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Zu seinem 200. Geburtstag widmet Regina Dieterle Theodor Fontane eine umfassende Biografie. Lebendig, anschaulich und auf der Grundlage jüngster Recherchen zeichnet sie ein zeitgemäßes Bild des scheinbar vertrauten Autors, der zu den großen europäischen Romanciers des 19. Jahrhunderts zählt. Neben den Romancier tritt nun der Reiseschriftsteller und Journalist. Wechselseitig betrachtet, werden die engen Verbindungen zwischen dem literarischen und dem journalistischen Werk deutlich. Das wirft nicht nur ein neues Licht auf Fontanes Arbeitsweise, sondern verändert auch unsere Lektüre der Romane. Regina Dieterles Biografie öffnet die Augen für ein staunenswertes Werk.
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Seitenzahl: 1497
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter des großen europäischen Romans – auch Theodor Fontane entdecken und lesen wir bis heute immer wieder neu. Zu seinem 200. Geburtstag widmet ihm Regina Dieterle eine umfassende Biografie. Lebendig, anschaulich und auf der Grundlage jüngster Recherchen erzählt, zeichnet sie ein zeitgemäßes Bild des scheinbar vertrauten Autors.
Neben den Romancier tritt nun der Reiseschriftsteller und Journalist. Wechselseitig betrachtet, werden die engen Verbindungen zwischen dem literarischen und dem journalistischen Werk deutlich. Das wirft nicht nur ein neues Licht auf Fontanes Arbeitsweise, sondern verändert auch unsere Lektüre der Romane. Egal, ob einen Fontane schon viele Jahre begleitet oder ob man ihn erst kennenlernen will: Regina Dieterles Biografie öffnet die Augen für ein staunenswertes Werk.
Hanser E-Book
Regina Dieterle
Theodor Fontane
Biografie
Carl Hanser Verlag
Die doppelte Perspektive
Berlin, Winter 1812 auf 13Schlüsseljahre der Großeltern- und Elterngeneration (1780–1819)
Haus Lindenstraße 90 | Gutsbesitzer werden im Oderbruch | Abschied von Königin Luise | In Schlesien: Fiebern für Napoleon | »Schach von Wuthenow« – damals, 1806 | Napoleon in Berlin | Schloss Schönhausen oder Wenn Kastellane erzählen | Ins Gymnasium nach Berlin | Louis Henri Fontanes Berliner Apothekerlehrzeit | »Vor dem Sturm« – damals, 1812 auf 13 | Emilie Labry und das Leben in der Brüderstraße 29 | Aufruf des Königs | Der Seitenschuss | Die Schlacht bei Großgörschen | Das Tabu | Nach dem Krieg | Ein glückliches junges Paar
Spielen und LernenKinder- und erste Jugendjahre (1819–1832)
Das Glück des Apothekers | Neuruppin – Planstadt des Königs | Vorbild Karl Friedrich Schinkel, geboren in Neuruppin | Kutschfahrt unterm Sternenhimmel | »Meine Kinderjahre« – aus der Erinnerung erzählt | Schreibprozess | Aufbruch nach Pommern | Swinemünde – Hafenstadt und Badekurort | Das Swinemünder Apothekerhaus | Die nähere Umgebung des Apothekerhauses | Die Hinrichtung | Die Mutter, wie sie in Swinemünde war | Der Vater, wie er in Swinemünde war | Der große Bruder und seine jüngeren Geschwister | Die Krauses – nahezu eine Idealfamilie | Lernen in Swinemünde | Das Wesentliche | Das »Geschichten-Buch« | Passionen | »mit schönen großen Damen tanzen«
Flucht aus dem KlassenzimmerSchuljahre in Neuruppin und Berlin (1832–1836)
Ins Gymnasium nach Neuruppin | Im Haus des reformierten Superintendenten | In Quarta und Tertia | »… und ein leises Schaukeln begann« | Lektüren und Korrespondenzen | Berliner Verwandtschaft | Auf der städtischen Gewerbeschule von Karl Friedrich Klöden | Unerwartete Schulschwierigkeiten | Eine Schule mit Schwerpunkt Naturwissenschaften und Mathematik | Herausragende Lehrer an der städtischen Gewerbeschule | Ein Hausaufsatz als Erstlingswerk | Berlin, restaurativ | Schauspielerleben bei Fontanes | Wer ist Emilie Rouanet-Kummer? | »Wir sind reformiert« | Die Konfirmation | Apotheker werden wie der Vater
Lakritze und LiebeskummerBerliner Lehrlingsjahre (1836–1840)
Lehrzeit in der Apotheke »Zum weißen Schwan« | Das literarische Debüt | Anregungen, Vorbilder | Im Café Stehely oder Wilhelm Rose ist auch fix | Was lesen? | Minna nicht vergessen | Berliner Ton – Emilie first | Eine Taufe in Mühlberg an der Elbe oder Wo sind die Eltern und Geschwister?
Der Talentierte, radikalGehilfen- und erste Poetenjahre (1840–1843)
Leben im Oderbruch – eine Familienphantasie | Verlorene Manuskripte und das erste Grüne Buch | Berlin 1840 – alt oder neu? | Der talentierte junge Fontane und seine Berliner Freunde | Nach Burg und zurück | Typhus – Krankheit zum Tode | Der Weg zum approbierten Apotheker erster Klasse | Leipzig 1841 – ohne Schumann, Mendelssohn, Bach? | Frühmorgens baden im Fluss | Und der Poet? | Schreiben für die »Eisenbahn« und für das »Literarische Comptoir« | Illegale politische Verbindungen – vom sächsischen Fortschritt | Wanderungen zu den Leipziger Schlachtfeldern der Befreiungskriege | Robert und Jenny Blum – ein politisches Kapitel, das Fontane angeht | Freundschaft mit Max Müller aus Dessau … | … und Freundschaft mit Wilhelm Wolfsohn aus Odessa | Dresden, 1842 auf 43 – Liebeleien, Politik, viel Theater und die Frauenfrage
Selbstbewusstsein, preußisch-berlinischJunge Erwachsenenjahre als Apotheker, Dichter, politischer Korrespondent (1844–1850)
Dienst fürs Vaterland und ein Grog bei Max Müller | Eine Gesellschaftsreise nach London im Sommer 1844 und ein Briefgespräch mit dem Vater | Eine Dame von 32, »äußerst poussierbar« | Ein neuer Klub, ein neuer Ton – im literarischen Sonntagsverein »Tunnel über der Spree« | Wenn der Bruder stirbt – der Tod von Rudolph Fontane | Friedrich Witte, ein Freund fürs Leben | Emilie, for ever | Übersetzen – Übungen am Text | Listen führen | Dramatische Versuche im kritischen Austausch mit Bernhard von Lepel | Hier Kartoffelrevolution, dort Preußenlieder | Am Berliner Alexanderplatz in den Tagen der Märzrevolution | Mit dem Vater die Königsstraße hinauf | Wilhelm Wolfsohn im Trauerzug nach Friedrichshain | Wahlmann Theodor Fontane im Frühling der Freiheit | Rutsch nach links oder »ein Freund aus dem Volke (Fontan)« | Die Familie sorgt sich – ein sicherer Platz in Bethanien | Empörung gegen die Konterrevolution – Briefe an Freund Lepel | 12.000 Taler Anzahlung für die Letschiner Apotheke | »Enthüllungen N˚II« und anderes Intrikates | Auswandern nach Amerika? | Die Erstlinge »Von der schönen Rosamunde« und »Preußen-Lieder« | »Ich bin 30 Jahre alt« oder Das »Zögern vor mir selbst«
Von London nach Deutschland blicken, preußisch-europäischDer Schriftsteller als Korrespondent und Presseagent (1850–1856)
Vorwärts, rückwärts, vorwärts | Hochzeitskapitel mit gewagter Nebenerzählung | Die Mutter in Berlin, der Vater anderswo | Von Beruf »Schriftsteller« | Preußischer Presseagent in Berlin, ein zweifelhaftes Glück | London 1852 – eine mögliche Perspektive | Zurück in Berlin | Die Freunde des »Rütli« | Verhältnisse im Beruf, die krank machen | Berliner »Englische Berichte« – London rückt näher | Der pressepolitische Auftrag | In London – alte Zeiten, neue Zeiten | Duelltod des Generalpolizeidirektors von Hinckeldey in der Jungfernheide | Die Familie kommt! | Max Fontane, Apotheker erster Klasse | Londoner Tage zwischen Café Divan und preußischer Gesandtschaft | Zu Max Müller nach Oxford | Shakespeare der Große | »Einen Plan gemacht«
Pendeln zwischen London und BerlinDer Schriftsteller als Korrespondent und Presseagent (1856–1859)
Auf Urlaub in Berlin | »Der Loyalitäts-Überfluß … ist nicht von mir« oder Paris im Oktober 1856 | »Die Neufchateler Frage fängt an, mir langweilig zu werden« oder Viel Ärger mit der Schweiz | Stippvisite in Berlin mit kleiner Fahrt ins Oderbruch | Zur großen »Art Treasures Exhibition« nach Manchester | Kunstkritiken zu den englischen Präraffaeliten | »Ein gewisser Fontane« wird beschattet und bespitzelt | London en famille | Camden Town, 52 St Augustine’s Road | Austern schlürfen und nach Deutschland blicken | Hofberichterstattung aus »Prussia House« | »Denkst Du verschwundener Tage, Marie?« | Nach Schottland! Ein alter Plan wird wieder wach | Apropos Julius Faucher und Lola Montez | Nachtzug nach Edinburgh – Fontane und Lepel unterwegs in Schottland | »Manteuffel geht über Bord, Metzel auch, Fontane auch«
Ein Mann in den besten Jahren, preußisch-märkischDer Schriftsteller als Wanderer und als Redakteur der konservativen Presse (1859–1863)
Berlin! Berlin! | »Ich kenne einen gewissen preußisch-englischen Diplomaten« | Scheitern an der deutschen Frage – die sogenannte Indiskretion | »Charlie, He’s My Darling« | Max Fontane oder Wen die Götter lieben | Als Redakteur bei der »Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung« | »Wanderungen« mit Wilhelm Hertz | Brief an die Mutter nach einem Besuch beim Vater in Schiffmühle | Fontane als Wahlmann der Konservativen – 1862 | Otto von Bismarck wird Ministerpräsident | Lexikonbeiträger für »Männer der Zeit« und »Frauen der Zeit« | »Material« zu einem großen Roman – erste Entwürfe zu »Vor dem Sturm« | Familienleben in der Hirschelstraße 14
Preußen im KriegDer Schriftsteller als Kriegsjournalist und werdender Romancier (1864–1870)
Zum Kriegsschauplatz nach Missunde und Düppel, Mai 1864 | Bellevuestraße 13: Bismarck, Lassalle, Scherenberg | Im Auftrag: Reise durch das besiegte Dänemark, September 1864 | Zu Besuch bei Theodor Storm in Husum | »So geschieht denn wieder, was immer geschah« | Erholungsreise in die Schweiz | Zu den böhmischen Schlachtfeldern – am Arm »die weiße Binde mit dem rothen Kreuz«, August 1866 | Wenn der Vater stirbt | … und die Mutter
Die WendeDer Schriftsteller als Kriegsbuchautor, Wanderer und Theaterkritiker (1870–1876)
Liebling Martha reist nach London | Schluss mit der Redaktionsarbeit bei der »Kreuzzeitung«! | Sommer 1870 – alle Pläne ändern sich | Der Kriegsgefangene von der Île d’Oléron | »Meinen Freunden dankbar gewidmet« | »ich mußt’ es eben wagen« – durch Frankreich im Frühling 1871 | Neue Verhältnisse in der Potsdamer Straße 134c | Köpernitz oder Neue Wanderungen ins Ruppin’sche | Eilige Reisen durch Italien oder Quanto costa un ventaglio? | Eine autobiografische Skizze für die Zeitschrift »Daheim«, 1875 | Erfahrungen als Theaterkritiker der »Vossischen Zeitung« | »arbeite jetzt fleißig an dem letzten Halbbande meines Kriegsbuches« | Akademiesekretär und »poetisches Kind« – ein Konflikt
Erste Romane und Novellen, literarisch-grenzüberschreitendDer Schriftsteller emanzipiert sich (1877–1884)
»Vor dem Sturm« – Blick in die Handschrift | »Erst jetzt … bin ich in den Orden der Erzähler eingetreten« | Eine Fülle von Stoffen und Entwürfen | Schwanenfeder oder Bleistift, Blaustift, Rotstift, Stahl- und Goldfeder | »L’Adultera« – ein Gesellschafts- und Zeitroman | »Das nenn ich kritisiren!« – Otto Brahm und Paul Schlenther | Fontane liest Gottfried Keller | »Papa … schimpft mehr wie schön ist auf die Juden«
Der große europäische Romancier und BriefschreiberDer Schriftsteller der jungen Moderne (1884–1898)
Die »Zwanglosen« | Sommerfrische im schlesischen Krummhübel, Hirschberger Tal | Begegnung mit der Familie von Georg Friedlaender, Schmiedeberg | »Und noch 10 Minuten bis Buffalo« – neue Balladen | Große Familiennachrichten: »Wir sind nur noch Empfang, Polterabend, Hochzeit« | Trauer um Sohn George | Friedrich Fontane gründet einen Verlag | Auftritt Gerhart Hauptmann | »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« und die späte Lyrik | Krankheit und Krise | Von »Jenny Treibel« und »Effi Briest« | Wie »mein Biograph« es anpacken soll | Geselligkeiten, Diners und im Apollo-Theater Miss Poy | »Die Poggenpuhls« oder Die Kunst des Erzählens | Briefgespräch mit Sohn Theodor | »Der Stechlin« und die Autobiografie »Von Zwanzig bis Dreißig« | Nach dem »Zauberfest« – im September sterben
Ein weites Feld
Anhang
Dank
Zeittafel
Literatur
Nachweis der Zitate und Quellen
Bildnachweis
Personenregister
Ortsregister
Die Autorin dankt dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) für die großzügige Unterstützung des Biografie-Projekts.
Der Schriftsteller Theodor Fontane wurde am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geboren. So könnt’ ich als Biografin beginnen. Doch will ich es anders probieren, will aus einer doppelten Perspektive erzählen, einer Perspektive, die nicht nur das Leben, sondern gleich auch das Werk in den Mittelpunkt rückt. Was hat Theodor Fontane berühmt gemacht? In erster Linie seine Romane. Zuerst also den Roman auf den Tisch, und nicht irgendeinen, sondern den ersten. Was ist sein Stoff? Der Zufall will es – aber vielleicht ist es kein Zufall –, dass Zeit, Ort, Handlung sofort in die Jugendjahre der Eltern führen.
Fontane ist kein junger Mann mehr, als er sein erstes Romanprojekt in Angriff nimmt, er ist schon vierzig gewesen. Mehr als anderthalb Jahrzehnte beschäftigt ihn die Sache. Recht lange dauert alles. Die Eltern sterben in der Zwischenzeit, die Kinder werden erwachsen. Aber dann ist er da, der Roman, und trägt den Titel Vor dem Sturm. Aus dem Winter 1812 auf 13. Geschildert wird darin jene kurze historische Zeitspanne, die das Leben der jungen Leute von damals radikal veränderte. Auch das Leben von Louis Henri Fontane, knapp 17, und Emilie Labry, knapp 15: »Es war Weihnachten 1812, heiliger Abend. Einzelne Schneeflocken fielen und legten sich auf die weiße Decke, die schon seit Tagen in den Straßen der Hauptstadt lag. Die Laternen, die an lang ausgespannten Ketten hingen, gaben nur spärliches Licht; in den Häusern aber wurde es von Minute zu Minute heller und der ›heilige Christ‹, der hier und dort schon einzuziehen begann, warf seinen Glanz auch in das draußen liegende Dunkel.«
Das ist der Auftakt des Romans. Wir sind in Berlin. Es ist schon der siebte Kriegswinter, seit Napoleon Preußen besiegt hat, und die Menschen sehnen sich nach Befreiung. Der Erzähler lässt nach den ersten Anfangssätzen einen Schlitten in die Klosterstraße einbiegen. Der Kutscher hält an, steigt ab und verschwindet im dunklen Flur eines zweistöckigen Hauses. Bald erscheint ein junger Mann in der Tür. Es ist der Student Lewin von Vitzewitz. Mit ihm tritt nun der Leser, die Leserin die nächtliche Reise ins Oderbruch an, nach Hohen-Vietz. Der Ort ist auf der Landkarte nicht verzeichnet, wir vermuten aber, Fontane habe sich das Oderbruchdorf Reitwein vorgestellt. Den fiktiven Ortsnamen Hohen-Vietz entlehnt er dem Roman seines Journalistenkollegen George Hesekiel. Er hat ihn gelesen und rezensiert, das ist schon Jahre her. Von Hesekiels Stille vor dem Sturm entlehnt er sich auch den Titel, verknappt und präzisiert ihn. Das ist ein gut eingeübtes journalistisches Verfahren. Alles wird zum »Material«, alles lässt sich bearbeiten. Doch es muss auch etwas drinstecken, was einen im Innersten packt. Erst dann wird der Furor geweckt, der zur Gestaltung treibt. Und Gestaltung heißt bei Fontane »Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«, heißt exzerpieren, montieren, redigieren, heißt überschreiben und etwas Eigenes in die Welt setzen.
Gerade auch Vor dem Sturm, erschienen 1878, ist ureigenster Fontane-Stoff. Geschildert werden die letzten Tage vor der preußischen Erhebung gegen die napoleonische Besatzungsmacht. Schauplatz des Romans ist neben Berlin die Region östlich der Residenzstadt, das Land diesseits und jenseits der Oder, das Oderland also. Im März 1813, als die sogenannten Befreiungskriege begannen, war Louis Henri Fontane, der Vater, Apothekerlehrling im dritten Jahr und stand am Rezeptiertisch in der Berliner Elefanten-Apotheke am Dönhoffplatz. Zuvor hatte er zwei Jahre lang das renommierte Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster besucht und dort, in der Klosterstraße, erfolgreich mit dem Examen abgeschlossen. Jetzt im März 1813 meldete er sich als Freiwilliger, denn die akademische Jugend wurde zu den Waffen gerufen. Nichts war prägender für ihn und seine Generation, als was er im Krieg erlebte. Und nichts prägender als Napoleons Aufstieg und Fall. Oder Preußens Niedergang, Erhebung und Sieg. Sie waren noch halbe Kinder, als sie diese bewegten Zeiten erlebten. Und wie viele ihrer Generation heirateten sie früh, kaum war der Frieden wieder da: Louis Henri Fontane und Emilie Labry. Am 24. März 1819, am Geburtstag des Bräutigams, gaben sie sich in der französisch-reformierten Kirche zu Berlin ihr Jawort.
Als Theodor, ihr erstes Kind, geboren wurde, war die napoleonische Zeit in den Köpfen und Herzen und in den Erzählungen noch ganz gegenwärtig: die Dreikaiserschlacht bei Austerlitz (1805), die preußische Niederlage von Jena und Auerstedt (1806), die unmittelbare Flucht des Königspaares und des Hofstaates nach Ostpreußen und kurz darauf Napoleons triumphaler Einzug in Berlin durch das Brandenburger Tor (1806), der Russlandfeldzug (1812), die Völkerschlacht bei Leipzig (1813), der Sieg über Napoleon bei Waterloo, Belle-Alliance (1815) – alles aus dieser jüngsten Vergangenheit, auch der erlittene Verlust, der Hunger, der Tod, trieb die Menschen noch immer um. Und man wusste zugleich: Napoleon hatte das Ancien Régime weggefegt, demokratische Formen eingeführt, die bürgerliche Freiheit gebracht und letztlich die Reform des preußischen Staates ermöglicht.
Napoleon war eine lebende Legende, als Theodor Fontane am 30. Dezember 1819 im märkischen Neuruppin zur Welt kam. Nach der vollkommenen Niederlage der Franzosen bei Waterloo lebte der abgesetzte Kaiser in der Verbannung auf der Insel St. Helena. Als er dort am 5. Mai 1821 starb, lernte der kleine Theodor gerade laufen und sprechen. Sein Vater, das sollte er schon bald merken, blieb vollkommen auf die Napoleonzeit fixiert. Kein Stoff hielt ihn so in Bann wie die Geschichte des Empereurs und seiner Marschälle. Hier redete er sich ins Element und freute sich, wenn der Sohn seine Anekdoten immer und immer wieder hören wollte. Der Plauderton versagte einzig, wenn es um die Erfahrung der Kriegsschrecken ging. Da fiel ihm das Sprechen schwer, das rührte an ein Tabu.
Wie vom Krieg erzählt wurde und welche Erfahrungen beschwiegen wurden, blieb nicht ohne Wirkung auf die Nachkriegsgeneration. Zu dieser Nachkriegsgeneration gehörte Theodor Fontane. Geradezu auffällig ist es, wie sehr ihn Schlachtfelder und kriegerische Heldentaten faszinierten. Geschichtliches Interesse und preußisches Selbstbewusstsein reichen nicht aus, um dieses lebenslange Faszinosum zu erklären. Es muss auch etwas mit dem Tabu zu tun haben, mit dem Kriegstrauma des Vaters. Wobei Krieg durchwegs die Signatur seiner Zeit war. Als Theodor Fontane seinen ersten Roman zu den Befreiungskriegen noch immer in Arbeit hatte, stand sein eigener Sohn an der Front (1870/71). Der Autor selber hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur unzählige historische Schlachtfelder erwandert, sondern war Kriegskorrespondent geworden, war nicht von ungefähr in französische Kriegsgefangenschaft geraten, und wenig hätte gefehlt, er wäre wegen vermuteter Spionage standrechtlich erschossen worden. Dies und mehr ließ sich wahrscheinlich nur schreibend bewältigen, zuerst in der autobiografischen Erzählung Kriegsgefangen (1871), dann umfassender im Roman Vor dem Sturm. Vom Weg dahin und von dort weiter bis zu den Meisterwerken Effi Briest (1895) und Der Stechlin (1899), davon will diese neu recherchierte Biografie erzählen.
Der Anfang der biografischen Erzählung setzt also dort ein, wo Fontane aus guten Gründen selbst einsetzte. Schauplatz ist Berlin im Winter 1812 auf 1813. Die Person, die zuerst interessiert, ist Fontanes Vater. Er war damals knapp 17 Jahre alt. Seine Familie bewohnte das Haus Lindenstraße 90. Es war ein geräumiges Haus, hatte vier Etagen, einen großen Garten und zwei Brunnen.
Die Berliner Lindenstraße war um 1700 angelegt worden und gehörte zum Köpenicker Viertel, das seit 1802 zu Ehren von Königin Luise Luisenstadt hieß. Das Viertel grenzte unmittelbar an die südliche Friedrichstadt. In der Lindenstraße 90 – das Haus hatte Zinngießer Pierre Barthélemy Fontane um 1756 erworben – lebte die Familie Fontane bereits in der zweiten und nun dritten Generation. Sie war eine angesehene hugenottische Familie des Handwerkertums und in Berufen tätig, die traditionellerweise immer auch eine künstlerische Seite hatten. Ursprünglich Strumpfwirker, also der Mode verpflichtet, waren sie Zinngießer geworden, veredelten Kupfergefäße, stellten Becher und Kelche her, bis mit der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur unter Friedrich II. ein edleres Handwerk das Zinngefertigte verdrängte und die Luxusklasse jetzt nach dem weißen Gold, dem Porzellan begehrte. Und dieses Porzellan wiederum veredelten mit ihren kunstvollen Malkünsten die Porzellanmaler. Der Sohn des Zinngießers Pierre Barthélemy Fontane wurde Porzellanmaler und trug als solcher den Namen seines Vaters weiter, denn er hieß wie dieser Pierre Barthélemy Fontane. In den Hofakten aber wurde er auch als Peter Fontane geführt. Dieser Peter oder nach Taufnamen Pierre Barthélemy Fontane war der Vater von Louis Henri.
Louis Henri Fontane wurde in gute Verhältnisse hineingeboren. Sein Vater, der Porzellanmaler, hatte entweder noch in den letzten Regierungsjahren Friedrichs II. oder dann unter dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II. eine Anstellung bei Hofe gefunden und gehörte seither zum königlich-preußischen Hofstaat. Am 14. Oktober 1790 hatte Pierre Barthélemy im Alter von 33 Jahren die junge Witwe Louise Sophie Deubel geheiratet und zugleich ihre fünf unmündigen Kinder aufgenommen. Das Haus war jetzt mit viel Leben erfüllt. Louise Sophie, eine gebürtige Berlinerin, war die Tochter des Viktualienhändlers Friedrich Wilhelm Deubel. Ein bisschen Jenny Treibel könnte in ihr gesteckt haben, die im »Materialwarenladen« ihres Vaters gelernt hatte, was klug wirtschaften heißt. Die Deubels gehörten der deutsch-evangelischen Gemeinde an, während die Fontanes, die um 1700 als Hugenottenflüchtlinge nach Berlin gekommen waren, französisch-reformiert geblieben waren. Die Heirat erfolgte in der Taufkirche der Braut. Das war die nahe gelegene Evangelische Jerusalemkirche. Ihre gemeinsamen Kinder aber sollten nach der hugenottischen Tradition der Fontanes getauft und erzogen werden. Es war eine starke Bindung, die Bindung an die französisch-reformierte Gemeinde von Berlin, und sie prägte das Selbstbewusstsein der Familie. Ja, die Fontanes waren Berliner geworden und waren zugleich stolz auf ihre Zugehörigkeit zur sogenannten Französischen Kolonie.
Zwei Töchter des Paares starben kurz nach der Geburt. Am 30. März 1794 kam Charles Henri Guillaume zur Welt, zwei Jahre später Louis Henri. Geboren am 24. März 1796, blieb er lange das Nesthäckchen der zahlreichen Kinderschar. Damals lebte auch Großmutter Marie Louise Fontane noch, die Witwe des Zinngießers Fontane. Sie war die Patronne und in ihrer Witwenzeit offenbar auch die Besitzerin des Hauses Lindenstraße 90.
Die Hofkarriere ihres Sohnes Pierre Barthélemy setzte sich unter Friedrich Wilhelm II. kontinuierlich fort. Die Porzellanmalerei hatte er jetzt aufgegeben, sich dafür einen gewissen Ruf als Miniaturmaler erworben. Zwischen 1787 und 1795 nahm Pierre Barthélemy Fontane fünfmal an der damals jährlich stattfindenden Berliner Kunstausstellung teil. Als Künstler konnte er dennoch nicht bestehen. Über seine Porträts und Kopien großer Meister fällte der geniale Johann Gottfried Schadow ein herbes Urteil. Pierre Barthélemy Fontane, so soll er gesagt haben, »gehörte zu denen, die nie dazu kamen, malen zu können«. Doch habe er gut »Französisch sprechen« können. Die maliziöse Bemerkung zur Gewandtheit im Französischen könnte ein Hinweis darauf sein, dass man den Porträtkünstler Fontane zu den Protegés des frankophilen Kabinettsrats Lombard rechnete.
Schadow, der Märker, brillierte ganz anders: 1793 war seine Quadriga auf das neu errichtete Brandenburger Tor platziert worden, 1797 zeigte er der Öffentlichkeit seine Prinzessinnengruppe, die berühmte Skulptur der Kronprinzessin Luise und ihrer jüngeren Schwester Friederike. Doch auch Pierre Barthélemy Fontane tat sich hervor. Er war »erster Kammerdiener« der Kronprinzessin geworden, zuständig für ihre »kleinen Rechnungen« und für die »Beantwortung aller unbedeutenden Briefe«.
Pierre Barthélemy hatte eben andere Talente. Dass er das Französische sowohl mündlich wie schriftlich beherrschte, war ein großer Vorteil, den er seiner Herkunft verdankte. Aufgewachsen in einer Zeit, als die Berliner Hugenotten in deutsche Familien einzuheiraten begannen, hatte man bei ihm zu Hause doch noch Französisch gesprochen, so wie die Gebildeteren unter ihnen es zu tun pflegten. Französisch war einerseits die Sprache ihrer kirchlichen Gemeinde, anderseits die Sprache des preußischen Hofes. Als Friedrich Wilhelm II. für seine jüngeren Kinder einen Zeichenlehrer engagieren wollte, war seine Wahl wie selbstverständlich auf Pierre Barthélemy Fontane gefallen. Die Zeichenstunden fanden in Schloss Monbijou statt. Und so begab sich Kunsterzieher Fontane in den 1790er-Jahren regelmäßig von der Lindenstraße nach Schloss Monbijou, wo im Beisein der Königin der Zeichenunterricht stattzufinden pflegte.
Sie, die Königin Friederike Luise von Hessen-Darmstadt und Mutter der Kinder, war die zweite Gemahlin von Friedrich Wilhelm II. Das an der Spree gelegene Schloss Monbijou war ihr Hauptwohnsitz. Hier konnte Pierre Barthélemy auch einem Jüngling begegnen, dessen Familie nach der Französischen Revolution aus Frankreich geflohen war und seit 1796 in Berlin lebte. Es war niemand anders als Adelbert von Chamisso, der, während er das nahe Französische Gymnasium besuchte, zugleich Page in Schloss Monbijou war.
Als im November 1797 der König starb und sein Sohn Friedrich Wilhelm III. den Thron bestieg, wurde Pierre Barthélemy Fontane mit zusätzlichen Aufgaben betraut. Der erste Kammerdiener von Kronprinzessin Luise wurde nun der Kabinettssekretär ihrer Majestät der jungen Königin. Er war zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alt, hatte einen vorbildlichen Ruf als Zeichenlehrer und Pädagoge, galt als zuverlässig und empfahl sich auch deswegen, weil er »kein übles Aussehen« und »viel Anständiges in seinem Betragen« hatte.
Zur selben Zeit war sein privates Glück jäh zerbrochen. Die Tragödie war so schmerzlich wie typisch für die damaligen Verhältnisse. Seine Frau Sophie, die Mutter von Charles und Louis Henri, war nach der Geburt eines dritten gemeinsamen Söhnchens am 25. April 1797 im Kindbett gestorben. Auch das Neugeborene überlebte nicht. Der Mann muss untröstlich gewesen sein. Sein Jüngster, der kleine Louis Henri, war nur gerade ein Jahr alt, als er die Mutter verlor. Was ihm von ihr blieb, war eine ferne Erinnerung sowie eine Farbskizze von der Hand des Vaters. Das Bild hat vielleicht über dem väterlichen Schreibtisch oder im Wohnzimmer gehangen. Es zeigt eine große, schlanke Frau, die in langen, fließenden Stoffen geht, gekleidet im vornehmen Stil der Empiremode. Das dunkle, volle Haar trägt sie hochgesteckt, nicht straffgezogen, sondern weich und natürlich. Auch die Kinder vermissten die Mutter wohl sehr.
An Mutterstelle trat aber womöglich die Großmutter Marie Louise Fontane, damals 66 Jahre alt. Als das Trauerjahr um war, begann Pierre Barthélemy Fontane um die junge Anna Maria Reimann zu werben. »Dienstag, den 27. November 1798 habe ich um Demoiselle Reiman angehalten, und Selbige den Sonntag zum ersten Mal gesehen«, heißt es in einer tagebuchartigen Aufzeichnung. Am 7. März 1799 ging er seine zweite Ehe ein. Anna Maria, 24 Jahre alt, war die Tochter eines Berliner Textilkaufmanns. Ihre Familie gehörte der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde St. Bethlehem an, die für die Glaubensflüchtlinge aus Böhmen gegründet worden war, so wie seinerzeit die Kirchgemeinde für die Hugenotten aus Frankreich. Das Paar heiratete traditionsgemäß in der Kirche der Braut, der Kirche St. Bethlehem in der südlichen Friedrichstadt.
Der kleine Louis Henri und seine Geschwister erhielten mit der erneuten Eheschließung des Vaters eine noch junge Stiefmutter. Im privaten Leben der Familie schienen nun wieder glücklichere Tage anzubrechen. Am 2. Dezember 1799 gebar Anna Maria ein Töchterchen. Das kleine Mädchen starb jedoch kurz vor seinem ersten Geburtstag (18. November 1800). Ein Jahr später, am 8. Dezember 1801, kam das zweite Kind zur Welt. Es war ein Junge, Ferdinand Auguste, der wie seine beiden älteren Halbbrüder französisch-reformiert getauft wurde (Theodor Fontanes »Onkel August«). Großmutter Marie Louise Fontane erlebte Geburt und Taufe noch. Am 20. Januar 1802 starb sie, nachdem sie über vierzig Jahre lang im Haus Lindenstraße 90 gelebt und gewirkt und ihren Sohn Pierre Barthélemy in glücklichen wie in schweren Tagen begleitet hatte. Als sie starb, war Louis Henri knapp sechs Jahre alt.
Die junge Stiefmutter Anna Maria aber war ein Segen für alle. Sie sorgte nicht nur für ihren kleinen Auguste, sondern auch für die Söhne Charles und Louis Henri sowie für die weiteren Familienangehörigen. Zunehmend beanspruchte auch ihr Mann ihre Hilfe, denn ein tückisches Augenleiden drohte ihn arbeitsunfähig zu machen. Er selbst sprach von »äußerst geschwächten Seh-Nerven« und sah als Heilmittel eigentlich nur noch ein Leben auf dem Lande. In der Zeit, als seine Augenkrankheit sich verschlimmerte, begann er eine neue Art von Geschäftstätigkeit zu entwickeln. Er verkaufte sein Haus Lindenstraße 90, behielt aber eine Sicherheitshypothek darauf (7600 Taler Silber-Courant) und ließ sich diese mit vier Prozent verzinsen. Auf diese Weise schuf er sich Eigenkapital und besserte das Familieneinkommen auf, gleichzeitig behielt er das Wohnrecht. Später kaufte er das Haus wieder mit Gewinn zurück und spekulierte so mit noch anderen Häusern in Berlin. Weil er, wie die Berliner Grundbucheinträge belegen, solche Immobiliengeschäfte erst tätigte, als er mit den Reimanns verwandt war, liegt die Vermutung nahe, die neue Verwandtschaft habe ihm mit gutem Rat beseitegestanden, gehörte sie doch als Kaufmannsfamilie zum gutbetuchten Berliner Bürgertum. Doch könnten auch langjährige Erfahrungen als Verantwortlicher für das Haus Lindenstraße 90 sowie die Tätigkeit als Kabinettssekretär, der mit den Finanzen der Königin betraut war, eine Rolle beim glücklichen Spekulieren gespielt haben.
Im Spätsommer 1803, mit 46 Jahren, sah sich Pierre Barthélemy Fontane schließlich außerstande, weiterhin als Zeichenlehrer und Kabinettssekretär zu wirken. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine feste Vorstellung, wie er die Existenz der Seinen künftig sichern wollte. Er verfügte jetzt über etwas eigenes Kapital und wollte dieses für eine Erbpacht auf dem Lande verwenden. In einem Schreiben vom 15. August 1803 bat er Königin Luise, »ihm die Gnade zu gewähren«, seine Familie durch eine Erbpacht zu ernähren. Bei König Friedrich Wilhelm III. reichte er das entsprechende Gesuch mit der Bitte ein, »mir von den im Amte Wollup im Oderbruch abgebauten Ländern 2 bis 300 Morgen in Erbpacht zu geben«. In seinem Gesuch heißt es weiter: »Mit Vergnügen will ich wie jeder andere, den festgesetzten Erb-Zins bezahlen, wenn Ew. Königliche Majestät nur so gnädig seyn wolten, da meine Kräfte nicht reichen, die nötigen Wohn- und Wirtschaftsgebäude, so wie das Inventarium huldvoll zu accordiren [zur Verfügung zu stellen].«
Die Reaktion des Königs war so erstaunlich wie fatal. Das Dienstverhältnis wurde aus Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Bittstellers aufgelöst, die Erbpacht im Oderbruch zugleich abgelehnt. Eine königliche Erbpacht im Amte Wollup aber hätte den Vorteil gehabt, dass die Fontanes sich im Oderbruch hätten niederlassen und Gutswirtschaft betreiben können, und zwar gegen regelmäßige Zinsabgaben und mit dem Recht, den Gutsbetrieb weitervererben zu dürfen. Damals existierte die Erbpacht in Preußen noch, erst 1811 wurde sie mit der Landreform als sogenannt ablöslich erklärt. Mit dem Entgegenkommen des Königs hätte Theodor Fontane also am Ende Gutsbesitzer im Oderbruch werden können.
Ironie des Schicksals ist, dass der König das, was er dem Zeichenlehrer und Kabinettssekretär Fontane am 9. September 1803 abschlug, einem anderen wiederum am 19. März 1804 antrug: »1. drei- bis vierhundert Morgen Acker des Amts Wollup in Erbpacht; 2. die Erlaubnis, diese Erbpacht zu veräußern und ein Rittergut dafür zu kaufen«. Der andere war niemand anders als der Niedersachse Albrecht Daniel Thaer, der dann im Oderbruch die moderne Agrarwirtschaft begründete. Zum Angebot des Königs schrieb Theodor Fontane später lapidar: »Thaer nahm an.« Die Domäne Wollup verkaufte derselbe bald wieder, wie wir aus Fontanes Erzählung in den Wanderungen wissen, und begründete sein Musterinstitut, das heißt, die erste landwirtschaftliche Akademie Deutschlands, im nahen Möglin. Dort trug er durch seine Reformen auch zur Bauernbefreiung bei.
Wollup selber wurde dann berühmt unter Johann Gottlieb Koppe, der Lehrer in Möglin gewesen war. Koppe war es schließlich, der die Wolluper Domäne zu einem vorbildlichen Landwirtschaftsbetrieb umfunktionierte (ab 1827). Der Betrieb war bereits auf seiner Höhe, als Theodor Fontanes Familie sich später doch noch in der Nähe niederließ, nämlich im Oderbruchdorf Letschin (ab 1840).
Was für ein Romananfang! Da fährt Lewin von Vitzewitz unterm Sternenhimmel hinaus ins Oderbruch, fährt nach Hause nach Schloss Hohen-Vietz. Wenn das nicht Fontane’sche Familienphantasie ist, die sich hier fortschreibt! Wenn das nicht romantische Sehnsucht des Autors ist, angelegt in der Kindheit als eine Urphantasie vom Leben auf dem Lande, vom Leben im eigenen Schloss. Und dazu mit feiner Ironie das Kapitel 6, in dem der Erzähler den Studenten Lewin in ein Kolleg von Albrecht Daniel Thaer schickt. Thema der Vorlesung: »Der Fruchtwechsel und die landwirtschaftliche Bedeutung des Kartoffelbaues«.
Pierre Barthélemy Fontane war also aus dem Hofdienst entlassen. Doch hatte der König eine nur vorübergehende »Dispensation von allen Geschäften« ausgesprochen, ihm gute Erholung auf dem Lande gewünscht und angeordnet, dass der Kabinettssekretär Fontane bis zu seiner »Wiedergenesung« sein Gehalt weiterhin empfangen solle. Daraufhin waren die Geschäfte dem Nachfolger übergeben worden, doch wartete man dann vergebens auf die Fortzahlung des Gehalts und eine formelle Erlaubnis, die Stadt verlassen zu dürfen. Verzweifelt schrieb Pierre Barthélemy Fontane an den König: »Ich kann hier bei der täglich zunehmenden Teurung aller Bedürfnisse des Lebens mit meiner zahlreichen Familie nicht fertig werden, und flehe daher um die gnädige Erlaubnis: […] in eine Provinz der Königlichen Lande, wo ich, in Ansetzung der Haus=Miethen[,] des Holzes und anderer Nothwendigkeiten des Lebens besser fertig zu werden hoffe, gehen zu dürfen« (20. Juli 1804).
Er hatte Frau und Kinder immer durch seinen eigenen Erwerb ernährt. Jetzt in der Not aber sah er sich gezwungen, sein Vermögen anzugreifen. Eigentlich hatte er die 3000 Taler für seine junge Frau angelegt und als Erbe für die Kinder gedacht. Jetzt teilte er die Sorgen der vielen, die ums tägliche Überleben kämpften. Denn für die große Mehrheit waren die Zeiten schwer. Die schlechte Lage schuldete sich den erstarrten Formen in Politik und Wirtschaft und der Situation Preußens im europäischen Kräftemessen. Mit dem revolutionären Frankreich unter Napoleon hatte Preußen 1795 den Basler Sonderfrieden geschlossen und war seither neutral und einflusslos in den Kriegen, die Frankreich führte und gewann.
Als Pierre Barthélemy Fontane endlich die offizielle Erlaubnis erhielt, aufs Land zu reisen, war in Frankreich eben die Verfassung des neuen Kaiserreiches verkündet worden und stand Napoleon Bonapartes Selbstkrönung bevor. Am 2. Dezember 1804 setzte er sich in der Kirche Notre-Dame in Paris die Krone auf und ernannte sich zum Kaiser der Franzosen. Das enttäuschte damals viele seiner Anhänger, weil sie darin den Schritt zum hegemonialen Machtstreben vollzogen sahen. Beethoven zum Beispiel, der Napoleon seine 3. Sinfonie hatte widmen wollen, soll den Namen »Bonaparte« auf dem Titelblatt des Notenkonvoluts wütend ausradiert haben. »Heroische Sinfonie, komponiert um das Andenken eines großen Mannes zu feiern«, hieß nun der neue Titel seiner Eroica.
Zu diesem Zeitpunkt lebten die Fontanes in Schlesien. Sie lebten von einer Pension in der Höhe von 300 Talern jährlich und Versprechungen auf andere Gelder, die nie eintrafen. Wahrscheinlich wurden die Verhältnisse nur dadurch gemildert, dass man Unterstützung von schlesischen Verwandten aus der Familie Reimann erhielt. Für den jungen Louis Henri hatte die Berliner Kindheit jedenfalls ein abruptes Ende gefunden.
Was für ein Wechsel der Verhältnisse! Eben noch ging Louis Henri an der Hand des Vaters durch die Berliner Straßen, ließ sich vielleicht das Brandenburger Tor mit Schadows Quadriga zeigen oder die Wachablösung am Schlossplatz. Vielleicht folgte er ihm auch nach Schloss Monbijou, wo der Vater Zeichenunterricht erteilte, oder fuhr mit ihm in der Kutsche nach Schloss Charlottenburg, nach Potsdam oder Paretz, wo die königliche Familie je nach Jahreszeit abwechselnd residierte. Denn wegen seiner Augenkrankheit war der Vater zunehmend auf Hilfe angewiesen.
Wir stellen uns vor: wie Louis Henri den Vater bei dessen letzten Gängen im Hofdienst begleitete und als Sohn des Kabinettssekretärs der Königin vorgestellt wurde. Der siebenjährige Knabe hätte dann einer jungen Frau gegenübergestanden, die so alt war wie seine Stiefmutter Anna Maria und die Kinder hatte, die im selben Spielalter waren wie er: Kronprinz Friedrich Wilhelm (der spätere König Friedrich Wilhelm IV.), Prinz Wilhelm (der spätere König und Deutsche Kaiser Wilhelm I.) und Prinzessin Charlotte (die spätere russische Zarin).
Es gibt keinen Beleg für eine solche Begegnung. Aber aus den Erinnerungen des Pädagogen Heinrich Hauer wissen wir, dass der Hofdienst des Pierre Barthélemy Fontane ein recht persönlicher Dienst gewesen war und die junge Königin besonders in pädagogischen Fragen auf ihren Kabinettssekretär vertraute.
Die Schlesienjahre der Fontanes fielen in die Zeit von etwa August 1804 bis gegen Ende 1807. Anfangs ging es ihnen hier wirklich besser. Die noch junge preußische Provinz, die sich Friedrich II. im Ersten Schlesischen Krieg gegen Österreich abgetrotzt hatte, wurde seit 1770 verwaltet durch Minister Carl Heinrich von Hoym. Von Hoym war es, der Pierre Barthélemy Fontane in Schmiedeberg das Amt des Kämmerers vermittelte. Später wollte er ihn als Polizeidirektor in Liegnitz vorschlagen.
Alle Hoffnungen, in Schlesien Erholung und wirtschaftliche Sicherheit zu finden, zerschlugen sich aber bald. Denn Napoleons Truppen waren auf dem Vormarsch. Noch hielt Preußen an seiner Neutralität fest, als es am 2. Dezember 1805 zur großen Dreikaiserschlacht bei Austerlitz kam. In nur vier Stunden und mit dem Glück der »Sonne von Austerlitz« hatte die Grande Armée die Koalitionspartner Österreich und Russland vernichtend geschlagen. Die Kunde vom vollständigen Sieg der Franzosen verbreitete sich rasch und weckte bei der preußischen Jugend durchaus Begeisterung. Denn was war das für ein Mann, der solche Schlachten schlug! Und gleich darauf in einem Bulletin an seine Soldaten schrieb: »Soldats, je suis content de vous.« Soldaten, ich bin zufrieden mit euch.
Auf die Bulletins von Napoleon wartete jetzt die ganze Welt. Sie erschienen jeweils übersetzt in allen Zeitungen. Und was ließ er nach der Schlacht von Austerlitz verlauten? »Soldaten, von jetzt an wird es genügen zu sagen: ›Ich war bei der Schlacht von Austerlitz‹, um den Bewunderungsruf zu wecken: ›Voilà un brave‹.« Louis Henri, der Junge, der am eigenen Leibe erlebte, wie der preußische König seinen Vater darben ließ (die Gehaltszahlungen blieben weiterhin aus), fieberte jetzt mit für Napoleon, für seine Generäle, für die Grande Nation. So vermuten wir.
In Schlesien aber zeigten die kriegerischen Ereignisse ihre harte Wirklichkeit. Hier zogen russische, später französische, bayrische und württembergische Truppen durchs Land, wobei die Franzosen weniger gefürchtet wurden als die übrigen Truppen, weil diese die Bevölkerung mehr schonten als jene.
Welche Not und welche Schrecken die Familie Fontane in ihren Schlesienjahren durchlebte, können wir nur erahnen. Zwar wissen wir, dass Pierre Barthélemy Fontane ein Tagebuch führte. Die meisten Notizen sind jedoch in den Zeitläuften verloren gegangen. Ein Diarium mit Lederrücken, verblassten Goldarabesken, handmarmoriertem Deckel und Rotschnitt, ausgestattet mit Büttenpapier, gelangte noch um 1935 ins Theodor-Fontane-Archiv, die meisten Seiten waren zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits herausgerissen. Heute zählt das Büchlein zu den seit 1945 vermissten Beständen.
Ob die Tagebücher seines Großvaters ihm noch zur Verfügung standen, als Theodor Fontane seine zweite wichtige Erzählung über die Napoleonzeit schrieb? Wenn ja, so hat er sie sicher genutzt.
Den Roman Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes nahm er in Arbeit, noch bevor im Buchhandel Vor dem Sturm erschien. Er war ein Meister darin, mehrere Projekte gleichzeitig zu verfolgen. Und während er also für den druckfertigen Roman die Werbetrommel rührte, allerorten Rezensionen veranlasste und sich schon bald über einen Achtungserfolg freuen konnte, las er sich gleichzeitig in seinen neuen Stoff ein. Der Kern war eine tragische Liebesgeschichte, die in der napoleonischen Zeit in Berlin gespielt hatte. Theodor Fontane versuchte deshalb, als er den Roman in Angriff nahm, mit der Frau noch in Kontakt zu treten. Ob sie ihn empfangen hat, ist unsicher. Sie war damals schon weit über achtzig.
Was ihm wichtig war: Die Liebesgeschichte sollte ein Zeitbild geben. Dazu gehörte, dass er den Schauplatz, das Milieu, die handelnden Personen, das politische Geschehen genau recherchierte und dann bewusst gestaltete. Wann hatte »der ganz traurige Vorfall« stattgefunden, vor oder nach der Schlacht von Jena und Auerstedt? Das wollte er zwingend wissen. Auch las er sich gezielt ein, vertiefte sich in die Lebenserinnerungen eines alten Mannes von Wilhelm von Kügelgen, erschienen 1870 im Verlag Wilhelm Hertz, und bat den Chefredakteur seiner Zeitung, das Archiv benutzen zu dürfen. »Eine Novelle, an der ich arbeite«, so schrieb er ihm, »spielt im Frühjahr und Sommer 1806; es wäre mir, wegen des Lokaltons, von großem Wert, wenn ich die Vossin aus jener Zeit her durchblättern könnte. Weggegeben wird sie nicht, so frag ich ganz ergebenst an, ob ich mich morgen (Sonntag) Vormittag wohl auf der Redaktion einfinden und in einem Zimmer derselben, gleichviel in welchem, nachschlagen darf.«
Er exzerpierte alles, was ihm nützlich erschien und was verwendbar war. Dabei fielen ihm auch die Schriften von Heinrich Dietrich von Bülow in die Hände, einem Militärschriftsteller und verhinderten Schauspieldirektor, der so frech und kritisch über die militärische Unfähigkeit Preußens geschrieben hatte, dass Friedrich Wilhelm III. ihn hatte verhaften lassen. Bülow war dann am 6. August 1806 zu vier Jahren Festungshaft verurteilt worden. Zu jenem Zeitpunkt war Preußen bei Jena und Auerstedt bereits vernichtend geschlagen worden, eine Niederlage, die Bülow längst vorausgesagt hatte.
Diesen Heinrich Dietrich von Bülow verwandelte Theodor Fontane nun in eine literarische Figur, die in Schach von Wuthenow Sätze sagen darf wie: »Ich bekenne, daß ich die Tage Preußens gezählt glaube.« Und nicht nur Preußen, auch das Luthertum sieht die Figur Bülow in der Auflösung begriffen: »Und warum? Weil beide gleich dürftig angelegt, gleich eng geraten sind. Es sind Kleinexistenzen, beide bestimmt, in etwas Größerem auf- oder unterzugehen. Und zwar bald. Hannibal ante portas.«
Preußens Schicksal heiße »Einverleibung in das Universelle«, so die Figur Bülow in Schach von Wuthenow, die hier ganz so spricht wie der wirkliche Schriftsteller Heinrich Dietrich von Bülow in seinem Buche.
Der kritischen Position Bülows steht im Roman die Position des Offiziers Schach von Wuthenow gegenüber. Schach, die Titelfigur, ist für ein starkes, selbstständiges Preußen, stellt sich in die friderizianische Tradition und weiß sich einig mit der Haltung von Königin Luise und mit der Haltung des Volkes. Vielleicht aber, so deutet der Erzähler an, überschätzt Schach die gegenwärtige Schlagkraft der preußischen Armee und leidet folglich an jenem Dünkel, den Bülow als preußische Beschränktheit bezeichnet. Beschränkt sei insbesondere, wer glaube: »Die Welt ruht nicht sichrer auf den Schultern des Atlas als der preußische Staat auf den Schultern der preußischen Armee.«
Die Handlung des Romans fällt in die Zeit von Anfang April bis Mitte September 1806, schildert also die sechs Monate vor der Niederlage Preußens gegen Napoleon. Da Theodor Fontane intensives Quellenstudium betrieb, es ihm um die Rekonstruktion der historischen Wirklichkeit ging, ist die Erzählung keine historische Phantasie, sondern vermittelt ein plastisches Zeitbild. Aber natürlich ist es – wie beim Roman Vor dem Sturm – ein komponiertes, ein mit den Mitteln der Kunst hergestelltes Bild.
Mit zum verarbeiteten Material gehörte wohl auch Pierre Barthélemy Fontanes Zeit als Kabinettssekretär von Königin Luise. Das ganze Kapitel 16, in dem Frau von Carayon, eine Hauptfigur des Romans, sich in Potsdam um eine Audienz beim König bemüht und dann auch in Paretz vorspricht, liest sich, als ginge Fontanes Großvater durch die Szene. Denselben Eindruck erweckt auch Kapitel 17, wenn Schach von Wuthenow nach Schloss Charlottenburg reitet, um Ordre des Königs und der Königin zu empfangen.
Bemerkenswert aber ist, dass Theodor Fontane die Liebesgeschichte zeitlich früher anlegt, als sie eigentlich gespielt hat. Der Grund ist sein geradezu fiebriges Interesse für die Zeit vor Napoleons Sieg über Preußen (1806). Dabei trieb ihn möglicherweise die Fontane’sche Familienfama an. Denn in den Jahren vor der französischen Besatzung hatte die Familie ihre glänzendste Zeit, hatte der Kabinettssekretär nicht nur anderen die Türe zu seiner Majestät der Königin geöffnet, sondern auch selber am Hofe offene Türen gefunden. Schach von Wuthenow also kann wie Vor dem Sturm gelesen werden als eine Recherche in eigener Sache. Es ist, als versicherte sich der Autor seiner eigenen Biografie.
Pierre Barthélemy Fontane hatte zum Hofstaat der Königin gehört, als Preußen sich zur Neutralität verpflichtet hatte und Frieden mitten in Kriegszeiten erlebte. Allerdings hatten Außenminister Christian von Haugwitz und sein Vertrauter Johann Wilhelm Lombard gleichzeitig eine profranzösische Politik betrieben. Napoleons Expansionspolitik führte 1804 schließlich zu Richtungskämpfen in der preußischen Außenpolitik. Der König zögerte, Frankreich den Krieg zu erklären, die Königin gehörte zur Partei der Kriegsbefürworter.
In der Zeit, als sich die Konflikte zuspitzten und politische Entscheidungen gefällt werden mussten, lebte Louis Henri Fontane mit Eltern und Geschwistern im schlesischen Schmiedeberg. Hier also erfuhr man von der Kriegserklärung, die am 9. Oktober 1806 erfolgt war. Und fast gleichzeitig von Prinz Louis Ferdinands Tod im Gefecht bei Saalfeld am 10. Oktober (»Prinz Louis war gefallen / Und Preußen fiel – ihm nach«). Dann jagte eine düstere Nachricht die andere. Am 14. Oktober kam es zur katastrophalen Niederlage bei Jena und Auerstedt. Am 17. Oktober 1806 folgte das dürre Communiqué des Grafen v.d. Schulenburg: »Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf. Der König und seine Brüder leben.« Zu wissen, dass der König lebte, war für die Fontanes in Schmiedeberg geradezu existenziell wichtig. Denn Pierre Barthélemy Fontane rechnete mit seinem Wiedereintritt in die königlichen Dienste, sobald er vollständig genesen war. Die Nachricht von der Flucht des Königspaares und des gesamten Hofstaates nach Ostpreußen muss ihn daher zutiefst erschüttert haben.
Und Louis Henri? Wenn er begonnen hatte, für Napoleon zu schwärmen, bewegte ihn ganz anderes in seinem jungen Herzen. Der große Napoleon, der Sieger von Austerlitz, von Jena und Auerstedt, er zog nun mit seiner Grande Armée Richtung Berlin. Und er, der Zehnjährige, würde ihn nicht sehen! Weder ihn noch seine Marschälle. Und damit auch Marschall Michel Ney nicht, seinen Liebling, »le brave des braves«!
Dem spektakulären Einzug in Berlin aber ging voraus, dass Napoleon das Schlachtfeld von Rossbach besuchte. Hier hatte fünfzig Jahre zuvor Friedrich II. den mit den Sachsen verbündeten Franzosen eine bittere Niederlage bereitet. Napoleon ließ jetzt die preußische Siegessäule, einen mannshohen Obelisken, abmontieren, einpacken und nach Frankreich verschicken, um später sagen zu können, »un nouveau monument de nos triomphes«. Ein neues Denkmal unserer Triumphe. Gleichzeitig erteilte er Künstlern den Auftrag, seine Heldentat zu malen. Historienmaler Pierre Vafflard vergößerte daraufhin die demontierte Säule um ein Mehrfaches. Auf seinem Marsch nach Berlin machte Napoleon auch Station in Potsdam. Er besuchte die Garnisonkirche und hier die Fürstengruft, wo der Sarkophag Friedrichs II. stand. Dann ließ er sich im Potsdamer Stadtschloss die ehemaligen Zimmer des großen Königs zeigen. Und weil er nicht nur sein Bewunderer, sondern auch sein Besieger war, erteilte er den Befehl, neben allen Kunstschätzen auch die Totenmaske Friedrichs II. sowie seinen Degen mit in die Kisten zu packen.
Napoleons Einzug in Berlin am 27. Oktober 1806
Für die große Öffentlichkeit aber inszenierte sich Napoleon erst in Berlin. Der Auftritt vom 27. Oktober 1806 wurde als riesiges Spektakel vorbereitet und später glorifizierend im Historienbild von Charles Meynier festgehalten: Napoleon, der französische Kriegsgott auf seinem glänzenden Schimmel, wie er an der Spitze seiner Truppen durch das lichtdurchflutete Brandenburger Tor einzieht, von der Bevölkerung empfangen mit einer Mischung von Respekt, Verehrung und Furcht. Und über dem Tor: Schadows Quadriga.
Hätten die Fontanes zu diesem Zeitpunkt ihr Haus Lindenstraße 90 bewohnt, sie hätten die Aufregung in der Stadt aus nächster Nähe miterlebt. Tatsächlich glichen die Szenen in den Straßen bald einem Volksfest, denn Sieger und Besiegte begannen gleich ein buntes Feilschen um mitgebrachte Beute. Man trank, man aß und begrub zusammen den altpreußischen Staat.
Napoleon aber bezog für vier Wochen das Berliner Stadtschloss und ließ als ersten Akt seiner Regierung die Quadriga vom Brandenburger Tor abmontieren. Die Empörung, die die Bevölkerung deswegen erfasste, war bewusst provoziert. Gleichzeitig wurde der Stadt Berlin per Dekret die Selbstverwaltung verordnet. So wurden Reformen ins Rollen gebracht, die auf eine moderne Verwaltung und Verfassung zielten. Vorerst aber brachen harte Zeiten an. Verordnet wurde unter anderem die »Beschlagnahmung staatlichen Eigentums und des persönlichen Besitzes der Hohenzollern und anderer Adelsfamilien«. Dazu kam der systematische Abtransport vieler Kunstschätze. Vor allem aber drückten die Berliner die Einquartierungen. Durchziehende französische Truppen wurden vorwiegend in privaten Häusern untergebracht, was für Hausbesitzer eine große Bürde war. Am 21. November 1806 verordnete Napoleon die Kontinentalsperre gegen Großbritannien und zog mit einem Teil seiner Truppen Richtung Warschau weiter.
Der Zusammenbruch des preußischen Staates aber hatte zur Folge, dass jetzt neben Nahrungsmitteln und sicheren Wohnungen auch überall die Gelder fehlten. Und so blieb die Entlöhnung in Schmiedeberg weiterhin aus. Wann genau die Fontanes den Ort wieder verließen und nach Liegnitz zogen, ist nicht bekannt. Im Januar 1807 lebte die Familie jedenfalls in Liegnitz. Hier traf sie ein neuer Schicksalsschlag. »[A]m 24. Januar 1807 […] morgens gegen 8 Uhr verstarb meine liebe Frau Anne-Marie Reimann«, lesen wir in einem Tagebuchblatt von Pierre Barthélemy Fontane. Die Todesursache kennen wir nicht, wissen nur, dass Anna Maria Fontane geb. Reimann in Liegnitz auf dem Friedhof der evangelischen Liebfrauenkirche bestattet wurde.
Pierre Barthélemy Fontane kehrte im Laufe des Jahres 1807 nach Berlin zurück und bezog mit seinen Kindern vorläufig eine Wohnung in der Wilhelmstraße 135. Das Leben in Berlin war unterdessen ein völlig anderes geworden. Am 7. Juli 1807 hatte Napoleon mit Russland den Frieden von Tilsit ausgehandelt und als Siegermacht dem preußischen Staat seine Bedingungen diktiert, abgemildert einzig durch die Fürsprache Russlands und nicht etwa durch die Bitten der Königin Luise. Sie hatte bei dem später berühmt gewordenen Treffen vom 6. Juli 1807 in Tilsit vergeblich um Erbarmen gefleht.
Politisch, militärisch, wirtschaftlich war das besiegte Preußen am Ende. Die Hälfte seiner Gebiete hatte es verloren, die verbliebenen waren besetzt, die Staatskassen leergeraubt, und die Summe der noch zu bezahlenden Kontributionen war schwindelerregend hoch. Das Königspaar und der Hofstaat hatten das Desaster zwar überlebt, aber ihnen war das Exil verordnet, und ein Staatsminister war nur mit dem Segen Napoleons ins Amt einzusetzen. Einzig hier drang Königin Luise durch. Freiherr vom Stein, ihr Favorit, konnte schon am 10. Juli 1807 berufen werden. Während Napoleon in ihm wohl den Garanten dafür sah, dass die hohen Kriegskontributionen gezahlt würden, war diesem das Hauptanliegen, Napoleon entgegenzuarbeiten und gleichzeitig Preußen in einen Verfassungsstaat umzuwandeln. Als Grundbedingung der Erneuerung sah er die Erziehung zur bürgerlichen Selbstständigkeit und zur Mitverantwortung.
Berlin war von den napoleonischen Truppen besetzt, aber Freiherr vom Stein im Amt, als Louis Henri und seine Geschwister ihre schulische Ausbildung in der Hauptstadt fortsetzten. Innerhalb von nur 14 Monaten – dann fiel der neue Staatsminister in Ungnade – wurden erste wichtige Reformen durchgesetzt. Sie führten zu größerer bürgerlicher Freiheit in Handel, Wirtschaft, Bildung und Politik.
Bis die Reformen jedoch griffen, war die Lage für die Berliner Bevölkerung trostlos. Handel und Gewerbe waren zusammengebrochen, der Geld- und Kreditmarkt funktionierte nicht mehr, Pensionen wurden nicht ausgezahlt, es herrschte Arbeitslosigkeit, Hunger, Bettelei, und die Selbstmordrate stieg.
Dass Pierre Barthélemy Fontane in dieser schwierigen allgemeinen Lage dennoch einen Weg fand, sich hochzurappeln, verdankte er seiner eigenen Tatkraft, aber auch guten Beziehungen und glücklichen Konstellationen. Man gab dem ehemaligen Kabinettssekretär das Amt des Kastellans von Schloss Schönhausen. Zwar konnte man ihm die Auszahlung eines Gehalts nicht garantieren, dafür wurde ihm erlaubt, im Schönhauser Kastellanhaus Wohnung zu nehmen und im Kleinen zu verwirklichen, was ihm früher im Großen versagt worden war. Als Verwalter durfte er zwei Kühe halten und Selbstversorgung betreiben. Er verstand es als Rettung in letzter Not. Er habe ja keine Einkünfte mehr gehabt, schrieb er dem König, aber dennoch außerordentlich hohe Ausgaben, verursacht durch »meine Hin- und Rückreise nach Schlesien, die Krankheiten meiner Kinder, de[n] Tod und die Beerdigung meines redlichen Weibes und mein eigenes 4 monathliches Krankenlager«. Er wisse aber, wem er den Dank für die glückliche Wende schulde, nämlich »Ew. Königliche[n] Majestät«, deren »Gnade mich zu retten beschloß«.
Die glückliche Wende hatte aber noch einen anderen Namen. Kurz vor Antritt des neuen Amtes ließ sich Pierre Barthélemy Fontane am 5. März 1808 mit Charlotte Friedericke Werner evangelisch trauen. Sie war die Tochter des 2. Stadt- und Polizeidirektors in Breslau, 29 Jahre alt, und folgte ihm nach Schönhausen.
Schloss Schönhausen, 1787
Das Schloss war einst die Sommerresidenz von Königin Elisabeth Christine gewesen, der Gattin Friedrichs II. Weil dieser sie vom Hofleben ausgeschlossen hatte, war sie nach Schönhausen ausgewichen, wo sie ihr Anwesen zu einem kunstvollen Rokokoschloss hatte ausbauen lassen, um dann schöne, kluge Hofdamen zu engagieren. Alle Mitglieder der königlichen Familie außer dem König selbst verkehrten in jenen Jahren gerne und häufig bei ihr. So auch der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm, der seine Tante besonders verehrte und sich in Schönhausen in ihre schönste Hofdame, Julie von Voß, verliebte. Die Liebesgeschichte spielte vor den Augen des Schönhauser Hofes und hat später Theodor Fontane zu einem seiner bewegendsten Wanderungen-Kapitel inspiriert.
Seine glanzvollste Zeit hatte Schloss Schönhausen mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. erlebt. Denn der frühere Kronprinz hatte wegen Julie weiterhin hier verkehrt, seine Tante, die Königin-Witwe, hatte festliche Bälle gegeben und ihre Gäste mit prächtigen Illuminationen des Schlossparks entzück. Hier also, in Schönhausen, bauten die Fontanes ab Frühjahr 1808 ihre neue Existenz auf. Sie blieben drei Jahre, Jahre, in denen sich alles veränderte und die Zeit des Ancien Régimes endgültig eine versunkene Welt wurde.
Für Pierre Barthélemy Fontane aber blieb sie gewiss lebendig. Es war ja die Zeit, als er Zeichenlehrer der königlichen Kinder gewesen war, der Kinder von König Friedrich Wilhelm II. Vielleicht dass er die jungen Leute damals begleitete, wenn sie ihre verwitwte Großtante in Schönhausen besuchten? Zumindest wird er gewusst haben, wer den Kronprinzen und späteren König nach Schönhausen lockte. Angeregt durch den Ort, so können wir uns denken, wird Pierre Barthélemy Fontane, verantwortlicher Verwalter von Schloss Schönhausen, ins Erzählen geraten sein. Ganz wie jeder Kastellan. Denn, so berichtet Theodor Fontane in den Wanderungen immer wieder, es waren ja die Kastellane, die wussten, wer in diesem oder jenem Schloss gelebt, geliebt, gelitten hatte. So Julie von Voß in Schloss Schönhausen, die König Friedrich Wilhelm II. zur Gräfin Ingenheim erhob, als er mit ihr die Ehe zur linken Hand einging (1787).
Wenn Pierre Barthélemy ins Erzählen geriet, erzählte er wohl auch, wie die schöne Gräfin kurz nach der Geburt ihres Söhnchens im Alter von erst 22 Jahren gestorben war. Und weil er so eindringlich erzählte, wussten Frau und Kinder die Geschichte bald selber weiterzuerzählen. Wir folgern also, dass die tragische Geschichte der schönen Julie in Schönhausen eine der Familiengeschichten wurde, die sich die Fontanes erzählten. Für Theodor Fontane, der von Kind auf in diesen Erzählstrom geriet, wurde sie schließlich zu einer Urzelle der Wanderungen. Es steckt nämlich viel Eigenes in seinem gut recherchierten Kapitel Julie von Voß. Nicht zuletzt das Bekenntnis, dass es in Familien eine besondere Form des Beschweigens gebe. Nachdem er festgestellt hatte, dass Julies Familie der jung Verstorbenen keinen Grabstein hatte setzen lassen, meinte er durchaus mit Verständnis: Das sei ganz »[w]ie in Familien, wo das Lieblingskind starb« und wo dann »Eltern und Geschwister übereinkommen, den Namen desselben nie mehr auszusprechen«.
Seit Napoleons durchziehende Truppen in Schönhausen gelagert hatten, stand das Schloss leer, war vollkommen verwüstet und in einem trostlosen Zustand. Auch das Kastellanhaus, in das die Familie Fontane einzog, war ganz marode. Es musste also dringend etwas geschehen. Aber wo Hilfe finden? Nach dem Bericht von Pierre Barthélemy Fontane brachen immer häufiger Zimmerdecken herunter und stürzten Ziegel vom Dach. Sowohl Sohn Louis Henri als auch die junge Ehefrau und ein Freund hätten bei solchen Zwischenfällen leichtere Verletzungen davongetragen, beklagte sich der besorgte Familienvater. »[…] keine Thüre schließt und paßt, und im feuchten und stürmischen Herbste, werden wir uns für Zug und Näße, welche bei Regenzeit, einem Strome gleich zur Küchenthür herein drängt nicht retten können«, schrieb er empört an den Hofmarschall. Es fehle auch eine funktionierende Heizung, was eine Zumutung sei für Frau und Kinder. Man habe ihm bedeutet, er müsse eben selber für die Kosten der Reparaturen aufkommen, solange der König in Ostpreußen sei. Er sehe jedoch nicht ein, wie er das tun sollte »beim gänzlichen Mangel alles Einkommens«, und erklärte: »Mich in eine Schuldenlast von einigen hundert Thalern zu stürzen, um mir eine Dienstwohnung zu verschaffen, dies verträgt sich nicht, mit den bekannten Gesinnungen der Gerechtigkeit und Billigkeit welche S.M. unserem gnädigsten König eigen sind.«
Es sind dies Zeilen, die mehr nach Bürgerstolz als nach Hofdienst klingen. Hier schrieb ein verantwortungsvoller Paterfamilias, der seiner vorgesetzten Behörde furchtlos entgegentrat und die Sache beim Namen nannte: »[D]enn, wer garantirt […] die Wiedererhaltung dieser Summe, und wer würde sie dann meiner Familie wieder ersetzen, im Falle ich mit Tode abginge?« Ein ganzes Jahr kämpfte er um angemessene Zahlungen. Dann begann sich das Leben in Schönhausen endlich angenehmer zu gestalten, Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten für das Kastellanhaus gingen zügig voran, und das Schloss gewann seinen alten Glanz zurück.
Ab 1810 wurde Schönhausen wieder Sommersitz, jetzt für die Lieblingsschwester des Königs, Prinzessin Wilhelmine, Königin der Niederlande. Was für ein Wiedersehen! Denn Wilhelmine von Preußen war einst Zögling von Pierre Barthélemy Fontane gewesen, hatte also den Unterricht im »Zeichnen und Pastell-Mahlen« bei ihm besucht. Zu seinem Bedauern hatte die begabte junge Frau damals viel zu früh geheiratet. Jetzt kam sie auf Wunsch ihres Bruders in den Sommermonaten zurück in die Heimat und fand in Schönhausen einen reizvollen Rahmen für festliche Einladungen und Empfänge.
Schloss Schönhausen oder Niederschönhausen, wie es auch genannt wurde, lag gut sieben Kilometer außerhalb der Residenzstadt. Für eine Königin mit Apanage war die Fahrt hinaus auf den Landsitz ein Leichtes. Für zwei Jungen, die dieselbe Wegstrecke täglich hin und zurück und in der Regel zu Fuß bewältigen mussten, war es eine Strapaze. Louis Henri Fontane und sein älterer Bruder Charles haben die Strecke zwei Jahre lang regelmäßig zurückgelegt, denn es war ihr Schulweg.
Beide besuchten jetzt das Gymnasium zum Grauen Kloster in der Klosterstraße. Zu Ostern 1810, das lässt sich den überlieferten Schulakten entnehmen, legten die Fontane-Brüder hier ihr Examen ab. Sie müssen gute Schüler gewesen sein, denn laut einer Rangliste aus dem Examensjahr, die 74 Schüler zählte, nahm Charles den zehnten, Louis Henri den vierten Platz ein.
Theodor Fontane, als er im Alter seine Erinnerungen niederschrieb, hat es etwas anders erzählt. Vielleicht weil der Vater ihm gegenüber mit guten schulischen Leistungen nicht hatte renommieren mögen und lieber die Sache anekdotisch gab? Der Sohn jedenfalls wusste die folgende Geschichte: »Es waren harte Schuljahre [für meinen Vater], denn der weite, wenigstens anderthalb Stunden lange Weg nach Berlin erforderte, daß jeden Morgen um spätestens sechs Uhr aufgestanden werden mußte. ›Winters froren wir bitterlich, und es wurde erst besser, als wir, mein älterer Bruder und ich, blaue, mit postorangefarbenem Kattun gefütterte Mäntel als Weihnachtsgeschenk erhielten. Aber es erwuchs uns daraus keine reine Freude. Jedesmal wenn sich der Wind in den mit einem gleichfarbigen Kattun gefütterten großen Kragen setzte, stand uns der postorangefarbene Kragen wie ein Heiligenschein zu Häupten, und der Spott der Straßenjungen war immer hinter uns her.‹«
Wie nebenbei erfahren wir hier, dass Pierre Barthélemy Fontane seine Söhne mit großer Selbstverständlichkeit auf das deutsche, nicht etwa auf das französische Gymnasium schickte, womit ein weiterer Schritt zur Integration getan war. Das entsprach auch ganz dem Zeitgeist. Im Zuge der Reformen, die Staatskanzler Karl August von Hardenberg fortsetzte, nachdem sein Vorgänger hatte zurücktreten müssen, wurden nämlich die Sonderregelungen und Privilegien für die Nachkommen der Réfugiés aufgehoben. Französisch-hugenottische Familien wie die Fontanes waren in Preußen ab 1809 den übrigen Bürgern gesetzlich gleichgestellt. Die Französische Kolonie hatte damit nur noch die Aufsicht über ihre kirchlichen Einrichtungen. Dazu gehörte das Theologische Seminar, in das Louis Henris älterer Bruder Charles übertreten sollte. Der Jüngere aber begann gleich nach dem Osterexamen 1810 eine Lehre als Apotheker.
Zu diesem Zeitpunkt war der Hof wieder zurück aus Memel, und das preußische Königspaar mit seinen Kindern wohnte wieder in Potsdam. Es war ein Festzug gewesen an Weihnachten 1809, wie ihn Preußen noch nie gesehen hatte.
Die letzte Wegstrecke hatte von Werneuchen über Weißensee geführt. Aus zeitgenössischen Erzählungen wissen wir: Kutschen, Wagen, Reiter bildeten den Zug, ganze Regimenter begleiteten ihn, die Bevölkerung säumte die Straßen, die Stadtverordneten gingen dem Zug entgegen, um feierlich und herzlich die Königsfamilie, insbesondere die Königin, zu begrüßen. Der gesamte Magistrat und die kirchlichen Oberbehörden empfingen das Königspaar am Bernauer Tor. Auf Estraden und Gerüsten saßen die Menschen und jubelten. Kanonenschüsse, Glockengeläute, Fahnen. Mittendrin aber oder ein Stück abseits mag auch der Gymnasiast Louis Henri Fontane gestanden haben. Zugleich Freund Napoleons und seiner Generäle.
Ob mit der Rückkehr der Königin ihr ehemaliger Kabinettssekretär wieder nach Potsdam gerufen werden sollte, wissen wir nicht. Die Frage stellte sich auch gar nicht, denn es überstürzten sich die Ereignisse. Im Sommer 1810 erkrankte Königin Luise an einer Lungenentzündung, die auch das Herz in Mitleidenschaft zog. Zur großen Bestürzung aller starb sie am 19. Juli 1810 ganz unerwartet bei einem Besuch ihres Vaters im mecklenburgischen Hohenzieritz. »Die Ärzte sagen, der Polyp im Herzen sei eine Folge zu großen und anhaltenden Kummers«, heißt es im Tagebuch ihrer Oberhofmeisterin Gräfin von Voß (der Tante von Julie von Voß). Auch wenn es keine Quellen gibt, lässt sich gut vorstellen, wie sehr der frühe Tod der Königin die Familie Fontane und insbesondere Pierre Barthélemy erschütterte, war sie doch seine spezielle Gönnerin gewesen.
Der Trauerzug traf am 26. Juli in Berlin ein. Drei Tage wurde die tote Königin im Stadtschloss aufgebahrt. Das ganze Land, so heißt es, war wie erstarrt. Am 30. Juli schließlich fand im Berliner Dom ihre Beisetzung statt. Unter größter Anteilnahme der Bevölkerung. Lehrling Louis Henri Fontane muss alles miterlebt haben, denn die Königlich Privilegierte Elefanten-Apotheke am Dönhoffplatz lag mitten im königlichen Berlin.
Im selben Sommer kehrten die Fontanes zurück in die Stadt und wohnten wieder in der Lindenstraße 90. Die Kastellanstelle hatte der Vater aufgegeben, vermutlich weil er das Familieneinkommen durch Immobilienankäufe und -verkäufe sichern konnte. Louis Henri Fontane konnte also während seiner Apothekerlehrzeit bei den Eltern und Geschwistern leben.
Eine Verlegenheitslösung war seine Berufswahl nicht. Denn wer waren die Fontanes? Sie waren als Strumpfwirker aus Frankreich gekommen, hatten in Berlin über zwei Generationen das Handwerk der Zinngießer ausgeübt, dann war das Porzellan wichtiger geworden, so dass Pierre Barthélemy Fontane schließlich Porzellanmaler geworden war. Er war dann der erste Fontane gewesen, der sich beruflich aus seinem handwerklichen Herkunftsmilieu gelöst und in den königlichen Hofdienst gewechselt hatte. Durch alle vier Generationen aber waren die Fontanes der Familientradition verbunden geblieben, gehörten zur französisch-reformierten Gemeinde und bewohnten über Jahrzehnte das eigene Haus Lindenstraße 90. Zugleich integrierten sie sich in Preußen, nicht zuletzt durch Eheschließung. Es war diese Mischung, die das Besondere ausmachte: Die Fontanes waren stolz auf ihre französisch-hugenottische Herkunft, zugleich hatten sie sich ohne Scheu die deutsche Sprache, Kultur und Lebensweise angeeignet. Handwerklich-künstlerisches Geschick, Sprachgewandtheit und Integrationsfähigkeit zeichneten sie aus. Auch waren sie lebenstüchtig, obgleich diese Tüchtigkeit zuzeiten einherging mit gesundheitlicher Gefährdung. Im Preußen des 18. Jahrhunderts waren sie eine Aufsteigerfamilie geworden, zählten sich zuletzt zum Hofstaat des preußischen Königshauses. Mit der Wende, dem Niedergang Preußens in der Franzosenzeit, vielleicht auch mit dem Tod der Königin Luise, begannen sie sich dann neu zu orientieren und entwickelten ihren größeren Bürger- und Besitzerstolz. Ausdruck dafür ist, dass Louis Henri Fontane eine solide Apothekerlehre absolvierte, mit dem Ziel, dereinst eine eigene Apotheke zu besitzen und zu leiten.
Die preußischen Reformen standen ganz im Zeichen von Napoleons Code civil (1804). Napoleon selber aber bereitete seit 1811 den Krieg gegen Russland vor, das zunehmend von seinem Verbündeten abfiel und sich nicht mehr an der Kontinentalsperre gegen England beteiligte. Im März 1812 marschierten französische Truppen durch Deutschland Richtung Osten. Am 22. Juni erklärte Napoleon Russland den Krieg.