Theorie und Therapie der Neurosen - Viktor E. Frankl - E-Book

Theorie und Therapie der Neurosen E-Book

Viktor E. Frankl

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In diesem Band legt der Verfasser eine systematisierte Neurosenlehre vor, die sich von somatogenen, psychogenen und soziogenen Neurosen bis zu den noogenen Neurosen erstreckt, welche nicht zuletzt auf das weltweit um sich greifende Sinnlosigkeitsgefühl zurückzuführen sind. Die vom Verfasser entwickelte Logotherapie, eine sinn-zentrierte Psychotherapie, findet darüber hinaus auch bei Angst- und Zwangsneurosen in Form der so genannten paradoxen Intention und bei Störungen von Potenz und Orgasmus in Form der "Dereflexion" Anwendung. Sowohl im theoretischen als auch im therapeutischen Teil des Buches werden die Ausführungen mit kasuistischem Material belegt, wobei sich der Verfasser auf empirische und experimentelle Forschungsergebnisse stützt. Das Buch wendet sich an Studenten und Dozenten der klinischen Psychiatrie, Neurologie und Soziologie sowie an in der Praxis stehende Ärzte, Fachärzte und Psychotherapeuten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 417

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



   UTB 457

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Beltz Verlag Weinheim · Basel

Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien

Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills

facultas.wuv Wien

Wilhelm Fink Verlag München

A. Francke Verlag Tübingen und Basel

Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien

Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung Bad Heilbrunn

Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart

Mohr Siebeck Tübingen

C. F. Müller Verlag Heidelberg

Orell Füssli Verlag Zürich

Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main

Ernst Reinhardt Verlag München und Basel

Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich

Eugen Ulmer Verlag Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft Konstanz

Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen

vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

In Memoriam Oswald Schwarz

Viktor E. Frankl (1905–1997) war Begründer der Logotherapie und Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher. Er korrespondierte schon als Schüler mit Sigmund Freud. Als Leiter einer jüdischen Nervenklinik wurde Frankl 1942 von den Nazis verhaftet und bis zum Kriegsende in Konzentrationslagern interniert. Frankl war langjähriger Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und hatte mehrere Professuren in den USA inne. Sein psychotherapeutischer Ansatz, die Logotherapie, wurde auch die „Dritte Wiener Richtung" genannt (nach der Psychoanalyse von Sigmund Freud und der Individualpsychologie von Alfred Adler). Sein UTB-Lehrbuch „Theorie und Therapie der Neurosen" wurde ein Standardwerk. Zahlreiche weitere Bücher, die z. T. in viele Sprachen übersetzt wurden, haben Frankl auch international bekannt gemacht.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

UTB-ISBN 978-3-8252-0457-0

ISBN 978-3-8385-0457-5 (PDF)

ISBN 978-3-8463-0457-0 (EPUB)

© 2007 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: pagina GmbH, Tübingen

Druck: Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-8252-0457-0 (UTB-Bestellnummer)

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorworte

Einleitung

Was ist Logotherapie?

Neurosenlehre und Psychotherapie

Grundriß der Neurosenlehre

I Neurosenlehre als Problem

Zur Definition und Klassifikation neurotischer Erkrankungen

II Neurosenlehre als System

1 Endogene Psychosen

Person und Psychose

Anhang

Psychotherapie bei endogenen Depressionen

2 Psychosomatische Erkrankungen

Kritische Bemerkungen zur Psychosomatischen Medizin

a) Allgemeiner Teil

b) Besonderer Teil

3 Funktionelle Erkrankungen

Somatogene Pseudoneurosen

a) Basedowoide Pseudoneurosen

b) Addisonoide Pseudoneurosen

c) Tetanoide Pseudoneurosen

d) Vegetative Syndrome

4 Reaktive Neurosen

a) Angstneurotische Reaktionsmuster

b) Zwangsneurotische Reaktionsmuster

c) Sexualneurotische Reaktionsmuster

5 Iatrogene Neurosen

6 Psychogene Neurosen

7 Noogene Neurosen

8 Kollektive Neurosen

Logotherapie und Existenzanalyse

A) Logotherapie als spezifische Therapie noogener Neurosen

B) Logotherapie als unspezifische Therapie

C) Paradoxe Intention und Dereflexion

I Paradoxe Intention

1 Therapeutische Technik

2 Klinische Kasuistik

II Dereflexion

1 Erwartungsangst und Beobachtungszwang

2 Klinik der Hyperreflexion und Technik der Dereflexion

Schlafstörungen

D) Ärztliche Seelsorge

E) Existenzanalyse als psychotherapeutische Anthropologie

Zusammenfassung

Anmerkungen

Auswahl aus dem Schrifttum über Logotherapie

Personenregister

Sachregister

Vorwort zur 1. Auflage

Das hiermit vorgelegte Buch ist hervorgegangen aus Vorlesungen, die ich unter dem Titel „Neurosenlehre und Psychotherapie“ bzw. eben „Theorie und Therapie der Neurosen“ an der Universität Wien gehalten hatte. Sie wurden ergänzt aus den Manuskripten von Vorträgen, die ich anderwärts zu halten hatte.

Unter solchen Umständen sind Überschneidungen, ja Wiederholungen zwar unvermeidlich, aber – im Hinblick auf die didaktische Absicht – nicht einmal unerwünscht.

Auf der anderen Seite sind Vernachlässigungen unter solchen Umständen nicht weniger unvermeidlich; denn durch das „weite Land“ der Seele (Arthur Schnitzler) führen viele Wege. Der tatsächlich eingeschlagene ist weder ein willkürlich gewählter noch der einzig mögliche und allein notwendige; aber er führt über jene Standorte und Haltestellen, an denen sich sowohl die Problematik als auch die Systematik aller Neurosentheorie und -therapie auf eine mehr oder weniger neue und fruchtbare Art und Weise einsehen läßt. Videant collegae.

Jede Theorie und Therapie der Neurosen hat sich auf einer Himmelsleiter zu bewegen, die auf dem klinischen Boden steht und dennoch in den metaklinischen Raum hineinreicht. Aus heuristischen Gründen und zu didaktischen Zwecken muß dabei so getan werden, als gäbe es so etwas wie distinkte Sprossen dieser Jakobsleiter: eigentlich gibt es keine rein somatogenen, psychogenen und noogenen Neurosen, vielmehr bloße Mischfälle – Fälle, in denen sich je nachdem ein somatogenes, psychogenes oder noogenes Moment in den Vordergrund theoretischer Ansichten und therapeutischer Absichten schiebt. Solche Reservatio mentalis ist zwischen den Zeilen zu lesen.

V. E. Frankl

Vorwort zur 4. Auflage

Gegenüber den vorangegangenen Auflagen wurde die Neuauflage teils gekürzt, teils erweitert. Erweitert wurde sie nun hauptsächlich um eine verhältnismäßig ausführliche Einleitung, die das vorgelegte Material auf den gegenwärtigen Stand logotherapeutischer Forschung und Praxis anheben sollte. Diese Einleitung ist aus einem Seminar „Theory and Therapy of Neuroses“ hervorgegangen, das ich im Rahmen meiner Professur für Logotherapie an der United States International University in San Diego (Kalifornien) während der Winterquartale der letzten Jahre gehalten hatte.

Ein Wort noch zur Bibliographie, die ja ebenfalls auf den heutigen Stand des logotherapeutischen Schrifttums angehoben wurde. Im Zuge der Revision traten neuere Publikationen an die Stelle älterer Veröffentlichungen. Komplett ist die Bibliographie nur hinsichtlich der Sparten I (Bücher) und III (Dissertationen). In beide Sparten wurden nämlich auch Arbeiten aufgenommen, die entweder in eine Fremdsprache übersetzt oder in einer anderen als der deutschen Sprache publiziert worden waren. Letzteres gilt unter meinen Büchern von den drei Werken „Psychotherapy and Existentialism“, „The Unheard Cry for Meaning“ und „The Will to Meaning“, die englisch geschrieben und nicht ins Deutsche (sondern nur in andere Sprachen) übersetzt wurden – „Der Wille zum Sinn“ ist keine deutsche Fassung von „The Will to Meaning“. Und unter den Dissertationen wurde die Majorität ja ebenfalls englisch geschrieben.

So bleibt mir denn nur noch, meinen seinerzeitigen Assistenten und Studenten zu danken, von denen ich so viel kasuistisches Material benutzen durfte, das die Logotherapie in der Praxis demonstriert.

Wien/San Diego, California im Winter 1974/1975Viktor E. Frankl

Vorwort zur 5. Auflage

Gegenüber der 4. Auflage wurde der Text nur an wenigen Stellen verändert. [...] Die Bibliographie wurde von Grund auf umgearbeitet beziehungsweise auf den neuesten Stand gebracht. Die Literatur mag dem Leser aber auch einen Eindruck vermitteln von dem weltweiten Echo, das die Logotherapie gefunden hat.

Wien, im März 1982Viktor E. Frankl

Einleitung

Was ist Logotherapie?

Bevor wir darangehen, zu sagen, was Logotherapie nun eigentlich ist, empfiehlt es sich, zunächst einmal zu sagen, was sie nicht ist: sie ist keine Panazee! Die Bestimmung der „Methode der Wahl“ in einem gegebenen Falle läuft auf eine Gleichung mit zwei Unbekannten hinaus:

– wobei x für die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Patientenpersönlichkeit steht, und y für die nicht weniger einmalige und einzigartige Persönlichkeit des Therapeuten. Mit anderen Worten, weder läßt sich jede Methode in jedem Falle mit den gleichen Erfolgsaussichten anwenden, noch kann jeder Therapeut jede Methode mit der gleichen Wirksamkeit handhaben. Und was für die Psychotherapie im allgemeinen gilt, gilt im besonderen eben auch für die Logotherapie. Mit einem Wort, unsere Gleichung ließe sich ergänzen, indem wir nunmehr formulieren:

Und doch konnte es Paul E. Johnson einmal wagen, zu behaupten: „Logotherapy is not a rival therapy against others, but it may well be a challenge to them in its plus factor.“ Was diesen Plusfaktor aber ausmachen mag, verrät uns N. Petrilowitsch, wenn er meint, die Logotherapie verbleibe im Gegensatz zu allen anderen Psychotherapien nicht in der Ebene der Neurose, sondern gehe über sie hinaus und stoße in die Dimension der spezifisch humanen Phänomene vor („Über die Stellung der Logotherapie in der klinischen Psychotherapie“, Die medizinische Welt 2790, 1964). Tatsächlich sieht zum Beispiel die Psychoanalyse in der Neurose das Resultat psychodynamischer Prozesse1 und versucht demgemäß, die Neurose dadurch zu behandeln, daß sie neue psychodynamische Prozesse ins Spiel bringt, etwa die Übertragung; die lerntheoretisch engagierte Verhaltenstherapie sieht in der Neurose wieder das Produkt von Lernprozessen oder conditioning processes und bemüht sich dementsprechend, die Neurose dadurch zu beeinflussen, daß sie eine Art Umlernen beziehungsweise reconditioning processes in die Wege leitet. Demgegenüber steigt die Logotherapie in die menschliche Dimension ein und wird solcherart instand gesetzt, die spezifisch humanen Phänomene, auf die sie dort stößt, in ihr Instrumentarium aufzunehmen. Und zwar handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als die zwei fundamental-anthropologischen Charakteristika menschlicher Existenz, die da sind: ihre „Selbst-Transzendenz“ (Viktor E. Frankl, in: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Urban und Schwarzenberg, München 1959), erstens, und, zweitens, die – menschliches Dasein als solches, als menschliches, nicht weniger auszeichnende – Fähigkeit zur „Selbst-Distanzierung“ (Viktor E. Frankl, Der unbedingte Mensch, Franz Deuticke, Wien 1949, Seite 88).

Die Selbst-Transzendenz markiert das fundamental-anthropologische Faktum, daß menschliches Dasein immer auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist, – auf etwas oder auf jemanden, nämlich entweder auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder aber auf mitmenschliches Dasein, dem es begegnet. Wirklich Mensch wird der Mensch also erst dann und ganz er selbst ist er nur dort, wo er in der Hingabe an eine Aufgabe aufgeht, im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergißt. Es ist wie mit dem Auge, das seiner Funktion, die Welt zu sehen, nur in dem Maße nachkommen kann, in dem es nicht sich selbst sieht. Wann sieht denn das Auge etwas von sich selbst? Doch nur, wenn es krank ist: wenn ich an einem grauen Star leide und eine „Wolke“ sehe oder an einem grünen Star leide und ringsum eine Lichtquelle Regenbogenfarben sehe, dann sieht mein Auge etwas von sich selbst, dann nimmt es seine eigene Krankheit wahr. Im gleichen Maße ist dann aber auch mein Sehvermögen gestört.

Ohne die Selbst-Transzendenz mit einzubeziehen in das Bild, das wir uns vom Menschen machen, stehen wir der Massenneurose von heute verständnislos gegenüber. Heute ist der Mensch im allgemeinen nicht mehr sexuell, sondern existentiell frustriert. Heute leidet er weniger an einem Minderwertigkeitsgefühl als vielmehr an einem Sinnlosigkeitsgefühl (Viktor E. Frankl, „The Feeling of Meaninglessness“, The American Journal of Psychoanalysis 32, 85, 1972). Und zwar geht dieses Sinnlosigkeitsgefühl für gewöhnlich mit einem Leeregefühl einher, mit einem „existentiellen Vakuum“ (Viktor E. Frankl, Pathologie des Zeitgeistes, Franz Deuticke, Wien 1955). Und es läßt sich nachweisen, daß dieses Gefühl, das Leben habe keinen Sinn mehr, um sich greift. Alois Habinger konnte anhand einer identischen Population von einem halben Tausend Lehrlingen nachweisen, daß das Sinnlosigkeitsgefühl in wenigen Jahren auf mehr als das Doppelte angestiegen war (persönliche Mitteilung). Kratochvil, Vymetal und Kohler haben darauf hingewiesen, daß sich das Sinnlosigkeitsgefühl keineswegs auf kapitalistische Länder beschränkt, vielmehr auch in kommunistischen Staaten bemerkbar macht, in die es „ohne Visum“ eingedrungen sei. Und den Hinweis darauf, daß es bereits in den Entwicklungsländern zu beobachten ist, verdanken wir L. L. Klitzke („Students in Emerging Africa – Logotherapy in Tanzania“, American Journal of Humanistic Psychology 9, 105, 1969) und Joseph L. Philbrick.

Fragen wir uns, was das existentielle Vakuum bewirkt und verursacht haben mag, so bietet sich folgende Erklärung an: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte und Triebe, was er tun muß. Und im Gegensatz zu früheren Zeiten sagen ihm heute keine Traditionen mehr, was er tun soll. Weder wissend, was er muß, noch wissend, was er soll, weiß er aber auch nicht mehr recht, was er eigentlich will. Und die Folge? Entweder er will nur das, was die anderen tun, und das ist Konformismus. Oder aber umgekehrt: er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen. Und da haben wir den Totalitarismus. Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine weitere Folgeerscheinung des existentiellen Vakuums, und das ist ein spezifischer Neurotizismus, nämlich die „noogene Neurose“ (Viktor E. Frankl, „Über Psychotherapie“, Wiener Zeitschrift für Nervenheilkunde 3, 461, 1951), die ätiologisch auf das Sinnlosigkeitsgefühl zurückzuführen ist, auf den Zweifel an einem Lebenssinn beziehungsweise auf die Verzweiflung, daß es einen solchen Sinn überhaupt gibt.2

Womit nicht gesagt sein soll, daß diese Verzweiflung an sich schon pathologisch ist. Nach dem Sinn seines Daseins zu fragen, ja diesen Sinn überhaupt in Frage zu stellen ist eher eine menschliche Leistung denn ein neurotisches Leiden; zumindest manifestiert sich darin geistige Mündigkeit: nicht mehr wird ein Sinnangebot kritiklos und fraglos, also unreflektiert übernommen, aus den Händen der Tradition, sondern Sinn will unabhängig und selbständig entdeckt und gefunden werden. Auf die existentielle Frustration ist daher das medizinische Modell von vornherein nicht anwendbar. Wenn überhaupt eine Neurose, dann ist die existentielle Frustration eine soziogene Neurose. Ist es doch ein soziologisches Faktum, nämlich der Traditionsverlust, der den Menschen von heute so sehr existentiell verunsichert.

Es gibt auch maskierte Formen der existentiellen Frustration. Ich erwähne nur die sich namentlich in der akademischen Jugend häufenden Fälle von Selbstmord3, die Drogenabhängigkeit, den so verbreiteten Alkoholismus und die zunehmende (Jugend-)Kriminalität. Heute läßt sich unschwer nachweisen, wie sehr die existentielle Frustration da mit im Spiel ist. Steht uns doch in Form des von James C. Crumbaugh entwickelten PIL-Tests (erhältlich durch Psychometric Affiliates, 1620 East Main Street, Murfreesboro, Tennessee 37130, USA) ein Meßinstrument zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich der Grad der existentiellen Frustration quantifizieren läßt, und neuerdings hat Elisabeth S. Lukas mit ihrem Logo-Test einen weiteren Beitrag zur exakten und empirischen Logotherapieforschung geleistet (Zur Validierung der Logotherapie, in: Viktor E. Frankl, Der Wille zum Sinn, Hans Huber, Bern 1982).4

Was die Selbstmorde anlangt, wurden von der Idaho State University 60 Studenten unter die Lupe genommen, die Selbstmord versucht hatten, und in 85% ergab sich, „life meant nothing to them“ (das Leben hatte für sie keinen Sinn). Es ließ sich nun feststellen, daß von diesen an einem Sinnlosigkeitsgefühl leidenden Studenten 93% sich in einem ausgezeichneten physischen Gesundheitszustand befanden, im gesellschaftlichen Leben aktiv engagiert waren, hinsichtlich ihres Studiums ausgezeichnet abgeschnitten hatten und mit ihrer Familie in gutem Einvernehmen lebten. (Persönliche Mitteilung von Vann A. Smith.)

Nun zur Drogenabhängigkeit. William J. Chalstrom, der Direktor eines Naval Drug Rehabilitation Center, steht nicht an zu behaupten: „more than 60% of our patients complain that their lives lack meaning“ (persönliche Mitteilung). Betty Lou Padelford (Dissertation, United States International University, 1973) konnte statistisch nachweisen, daß es keineswegs das in diesem Zusammenhang von psychoanalytischer Seite inkriminierte „weak father image“ ist, das der Drogenabhängigkeit zugrunde liegt, vielmehr ließ sich anhand der von ihr getesteten 416 Studenten der Nachweis erbringen, daß der Grad der existentiellen Frustration signifikant mit dem drug involvement index korrelierte: der letztere betrug in den existentiell nicht frustrierten Fällen durchschnittlich 4,25, während er in den existentiellen frustrierten Fällen auf durchschnittlich 8,90, also mehr als das Doppelte, hinaufschnellte. Diese Forschungsergebnisse stimmen auch mit den von Glenn D. Shean und Freddie Fechtman erhobenen Befunden überein („Purpose in Life Scores of Student Marihuana Users“, Journal of Clinical Psychology 27, 112, 1971).

Es versteht sich von selbst, daß eine die existentielle Frustration als ätiologischen Faktor berücksichtigende und mittels einer logotherapeutischen Intervention ausräumende Rehabilitation Erfolg verspricht. So kommt es denn, daß laut Medical Tribune (Jahrgang 3, Nr. 19, 1971) von 36 Drogenabhängigen, die von der Universitätsnervenklinik Wien betreut wurden, nach einer Behandlungsdauer von 18 Monaten nur 2 sicher drogenfrei waren – was auf einen Prozentsatz von 5,5 hinausläuft. In der Deutschen Bundesrepublik können von „allen drogenabhängigen Jugendlichen, die ärztlich behandelt werden, mit einer Heilung weniger als 10% rechnen“ (Österreichische Ärztezeitung, 1973). In den USA sind es durchschnittlich 11%. Alvin R. Fraiser geht jedoch in dem von ihm geleiteten kalifornischen Narcotic Addict Rehabilitation Center logotherapeutisch vor und kann mit einem Prozentsatz von 40 aufwarten.

Vom Alkoholismus gilt Analoges. Unter schweren Fällen von chronischem Alkoholismus ließ sich feststellen, daß 90% an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl litten (Annemarie von Forstmeyer, The Will to Meaning as a Prerequisite for Self-Actualization, Dissertation, California Western University, 1968). Kein Wunder, daß James C. Crumbaugh auf Grund von Tests den Erfolg der Gruppenlogotherapie in Fällen von Alkoholismus objektivieren und, ihn mit dem Erfolg anderer Behandlungsmethoden vergleichend, feststellen konnte: „only logotherapy showed a statistically significant improvement“ („Changes in Frankl's Existential Vacuum as a Measure of Therapeutic Outcome“, Newsletter for Research in Psychology 14, 35, 1972).

Hinsichtlich der Kriminalität haben W. A. M. Black und R. A. M. Gregson von einer Universität in Neuseeland herausgefunden, daß Kriminalität und Lebenssinn in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stehen. Wiederholt in Gefängnisse eingelieferte Häftlinge unterschieden sich, gemessen am Lebenssinn-Test von Crumbaugh, von der durchschnittlichen Bevölkerung im Verhältnis von 86 zu 115. („Purpose in Life and Neuroticism in New Zealand Prisoners“, Br. J. soc. clin. Psychol. 12, 50, 1973.)

Wie Verhaltensforscher aus der Schule Konrad Lorenz nachweisen konnten, wird Aggressivität, die – etwa auf dem Fernsehschirm – auf harmlose Objekte abgelenkt und an ihnen abreagiert werden soll, in Wirklichkeit überhaupt erst provoziert und, wie ein Reflex, solcherart nur noch mehr gebahnt. Allgemeiner faßt sich die Soziologin Carolyn Wood Sherif von der Pennsylvania State University:

„There is a substantial body of research evidence that the successful execution of aggressive actions, far from reducing subsequent aggression, is the best way to increase the frequency of aggressive responses (Scott, Berkowitz, Pandura, Ross und Walters). Such studies have included both animal and human behavior.“ (Intergroup Conflict and Competition: Social-Psychological Analysis. Vortrag, Scientific Congress, XX. Olympiade, München, 22.8.1972.)

Des weiteren berichtete Professor Sherif aus den Vereinigten Staaten, daß die volkstümliche Vorstellung, der sportliche Wettkampf sei ein Ersatzkrieg ohne Blutvergießen, falsch ist: Drei Gruppen Jugendlicher in einem abgeschlossenen Camp hätten gerade durch sportliche Wettkämpfe Aggressionen gegeneinander aufgebaut, statt sie abzubauen. Die Pointe kommt aber erst: Ein einziges Mal waren unter den Lagerinsassen die gegenseitigen Aggressionen wie hinweggefegt, und das war der Fall, als die jungen Leute einen im lehmigen Boden steckengebliebenen Karren, mit dem die Lebensmittel in das Lager transportiert werden sollten, mobilisieren muß-ten; die wenn auch anstrengende, so doch sinnvolle „Hingabe an eine Aufgabe“5 hatte sie ihre Aggressionen buchstäblich „vergessen“ lassen. (Viktor E. Frankl, Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Hans Huber, Bern 1974.)

Damit stehen wir auch schon vor den Möglichkeiten einer logotherapeutischen Intervention, die ja als solche, als logotherapeutische, auf eine Überwindung des Sinnlosigkeitsgefühls durch die Ingangsetzung von Sinnfindungsprozessen abzielt. Tatsächlich konnte Louis S. Barber an dem von ihm geleiteten Rehabilitationszentrum für Kriminelle binnen 6 Monaten den auf Grund von Tests ermittelten Pegel erlebter Sinnerfüllung von 86,13 auf 103,46 erhöhen, indem er das Rehabilitationszentrum zu einer „logotherapeutischen Umwelt“ ausgestaltete. Und während die durchschnittliche Rückfallsrate in den USA 40% beträgt, konnte Barber mit einem Prozentsatz von 17 aufwarten.6

Nach Besprechung der vielfachen und vielfältigen Erscheinungs- und Ausdrucksformen existentieller Frustration hätten wir uns nun zu fragen, wie muß die Verfassung menschlichen Daseins beschaffen sein – was ist die ontologische Voraussetzung dafür, daß sagen wir die 60 Studenten, die von der Idaho State University untersucht wurden, ohne Vorliegen irgendwelcher psychophysischer oder sozioökonomischer Gründe Selbstmord versuchen konnten. Mit einem Wort, wie muß menschliches Dasein konstituiert sein, daß so etwas wie existentielle Frustration überhaupt möglich ist. Mit anderen Worten – mit den Worten von Kant, wir fragen nach der „Bedingung der Möglichkeit“ von existentieller Frustration, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß der Mensch so strukturiert ist – daß seine Verfassung so ist, daß er ohne Sinn eben einfach nicht auskommt. Mit einem Wort, die Frustration eines Menschen läßt sich nur verstehen, wenn wir seine Motivation verstehen. Und die ubiquitäre Präsenz des Sinnlosigkeitsgefühls mag uns als Indikator dienen, wo es darum geht, die primäre Motivation zu finden – das, was der Mensch letztlich will.

Die Logotherapie lehrt, daß der Mensch im Grunde eben von einem „Willen zum Sinn“ (Viktor E. Frankl, Der unbedingte Mensch, Franz Deuticke, Wien 1949) durchdrungen ist. Diese ihre Motivationstheorie aber läßt sich noch vor deren empirischer Verifizierung und Validierung auch operational definieren, indem wir folgende Erklärung abgeben: Willen zum Sinn nennen wir einfach das, was da im Menschen frustriert wird, wann immer er dem Sinnlosigkeits- und Leeregefühl anheimfällt.

James C. Crumbaugh und Leonard T. Maholick (Eine experimentelle Untersuchung im Bereich der Existenzanalyse: Ein psychometrischer Ansatz zu Viktor Frankls Konzept der „noogenen Neurose“, in: Die Sinnfrage in der Psychotherapie, herausgegeben von Nikolaus Petrilowitsch, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1972) haben sich ebenso wie Elisabeth S. Lukas (Logotherapie als Persönlichkeitstheorie, Dissertation, Wien 1971) anhand Tausender Versuchspersonen um die empirische Grundlegung der Lehre vom Willen zum Sinn bemüht. Inzwischen werden immer mehr Statistiken bekannt, aus denen die Legitimität unserer Motivationstheorie hervorgeht. Aus der Fülle des in letzter Zeit angefallenen Materials greife ich nur die Ergebnisse eines Forschungsprojekts heraus, das vom American Council on Education gemeinsam mit der University of California in Angriff genommen worden war. Unter 189.733 Studenten an 360 Universitäten galt das primäre Interesse von 73,7% – es handelt sich um den höchsten Prozentsatz! – einem einzigen Ziele: „developing a meaningful philosophy of life“ – sich zu einer Weltanschauung durchringen, von der aus das Leben sinnvoll ist. Der Bericht wurde 1974 veröffentlicht. 1972 waren es nur 68,1% gewesen (Robert L. Jacobson, The Chronicle of Higher Education).

Es darf hier aber auch auf das Ergebnis einer 2jährigen statistischen Untersuchung verwiesen werden, die von der höchsten Instanz psychiatrischer Forschung in den USA, nämlich dem National Institute of Mental Health, veröffentlicht wurde und aus der hervorgeht, daß 7.948 Studenten, die an 48 amerikanischen Hochschulen befragt worden waren, etwa zu 16% ihr Ziel darin sahen, „to make a lot of money“ – möglichst viel Geld zu machen; während die Spitzengruppe – es handelte sich um 78% – eines wollten: „to find a meaning and purpose to my life“ – in ihrem Leben einen Sinn finden.

Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, was wir gegenüber der existentiellen Frustration, also der Frustration des Willens zum Sinn, und gegenüber der noogenen Neurose unternehmen können – war doch soeben von Sinngebung die Rede. Nun, eigentlich läßt sich Sinn gar nicht geben, und am allerwenigsten kann der Therapeut ihn geben – dem Leben des Patienten einen Sinn geben oder diesen Sinn dem Patienten mit auf den Weg geben. Sondern Sinn muß gefunden werden, und er kann jeweils nur von einem selbst gefunden werden. Und zwar wird dieses Geschäft vom eigenen Gewissen besorgt. In diesem Sinne haben wir das Gewissen als das „Sinn-Organ“ bezeichnet (Viktor E. Frankl, Logotherapie und Religion, in: Psychotherapie und religiöse Erfahrung, herausgegeben von Wilhelm Bitter, Ernst Klett, Stuttgart 1965). Sinn läßt sich also nicht verschreiben; aber was wir sehr wohl zu tun vermöchten, ist eine Beschreibung dessen, was da im Menschen vorgeht, wann immer er auf die Suche nach Sinn geht. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Sinnfindung auf eine Gestaltwahrnehmung hinausläuft – ganz im Sinne von Max Wertheimer und Kurt Lewin, die bereits von einem „Aufforderungscharakter“ sprechen, der bestimmten Situationen innewohne. Nur daß es sich bei einer Sinngestalt nicht um eine „Figur“ handelt, die uns vor einem „Hintergrund“ in die Augen springt, sondern was bei der Sinnfindung jeweils wahrgenommen wird, ist – auf dem Hintergrund der Wirklichkeit – eine Möglichkeit: die Möglichkeit, die Wirklichkeit – so oder so – zu verändern.

Nun zeigt sich, daß der schlichte und einfache Mensch – also nicht einer, der jahrelanger Indoktrination ausgesetzt war, sei es als Student auf akademischem Boden, sei es als Patient auf analytischer Couch – es zeigt sich, daß der schlichte und einfache Mensch immer schon darum weiß, auf welchen Wegen sich Sinn finden – das Leben mit Sinn erfüllen läßt. Nämlich zunächst einmal dadurch, daß wir eine Tat setzen oder ein Werk schaffen, also schöpferisch. Aber auch durch ein Erlebnis, also dadurch, daß wir etwas erleben – etwas oder jemanden, und jemanden in seiner ganzen Einmaligkeit und Einzigartigkeit erleben heißt ihn lieben. Aber das Leben erweist sich als bedingungslos sinnvoll, es bleibt sinnvoll – es hat Sinn und behält ihn – unter allen Bedingungen und Umständen. Denn kraft eines präreflexiven ontologischen Selbst-Verständnisses, aus dem sich eine ganze Axiologie destillieren läßt, weiß der Mann von der Straße nicht zuletzt auch7 darum, daß er auch noch dann, ja gerade dann, wenn er mit einem unabänderlichen Faktum konfrontiert ist, eben in der Bewältigung dieser Situation sein Menschsein bewähren – Zeugnis davon ablegen kann, wessen der Mensch fähig ist. Was dann zählt, ist also die Haltung und Einstellung, mit der er die unausweichlichen Schicksalsschläge des Lebens abfängt. Diesem Leben Sinn abzuringen und abzugewinnen, ist dem Menschen also bis zu seinem letzten Atemzug vergönnt und verstattet.

Diese im Rahmen der Logotherapie ursprünglich intuitiv entwickelte Logo-Theorie – die Lehre von den ursprünglich so benannten „schöpferischen, Erlebnis- und Einstellungswerten“ (Viktor E. Frankl, „Zur geistigen Problematik der Psychotherapie“, Zentralblatt für Psychotherapie 10, 33, 1938) – wurde inzwischen empirisch verifiziert und validiert. So konnten Brown, Casciani, Crumbaugh, Dansart, Durlak, Kratochvil, Lukas, Lunceford, Mason, Meier, Murphy, Planova, Popielski, Richmond, Roberts, Ruch, Sallee, Smith, Yarnell und Young nachweisen, daß Sinnfindung und -erfüllung unabhängig sind vom jeweiligen Alter und Bildungsgrad und vom männlichen beziehungsweise weiblichen Geschlecht, aber auch davon, ob jemand religiös beziehungsweise irreligiös ist, und, wenn er sich zur Religion bekennt, unabhängig von der Konfession, zu der er sich bekennt. Und dasselbe gilt vom IQ. (Viktor E. Frankl, Der unbewußte Gott, Kösel-Verlag, München 1974.) Zuletzt konnte Bernard Dansart mit Hilfe eines von ihm entwickelten Tests die Einführung des Begriffs „Einstellungswerte“ empirisch legitimieren (Development of a Scale to Measure Attitudinal Values as Defined by Viktor Frankl, Dissertation, Northern Illinois University, 1974).

Wie sieht nun die Nutzanwendung dieser Logo-Theorie in der Praxis aus? In diesem Zusammenhang möchte ich den Fall einer Krankenschwester zitieren, die mir im Rahmen eines Seminars, das ich für das Department of Psychiatry an der Stanford University zu halten hatte, vorgestellt wurde:

Diese Patientin litt an einem nicht operierbaren Krebs, und sie wußte darum. Weinend trat sie ins Zimmer, in dem die Stanford-Psychiater versammelt waren, und mit von Tränen erstickter Stimme sprach sie von ihrem Leben, von ihren begabten und erfolgreichen Kindern und davon, wie schwer es ihr nun falle, von alledem Abschied zu nehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich, offen gesagt, noch keinen Ansatzpunkt gefunden, um logotherapeutisches Gedankengut in die Diskussion zu werfen. Nunmehr ließ sich das in ihren Augen Negativste, daß sie das für sie Wertvollste in der Welt zurücklassen muß, in etwas Positives umsetzen, als etwas Sinnvolles verstehen und deuten: Ich brauchte sie nur zu fragen, was denn eine Frau sagen soll, die keine Kinder hätte. Ich sei zwar überzeugt, daß auch das Leben einer kinderlos gebliebenen Frau keineswegs sinnlos bleiben muß. Aber ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß eine solche Frau zunächst einmal verzweifelt, weil eben nichts und niemand da ist, den sie „in der Welt zurücklassen muß“, wenn es dazu kommt, von der Welt Abschied zu nehmen. In diesem Augenblick hellten sich die Züge der Patientin auf. Plötzlich war sie sich dessen bewußt, daß es nicht darauf ankommt, ob wir Abschied nehmen müssen, denn früher oder später muß es jeder von uns. Sehr wohl kommt es aber darauf an, ob überhaupt etwas existiert, von dem wir Abschied nehmen müssen. Etwas, was wir in der Welt zurücklassen können, mit dem wir einen Sinn und uns selbst erfüllen an dem Tag, an dem sich unsere Zeit erfüllt. Es läßt sich kaum beschreiben, wie erleichtert die Patientin war, nachdem das sokratische Gespräch zwischen uns eine kopernikanische Wendung genommen hatte.

Ich möchte nun dem logotherapeutischen Stil einer Intervention den psychoanalytischen gegenüberstellen, wie er aus einer Arbeit von Edith Weisskopf-Joelson (einer amerikanischen Anhängerin der Psychoanalyse, die sich heute zur Logotherapie bekennt) hervorgeht:

„Die demoralisierende Wirkung der Verleugnung eines Lebenssinns, vor allem des tiefen Sinnes, der potentiell dem Leiden innewohnt, läßt sich anhand einer Psychotherapie illustrieren, die ein Freudianer einer Frau zuteil werden ließ, die an einem unheilbaren Krebs litt.“ Und Weisskopf-Joelson läßt K. Eissler zu Wort kommen: „Sie verglich die Sinnfülle ihres früheren Lebens mit der Sinnlosigkeit der gegenwärtigen Phase; aber selbst jetzt, wo sie nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten konnte und sich für viele Stunden am Tag hinlegen mußte, sei ihr Leben trotzdem sinnvoll, meinte sie, und zwar insofern, als ihr Dasein für ihre Kinder wichtig war und sie selbst so eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Wenn sie aber einmal ins Spital eingeliefert würde, ohne Aussicht, jemals nach Hause zurückkehren zu können, und nicht mehr fähig, das Bett zu verlassen, würde aus ihr ein Klumpen nutzlosen faulenden Fleisches werden und ihr Leben jeden Sinn verlieren. Zwar war sie bereit, alle Schmerzen so lange zu ertragen, als dies noch irgendwie sinnvoll wäre; aber wozu wollte ich sie dazu verurteilen, ihre Leiden zu einer Zeit zu erdulden, zu der das Leben längst keinen Sinn mehr hätte? Daraufhin erwiderte ich, daß sie meines Erachtens einen groben Fehler begehe; denn ihr ganzes Leben sei sinnlos und von jeher sinnlos gewesen, noch bevor sie jemals erkrankt wäre. Einen Sinn des Lebens zu finden, sagte ich, hätten die Philosophen noch immer vergeblich versucht, und so bestehe denn auch der Unterschied zwischen ihrem früheren und ihrem gegenwärtigen Leben einzig und allein darin, daß sie in dessen früherer Phase an einen Sinn des Lebens noch zu glauben vermochte, während sie in der gegenwärtigen Phase eben nicht mehr imstande war, es zu tun. In Wirklichkeit, schärfte ich ihr ein, seien beide Phasen ihres Lebens ganz und gar sinnlos gewesen. Auf diese Eröffnung hin reagierte die Patientin, indem sie ratlos war, mich nicht recht zu verstehen vorgab und in Tränen ausbrach.“8

Eissler gab der Patientin nicht etwa den Glauben, daß auch noch das Leiden einen Sinn haben kann, sondern er nahm ihr auch noch den Glauben, daß das ganze Leben auch nur den geringsten Sinn haben könnte. Fragen wir uns aber nicht nur, wie ein Psychoanalytiker, sondern auch, wie ein Verhaltenstherapeut Fällen von menschlicher Tragik wie dem bevorstehenden eigenen Tod oder dem Tode eines anderen gegenübertritt. Einer der repräsentativsten Vertreter der lerntheoretisch begründeten Verhaltensmodifikation läßt es uns wissen: In solchen Fällen „sollte der Patient telephonische Anrufe besorgen, auf der Wiese das Gras mähen oder Geschirr waschen, und diese Betätigungen sollten vom Therapeuten gelobt oder anderweitig belohnt werden.“9

Wie sollte auch eine Psychotherapie, die ihr Menschenverständnis von Rattenexperimenten bezieht, mit dem fundamental-anthropologischen Faktum fertig werden, daß der Mensch einerseits mitten in der Überflußgesellschaft Selbstmord begeht und andererseits bereit ist zu leiden, vorausgesetzt, daß sein Leiden Sinn hat? Vor mir liegt der Brief eines jungen Psychologen, der mir schildert, wie er versucht habe, seine sterbende Mutter innerlich aufzurichten.“ Es war eine bittere Erkenntnis für mich“, – schreibt er dann – „daß ich nichts von all dem, das ich in 7 langen Jahren Studiums gelernt hatte, verwenden konnte, um meiner Mutter die Härte und Endgültigkeit ihres Schicksals zu erleichtern“ – nichts, als was er während seiner anschließenden logotherapeutischen Ausbildung gelernt hatte „vom Sinn des Leidens und von der reichen Ernte in die Geborgenheit der Vergangenheit“. Und angesichts dessen habe er sich eingestehen müssen, daß diese „teilweise unwissenschaftlichen, jedoch weisen Argumente in letzter menschlicher Instanz das höhere Gewicht besitzen“.

Inzwischen dürfte klargeworden sein, daß nur eine Psychotherapie, die es wagt, über Psychodynamik und Verhaltensforschung hinauszugehen und in die Dimension der spezifisch humanen Phänomene einzusteigen, mit einem Wort, daß nur eine rehumanisierte Psychotherapie imstande sein wird, die Zeichen der Zeit zu verstehen und den Nöten der Zeit sich zu stellen. Mit anderen Worten, es dürfte inzwischen klargeworden sein, daß wir, um die existentielle Frustration oder gar eine noogene Neurose auch nur zu diagnostizieren, im Menschen ein Wesen sehen müssen, das – kraft seiner Selbst-Transzendenz – ständig auf der Suche nach Sinn ist. Was aber nicht die Diagnose, sondern die Therapie anlangt, und zwar nicht die Therapie der noogenen, sondern die Therapie der psychogenen Neurose, müssen wir, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, auf die den Menschen nicht weniger auszeichnende Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung zurückgreifen, und ihr begegnen wir nicht zuletzt in Form seiner Fähigkeit zum Humor. Eine humane, eine humanisierte, eine rehumanisierte Psychotherapie setzt also voraus, daß wir die Selbst-Transzendenz in den Blick bekommen und die Selbst-Distanzierung in den Griff bekommen. Beides ist aber nicht möglich, wenn wir im Menschen ein Tier sehen. Kein Tier schert sich um den Sinn des Lebens, und kein Tier kann lachen. Damit ist nicht gesagt, daß der Mensch nur Mensch und nicht auch Tier ist. Die Dimension des Menschen ist ja gegenüber der Dimension des Tieres die höhere, und das heißt, daß sie die niedrigere Dimension einschließt. Die Feststellung spezifisch humaner Phänomene im Menschen und die gleichzeitige Anerkennung subhumaner Phänomene an ihm widersprechen einander also gar nicht, denn zwischen dem Humanen und dem Subhumanen besteht ja kein Ausschließlichkeits-, sondern – wenn ich so sagen darf – ein Einschließlichkeitsverhältnis.

Es ist nun genau das Anliegen der logotherapeutischen Technik der paradoxen Intention, die Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung im Rahmen der Behandlung der psychogenen Neurose zu mobilisieren, während einer weiteren logotherapeutischen Technik, der Dereflexion, das andere fundamental-anthropologische Faktum, nämlich die Selbst-Transzendenz, zugrunde liegt. Um diese beiden Behandlungsmethoden zu verstehen, müssen wir aber von der Neurosentheorie der Logotherapie ausgehen.

Wir unterscheiden da drei pathogene Reaktionsmuster. Das erste läßt sich folgendermaßen beschreiben: Der Patient reagiert auf ein gegebenes Symptom (Abbildung 1) mit der Befürchtung, es könnte wieder auftreten, also mit Erwartungsangst, und diese Erwartungsangst bringt es mit sich, daß das Symptom dann auch wirklich wieder auftritt – ein Ereignis, das den Patienten in seiner ursprünglichen Befürchtung nur bestärkt.

Nun kann das, vor dessen Wiederauftreten der Patient solche Angst hat, unter Umständen auch die Angst sein. Unsere Patienten sprechen da von einer „Angst vor der Angst“, und zwar ganz spontan. Und wie wird diese Angst von ihnen motiviert? Nun, für gewöhnlich fürchten sie sich vor dem Ohnmächtigwerden, vor einem Herzinfarkt oder davor, daß sie der Schlag treffen könnte. Wie reagieren sie aber auf ihre Angst vor der Angst? Mit Flucht. Sie vermeiden es etwa, das Haus zu verlassen. Tatsächlich ist die Agoraphobie das Paradigma dieses ersten, des angstneurotischen Reaktionsmusters.

Abb. 1

Warum soll dieses Reaktionsmuster aber „pathogen“ sein? Auf einem auf Einladung der American Association for the Advancement of Psychotherapy gehaltenen Vortrag (New York, 26.2.1960) haben wir es folgendermaßen formuliert: „Phobias and obsessive-compulsive neuroses are partially due to the endeavor to avoid the Situation in which anxiety arises.“ (Viktor E. Frankl, „Paradoxical Intention: A Logotherapeutic Technique“, American Journal of Psychotherapy 14, 520, 1960.) Diese unsere Auffassung jedoch, daß die Flucht vor der Angst durch das Vermeiden der die Angst auslösenden Situation für die Perpetuierung des angstneurotischen Reaktionsmusters so entscheidend ist, – diese unsere Auffassung ist inzwischen auch von verhaltenstherapeutischer Seite wiederholt bestätigt worden. So sagt I. M. Marks („The Origins of Phobic States“, American Journal of Psychotherapy 24, 652, 1970): „The phobia is maintained by the anxiety reducing mechanism of avoidance.“ Wie denn überhaupt nicht zu verkennen ist, daß die Logotherapie vieles vorweggenommen hat, das später von der Verhaltenstherapie auf eine solide experimentelle Grundlage gestellt wurde. War es doch bereits 1947, daß wir folgende Ansicht vertraten:

„Bekanntlich kann man die Neurose in einem gewissen Sinne und mit einem gewissen Recht auch als bedingten Reflex-Mechanismus auffassen. Allen vornehmlich analytisch orientierten seelenärztlichen Behandlungsmethoden geht es dann vorwiegend darum, die primären Bedingungen des bedingtes Reflexes, nämlich die äußere und innere Situation des erstmaligen Auftretens eines neurotischen Symptoms, bewußtseinsmäßig zu erhellen. Wir aber sind der Ansicht, daß die eigentliche Neurose – die manifeste, die bereits fixierte – nicht nur durch ihre primäre Bedingung verursacht ist, sondern durch ihre (senkundäre) Bahnung. Gebahnt jedoch wird der bedingte Reflex, als welchen wir das neurotische Symptom jetzt aufzufassen versuchen, durch den Circulus vitiosus der Erwartungsangst! Wollen wir demnach einen eingeschliffenen Reflex sozusagen entbahnen, dann gilt es allemal, die Erwartungsangst zu beseitigen, und zwar in jener angegebenen Art und Weise, als deren Prinzip wir die paradoxe Intention hingestellt haben“ (Viktor E. Frankl, Die Psychotherapie in der Praxis, Franz Deuticke, Wien 1947).

Abb. 2

Das zweite pathogene Reaktionsmuster ist nun nicht in angstneurotischen, sondern in zwangsneurotischen Fällen zu beobachten. Der Patient steht unter dem Druck (Abbildung 2) der auf ihn einstürmenden Zwangsvorstellungen und reagiert auf sie, indem er sie zu unterdrücken versucht. Er sucht also, einen Gegendruck auszuüben. Dieser Gegendruck aber ist es, was den ursprünglichen Druck nur erhöht. Wieder schließt sich der Kreis, und wieder schließt sich der Patient in diesen Teufelskreis ein. Was die Zwangsneurose charakterisiert, ist aber nicht, wie im Falle der Angstneurose, eine Flucht, sondern der Kampf, das Ankämpfen gegen die Zwangsvorstellungen. Wieder hätten wir uns zu fragen, was ihn dazu bewegt und veranlaßt. Und es stellt sich heraus, daß sich der Patient entweder davor fürchtet, die Zwangsvorstellungen könnten mehr als eine Neurose sein, indem sie eine Psychose signalisieren. Oder der Patient fürchtet sich davor, er könnte Zwangsvorstellungen kriminellen Inhalts in die Tat umsetzen, indem er jemandem etwas antut – jemandem oder sich selbst. So oder so: Der an einer Zwangsneurose leidende Patient hat nicht Angst vor der Angst selbst, sondern Angst vor sich selbst.

Es ist nun die Aufgabe der paradoxen Intention, die beiden Zirkelmechanismen zu sprengen, aufzubrechen, aus den Angeln zu heben. Und zwar geschieht das, indem den Befürchtungen des Patienten der Wind aus den Segeln genommen wird, indem er also, wie sich ein Patient einmal ausdrückte, „den Stier bei den Hörnern packt“. Wobei darauf Rücksicht zu nehmen ist, daß sich der Angstneurotiker vor etwas fürchtet, das ihm widerfahren könnte, während sich der Zwangsneurotiker auch vor etwas fürchtet, das er anstellen könnte. Beides wird nun berücksichtigt, wenn wir die paradoxe Intention folgendermaßen definieren: Der Patient wird angewiesen, genau das, wovor er sich immer so sehr gefürchtet hatte, nunmehr sich zu wünschen (Angstneurose) beziehungsweise sich vorzunehmen (Zwangsneurose).

Wie wir sehen, handelt es sich bei der paradoxen Intention um eine Inversion jener Intention, die die beiden pathogenen Reaktionsmuster charakterisiert, nämlich des Vermeidens von Angst und Zwang durch Flucht vor der ersteren beziehungsweise Kampf gegen den letzteren. Das ist aber genau das, was heute auch die Verhaltenstherapeuten für entscheidend halten: I. M. Marks bringt etwa im Anschluß an seine Hypothese, daß die Phobie durch die Angst herabsetzenden Mechanismen der Vermeidung aufrechterhalten wird, folgende therapeutische Empfehlung vor: „The phobia can then be properly overcome only when the patient faces the phobic Situation again.“ (l. c.) Und dazu bietet sich eben die paradoxe Intention an. In einer gemeinsamen mit S. Rachman und R. Hodgson verfaßten Arbeit hebt Marks ebenfalls hervor, daß der Patient dazu überredet und ermutigt werden muß, sich gerade auf das einzulassen, was ihn am meisten aufregt („The Treatment of Chronic Obsessive-Compulsive Neurosis“, Behav. Res. Ther. 9, 237, 1971). Aber auch in einer gemeinsam mit J. P. Watson und R. Gaind verfaßten Arbeit empfiehlt er therapeutisch, daß der Patient an den Gegenstand seiner Befürchtungen so nahe und so rasch herantreten muß, wie er nur kann, und nicht mehr solchen Gegenständen ausweichen darf („Prolonged Exposure“, Brit. Med. J. 1, 13, 1971).

Daß die Logotherapie in Form der bereits 1939 beschriebenen paradoxen Intention diese therapeutischen Empfehlungen längst schon in die Tat umgesetzt hatte, wird heute auch von führenden Verhaltenstherapeuten zugegeben.

„Die paradoxe Intention geht zwar von einem ganz anderen als dem lerntheoretischen Ansatz aus“, schreiben H. Dilling, H. Rosefeldt, G. Kockott und H. Heyse vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie, ihre „Wirkung könnte möglicherweise aber mit einfachen Prinzipien der Lernpsychologie erklärt werden“. Nachdem die Autoren zugeben, daß mit der paradoxen Intention „gute und zum Teil sehr rasche Erfolge erzielt wurden“, interpretieren sie diese Erfolge lernpsychologisch, indem sie „eine Lösung der konditionierten Verbindung zwischen auslösendem Reiz und Angst annehmen. Um neue, angepaßtere Reaktionsweisen auf bestimmte Situationen hin aufzubauen, muß das Meidungsverhalten mit seiner ständig verstärkenden Wirkung aufgegeben werden und die betreffende Person neue Erfahrungen mit den angstauslösenden Reizen gewinnen“. („Verhaltenstherapie bei Phobien, Zwangsneurosen, sexuellen Störungen und Süchten“, Fortschr. Neurol. Psychiat. 39, 293, 1971.)

Dieses Geschäft besorge eben die paradoxe Intention. Arnold A. Lazarus bestätigt ihre Erfolge ebenfalls und erklärt sie vom Standpunkt der Verhaltenstherapie aus folgendermaßen:

„When people encourage their anticipatory anxieties to erupt, they nearly always find the opposite reaction coming to the fore – their worst fears subside and when the method is used several times, their dreads eventually disappear.“ (Behavior Therapy and Beyond, McGraw-Hill, New York 1971).

Die paradoxe Intention wurde von mir bereits 1929 praktiziert (Ludwig J. Pongratz, Psychotherapie in Selbstdarstellungen, Hans Huber, Bern 1973), aber erst 1939 beschrieben (Viktor E. Frankl, „Zur medikamentösen Unterstützung der Psychotherapie bei Neurosen“, Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 43, 26, 1939) und erst 1947 unter ihrem Namen publiziert (Viktor E. Frankl, Die Psychotherapie in der Praxis, Franz Deuticke, Wien 1947). Die Ähnlichkeit mit später auf den Markt gekommenen verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden wie anxiety provoking, exposure in vivo, flooding, implosive therapy, induced anxiety, modeling, modification of expectations, negative practice, satiation und prolonged exposure ist unverkennbar und ist auch einzelnen Verhaltenstherapeuten nicht verborgen geblieben. Dilling, Rosefeldt, Kockott und Heyse zufolge „liegt der Methode der paradoxen Intention nach V. E. Frankl, obwohl sie ursprünglich nicht lernpsychologisch konzipiert wurde, möglicherweise ein ähnlicher Wirkungsmechanismus zugrunde wie den Flooding und Implosive Therapy genannten Behandlungsformen“ (l. c.). Und was die zuletzt genannte Behandlungsform anlangt, verweist I. M. Marks ebenfalls auf „certain similarities to the paradoxical intention technique“ (Fears and Phobias, Academic Press, New York 1969) sowie auf das Faktum, daß diese unsere Technik „closely resembled that now termed modeling“ (Treatment of Obsessive-Compulsive Disorders, in: Psychotherapy and Behavior Change 1973, edited by Hans H. Strupp et al., Aldine Publishing Company, Chicago 1974).10

Wenn jemand gegenüber der paradoxen Intention eine Priorität beanspruchen kann, dann sind es meines Erachtens nur folgende Autoren: Rudolf Dreikurs verdanke ich den Hinweis auf einen analogen „Trick“, der bereits 1932 von ihm (Das nervöse Symptom, Verlag Moritz Perles, Wien und Leipzig) und noch früher von Erwin Wexberg beschrieben wurde, welch letzerer ad hoc den Ausdruck „Antisuggestion“ prägte. Und 1956 wurde mir zur Kenntnis gebracht, daß H. v. Hattingberg ebenfalls auf eine analoge Erfahrung hinweist:

„Wem es zum Beispiel gelingt, das Auftreten eines nervösen Symptoms, gegen das er sich bisher ängstlich gewehrt hatte, bewußt zu wünschen, der kann durch diese willentliche Einstellung die Angst und schließlich auch das Symptom zum Schwinden bringen. Es ist also möglich, den Teufel durch den Beelzebub auszutreiben. Eine solche Erfahrung ist freilich nur manchen praktisch erreichbar. Es gibt jedoch kaum eine Erfahrung, die für den seelisch Gehemmten lehrreicher wäre.“ (Über die Liebe, München-Berlin 1940.)

Es ist auch nicht anzunehmen, daß die paradoxe Intention, wenn sie wirklich wirksam sein soll, nicht ihre Vorgänger und Vorläufer gehabt haben sollte. Was man der Logotherapie daher als Verdienst anrechnen kann, ist nur, daß sie das Prinzip zu einer Methode ausgebaut und in ein System eingebaut hat.

Nur um so bemerkenswerter ist es, daß der erste Versuch, die Wirksamkeit der paradoxen Intention experimentell zu beweisen, von Verhaltenstherapeuten unternommen wurde. Waren es doch die Professoren L. Solyom, J. Garza-Perez, B. L. Ledwidge und C. Solyom von der Psychiatrischen Klinik der McGill University, die in Fällen von chronischer Zwangsneurose jeweils zwei gleich intensiv ausgeprägte Symptome auswählten und dann das eine, das Zielsymptom, mit paradoxer Intention behandelten, während das andere, das „Kontroll“-Symptom, unbehandelt blieb. Tatsächlich ergab sich, daß einzig und allein die jeweils behandelten Symptome dahinschwanden, und zwar innerhalb weniger Wochen. Und zu Ersatzsymptomen kam es in keinem einzigen Falle! („Paradoxical Intention in the Treatment of Obsessive Thoughts: A Pilot Study“, Comprehensive Psychiatry 13, 291, 1972.)11

Unter den Verhaltenstherapeuten war es nun wieder Lazarus, dem „an integral element in Frankl’s paradoxical intention procedure“ aufgefallen ist: „the deliberate evocation of humor. A patient who fears that he may perspire is enjoined to show his audience what perspiration is really like, to perspire in gushes of drenching torrents of sweat which will moisturize everything within touching distance.“ (l. c.) Tatsächlich gehört, wie wir ja bereits vorwegnehmend bemerkt haben, als von der Mobilisierung der Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung die Rede war – tatsächlich gehört der Humor, mit dem der Patient die paradoxe Intention jeweils formulieren muß, zum Wesen dieser Technik, und mit ihm hebt sie sich auch von den verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden ab, die wir aufgezählt haben.

Mit welchem Recht wir aber immer schon und immer wieder auf die Bedeutung des Humors für den Erfolg der paradoxen Intention hingewiesen haben, wurde jüngst ebenfalls von einem Verhaltenstherapeuten bewiesen, und zwar war es Iver Hand vom Londoner Maudsley Hospital, der beobachten konnte, daß an Platzangst leidende Patienten, die – in Gruppen zusammengefaßt – mit den bis dahin von ihnen vermiedenen, weil ihre Angst auslösenden Situationen konfrontiert worden waren, ganz spontan sich selbst und einander mit Humor zur Übertreibung ihrer Angst antrieben: „They used humor spontaneously as one of their main coping mechanisms.“ (Vortrag auf dem Montrealer Logotherapie-Symposium, veranstaltet von der American Psychological Association auf ihrer Jahrestagung 1973.) Kurz, die Patienten „erfanden“ die paradoxe Intention – und so wurde ihr Reaktions-„Mechanismus“ von dem Londoner Forscher-Team auch interpretiert!

Nun wollen wir uns aber der paradoxen Intention zuwenden, wie sie lege artis, nach den Regeln der Logotherapie durchgeführt wird, und zwar soll dies anhand von Kasuistik erläutert werden. In diesem Zusammenhang darf zunächst einmal auf die Fälle verwiesen werden, die in meinen Büchern „Theorie und Therapie der Neurosen“, „Die Psychotherapie in der Praxis“, „Der Wille zum Sinn“ und „Ärztliche Seelsorge“ besprochen werden. Im folgenden konzentrieren wir uns aber auf unpubliziertes Material.

Spencer Adolph M. aus San Diego, California, schreibt mir:

„Zwei Tage, nachdem ich Ihr Buch Man’s Search for Meaning gelesen hatte, befand ich mich in einer Situation, die mir Gelegenheit gab, die Logotherapie einmal auf die Probe zu stellen. An der Universität nehme ich nämlich an einem Seminar über Martin Buber teil, und während der ersten Zusammenkunft nahm ich mir kein Blatt vor den Mund, als ich glaubte, genau das Gegenteil von dem sagen zu müssen, was die anderen gesagt hatten. Da begann ich auf einmal, mächtig zu schwitzen. Und sobald ich das bemerkt hatte, bekam ich es mit der Angst zu tun, die anderen könnten es merken, woraufhin ich erst recht zu schwitzen begann. Plötzlich fiel mir der Fall eines Arztes ein, der Sie wegen seiner Angst vor Schweißausbrüchen konsultiert hatte, und ich dachte mir, meine Situation sei doch ähnlich. Aber ich halte nicht viel von der Psychotherapie, und von der Logotherapie am allerwenigsten.

Aber nur um so mehr schien mir meine Situation eine einmalige Gelegenheit zu sein, um die paradoxe Intention einmal auszuprobieren. Was war es doch, was Sie Ihrem Kollegen geraten hatten? Er möge sich doch zur Abwechslung einmal wünschen und vornehmen, den Leuten zu zeigen, wie tüchtig er schwitzen kann – ,bisher hab’ ich nur 1 Liter zusammengeschwitzt, jetzt aber will ich 10 Liter herausschwitzen‘, heißt es in Ihrem Buch. Und während ich im Seminar weitersprach, sagte ich mir: Tu doch auch du einmal deinen Kollegen was vorschwitzen, Spencer! Aber so richtig – das ist noch gar nichts – noch viel mehr sollst du schwitzen! Und es vergingen nicht mehr als ein paar Sekunden, und ich konnte beobachten, wie meine Haut trocken wurde. Innerlich mußte ich lachen. War ich doch nicht darauf gefaßt, daß die paradoxe Intention wirken wird, und noch dazu sofort. Zum Teufel noch einmal, sagte ich mir, da muß was dran sein, an dieser paradoxen Intention – das hat hingehaut, und dabei bin ich doch so skeptisch gegenüber der Logotherapie.“

Einem Bericht von Mohammed Sadiq entnehmen wir folgenden Fall:

„Frau N., eine 48 Jahre alte Patientin, litt an Zittern, und zwar in dem Maße, daß sie außerstande war, eine Schale Kaffee oder ein Glas Wasser zu halten, ohne etwas zu verschütten. Auch konnte sie weder schreiben noch ein Buch ruhig genug halten, um lesen zu können. Eines Morgens ergab es sich, daß wir einander allein gegenübersaßen und sie wieder einmal begann zu zittern. Daraufhin beschloß ich, einmal die paradoxe Intention zu versuchen, und zwar richtig mit Humor. So begann ich denn: Wie wärs, Frau N., wenn wir einmal ein Wettzittern veranstalteten? – Sie: Was soll das heißen? – Ich: Wir wollen einmal sehen, wer schneller und wer länger zittern kann. – Sie: Ich hab’ nicht gewußt, daß Sie ebenfalls an Zittern leiden. – Ich: Nein, nein – keineswegs; wenn ich aber will, dann kann ich zittern. (Und ich begann – und wie.) Sie: Jö – Sie könnens ja schneller als ich. (Und lächelnd begann sie, ihr Zittern zu beschleunigen.) Ich: Schneller – los, Frau N., Sie müssen viel schneller zittern. – Sie: Aber ich kann ja nicht – hören Sie auf, ich kann nicht mehr weiter. – Und sie war wirklich müde geworden. Sie stand auf, ging in die Küche und kam zurück – mit einer Schale Kaffee. Und sie trank sie aus, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Wann immer ich sie seither beim Zittern ertappe, brauche ich bloß zu sagen: Nun, Frau N., wie wär’s mit einem Wettzittern? Woraufhin sie zu sagen pflegt: Schon recht, schon recht. – Und das hat noch jedesmal geholfen.“

Georg Pynummootil (USA) berichtet folgendes:

„Ein junger Mann kam in meine Ordination, und zwar wegen eines schweren Blinzeltics, der immer auftrat, wenn er mit jemandem zu sprechen hatte. Da die Leute ihn zu fragen pflegten, was denn los sei, wurde er immer nervöser. Ich überwies ihn an einen Psychoanalytiker. Aber nach einer ganzen Reihe von Sitzungen kam er wieder, um mir zu melden, der Psychoanalytiker hätte nicht die Ursache finden, geschweige denn ihm helfen können. Daraufhin empfahl ich ihm, das nächste Mal, wenn er mit jemandem zu sprechen habe, soviel wie möglich mit den Augen zu zwinkern, um seinem Gesprächspartner zu zeigen, wie ausgezeichnet er das könne. Er aber meinte, ich müsse wohl verrückt geworden sein, wenn ich ihm mit solchen Empfehlungen komme, denn so was könne seinen Zustand ja nur verschlechtern. Und er ging. Ein paar Wochen lang ließ er sich nicht wieder sehen. Dann aber kam er eines Tages wieder, und zwar um mir ganz begeistert zu erzählen, was inzwischen geschehen war: Da er von meinem Vorschlag nichts gehalten hatte, dachte er auch nicht daran, ihn in die Tat umzusetzen. Das Zwinkern verschlimmerte sich aber, und als ihm eines Nachts wieder einfiel, was ich ihm gesagt hatte, sagte er sich: Jetzt hab’ ich alles versucht, was es gibt, und nichts hat geholfen. Was kann schon passieren – versuchst halt’ mal, was der dir da empfohlen hat. Und als er am nächsten Tag dem Erstbesten begegnete, nahm er sich vor, soviel wie möglich mit den Augen zu zwinkern – und zu seiner größten Überraschung war er einfach außerstande, es auch nur im geringsten zu tun. Von da an machte sich der Blinzeltic nie mehr bemerkbar.“

Ein Universitätsassistent schreibt uns:

„Ich hatte mich irgendwo vorzustellen, nachdem ich mich um einen Posten beworben hatte, an dem mir sehr gelegen war, da ich dann in der Lage gewesen wäre, Frau und Kinder nachkommen zu lassen nach Kalifornien. Ich war aber sehr nervös und bemühte mich riesig, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Wann immer ich aber nervös werde, fangen meine Beine zu zucken an, und zwar in einem Ausmaß, daß es die Anwesenden merken müssen. Und so geschah’s auch diesmal. Diesmal aber sagte ich mir: Jetzt werde ich einmal diese Saumuskeln da so zwingen zu zucken, daß ich nicht mehr sitzen bleiben kann, sondern aufspringen muß und im Zimmer so lange herumtanzen, bis die Leute glauben, daß ich übergeschnappt bin. Diese Saumuskeln werden heute zucken wie noch nie – heut’ gibt’s einen Zuckrekord. – Nun, die Muskeln haben während der ganzen Besprechung kein einziges Mal gezuckt, ich hab’ den Posten bekommen, und meine Familie wird bald hier in Kalifornien sein.“

Zwei Beispiele von Arthur Jores (Der Kranke mit psychovegetativen Störungen, Vandenhoeck,