im transdisziplinären Immersionsdiskurs verbreitet ist, der Komplexität möglicher Erfahrungsschätze der in Rede stehenden Immersionsphänomene nicht gerecht wird. Insbesondere an den Aufführungen immersiven Theaters im engeren Sinn lässt sich studieren, wie gerade Modi emotionaler Involvierung reflexive Bezugnahmen auszulösen vermögen, wie das immersive Aufführungsdispositiv Zuschauer*innen mit der gestalteten Weltversion über eine strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen ›koppelt‹ und auf diese Weise zu einer Auseinandersetzung mit Selbst-/Weltverhältnissen anregt. Um diese Momente analytisch zu isolieren, ist es notwendig, sich mit den vielfältigen Strategien der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater auseinanderzusetzen. Zuschauer*innen werden mobilisiert, vereinzelt, multisensorisch affiziert, werden räumlich, narrativ, figurenperspektivisch, handlungs(anweisungs) bezogen sowie über verschiedene, sich überlagernde Ebenen möglicher Bedeutungsgenerierungen mit allen Sinnen in das komplexe Aufführungsgeschehen einbezogen. Und all das widerfährt passivisch gedachten Zuschauer*innen nicht einfach, sondern sie wirken an diesen Prozessen konstitutiv mit.
Die Kernthese meiner Studie ist, dass diese zahlreichen Modi der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Zuschauer*innen abzielen. Um der relationalen Anlage der Theaterform und den zahlreichen Dimensionen aktiv mit-wirkender Zuschauer*innen gerecht zu werden, werde ich eine affekttheoretische Konzeption von Vereinnahmung vorschlagen. Auf diese Weise soll der Reziprozität von Affizierungs- und Wirkungsprozessen Rechnung getragen, das konstitutive Mit-Wirken der Zuschauer*innen ernst genommen und eine produktive Ambivalenz von Vereinnahmungsprozessen herausgestellt werden. Denn nicht nur, dass immersives Theater eine gewisse Bereitschaft zum Vereinnahmtwerden voraussetzt, es führt Zuschauer*innen auch am eigenen Leib vor, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man sich auf Unbekanntes, auf ungewöhnliche wie ungewohnte Perspektiven einlässt. Es sind also häufig gerade Vereinnahmungsprozesse, die komplexe Selbst-Erfahrungsprozesse in Gang setzen und als bereichernd empfunden werden können. Gleichzeitig soll mit der Wahl des Begriffs der Vereinnahmung auch das mit dem Immersionsbegriff verknüpfte, latente Wirkungsversprechen einer vermeintlich ›totalen‹ Einbindung mitgeführt, an konkreten Beispielen ausgelotet und entsprechend problematisiert werden.
Kapitel 1 führt in die dominanten Motive und Argumentationslinien des transdisziplinären Immersionsdiskurses ein. Dies erfolgt vor dem Hintergrund dessen, dass sich der mehr als eine Dekade später einsetzende Diskus um »immersive theatre« in diesen einschreibt, und ich der Auffassung bin, dass seine Kenntnis nicht nur möglich macht, die Debatten um »immersive theatre« besser verstehen und einordnen zu können, sondern dass auf diese Weise bereits deutlich gemacht werden kann, worin die methodischen und theoretischen Fallstricke im Nachdenken über Immersion liegen und wie sich diese überwinden lassen. Der Forschungsüberblick zu Immersion als Modus ästhetischer Rezeption verschiedener Kunst und Medienformate (1.1) sowie ausgewählten historischen wie zeitgenössischen Apparaturen der Immersion (1.2) legt dar, was in verschiedenen Disziplinen unter Immersion gefasst wird. Der Überblick zeigt, dass die geräumige Metapher der Eintauchung möglich macht, den Immersionsbegriff auf die Beschreibung von Rezeptionsmodi verschiedenster künstlerischer wie medialer Formate zu applizieren. Trotz materieller und medialer Differenzen der in Rede stehenden Rezeptionskonstellationen lassen sich einige dominante Motive herausarbeiten, die sich transdisziplinär mit dem Immersionsbegriff verbinden und damit eine Grundlage für meine Konzeption von immersivem Theater bilden. Das sind zum einen das Motiv einer (zumeist diffus bleibenden) Intensität der Rezeption, die mit ambivalenten Prozessen des Distanzverlusts und Erfahrungen einer Grenzverwischung einhergeht, zum anderen das Motiv einer »Reise« (travelling bzw. transportation) in eine von der Realität des Rezipierenden abweichende ›andere‹ Welt, Fiktion oder Diegese.
Kapitel 2 führt in den zentralen Gegenstand der Studie, das immersive Theater, ein. In diesem Zusammenhang wird zunächst eine Unterscheidung von immersiven Aufführungsdispositiven im partizipativen Gegenwartstheater und künstlerischen Beispielen immersiven Theaters im engeren Sinne vorgenommen (2.1). Die Ausführungen basieren auf einem umfassenden Korpus von gut 120 partizipativen und immersiven, von mir zwischen 2014 und 2020 gesichteten Performances, Performanceinstallationen und Theateraufführungen. Es kristallisierte sich dabei ein Korpus von 25 Produktionen heraus, welchen im Gegensatz zu allen anderen Arbeiten auszeichnet, dass Zuschauer*innen aufgrund der Wirkweise des immersiven Dispositivs nicht nur auf komplexe Weise in das jeweilige Aufführungsgeschehen einbezogen, sondern sie überdies vermittels unterschiedlichster Involvierungsstrategien auch als teilnehmende Gäste in einen fiktiven, aber real durchgestalteten Mikrokosmos integriert werden. Aufgrund dieser formalen Besonderheit entwickle ich für immersive Theateraufführungen mit Rückgriff auf den Immersionsdiskurs den Begriff der Wirklichkeitssimulation, an der involvierte Zuschauer*innen konstitutiv mit-wirken. Das systematische Überlappen von fiktiver Weltversion und geteilter Aufführungssituation trägt – so eine der zentralen Thesen – maßgeblich zu der für immersives Theater symptomatischen, wirkungsästhetischen Dimension der Vereinnahmung von Zuschauer*innen bei. Mit Blick auf die Analyse der Publikumsinvolvierung in meinen Aufführungsbeispielen schlage ich mit der Konzeptualisierung der wirkungsästhetischen Kategorie der Vereinnahmung eine affekttheoretische Perspektive auf immersives Theater vor (2.2.3).
Kapitel 3 widmet sich der weiteren Präzisierung dominanter Formprinzipien immersiver Theateraufführungen. Hierbei geht es vor allem darum, Dimensionen des Polyperspektivischen, wie sie sich in den Arbeiten ausmachen lassen, herauszuarbeiten und zu diskutieren, welche methodisch-theoretischen Konsequenzen sich für die Analyse der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater daraus ergeben. Die Befunde, dass Aufführungen immersiven Theaters gleichsam aus einer Vielzahl kleinerer Aufführungssituationen bestehen, die nie synchron von allen Zuschauer*innen erlebt werden (3.1), dass ein gestalteter Mikrokosmos aus verschiedenen Betrachter*innen-Perspektiven rezipiert wird und sich dabei selbst über eine Perspektivvielfalt situativ und narrativ entfaltet (3.2) und dass es überdies zu einer symptomatischen Vervielfältigung der Wahrnehmungsmodalitäten und damit verbundenen Sinnstiftungsangeboten für teilnehmende Zuschauer*innen kommt (3.3), begründen meinen Vorschlag für eine polyperspektivische Szenen- und Situationsanalyse. Ziel des Kapitels ist es, aus der Form des Gegenstands selbst den methodischen Zugriff zu begründen.
Im Analysekapitel 4 werde ich pro Aufführungsbeispiel je einen dominanten Modus der Publikumsinvolvierung auf seine vereinnahmenden Wirkungen hin analysieren: Das sind die räumliche und figurenperspektivische Involvierung in Alma von Paulus Manker, die Involvierung über das Soundscape bei Punchdrunks Sleep no more, die olfaktorische Einbindung des Publikums in SIGNAs Das halbe Leid, die Beteiligung durch Handlungsanweisungen in Das Heuvolk von SIGNA, die Involvierung über haptisch-taktiles Berühren in SIGNAs Wir Hunde und zuletzt die Einbindung des Publikums über die affizierende Kraft von Zeichen, Diskursen und Bedeutungen bei 3/Fifths – Supremacy-Land von James Scruggs und Tamilla Woodard. Anhand der Analyse der verschiedenen Involvierungsmodi wird sich zeigen, wie Zuschauer*innen als Teil des immersiven Aufführungsdispositivs mit der gestalteten Weltversion in Beziehung gesetzt werden. Es wird deutlich werden, welche Rolle die strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen – wie Beklemmung, Verunsicherung, Sehnsucht nach Gemeinschaft oder Nostalgie – bei der ›Kopplung‹ von Zuschauer*innen und Weltversion spielt und wie sich ein Spektrum unterschiedlicher Vereinnahmungsprozesse auf verschiedenen, sich überlagernden Ebenen ereignet. Die wirkungsästhetische Ambivalenz besteht darin, dass Vereinnahmungsprozesse Zuschauer*innen einerseits selbst auffällig werden und auf diese Weise zum Gegenstand selbstreflexiver Aushandlung werden können – und dass sie andererseits auch wirksam werden können, ohne von Zuschauer*innen bemerkt zu werden.
Immersives Theater setzt auf Gäste, die bereit sind, sich auf Unbekanntes einzulassen, auf sich selbst zurückgeworfen und auf die eigene emotionale Belastbarkeit hin geprüft zu werden. Für sie öffnet sich ein komplexer Erfahrungsraum für das Durchleben und gegenseitige Beobachten affektiver Dynamiken in bestimmten sozial-relationalen Konstellationen. Immersives Theater kann aber auch als ein immens übergriffiges Theater beschrieben werden, das mit machtvollen Asymmetrien operiert und – gerade mit Blick auf die Weltversionen, die es gestaltet – einen Hang zum Autoritären hat. Der Diskussion dieser Ambivalenz eines Theaters der Vereinnahmung widmet sich das Schlusskapitel.
Das deutsche Substantiv »Immersion« leitet sich vom spätlateinischen Nomen »immersio« ab; »immergere« ist die dazugehörige Verbform. Sowohl der Duden als auch Meyers Großes Konversationslexikon und der Brockhaus verzeichnen unter den jeweiligen Einträgen von »Immersion« das deutsche Wort »Eintauchung« als primäre Bedeutung. Die Lexika unterscheiden Begriffsverwendungen in den Bereichen Medizin (»teilweises oder vollständiges Eintauchen des Körpers in ein Teil- oder Vollbad«, Brockhaus, 2006, S. 134f.), Physik (»die Verwendung eines Mediums zwischen Objekt […] und einem abbildenden optischen System«, ebd.), Geologie (»Überflutung eines Festlandes«, ebd.) und Astronomie (»Eintritt [eines Planeten in den Schatten des anderen]«, Meyers Großes Konversationslexikon, 1908, S. 772). Zudem verweisen alle – zum Teil mit separatem Eintrag – auf die kulturelle Praxis der Immersionstaufe bei den Baptisten. Wiederkehrend ist auch der Verweis auf den Gebrauch des Begriffs »Immersion« im Zusammenhang mit Techniken des Spracherwerbs: wenn man eine Fremdsprache dort lernt, wo man von ihr durch die sie sprechenden Muttersprachler*innen umgeben ist (vgl. PONS Großwörterbuch, 2006, S. 474; The Oxford English Dictionary, 1989, S. 684).8
Während in den französisch- und deutschsprachigen Lexika vor allem das Substantiv »Immersion« geführt wird, scheint im englischen Wortschatz insbesondere die Verbform »to immerse« arriviert zu sein.9 Die am häufigsten verzeichneten, aktivischen Synonyme sind »to dip«, »to plunge«, »to merge« oder »to baptize« sowie – passivisch – »to become absorbed«. Die primäre Verwendung des Tätigkeitsworts anstelle des Substantivs lenkt den Fokus auf die Rolle des Subjekts: Wer oder was taucht in was ein? Das Oxford English Dictionary unterscheidet die Einträge a) »[to] immerse«, b) »immersed« und c) [to] »immerge«, wodurch eine Präzisierung und Differenzierung von a) Aktion (des Eintauchens von X in Y), b) Zustand des Subjekts X im Moment der Immersion, c) Zustand der Verschmelzung XY im bzw. nach dem Akt der Immersion möglich wird.
Vor allem im Französischen und Englischen wird »Immersion« auch vielfach im übertragenen Sinne verwendet. So beschreiben Formulierungen wie »to plunge into a state of action or thought« (The Oxford English Dictionary, 1989, S. 683), »to involve deeply« (ebd.) oder reflexiv »se plonger dans les livres« (Dictionnaire culturel en langue française, 2005, S. 1839) weniger den konkret materiellen Prozess des Eintauchens von Körper X in Substanz oder Umgebung Y als vielmehr das metaphorische Eintauchen des Subjekts in einen Prozess gedanklichen »Vertiefen[s]« (Oxford Duden – German Dictionary, 1990, S. 1176).
Lexika mit Erscheinungsdaten in den nuller Jahren verzeichnen unter »Immersion« eine weitere – dritte – Bedeutungsebene, nämlich »das Eintauchen in eine computergenerierte ›künstl[iche] Welt‹« (Brockhaus, 2006, S. 134f.) oder »Immersion dans l’image: expérience de réalité virtuelle […]« (Dictionnaire culturel en langue française, 2005, S. 1839). In dieser Verwendungsweise wandert der Immersionsbegriff dann auch als disziplinär konturiertes Konzept in Fachlexika der Kunst- und Medienwissenschaften sowie Game Studies ein. Weil für Immersion in eine virtuelle Realität neuere Technologien, Apparaturen und Interfaces entscheidend werden, bekommt der Immersionsbegriff in diesen Kontexten eine stark medienorientierte Ausrichtung, wodurch die Bedeutungsdimensionen von Immersionsprozessen in materiellen, analogen Zusammenhängen (wie bei der Taufe oder dem Spracherwerb) überlagert werden (vgl. Dogramaci/Liptay, 2016, S. 1).
Mit dem Aufkommen der Diskurse zur virtuellen Realität (VR) seit Ende der neunziger Jahre hat der Immersionsbegriff auch Einzug in die deutsch- und englischsprachige Kunst- und Literaturwissenschaft – und damit ins Feld der Ästhetik – gehalten. Eine beachtliche Vielzahl an Wissenschaftler*innen aus der sich Mitte der nuller Jahre herauskristallisierenden, transdisziplinären Immersionsforschung rekurriert dabei entweder auf die Studie Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart (2001) von Oliver Grau oder auf Janet Murrays Hamlet on the Holodeck (1997) als Einsatzpunkte für ein (neues) Relevantwerden des Immersionsbegriffs. Der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Oliver Grau begreift Immersion als eine »sinnliche und rezeptive Verbindung [des Betrachtenden] zum Bild« (Grau, 2001, S. 23f.), die dadurch gekennzeichnet sei, dass der Betrachtende aufgrund der Suggestionskraft des jeweiligen Bildes einen »möglichst hochgradige[n] Eindruck von Anwesenheit am Bildort« (ebd., S. 14) erfahre. Das Anliegen seiner Monografie besteht darin, aufzuzeigen, dass von einer Kontinuität immersiver Bildräume auszugehen sei (vgl. ebd., S. 19). So setzt er die »geschichtliche Verwurzelung des Konzepts der VR« (ebd., S. 26) bereits bei antiken Bildräumen wie der Villa dei Misteri (60 v. Chr.) an. Barocke Landschaftsräume, Deckenpanoramen des 16. sowie Schlachtpanoramen des 19. Jahrhunderts, der Einsatz des Kinos um 1900, avantgardistische Raumexperimente der Futuristen und Dadaisten Anfang des 20. Jahrhunderts, Simulatoren in Vergnügungsparks der fünfziger Jahre und Expanded Cinema-Formate der sechziger Jahre – sie alle ermöglichen nach Grau das »Prinzip Immersion« (ebd., S. 25). Je nach technischem Entwicklungsstand seien sie im Stande, die Distanzierungskraft der Rezipierenden zu vermindern und dadurch eine temporäre »Verschmelzung« (ebd., S. 30) von Betrachter*in und Bild/-raum im Akt der Rezeption zu erzeugen.
Die Studie Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace der Literatur- und Medienwissenschaftlerin Janet Murray interessiert sich vor allem für neue Erzählweisen, die durch den Einsatz von Computern möglich werden. Murray fokussiert Immersion nicht als visuelle Strategie der Bildwahrnehmung, sondern als ein zuvorderst psychologisches (bzw. imaginäres) Eintauchen der Lesenden oder Spielenden in eine distinkte, fiktionale Welt. Für sie ist Immersion – neben agency und transformation – ein dominantes »ästhetisches Prinzip« (Murray, 2017, S. 223, dt. TS) des Geschichtenerzählens (storytelling) mit neuen Medien, für das – deutlich expliziter als bei Grau – das konkrete, aktive Mit-Wirken der Rezipierenden von Bedeutung sei, weshalb zu ihrem Beispielkorpus auch Fun Houses, LARP-Formate oder dinner theatre zählen.
Wo Grau eine »anthropologische Konstante« (Grau, 2001, S. 213) im Wunsch eines Verschmelzens von Betrachter*in und Bild(sujet) ausmacht, spricht Murray von einem Begehren des rezipierenden Subjekts, welches in dieser Form von den neuen Medien erst hervorgebracht werde (vgl. Murray, 2017, S. 223). Murray vertritt damit innerhalb der Immersionsforschung die »Diskontinuitätsthese« (Wiesing 2005, S. 110), während Graus Studie komplementär für die »Kontinuitätsthese« (ebd.) steht. Beide adressieren eine spezifische, (potentiell und temporär) distanzminimierende Beziehung zwischen Medium, Dargestelltem und Rezipient*in, die sie begrifflich und konzeptionell als Prinzip Immersion fassen. Ihre Arbeiten markieren den take off für einen Immersionsdiskurs, der sich Mitte der nuller Jahre in den Kultur- und Bildwissenschaften (u. a. Wiesing, 2005; Sloterdijk, 2006; Neitzel/Nohr, 2006; Bieger, 2007) und Game Studies (u. a. Thon, 2008; Calleja, 2011; Ermi/Mäyrä, 2011) etabliert und auch in die Filmwissenschaft (u. a. Schweinitz, 2006; Curtis, 2008b; Voss, 2008) einwandert. Dieses interdisziplinäre Diskursgefüge geht den Überlegungen zu Immersion und »immersive theatre« in der Theaterwissenschaft voraus und prägt sowie bedingt damit einige Vorannahmen, wie der Immersionsbegriff auf die Rezeption von Aufführungen des Gegenwartstheaters übertragen wird (u. a. Machon, 2013; Biggin, 2017).
In vergleichender Gesamtschau besagter transdisziplinärer Forschungspositionen wird deutlich, dass Immersion entweder a) als Modus ästhetischer Rezeption – von Literatur, Film oder Game – zuvorderst von der Erfahrung des rezipierenden Subjekts her zu spezifizieren versucht wird oder b) von den Mechanismen und Wirkweisen der Apparaturen und medialen Gefüge her gedacht wird. Im Folgenden werde ich entlang eines schlaglichtartigen Einblicks in jene Forschungspositionen, die Immersion als Rezeptionsmodus konturieren, zeigen, dass Immersion hochgradig kontext-, medien- und subjektabhängig ist und sich die transdisziplinäre Applizierung des Begriffs auf die Rezeption unterschiedlichster Kunstformen nicht zuletzt der Geräumigkeit der »Eintauch«-Metapher verdankt (1.1). Mit einem zweiten, kursorischen Einblick in diejenigen ausgewählten Positionen, die zuvorderst Medien und Apparaturen der Immersion aus einer historisierenden Perspektive wie auch jenseits ästhetischer Konfigurationen betrachten, möchte ich einen roten Faden im Immersionsdiskurs herauspräparieren, der das Verhältnis von Selbst und Welt bzw. die Fabrikation und Modulation dieser Relation durch immersive Medien und Apparaturen betrifft und für mein Verständnis von Immersion in dieser Studie entscheidend werden wird (1.2).
Ein dritter Forschungsüberblick zu dominanten theaterwissenschaftlichen Positionen im Immersionsdiskurs legt dar, auf welche Weisen Immersion und Theater – vor allem vor dem Hintergrund der Sammelbezeichnung »immersive theatre« bzw. »théâtre immersif« für neue partizipative Theater-, Performance- und Installationsformate – bereits zusammengedacht wurden. Ich werde argumentieren, dass das Übertragen von Immersionstheorien zum Zwecke einer rezeptionsästhetischen Theoretisierung von subjektiven Zuschauer*innen-Erfahrungen im Gegenwartstheater unzureichend bleiben muss. Demgegenüber schlage ich – mit Rekurs auf den frankophonen Diskurs um »théâtre immersif« – vor, von immersiven Theaterdispositiven auszugehen (1.3).
Parallel zu den genannten Studien von Murray und Grau ist auch Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media (2001) der US-amerikanischen Literatur- und Medienwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan erschienen. Gleichfalls vor dem Hintergrund aufkommender VR-Technologien expliziert sie den Begriff der Immersion für das literarische Feld, genauer für eine Phänomenologie des Lesens als eine spezifische Rezeptionserfahrung, »through which a fictional world acquires the presence of an autonomous language-independent reality populated with live human beings« (Ryan, 2001, S. 14). Dem literarischen fiktionalen Text kommt hier der Status einer non-actual possible world zu, welche im Akt des Lesens vom Rezipierenden (mit-)hervorgebracht werde. Leser*innen erfahren sich als Teil dieser Welt, wenn es ihnen gelingt, durch Bewusstseinstechniken wie der Rezentrierung (recentering) an ihr teilzuhaben, z. B. indem sie sich gedanklich in sie hineinprojizieren, sich den Begebenheiten dieser possible world anpassen und den eigenen lebensweltlichen Horizont temporär in die Fiktion verlagern (vgl. ebd., S. 103).
Ryan nutzt zur Um- und Beschreibung der Immersionserfahrung vielfach sowohl den Begriff der Absorption (absorption) als auch den von Richard J. Gerrig ins Feld geführten Begriff der transportation. Der Modus der Absorption bzw. des Absorbiert-Seins zeichnet sich durch eine spezifische Intensität (z. B. besonders konzentrierte Wahrnehmung) aus, die das Subjekt temporär ganz und gar einnimmt und von anderen Aktivitäten, Empfindungen oder Gedanken temporär abschneidet. Die transportation-Metapher greift hingegen auf der Ebene der Bedeutungsgenerierung, wenn sich Lesende qua Vorstellungskraft ein Bild der primär realistisch konfigurierten, erzählten possible world gemacht haben (vgl. ebd., S. 158). Erst wenn Lesende qua Konzentration, imaginärer Involvierung, Rezentrierung und Verzückung (entrancement) (vgl. ebd., S. 97ff.) ausreichend vertieft seien – und zwar sowohl in den Vorgang des Lesens selbst als auch in die repräsentierte Welt –, könne es nach Ryan zur Immersion kommen, welche sich als eine positiv besetzte körperliche Erfahrung bemerkbar mache.10
Für Literaturwissenschaftler Werner Wolf, der wie Murray und Ryan seinen Forschungsschwerpunkt im Bereich der Narratologie und Intermedialitätsforschung hat, markiert Immersion einen Extremfall ästhetischer Illusion(ierung), welcher das komplette (vornehmlich kognitive und emotionale) Eintauchen der Rezipierenden in die repräsentierte Welt des Als-ob beschreibt. Während sich die Erfahrung ästhetischer Illusion(ierung) seitens der Rezipierenden durch ein Vermögen zur Distanznahme auszeichne, insofern Letztere im Sinne der lateinischen Wortherkunft von »ludere« (dt. »spielen«) in einem bewusst spielerischen Modus an der vorgestellten als einer quasi-realen Welt partizipierten, wissend, dass es sich um eine Repräsentation oder ein mediales Konstrukt handle, zeichneten sich Phänomene wie Täuschung (delusion), Halluzination und Immersion hingegen durch den Verlust dieses Distanzierungsvermögens aus (vgl. Wolf, 2013, S. 16f.).
Im Kontext der Rezeptionsforschung zu erzählender Literatur bezeichnet Immersion zuvorderst einen kognitiven und imaginären Prozess, der bei Rezipierenden während des Lesens ausgelöst wird. Entsprechend der zweiten Bedeutungsfacette in der skizzierten Etymologie von »Immersion« haben wir es mit einem mentalen oder geistigen Eintauchen bzw. Vertiefen des lesenden Subjekts zu tun. Die Spezifik der Immersionserfahrung scheint sich hierbei über das Zusammenspiel von »immersion as absorption« und »immersion as transportation« einzustellen. Insofern sie nicht nur impliziert, dass das Mediatisierende (= das Medium Sprache mitsamt der zu erbringenden Dekodierungsleistung) zugunsten des Mediatisierten (= die vorgestellte/erzählte possible world) zurücktritt und temporär in Vergessenheit gerät, sondern auch, dass die vorgestellte Welt des Als-ob im Modus einer »Quasi-Erfahrung« (ebd., S. 12) rezipiert wird.
Auch zahlreiche filmwissenschaftliche Autor*innen schrieben sich in den transdisziplinären Immersionsdiskurs ein. So lotet Christiane Voss bereits 2008 aus, worin die Spezifik fiktionaler Immersion, also der »Immersion in ein fiktionales Gebilde« (Voss 2008, S. 69) besteht. Während wir es bei der Lektüre fiktionaler Literatur mit der Ryanschen Rezentrierung als einem kognitiven, »logisch-semantischen Referenzwechsel« (ebd., S. 79) der Leser*innen zu tun haben, geht Voss für die Filmrezeption von einer »performativ-leibliche[n] Rezentrierung« (ebd.) der Zuschauer*innen aus. Diese kann – wie bei Theodor Lipps, auf den sich Voss bezieht – z. B. als Form ästhetischer Einfühlung verstanden werden, als eine »hingebungsvolle Versenkung« (ebd., S. 75), die in der Wahrnehmung der Zuschauenden kinästhetisch in Erscheinung tritt. Diese Form der Versenkung qua ästhetischer Einfühlung schlage sich Lipps zufolge (und damit ähnlich wie bei Ryan) als positives Empfinden nieder und schließe dabei zuweilen die Reflexion der Zuschauenden aus, führe sogar zu einer temporären Irrealisierung, zum Vergessen der eigenen Lebenswelt.
Dass die Modalität der Immersion bei der Filmrezeption primär eine kinästhetische ist, wird besonders evident, wenn das filmische Mittel der movie rides im Spiel ist. Hierbei folgen Zuschauer*innen der (mitunter sehr rasanten) Kamerabewegung zum Fluchtpunkt des Bildes und erfahren ihre Involvierung – möglicherweise mit Schwindelgefühlen einhergehend – auf somatischer Ebene. Diesem kinästhetischen Immersionseffekt verdanken IMAX-Kinos seit den neunziger Jahren ihre Popularität. Ihre historischen Vorläufer, Achterbahnfahrten in Themen- und Vergnügungsparks sowie filmische phantom rides, reichen sogar bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Filmwissenschaftlerin Constance Balides zufolge ist es in movie ride-Filmen jene Identifizierung der Zuschauenden mit der Kamera(position) und dem vorgegebenen Point of View (POV), die Immersion als »emplacement« (Balides, 2003, S. 327) in der virtuellen Welt ermögliche.
Ein leibphänomenologisch noch weiter gehender Ansatz findet sich in den Texten der Filmwissenschaftlerin Robin Curtis, die sich für Immersion als einen Modus der Einfühlung in nicht-repräsentationale Bewegtbilder interessiert, der von den komplexen Rahmenbedingungen der Rezeption abhänge (vgl. Curtis, 2008b, S. 92). Teil dieser Rahmenbedingungen ist die relationale Anordnung des filmischen Raums, in welchem räumliche Plastizität und Greifbarkeit seitens des Films sowie Deplatzierungs- und Einfühlungsfähigkeit seitens des*der Zuschauenden aufeinandertreffen. Curtis geht davon aus, dass jeder »Film dem Zuschauer buchstäblich einen Platz im filmischen Raum zu[weise], indem er in seiner Leiblichkeit so sehr vom Film adressiert w[erde], dass er unfreiwillig auf die Parameter jenes Raums reagier[e] – sei es durch Übelkeit oder kinetische Erregung« (ebd., S. 95). Emotionale Involvierung und somatische Reaktionen sind für Curtis Immersionseffekte, für die es keines repräsentationalen Realismus bedarf. Dies exemplifiziert sie – ebenfalls mit Theodor Lipps’ Konzept ästhetischer Einfühlung – u. a. am Beispiel des US-amerikanischen Avantgarde-Kurzfilms (Nostalgia) (USA 1971, vgl. ebd., S. 101 – 105). Hier ereigne sich Immersion nicht als Eintauchen in eine mögliche Welt, sondern als viszerale Einfühlung in die Materie des Mediums.
Immersion im Kontext von Filmrezeption bezeichnet nicht mehr zuvorderst einen kognitiven und imaginären Prozess, der bei Rezipierenden ausgelöst wird, sondern (auch) einen leiblichen, kinästhetischen Vorgang. Die »Eintauch«-Metapher wird über das Prinzip ästhetischer Einfühlung – in die fiktionale Welt (Voss), somatisch in die Position des POV (Balides) oder viszeral in die Materie des Mediums (Curtis) – medien- und kontextspezifisch konkretisiert. Dabei fällt auf, dass Immersion erneut sowohl mit kognitiver (und kinästhetischer) Absorption als auch mit der quasi-realen Erfahrung eines Weltenwechsels (transportation) verknüpft wird.11
Die Immersionsliteratur innerhalb der Game Studies ist inzwischen nicht mehr zu überblicken. Es gibt unzählige, auch etliche empirische Arbeiten, die sich mit der Qualität und Modalität von user experiences in Computerspielen beschäftigen und diese mit Immersion in Verbindung bringen. Auffällig ist hier vor allem a) die frühe Tendenz, Immersion über das Konzept von (Tele-)Präsenz zu erläutern (wie z. B. bei Slater et al., 1994; Lombard/Ditton, 1997), b) ein Hang zu vielfältigsten Systematisierungsversuchen von Immersion als graduell abgestuftes Phänomen (wie z. B. bei Brown/Cairns, 2004; Ermi/Mäyrä, 2011) und c) eine prinzipiell relativierende Einordnung, wonach Immersion nur eines von vielen Kriterien für die Involvierungserfahrung der Spieler*innen ist (wie z. B. bei Calleja, 2011; Cairns et al., 2014).
Der signifikanteste Unterschied zwischen den Immersionstheorien der Game Studies und den bislang vorgestellten Positionen aus der Literatur- und Filmwissenschaft besteht darin, dass Immersionseffekte als Bestandteil von gameplay experiences viel stärker an die konkrete Beteiligung der Spieler*innen gekoppelt werden. Letztere gestalten den Verlauf des Spiels mit ihren Handlungen und Entscheidungen aktiv mit, navigieren sich nach eigenem Ermessen durch die Räume der Spielwelt und übernehmen agency vermittels der Zuordnung oder eigenständigen Wahl eines Avatars, dessen Perspektive sie (zumal in First Person Games) einnehmen. Das mit der Immersion verknüpfte Gefühl eines Weltenwechsels von der Realität der Rezeptionssituation in die repräsentierte, fiktionale Handlung, wie es sich bei der Literatur oder dem Film durch Rezentrierungs- und Imaginationsprozesse einzustellen vermag, hängt bei der Game-Rezeption weniger von der Ebene der Narration als vom Aufgabenspektrum und dem Grad der aktiven Beteiligung innerhalb der Spielwelt ab. Auch deshalb überwiegt in den Game Studies die Rede von der Involvierung der Spieler*innen.
In diesem Sinne rekurriert auch die von der Idee der transportation abgeleitete Beschreibungsmetapher »Being in the Game« – wie u. a. Jennett anhand empirischer Studien zeigt – weniger auf das Empfinden einer perzeptuellen Illusion der Nicht-Mediatisierung als vielmehr auf den Grad komplexer Involvierung in die Spielwelt (vgl. Jennett et al., 2008, S. 210 – 227). Wie stark diese Involvierung empfunden werde, hängt nach Jennett von bestimmten psychologischen Dispositionen der Spieler*innen ab, wie der Bereitschaft, sich den Regeln des Spiels zu unterwerfen, der Bereitschaft, die Persona eines Spielcharakters anzunehmen, oder der grundsätzlichen Akzeptanz jenes arbiträren Verhältnisses von Eingaben (z. B. über die Tastatur oder den Joystick) und grafischer Erscheinung (vgl. ebd., S. 212f.). Die Ergebnisse ihrer Befragungen führen zu einer Differenzierung von Engagement (engagement), Versunkenheit (engrossment) und totaler Immersion (total immersion), wobei sich das dritte, intensivste Stadium durch das Gefühl einer temporären Loslösung von der Realität der eigenen Lebenswelt auszeichne (vgl. ebd., S. 215).
Auch Ermi/Mäyrä unterscheiden in ihrem gleichfalls auf empirischen Studien basierenden »Gameplay Experience Model« (vgl. Ermi/Mäyrä, 2011) drei Formen der Immersion in Computerspielen: sensory, imaginative und challenge-based immersion. Dabei sei vor allem die dritte, an den Herausforderungen für den Spielenden orientierte Involvierung, die für Computerspiele spezifische Form. Denn hieraus erwachse primär das Vergnügen der Spieler*innen, deren Erleben auch als Flow, als der ausbalancierte, psychologische Zustand zwischen dem eigenen Vermögen und den gestellten Herausforderungen, beschrieben werden könne (vgl. ebd., S. 92).
Mit der Frage, was digitale Spiele für ihre Nutzer*innen derart involvierend macht, beschäftigt sich auch Gordon Calleja, der den Begriff der Immersion durch ein mehrgliedriges Konzept von Inkorporierung ersetzt, das die Dimensionen medial bedingter Absorption und der Erfahrung eines Weltenwechsel (transportation) synthetisiert. Sein »Player Involvement Model« differenziert kinästhetische, räumliche, sozial geteilte, narrative, affektive und ludische Modi der Involvierung. Das Zusammenspiel dieser Involvierungsformen kann wiederum das spezifische Moment von Immersion als Inkorporierungserfahrung erzeugen, die eintritt, wenn die Spieler*innen das Gefühl haben, den virtuellen Raum nicht nur qua Aufmerksamkeitswechsel und Imagination, sondern aufgrund eines kybernetischen Wechselspiels von Spieler*in und Maschine zu bevölkern und darin mitzuwirken; wenn sie also die virtuelle Umgebung inkorporieren und zugleich – durch ihre Verbindung zum Avatar – eine Position in der Spielwelt verkörpern (vgl. Calleja, 2011, S. 169).
Immersion im Kontext der Rezeption von Computerspielen adressiert vor allem den Grad der Involvierung der Spielenden in die Welt des Games – und zwar nicht nur kognitiv und imaginär, sondern durch den Grad der aktiven Beteiligung auch dezidiert körperlich und emotional. Ihr kommt auf einer graduell abgestuften Skala des Involviert-Seins diejenige Extremposition zu, in der Spielende sich temporär von ihrer Realität der Rezeption abgekoppelt fühlen und vermeintlich vollständig – kognitiv, emotional, somatisch, narrativ, handlungsbezogen – in der Aktivität des Spielens (Flow) wie auch in der repräsentierten Welt des Spiels aufgehen.
Diese theoretischen Schlaglichter auf Immersion als Modus ästhetischer Rezeption verdeutlichen, dass die Modalität der Immersion je nach Medium variiert, weshalb auch die jeweiligen Erfahrungsschätze nicht medien-, kontext- oder subjektübergreifend bestimmt werden können. Aufgrund der Offenheit der »Eintauch«-Metapher konstelliert sich Immersion applikabel für die Beschreibung verschiedenster Beziehungen zwischen Rezipierenden und Rezipiertem. Dabei verbindet alle Positionen die Akzentuierung einer besonderen Intensität des Rezeptionsvorgangs. Diese ist – so meine These – symptomatisch mit dem Zusammenspiel von Absorption und transportation verknüpft. Während Absorption die Rezeptionssituation und damit das Verhältnis des Rezipierenden zur eigenen Lebenswelt in situ betrifft, hebt transportation auf die Erfahrung eines Weltenwechsels ab, auf die temporäre Abwendung von der eigenen Lebenswelt zugunsten einer ästhetisch konfigurierten possible world im Medium des Films, Romans oder Games. Ferner fällt auf, dass den vorgestellten Positionen bereits eine für den Immersionsdiskurs symptomatische Ambivalenz eingeschrieben ist, die auch für meine Konzeption von Vereinnahmungsprozessen im immersiven Theater relevant sein wird. Sie besteht darin, dass Immersion zum einen als eine positive, bereichernde Erfahrung konstelliert wird, die zum anderen aufgrund des potentiell (und temporär) eintretenden Gefühls eines schwindenden Distanzierungsvermögens zugleich auch negativ konnotiert ist und damit zum Topos von Immersion als Form der Manipulation beiträgt.
Nachdem der Fokus im ersten Schritt auf rezeptionsästhetischen Dimensionen »immersiver Medien« lag, möchte ich im zweiten Schritt jenen anderen, dominanten Strang innerhalb der transdisziplinären Immersionsforschung schlaglichtartig vorstellen, der sich mit ausgewählten Apparaturen und »Medien der Immersion« beschäftigt. Die Unterscheidung zwischen »immersiven Medien« und »Medien der Immersion« geht auf den Medientheoretiker Dawid Kasprowicz zurück. In seiner Studie Körper auf Tauchstation. Eine Wissensgeschichte der Immersion (2019) wendet er Immersion nicht mehr nur auf Bilder und immersive Medien, sondern sehr viel breiter auf verschiedene historische und zeitgenössische »mediale Kopplung[en] von Körpern und Umwelt« (Kasprowicz, 2019, S. 15) an, um zu fragen, welches Wissen dabei über ›immersierte‹ Körper erzeugt wird. Medien der Immersion sind in seinen Beispielen jene immersi[vi]erten12, situativ eingebetteten und z. T. auch vermessenen Körper entlang ihrer Beobachtbarkeit und Kommunizierbarkeit (vgl. ebd., S. 28), entlang des Wissens also, das dabei durch sie und über sie hervorgebracht wird.
Oliver Grau unterscheidet innerhalb seiner Geschichte immersiver Illusionsmedien zwischen vor den Augen getragenen Apparaturen (z. B. Sensorama, Head-Mounted Displays, VR-Brillen) und den Körper integrierenden Immersionsräumen (z. B. Panoramen, 360-Grad-Bildräume, CAVEs; vgl. Grau, 2019, S. 34). Im Folgenden sollen Forschungspositionen zu beiden Gruppen vorgestellt werden, die vornehmlich menschliche Körper und zumeist technische Apparaturen in unterschiedlichsten Kopplungsformen (multisensorische Bewegungssimulation, Biofeedback, Einkapselung und/oder räumlich ein- und umschließende Environments) miteinander verbinden.
Zwei historische Apparaturen, die innerhalb der medien- und kulturwissenschaftlichen Immersionsforschung u. a. von Patrick Rupert-Kruse (2019) als Vorläufer heute virulenter VR-Technologien verhandelt werden, sind das Sensorama und Hale’s Tours. Ersteres wurde Ende der fünfziger Jahre von Kameramann und Filmemacher Morton Heilig im Kontext seiner Vision eines Cinema of the Future entwickelt (vgl. Schröter, 2004, S. 180 – 186). Es handelt sich dabei um eine Simulationsmaschine für eine Person, deren Sinne durch den Einsatz von stereoskopischer Filmprojektion, Stereo-Sound, Geruchsimpulsen, Windmaschine, Wärmezufuhr und Sitzvibration gezielt stimuliert werden, um z. B. das Erleben einer Motorradfahrt nachempfindbar zu machen. Es ist hier vor allem die sensorisch-manipulative Wirkmacht der Apparatur, die die perzeptuelle Immersion des von der Maschine umschlossenen Rezipierenden ermöglicht. Die Tatsache, dass der*die Sensorama-Nutzer*in physisch so eng mit der Apparatur verbunden ist, dass es ihm*ihr gar nicht möglich ist, den einströmenden Sinnesstimulationen zu entgehen oder körperliche Distanz zu ihnen einzunehmen (außer durch die Unterbrechung des Vorgangs), soll den Grad der Immersion steigern. An dieser Stelle bekommt die mit der Etymologie von Immersion verbundene Bedeutung der »Verschmelzung« eine ganz konkret materielle Evidenz.
Der Mechaniker und Feuerwehrmann George C. Hale stellte gemeinsam mit seinem Geschäftspartner F. Gifford auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis neben neuen Gerätschaften zur Brandbekämpfung und inszenierten Brandbekämpfungseinsätzen auch die Attraktion Hale’s Tours – Scenes of the World vor. Das Herzstück von Hale’s Tours ist ein nachgebauter Eisenbahnwaggon, in dem das Publikum für die Dauer der Aufführung Platz nimmt. Auf der Leinwand an der Vorderseite des Waggons laufen etwa zehnminütige Projektionen, die von der Spitze eines fahrenden Zugs aus aufgenommen scheinen und verschiedene Landschaften der USA zeigen. An der Unterseite des Waggons werden Effekte erzeugt, die das Fahren über ein holpriges Gleisbett imitieren, auch Wind, der die Vorwärtsbewegung simuliert, und akustische Lok-Geräusche werden eingespeist, um eine möglichst glaubhafte Illusion einer Zugfahrt zu erzeugen (vgl. Fielding, 2008, S. 18). Bei der Hale’s Tours-Apparatur steht – ähnlich wie beim Sensorama – nicht nur der Sehsinn, sondern der ganze Körper der Betrachtenden im Zentrum der multisensorischen Beeinflussung. Dabei macht der Körper bei der Nutzung beider Apparaturen eine Erfahrung von Fortbewegung und Beschleunigung, ohne wirklich fortbewegt zu werden. Entscheidend ist zudem die für beide Projektionsapparate signifikante stereoskope Point of View-Einstellung, die suggeriert, Ort der Kamera und Standpunkt der Zuschauer*innen seien identisch.
Während Hale’s Tours als kommerzielles Unterhaltungsformat produziert wurde, hatte Morton Heilig sein Sensorama dezidiert als »Lern-Environment« patentieren lassen.13 Die multisensorische Simulationserfahrung sollte wie eine Probe für die Wirklichkeit sein, um Menschen z. B. auf potentielle Gefahren von Geschwindigkeit(en) wie auch auf diese selbst vorzubereiten. So besehen, rückt das Sensorama vom Bereich früher Filmkunst in die Nähe didaktischer Simulationsmaschinen wie Flugsimulatoren oder Planetarien14, die zeitgleich vor allem im Bereich des Militärs oder der Weltraumforschung vermehrt zum Einsatz kamen.15
Anstelle der qualitativen Erfahrungsdimension eines »immersiven« Rezeptionserlebnisses ist für mich hier entscheidender hervorzuheben, inwieweit solche Apparaturen im Stande sind, nicht nur die Modalität menschlicher Wahrnehmungserfahrung, sondern auch bestimmte Selbst-/Weltverhältnisse zu prägen: Beide Apparaturen simulieren eine Fortbewegung, die der stillgestellte, passive Körper selbst nicht vollzieht. Dabei weisen Wahrnehmungsdispositiv und Perspektive dem Subjekt die Rolle des*der sich aktiv Fortbewegenden zu. So geht es weniger darum, dass Nutzer*innen auf der Ebene der Bildwahrnehmung getäuscht werden (ergo die Repräsentationen für ›echt‹ halten), als darum, dass sie in der Wahrnehmung ihrer Selbst-/Welt-Relation getäuscht werden. Nun wird aus der metaphorischen transportation eine konkret multisensorisch fingierte Fortbewegungserfahrung. Dabei rückt die Imagination einer possible world zugunsten einer realen, wenngleich auf einer technischen Simulation basierenden Erfahrung innerhalb der Lebenswelt in den Hintergrund.
Während Filmhistoriker Raymond Fielding an den Hale’s Tours-Geschäften hervorhebt, dass sie zur Popularisierung und Verbreitung des neuen Mediums Film und der Etablierung eines Vertriebssystems für die im Entstehen begriffene Filmindustrie beitrugen (vgl. Fielding, 2008, S. 38), akzentuiert Lauren Rabinovitz, dass sie – in einer Zeit, in der Reisen noch ein Privileg der Oberschicht war – Anteil an einer Modernisierung der Haltung zum Tourismus hatten (vgl. Rabinovitz, 2012, S. 67). Panoramen, Hale’s Tours und spätere Ride-Attraktionen wie Disneys A Trip to the Moon (1955) bilden für Rabinovitz eine Linie von Reise- und Bewegungssimulatoren, die ihre Zuschauer*innen mit Sinneseindrücken übersättigen und Landschaften aus einer Perspektive konsumierbar machen, die über die natürlichen Grenzen des menschlichen Wahrnehmungshorizonts hinausgehen. Sie üben Zuschauer*innen in einen (anthropozentrischen) Modus des In-der-Welt-Seins (vgl. ebd.) ein, der vorsieht, dass auch entlegenste Orte der Welt im Modus eines apparativ erzeugten Ultrarealismus der Simulation begeh- und erkundbar werden. »Hale’s Tours reinforced that the world is an object lesson in pleasure – a lesson in which the preindustrial, the distant, the colonial, as well as the fictional, are all exotic, accessible spaces that could be consumed« (ebd., S. 94). Bewegungssimulatoren wie das Sensorama oder Hale’s Tours wirken als historische Medien der Immersion – zumindest für die Klientel, der diese Apparaturen zugänglich waren – an der Konstituierung einer relationalen Selbst- wie Weltwahrnehmung mit, die das (simulierte) Eindringen in eine Umgebung aus der POV-Perspektive im Modus manipulierten, voyeuristischen Bild(raum)konsums mit Vergnügen und Unterhaltung besetzt.
Die Gemeinsamkeit von historischen Apparaturen wie den vorgestellten und CAVE-Systemen aus den neunziger Jahren sowie aktuellen VR-Technologien besteht darin, dass sie ihre Betrachter*innen für die Dauer der Rezeption einkapseln, gleichsam mit der Apparatur »verschmelzen« und temporär von der Außenwelt abschotten. Dawid Kasprowicz beobachtet in jüngster Zeit – vor dem Hintergrund der technologischen Entwicklungen ubiquitären Computerisierens und zunehmenden Schwindens apparativer Interfaces – eine Tendenz zur ›Öffnung der Kapsel‹ zugunsten weiträumiger Environments und unsichtbar werdender Benutzeroberflächen, sodass »jegliches Eintreten in die ubiquitär computerisierte Umgebung … potenziell – und nicht metaphorisch – als Immersion gelesen werden k[ö]nn[e]« (Kasprowicz, 2015, S. 28). Im Kontext von Immersion verschieben Begriff wie Phänomene der »Umgebung« zugleich den Fokus vom Vorgang einer Eintauchung von X in Y (als distinkt gedachte Entitäten) hin zu komplexen, relationalen Prozessen eines (auch längerfristigen) Eingebettet-Seins.
Ein Beispiel für solche neueren, Körper integrierenden Immersionsräume wären die responsiven Umgebungen, die Medienwissenschaftlerin Christiane Heibach gemeinsam mit Jan Torpus und Andreas Simon im Rahmen eines Pilotprojekts künstlerischer Forschung am Institut für Experimentelle Design- und Medienkulturen in Basel erforscht. Für ihre künstlerisch-experimentellen Studien werden Proband*innen mit Sensoren versehen und in eine minimalistische, responsive, auf einen Raum begrenzte Umgebung eingelassen, die hinsichtlich der Parameter Licht, Ton und Windzufuhr gestaltet und zugleich ihrerseits mit Sensoren versehen ist. Das entstehende Human in the Loop-System misst Atmung, Herzschlag und Körperbewegungen des*der Proband*in sowie das jeweils ausgegebene Feedback an die Output-Medien im Raum (Ventilator, Lautsprecher, Lichtanlage).16 Im Zentrum steht die Frage, inwieweit Proband*innen in der Lage sind, die eigenen somatischen Reaktionen anhand von Veränderungen im Raum zu erkennen, und ob dadurch eine emotionale Identifikation mit der Umgebung erzeugt werden könne (vgl. ebd., S. 55f.).17 Auch in diesem Versuchsaufbau tauchen die Proband*innen nicht in eine fiktive possible world ein, sondern sind bereits über die (unsichtbare) Apparatur mit dem Raum ›gekoppelt‹. Nun sind es die Beziehungsqualitäten zwischen den Körpern und ihrer (gestalteten) Umgebung, die über die Beobachtung kognitiver, emotionaler und affektiver Responsivität in den Mittelpunkt rücken.
Ein weiteres Phänomen für analoge, Körper integrierende Immersionsräume, das im transdisziplinären Immersionsdiskurs verhandelt wird, sind Erlebnishotels, die in den neunziger Jahren als »architektonische Ortsübersetzung[en]« (Bieger, 2007, S. 142) vornehmlich in den USA aufkamen. Entlang verschiedener Erlebnisräume wie dem VENETIAN in Las Vegas konzipiert Laura Bieger eine Ästhetik der Immersion als eine Ästhetik des hyperrealen Raums, für die ein »kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz« (ebd., S. 9) mit Blick auf die Differenzierung von Bild- und Realraum kennzeichnend sei. So komme das VENETIAN einer »materielle[n] Übersetzung eines virtuellen Computerbildes« (ebd., S. 208) gleich, in dem fluktuierende Bilder der italienischen Lagunenstadt sowie der »ganze[ ] Kosmos von […] Vorstellungen, die durch ihn zirkulieren« (ebd., S. 146, Hervorhebung i. O.), zu einer begehbaren und multisensorisch erfahrbaren Hyperrealität synthetisiert werden.18 Besucher*innen werden hier in eine gestaltete Umgebung eingelassen, in der die konkrete, materielle Erfahrung der kinematografischen Raumgestaltung, gepaart mit einer inszenierten (Pseudo-)Authentizität des Ortes, eine immersive Ästhetik produziert, für die ein Spiel mit dem Als-ob dieser Weltversion konstitutiv sei (vgl. ebd., S. 197).
Indem der Immersionsraum des VENETIAN wirkungsästhetisch auf ein diffuses, aber positiv besetztes Erleben einer Grenzerfahrung (zwischen Real- und Bildraum) abhebt, macht er den Hotelbesuchenden zugleich auch ein stückweit zu (zweifachen) Tourist*innen, die nicht nur ein Hotel in Las Vegas betreten, sondern zugleich auch eine fiktive Reise in die realisierte Kopie der italienischen Lagunenstadt unternehmen. Das gestaltete Erlebnishotel-Environment umschließt dabei seine Besucher*innen mit allen Sinnen und produziert ein relationales Selbst-/Weltverhältnis, das an diejenigen spezifischen Empfindungen und Emotionen geknüpft ist, die bei den Besucher*innen mit der Stadt Venedig, den Bildern Venedigs oder auch entsprechenden Erinnerungen verbunden sind. Auf diese Weise spielt der Immersionsraum VENETIAN nicht nur rezeptionsästhetisch mit Prozessen von absorption und transportation, sondern fabriziert als Apparatur auch spezifische affektive Bezugnahmen zwischen Besucher*innen und (fiktionalisiertem) Environment.
Von Biegers hybriden Erlebnisräumen ist es innerhalb der Immersionsforschung nur ein kleiner Schritt zu komplexeren Erlebnisräumen wie Themenparks (u. a. Lukas, 2013; Kokai/Robson, 2019) oder Zoologische Gärten (May, 2020). Während es in Zoologischen Gärten zuvorderst die verschiedenen Gehege sind, die z. B. entsprechend der Herkunft der Tiere in klischisierter Weise thematisch gestaltet werden, um den Besucher*innen zu suggerieren, mit einem Zoo-Besuch gleichsam eine kondensierte Reise um die ganze Welt zu machen19, kombinieren Freizeit- und Themenparks Fahr- und Laufgeschäfte sowie Eventgastronomie mit einem thematischen Worldbuilding, das es Besucher*innen analog zu ihren historischen Vorläufern, den Weltausstellungen, möglich macht, exotisierte ›andere‹, phantastische, fiktionalisierte oder historisch-klischisierte Lebenswelten zu erkunden. Gerade an diesen Beispielen wird mit Blick auf Immersion evident, dass es weniger um die Täuschungsdimension dieser Weltversionen20 geht als vielmehr um die Modellierung eines spezifischen Selbst-/Weltverhältnisses, das aufgrund der Geschichte dieser Mediendispositive – im Sinne Rabinowitz’ – nicht losgelöst von einem kolonialistischen Weltbild einer kapitalistischen Aneignungsund Beherrschungslogik zu denken ist.
Den letzten Halt in meinem schlaglichtartigen Überblick zu Theorien der Immersion, die von den Apparaturen her gedacht sind, möchte ich bei jenen Körper integrierenden Immersionsräumen machen, die noch stärker als das experimentelle Biofeedback-Setting, ein Erlebnisressort oder ein Themenpark mit der Simulation einer fiktiven Weltversion arbeiten. Hier soll es zum einen kurz um VR-Technologien, zum anderen um Phänomene transmedialen Storytellings gehen. Wie bereits erwähnt, ist der transdisziplinäre Immersionsdiskurs der vergangenen zwei Dekaden aufs Engste mit dem Aufkommen von VR-Technologien verknüpft. Auch wenn Oliver Grau der Auffassung ist, dass virtuelle Realitäten nicht erst mit technischen Entwicklungen wie dem ultimativen Display als Vorläufer des Head-Mountain-Displays, mit dem VR-Pionier Ivan Sutherland in den sechziger Jahren am Massachusetts Institute of Technology in den USA experimentierte, in die Welt gekommen seien (vgl. Grau, 2001, S. 16), sondern als hermetisch geschlossene Illusionsräume lediglich kontinuierlich im Gewand neuer medientechnologischer Bildträger aufkämen, so sind es doch just jene veränderten Rezeptions- und Sehgewohnheiten, die durch CAVE-Systeme und VR-Brillen realisiert wurden, die den Immersionsbegriff neuerlich aufs Tableau brachten.
Im Brockhaus wird »virtuelle Realität« als »eine mittels Computer simulierte Wirklichkeit oder künstliche Welt, in die Personen mithilfe technischer Geräte sowie umfangreicher Software versetzt und interaktiv eingebunden werden« (zitiert nach Brill, 2009, S. 6, Hervorhebung TS) definiert.21 Technische Geräte und ihre Benutzeroberflächen sollen Nutzer*innen das Gefühl vermitteln, durch Interaktionsmöglichkeiten oder das Triggern bestimmter Sinnesreize, Teil dieser ›anderen‹ Weltversion zu werden. Für das Eintreten von Immersionseffekten sei »der Grad der Übereinstimmung zwischen virtueller und realer Umgebung, aber auch das Ausmaß der Beeinflussbarkeit der virtuellen Realität durch die Benutzer« (Brill, 2009, S. 6) entscheidend. Zentralperspektivische Anordnung, Tiefenschärfe und Plausibilitätskriterien des Raumes sind dabei wichtige optische Kriterien. Die technischen Bedingungen sollen Benutzer*innen dabei »unterstützen, die virtuelle Welt zu ›fühlen‹« (ebd., S. 7), indem sie sich durch diese hindurch navigieren. Dies kann durch den Einsatz akustischer Signale, der Zuhilfenahme von Handsteuergeräten oder optionaler Spracheingabe verstärkt werden.
Genealogisch geht dieses skizzierte VR-Verständnis auf Bewegungssimulatoren wie Heiligs Sensorama oder Hale’s Tours zurück. Während die Realitäten, die die historischen Apparaturen repräsentierten, technisch gesehen noch fotografisch festgehaltene Wirklichkeitsaufnahmen waren, also gewissermaßen indexikalisch mit der Realität verbunden blieben, sind Realitäten oder Weltversionen, die vom Computer bzw. von Algorithmen hervorgebracht werden, Ergebnis eines Rechenvorgangs; computergestützte Simulationen stellen als Medien der Sichtbarmachung virtuelle22, hyperreale Wirklichkeitsmodelle dar und her (vgl. Dotzler, 2003, S. 524).
Der englische Begriff der virtuellen Realität (virtual reality) wurde erst relativ spät, und zwar 1989, in der Zeit der kommerziellen Ausbreitung von Simulatoren zu Unterhaltungszwecken, vom US-amerikanischen Informatiker und Unternehmer Jaron Lanier geprägt (vgl. Schröter, 2004, S. 211). Medienwissenschaftler Jens Schröter zufolge habe man in den USA ab 1987 damit begonnen, Simulations- und Displaytechnologien auch für die Darstellung fiktionaler Szenarien einzusetzen. Dies hatte nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe, da Simulationstechnologien mit dem Ende des Kalten Krieges im militärischen Bereich nicht mehr in bestehendem Umfang benötigt wurden und die Herstellerfirmen nach neuen Absatzmärkten für ihre Technologien suchten:
Es ist kein Zufall, dass man im Moment der Fiktionalisierung von »Virtueller Realität« zu sprechen beginnt. Sofern Fiktionen die Eigenschaft haben, eine geschlossene Welt, eine Diegese, zu bilden, führt die Fiktionalisierung der virtuellen Räume zu einer »Schließung« derselben. Die Datenbrillen, die VPL23 herstellte, waren […] nicht dafür ausgelegt, die virtuelle Szene gleichzeitig mit der realen Umgebung sehen zu können. Die Schließung der Datenbrille und damit die Ausblendung der Außenwelt verstärken den Realitätseffekt der VR und ihren Charakter als eigene, abgeschlossene, alternative Welt (ebd., S. 211, Hervorhebung i. O.).
Aus dem Zitat geht hervor, dass mit dem Realitätsbegriff in der Wendung VR seit seiner Etablierung im Grunde weniger die Idee einer optischen Illusion bzw. perfekten Simulation von Realität im Zentrum stand als vielmehr die technisch möglich gewordene, computergestützte Praxis des Konstruierens geschlossener, fiktionaler Welten. Auch Lanier strebte Ende der achtziger Jahre mit seinen VR-Technologie-Experimenten primär die Möglichkeit an, mit VR über Alternativen zur bestehenden Wirklichkeit nachzudenken, Utopien zu entwickeln und alternative Weltentwürfe auszuprobieren (vgl. ebd., S. 273).24 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum in der Immersionsforschung anstelle von virtueller Realität auch vielfach dezidiert von virtual worlds (vgl. u. a. Teigland/Power, 2013; Mayr, 2014) oder immersive worlds (vgl.u. a. Hogarth et al., 2018) gesprochen wird.
Es gilt also festzuhalten, dass im dominanten, populären VR-Diskurs mit VR einerseits eine Apparatur bezeichnet wird, die maschinell, elektronisch oder digital eine (weitgehend) realistische Wirklichkeitsillusion erzeugt und die Rezipierenden hinsichtlich ihres Realitätsgrades zu täuschen vermag, und andererseits Konstruktionen fiktionaler Weltentwürfe gemeint sind, für die der Aspekt der Potentialität einer alternativen Realität entscheidender ist als der Aspekt der Wahrnehmungstäuschung. VR rückt auf diese Weise betrachtet als Medium des Weltenbildens (Worldbuilding) und Geschichtenerzählens (Storytelling) in den Blick, insofern eine komplette Weltversion im Sinne einer virtuellen Landschaft, Umgebung oder realistisch konfigurierter Räume entworfen wird, die z. B. über die Nutzung einer VR-Brille von den Nutzer*innen – wiederum zumeist aus der POV-Perspektive – im Modus der Simulation erkundet werden kann. Der Welt-Begriff im Kompositum des Weltenbildens kann dabei eine Ganzheit (wholeness) adressieren, z. B. mit Blick auf eine lückenlose Vollständigkeit (completeness) oder die Konsistenz narrativer story worlds (vgl. Boni, 2017, S. 20f.).
Wenn Grau behauptet, »Virtuelle Realitäten – historisch wie aktuell – s[eien]essentiellimmersiv« (Grau, 2001, S. 22), hebt er vor allem auf die rezeptionsästhetische Dimension dieses Illusionsmediums ab, das mit seinem machtvollen Suggestionspotential die Distanzierungskräfte der Betrachtenden beeinflusst und so den täuschenden Effekt einer scheinbaren Anwesenheit im dargestellten Bildraum produziert (vgl. ebd., S. 110f.). Anstatt sich mit dem Immersionsbegriff der spezifischen Erfahrungsdimension ästhetischer Rezeption zu nähern, eröffnet eine Perspektivierung, die von den Apparaturen her argumentiert, meines Erachtens die Möglichkeit, die konkreten Mensch-Umgebungskopplungen mit Blick auf das je mitproduzierte Selbst-/Weltverhältnis hin zu untersuchen. Dies impliziert Fragen wie: Wie werden Betrachter*innen-Subjekt und gestaltete Weltversion miteinander in Beziehung gesetzt? Welche Perspektive wird normalisiert? Mit welchen Involvierungsstrategien werden Nutzer*innen – analog zu den Game-Beispielen – konkret in die Erkundung dieser Weltversion, in die sie vornehmlich visuell vermittelt eindringen, einbezogen? Und: Was zeichnet die entworfenen ›alternativen Realitäten‹ aus, auf welchen Prämissen und welchem Weltbild fußt ihr Worldbuilding?
Mit dem US-amerikanischen Medienwissenschaftler Henry Jenkins handelt es sich nicht nur bei der VR, sondern insbesondere auch beim durch das Aufkommen sozialer Medien virulent gewordenen, »transmedialen Storytelling« um eine mit Immersionsprozessen verknüpfte Kunst des Worldbuildings, in der »Environments« kreiert werden, »die nicht mehr nur in einem einzigen Werk oder gar in einem einzigen Medium vollständig erkundschaftet oder ausgeschöpft werden können« (Jenkins, 2006, zitiert nach Boni, 2017, S. 11, dt. TS). Im Kontext von Medienindustrien ist mit transmedialem Storytelling zunächst primär eine Marketingstrategie angesprochen. Sie beinhaltet, dass das Worldbuilding aus populären Filmen oder Serien wie