Therapeutische Situation und medizinische Ethik - Hermes Andreas Kick - E-Book

Therapeutische Situation und medizinische Ethik E-Book

Hermes Andreas Kick

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Beschreibung

Mediziner sehen sich tagtäglich mit Konflikten aus zwei Richtungen konfrontiert: zum einen dem Erwartungsdruck seitens der Patienten, die im Sinne einer "Wunschmedizin" Ärzte als Dienstleister verstehen, zum anderen dem sozialpolitisch motivierten Ökonomisierungsdruck. Das sich hieraus ergebende Dilemma zwischen Humanität und Ökonomie, zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und Individualwohl bedarf dringend einer Klärung. Dieses Buch bietet die notwendige Orientierungshilfe, indem es nach den ethischen Grundlagen medizinischen Entscheidens und Handelns aus der Besonderheit der therapeutischen Situation heraus fragt. Durch die Erkundung der Struktur solcher spezifischer Therapiesituationen gelingt es, größere Klarheit und Handlungssicherheit für Ärzte, Patienten und die Gesellschaft zu schaffen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Widmung

Vorwort

1 Ausgangslage und Kritik

1.1 Ausgangslage

1.2 Bisherige Ansätze und offene Fragen

1.3 Offene Systemwidersprüche: Humanität und Rentabilität

1.4 Medizinethische Positionierung unter Ökonomisierungsdruck

1.5 Wunscherfüllung als Problem therapeutischen Handelns

1.6 Suche nach Ordnungsgesichtspunkten therapeutischen Handelns

1.7 Prinzipien und Versuche einer Integration

1.8 Binnenstruktur und Rahmenbedingen: Notwendigkeit einer Situationsdefinition

2 Argumentationslinien für ein Situationskonzept

2.1 Situationskonzept als Voraussetzung der Zusammenführung von subjektiven und objektiven Erkenntnisebenen

2.2 Situationsbestimmung als Voraussetzung von Krankheitsbegriff und Indikation

2.3 Situationsbestimmung als Voraussetzung der Abgrenzung des therapeutischen Auftrags von sozialpolitischer Verantwortung und ökonomischen Rahmenbedingungen

2.4 Situationsbestimmung als Voraussetzung der Unterscheidung von therapeutischem und geschäftlichem Handeln

2.5 Situationsbestimmung und dialektischer Bezug von Rolle und therapeutischer Identität

2.6 Situationsbestimmung als Orientierungsrahmen zur Bewältigung von ethischen Dilemmata

3 Bestimmung der therapeutischen Situation

3.1 Situation und Situationsbegriff

3.2 Ausgangsproblematik jeder therapeutischen Situation

3.3 Klinische Phänomenologie und therapeutische Situation

3.4 Das therapeutische Handlungsfeld in der Vermittlung von Theorie und Praxis

3.5 Antimedizin und Antipsychiatrie: Historische Klärung der Positionen

3.6 Subjektive, objektive und personale Sinnebene der therapeutischen Situation

3.7 Macht und Legitimität im therapeutischen Handeln

3.8 Legitimierungsversuche durch Objektivierung und die Entdeckung des Subjektes

3.9 Sinnstufen ärztlichen Erkennens und Handelns: Therapeutische Situation als integratives Aufgabenfeld

3.10 Die therapeutische Situation als »gelebte Struktur«

4 Therapeutische Situation als Orientierungsrahmen für das Erkennen und das ethische Handeln

4.1 Stellenwert von Autonomie im Verhältnis von Arzt und Patient

4.2 Krankenhaus und Gesundheitseinrichtung als Institution im Spannungsverhältnis zur therapeutischen Situation

4.3 Der subjektiv-objektive Doppelaspekt in der personalen Erfassung von Krankheit als Voraussetzung verantwortlichen Handelns

4.4 Ärztlich-therapeutisches Handlungsfeld

4.5 Der Außenraum der therapeutischen Situation als Politikum

4.6 Indikation im Kontext der therapeutischen Situation

5 Zwischen Ökonomie und Humanität: Die Krise des Gesundheitssystems

5.1 Systemwidersprüche zwischen Ökonomie und Humanität

5.2 Gesundheit: Eine Ware wie jede andere?

5.3 Medizinethische Überlegungen zur Struktur des Marktes

6 Therapeutische Offerte oder Marketing

6.1 Patienten oder Kunden: Unterscheidung und ethische Konsequenzen für ein integratives Menschenbild

6.2 Rollenbestimmung von Patient und Kunde: Unterschiede von therapeutischer Offerte und Marketing-Offerte

6.3 Prozessablauf von Therapie versus Marketing

6.4 Ethische Konsequenzen für Patient und Kunde

6.5 Beziehung von Mikroebene zu Makroebene in der therapeutischen Situation und der Marketingsituation

6.6 Klinik und Praxis: Therapeutische Institution oder Geschäftsbetrieb?

6.7 Infragestellung der Institution und Re-Orientierung in der therapeutischen Situation

7 Therapeutische Identität und Rolle im Spannungsfeld von Institution und therapeutischer Situation als ethische und epistemologische Grundfrage

7.1 Dialektik von Rolle und Identität

7.2 Verhältnis von Rolle und Identität als zentrale ethische Frage der therapeutischen Situation

7.3 Identitätsbildung und Bewährung der Identität

7.4 Identität und strukturelle Rationalität als evolutive Grundlage der Entscheidung in der therapeutischen Situation

7.5 Wechselseitigkeit von Vertrauen und Identität in der therapeutischen Situation

7.6 Bewährung und Entwicklung der Identität als Voraussetzung von Vertrauen

7.7 Identität und Verantwortungsübernahme in der therapeutischen Situation

8 Situative Ethik als Prozess der Entscheidungsfindung im Gefüge der therapeutischen Situation: Umgang mit Dilemmata

8.1 Dilemma zwischen Salus privata und Salus publica

8.2 Menschenbildliche Prämissen

8.3 Ethischer Umgang mit Erkenntnisgrenzen in Entscheidungssituationen

8.4 Die präkritische Phase: Erkennen und ethische Orientierungsfindung in der therapeutischen Situation

8.5 Krise und Grenzsituation

8.6 Die postkritische Phase

9 Bewältigung ethischer Dilemmata in der therapeutischen Situation um Lebensbeginn und Lebensende

9.1 Ethische Fragen zum Lebensbeginn

9.2 Ethische Fragen im Problembereich Sterbehilfe

10 Therapeutische Situation als singuläre Erkenntnisperspektive: Ethische Entscheidungen unter vieldeutigen Gegebenheiten am Beispiel Suizidalität

10.1 Methodische Voraussetzungen des klinischen Erkennens und Aspekte der ethischen und juristischen Bewertung

10.2 Entscheidungen unter vieldeutigen Gegebenheiten

10.3 Überbrückung durch Dogmatisierung

10.4 Ethischer Umgang mit Erkenntnisgrenzen in Entscheidungssituationen

Nachwort

Literatur

Sachwortverzeichnis

Der Autor

Prof. Dr. med. Hermes Andreas Kick, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg, ist Medizinethiker, Psychiater und Psychotherapeut. Er leitet als Direktor das Institut für medizinische Ethik, Grundlagen und Methoden der Psychotherapie und Gesundheitskultur (IEPG) in Mannheim. In der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Krisenfeldern hat er sich auf der Grundlage eines anthropologischen Ansatzes Fragen der medizinischen Ethik und der allgemeinen Wertebildung zugewandt. Im Zentrum stehen hierbei für ihn die Erfassung grenzsituativer Konstellationen im Sinne von Karl Jaspers, die in seinem prozessdynamischen Ansatz innerhalb umrissener Handlungssituationen, so der therapeutischen Situation, zu einer existentiellen Positionierung und einer darin fundierten medizinischen Entscheidung weitergeführt werden.

Hermes Andreas Kick

Therapeutische Situationund medizinische Ethik

Erkenntnisprobleme – Indikation –Dilemmata und Lösungsansätze im Spannungsfeld von therapeutischerIdentität und Rolle

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043967-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043968-9epub: ISBN 978-3-17-043969-6

Widmung

Meiner Frau Jutta geb. BlumhoffIn Dankbarkeit

Vorwort

Wer sich die notwendige theoretische Grundorientierung aneignet, kann in der akuten Handlungssituation besonnen, empathisch und souverän zugleich, eben helfend handeln. Man muss sich darüber im Klaren sein: Die ärztliche, medizinethisch fundierte Position sieht sich stets nach zwei Richtungen Konflikten ausgesetzt: Dies ist zum einen der Druck seitens einer »Wunschmedizin« in Form einer sich ungeniert gerierenden »Kundenschar«, die den Arzt als Dienstleister sieht und sich »ihre« Medizin nach Gusto gestalten möchte1. Das ist zum anderen der von außen, von den sozialpolitischen Gegebenheiten unterhaltene Ökonomisierungsdruck. Dass sich hier bereits auf der Basis einer intuitiven ärztlichen Ethik Spannungsfelder abzeichnen, solche nämlich zwischen Ökonomie und Humanität, ist offensichtlich. Diese Spannungen sind im praktischen ärztlichen Handelnzu bewältigen, wobei es nicht genügt, solche bis zu einer akuten Konfliktsituation so stehen zu lassen. Konkret stellen sich hier doch außer den elementaren klinischen Erkenntnisfragen stets Fragen bezüglich der Gerechtigkeit im Sinne einer adäquaten, sozialethisch und politisch vertretbaren Allokation, mit der der behandelnde Arzt umzugehen hat. Er soll ferner im individuellen Fall die begrenzten Mittel im Sinne eines Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes richtig einsetzen. Der akute wirtschaftliche Druck auf das Gesundheitssystem, der natürlich seine Gründe hat – demografischer Wandel, neue kostenträchtige Technologien und steigende Inanspruchnahme etwa –, führt zu sozialethisch brisanten Fragen, zu Priorisierungsfragen und politischen Dilemmata.

Das hier vorgelegte Konzept, das sich als ein dringend notwendiger Beitrag zur Weiterentwicklung und Differenzierung der medizinischen Theoriebildung versteht, will in der Offenlegung und Begründung der Struktur der therapeutischen Situation und des mit ihr gegebenen Erkenntnis- und Handlungsauftrags Lösungen für die sich von daher stellenden ethischen Fragen entwickeln, größere Klarheit und Sicherheit schaffen für alle Beteiligten, für Ärzte, Patienten und die Gesellschaft. Dabei geht es um die Freiheit der therapeutischen Entscheidung und ihre Grenzen, um Verantwortung für individuelles und Gemeinwohl, schließlich um Vertrauen zwischen allen Akteuren, Arzt, Patient und Gesellschaft, gegründet auf Erfahrung in einer gemeinsamen Ordnung, die solches rechtfertigt. Medizinische Ethik stützt sich auf die Methoden und Ergebnisse der allgemeinen Ethik; sie will diese im Handlungsbereich der Medizin anwenden. Wenn Medizinethik sich somit als Bereichsethik betrachtet, hat diese zur Voraussetzung, eben ihren Bereich zu definieren und ihre Struktur zu kennen und zu berücksichtigen.

Die Struktur der therapeutischen Situation hat frühe historische Wurzeln, die bereits im Corpus Hippocraticum erkennbar sind. Seit den Anfängen der naturwissenschaftlichen Medizin und ihrer Erfolge im 19. Jahrhundert geriet diese Grundstruktur zunehmend in Vergessenheit. Dies hat mehrere Gründe, vor allem aber wohl den: Die moderne, zunehmend technokratisch ausgelegte, oft naturwissenschaftlich genannte Medizin meinte, die Schlussfolgerungen und Handlungen allein auf einer objektivierenden Basis begründen und ethisch rechtfertigen zu können. Hinzu trat mit der Aufklärung eine Veränderung und Vereinseitigung des Menschenbildes. Allein die Anerkennung der Autonomie des Menschen und damit des Patienten, teils naiv, teils ideologisch elaboriert und gleichgesetzt mit Menschenwürde, schien bereits der Schlüssel zu einer Humanisierung der ärztlichen Handlungssituation zu sein. So wichtig die Respektierung der Autonomie des Patienten für die ärztliche Ethik ist, so elementar ist es, zu einer Differenzierung dessen, was Autonomie bedeutet – jeweils in Abhängigkeit von dem Krankheitszustand, der Persönlichkeit des Patienten und der Situation –, zu gelangen. Eine vom Zeitgeist beförderte Kritik der dann oft paternalistisch genannten ärztlichen Bemühung um differenzierte Erfassung der Autonomie des Patienten hat zu einer tatsächlichen Klärung des Verhältnisses von Autonomie und Fürsorge und deren Relevanz in der konkreten Situation bisher noch zu wenig beitragen können. Hier lohnt es sich, nach den Strukturen der therapeutischen Situation zu fragen und zu prüfen, ob deren Berücksichtigung helfen kann, zu einer überzeugenden Weiterentwicklung der notwendigen Humanisierung des Verhältnisses von Patient, Arzt und Gesellschaft zu kommen, zu einer Realisierung eines Ausgleichs von Autonomie und Fürsorge, von individuellem Wohl und sozialer Gerechtigkeit.

Im Zentrum ethischer Argumente in der therapeutischen Situation stehen also nicht allgemeine, philosophische Begründungsstrategien und auch nicht Letztbegründungen für ethisches Handeln. Viele medizinethische Debatten, etwa um Lebensbeginn und Lebensende, um aktive Beendigung des Lebens und Suizidalität, geraten dadurch ins Uferlose und bleiben dann schließlich doch in der therapeutischen Handlungsbegründung selbst unsicher, unentschlossen. Der hier vorgelegte Lösungsansatz soll dagegen Orientierung geben für das Erkennen und Handeln in einer ganz bestimmten, der therapeutischen Situation, einer Situation der Konfrontation mit Not, Krankheit und dem kranken Menschen, einer Situation, die jeden ohne Ausnahme, jedoch in unterschiedlicher Weise den Arzt, den Patienten und die Gesellschaft mit in die Verantwortung nimmt.

An vielen Stellen wird Bezug genommen auf den Begriff der Grenzsituation im Sinne von Karl Jaspers. Das mag die Frage aufwerfen, ob hier nicht eine Dramatisierung vorläge, auf die besser zu verzichten wäre. Dem ist zu entgegnen, dass wir stets in Grenzsituationen leben. In Krisen- und auch medizinischen Entscheidungssituationen wird uns dies bewusst, nicht um zu verzweifeln, sondern um zu einer Entscheidung zu kommen, die die fachlichen Argumentationsstränge (Prinzipien) und die Erkenntnisse der Grenzsituation berücksichtigt. Aus den Dilemmata heraus führt nicht vernünftige Argumentation allein, so wichtig sie ist, vielmehr die existentielle Positionierung, die sich aus dem Bewusstsein der Grenzsituation ergibt; dieser Position kommt in all ihrer Angreifbarkeit eine eigene Würde zu, die menschlichem Maß entspricht und die sich rechtfertigen lässt.

Endnoten

1Unschuld 2006.

1 Ausgangslage und Kritik

1.1 Ausgangslage

Inmitten eines häufig chaotisch wirkenden Wandels der Allianzen und Gegnerschaften ist es nicht leicht, offene Perspektiven, Durchblickbahnen, zu finden auf zukunftsfähige Modelle einer Gesundheitslandschaft von morgen. Der im Folgenden präsentierte Lösungsansatz will hier Orientierungspunkte und Bezugsbereiche aufzeigen. Natürlich erklärt sich ein Teil der das Gesundheitssystem belastenden und destabilisierenden Momente aus dem demographischen Wandel, der Entwicklung kostenintensiver Technologien und den steigenden Leistungsanforderungen bzw. Ansprüchen der Patienten. Aber es gibt noch einen anderen Grund, einen inneren Grund. Es bestehen große Unklarheiten hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten und Verantwortungsbereiche der Akteure, Arzt, Patient, Gesellschaft, zum einen, dann jedoch auch hinsichtlich der anzuwendenden ethischen Konzepte, ihrer Reichweite und der Reichweite der medizinischen Ethik im konkreten Fall. Ärztliches Handeln ist rechtfertigungspflichtig, medizinrechtlich sowieso, vor allem jedoch in der ethischen Reflexion des therapeutisch Handelnden vor sich selbst, gegenüber dem Patienten und der Gesellschaft.

Festzustellen ist vorab zweierlei: Es ist nicht primäre Aufgabe der Medizinethik, ein mehr oder weniger befriedigendes Wirtschaftssystem zu kritisieren, solange die medizinethisch für erforderlich erachteten Belange finanziert werden und unabhängiges therapeutisches Handeln möglich ist. Notwendig ist jedoch eine Auseinandersetzung mit politischen Verantwortungsträgern spätestens dann, wenn dies nicht oder nicht mehr gewährleistet ist. Zum anderen ist es auch nicht primär Aufgabe der Medizinethik, die unterschiedlichen philosophischen Ethikkonzepte, die sich teils überlappen, teils in einem Spannungsverhältnis stehen, auf einer theoretischen Ebene zusammenzuführen oder zu harmonisieren. Vielmehr hat die Medizinethik ganz im Sinne einer praktischen Philosophie sich zu fokussieren auf einen begründeten Abgleich der Gesichtspunkte in der konkreten Situation der ärztlich-therapeutischen Entscheidung. Diese Eingrenzung ist im Folgenden zu begründen. Auch wird zu zeigen sein, dass hierdurch eine viel höhere Entscheidungssicherheit und Entscheidungsqualität zu erreichen ist. Notwendig ist also trotz vieler ungeklärter und sogar divergierender theoretischer Fragen, zu einem praktischen Handlungskonzept medizinischer Ethik zu gelangen.

Zu bemerken ist, dass seit dem erfreulichen Zuwachs des Interesses für medizinethische Probleme, seit der Gründung von medizinethischen Akademien und Instituten europaweit eine große Zahl theoretisch hoch kompetenter Ethiker zu den medizinethischen Fragestellungen gelangt sind. So erfreulich das damit einhergehende hohe theoretische Reflexionsniveau ist, wird darauf hinzuweisen sein, dass die Anschauung und Erfahrung der medizinischen Handlungssituation von innen elementar ist. Sie kann nur gewonnen werden im eigenen Handeln und Entscheiden sowie der Verantwortungsübernahme im Entscheiden selbst, in der es eben nicht um den theoretischen Abgleich – Annahme oder Verwerfung – und die bloße Diskussion ethischer Konzepte gehen kann. Wo wir nicht beteiligt sind, bleibt uns diese Erfahrung verschlossen.2 Daraus resultiert die im Folgenden aufzugreifende Herausforderung, das Spezifische der ärztlich-therapeutischen Handlungssituation, die zugleich eine Erkenntnis- und Entscheidungssituation ist, zu erfassen und darzustellen.

Erforderlich ist es, diese spezifische Handlungssituation nach außen abzugrenzen und gerade dadurch einen Zuwachs an struktureller Klarheit und Transparenz nach innen zu erreichen für die dann medizinethisch zu rechtfertigende, verantwortliche Handlung. Zu beachten ist, gewissermaßen an der Nahtstelle von innen und außen, dass das ärztliche Handeln sich zugleich an der Hilfsbedürftigkeit und Personwürde des Patienten – nach innen – und dem Gleichheitsgedanken (Menschen- und Personrechte) nach außen orientiert. Das individuelle Wohl des Hilfsbedürftigen ist in verantwortlicher Weise durch den Arzt in Ausgleich zu bringen mit der Verpflichtung auf Gerechtigkeit im Einzelfall wie auch gegenüber der Solidargemeinschaft und dem Gesundheitssystem.

Abb. 1.1:Verantwortungsfelder der angewandten Ethik.

Obwohl die Grundstrukturen der ärztlichen Erkenntnis- und Handlungssituation seit den frühen Zeiten des Corpus Hippocraticum erhalten geblieben sind, hat sich ein grundlegender Wandel der Anforderungen ergeben: Zum einen durch die atemberaubende Erweiterung ärztlicher Handlungsmöglichkeiten durch den technologischen Fortschritt. Gewandelt hat sich aber auch die Auffassung des Menschen von sich selbst, also das Menschenbild und die jeweilige Gesellschaft, der sich der Mensch zuordnet.

Dass hier allenthalben ideologisch geprägte Versatzstücke drohen bzw. sich anbieten, ist auch für die therapeutische Handlungssituation unübersehbar. Hinter dieser stehen massive Interessen, etwa wirtschaftlicher Art (Patient als Kunde, Ziel: Gewinn), technokratischer Art (Mensch als Maschine, Ziel: Vereinfachung, Rationalisierung) oder soziologischer Art (Zuschreibung von Autonomie oder Fürsorgebedürftigkeit im Sinne interessengeleiteter Vorannahmen: Autonomie als Entlastung von Verantwortung für die Gemeinschaft; Fürsorgebedürftigkeit als Begründung manipulativer Steuerung).

Diese Gefährdungen hat der Arzt zu kennen und im Einzelfall zu erkennen. Er kann sie im therapeutischen Handlungsfeld nicht generell lösen. Auch das wird im Einzelnen begründet werden müssen und vor allem wird zu zeigen sein, wie in der konkreten ärztlichen Handlungssituation Autonomie und Fürsorge in einen angemessenen Ausgleich gelangen und menschenbildliche Schieflagen (Patient als Kunde, Patient als Maschine, Patient als bloß abhängiges Wesen, Patient als bloß autonomes Einzelwesen) erkannt und bewältigt werden können.

Mit ihren wachsenden technischen Möglichkeiten ist die Medizin in den letzten Jahrzehnten stetig in ethisches Neuland vorgestoßen. Am deutlichsten zeigt sich dies am Beginn des menschlichen Lebens und an seinem Ende. Vorab zu nennen sind vier Anwendungsfelder der Ethik und die darin grundsätzlich enthaltenen Dilemmata (▸ Abb. 1.1). Das ist zum einen das ethische Spannungsverhältnis von verstehendem Diskurs versus finitem Diskurs, das ist zum anderen die epistemologische Diskrepanz der empirischen Wissenschaften zwischen begrenztem Wissen und praktischer Rechtfertigung von Entscheidung, das ist drittens das Dilemma von objektivierend-distanzierter Haltung versus empathischer Parteilichkeit der Mikrosituation (Salus privata) und schließlich das Dilemma von begrenzten Ressourcen und Unbegrenztheit des Bedarfs, das Allokationsdilemma der Makrosituation (Salus publica).

Die ethische Position ist grundsätzlich eine kritische, also eine auf Entscheidung und Handlung hin angelegte. Sie beginnt mit einem Anruf als einem expliziten oder impliziten Problem. Dieses bestimmt, auf welches Ziel hin sie angelegt ist. Sie endet mit dem Erreichen dieses Ziels oder mit einer mehr oder weniger großen Katastrophe, einem Scheitern. Ethische Entscheidungen beruhen im konkreten Fall auf einer Reihe von Güterabwägungen. Diese orientieren sich im Rahmen des zu führenden Diskurses an einer ihrerseits unter Umständen umstrittenen Güterordnung. Begründungsbedürftig ist hierbei, wann und wo jeweils der Prozess des Diskurses zu einem Abschluss gebracht und somit durch eine Entscheidung und die darauffolgende zu verantwortende Handlung (Eingriff) eine veränderte, neue Situation herbeigeführt wird.

Veranschaulichen wir uns den ethischen und epistemologischen Argumentationsgang polar angeordnet auf einer Achse (▸ Abb. 1.1), so ergibt sich für die praktische Entscheidung Folgendes: Eine Fokussierung bzw. argumentative Abstützung einer Entscheidung auf die epistemologische oder andererseits die ethische Position bringt häufig eine tendenzielle Vernachlässigung des jeweils anderen Problemfeldes mit sich. So verlagert etwa ein konkrete empirische Daten unterbewertendes Konzept die Argumentation auf den ethischen Diskurs, unter Umständen einen solchen ad infinitum.3 Eine die Ethik unterbewertende Position geht stets einher mit einem die Epistemologie und vor allem die empirisch-erkenntnispraktischen Möglichkeiten überziehenden Ansatz.4 Beide Extremvarianten sind historisch zu belegen – ihr Scheitern ebenfalls. Ein Bezug auf Empirismus, Objektivismus und Reduktionismus und die von daher vertretene Annahme, die Datenlage sei ausreichende Grundlage ethischer Entscheidungen, übersieht außerdem den damit begangenen naturalistischen Fehlschluss. Die Wissenschaftsgläubigkeit im Bereich der Medizin führte zu einem beispiellosen ethischen Desaster bis hin zu der wissenschaftlich scheinbar begründeten Auffassung des sogenannten »lebensunwerten Lebens«. Fokussiert man dagegen einseitig auf den ethischen Diskurs ohne Berücksichtigung der epistemologischen Problemlage und der insoweit empirisch zu fassenden Fakten, so besteht das Risiko, die Wirklichkeit zu verkennen, also eines idealistischen Selbstmissverständnisses5. Damit besteht die Gefahr, sich in der Beliebigkeit des prinzipiell infiniten Diskurses zu verlieren und darüber die verantwortete Entscheidung und Handlung zu versäumen. Für das Moment der Beendigung des Diskurses wird der Begründungsbedarf teils anerkannt, teils auch verleugnet. Medizinhistorisch sind materialistische und spiritualistische Begründungsvarianten zu belegen, erstere beispielsweise im Biologismus und Naturalismus, die zweite, spiritualistische Variante findet sich etwa in der Medizin der Romantik, neuerdings auch als Erlösungsvorstellung, die dem Esoterikbereich zuzuordnen ist.

Diesen schwierigen Erkenntnis- und Entscheidungsnotwendigkeiten in Situationen mit dem »Charakter der Gefahr«, hervorgerufen durch Krankheit und Not nämlich, muss sich der Arzt stellen. Er ist gegenwärtig vor allem konfrontiert damit, das medizinisch-technisch Machbare mit den ökonomischen Möglichkeiten weitgehend in Einklang zu bringen. Hier ist jedoch eine medizinethische Position gefragt, die sich darüber im Klaren ist, dass sie einen Bedarf, im Sinne des therapeutischen Bedarfs, gegenüber der Politik und dem Gesetzgeber deutlich machen muss, dass sie aber die für erforderlich gehaltenen ökonomischen Ressourcen nicht einfach erzwingen kann. Die damit durch politische Vorgaben wechselnden Grenzen diesbezüglicher Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten müssen aufgrund von Argumenten offengelegt, abgeglichen und verhandelt werden.

Medizinethische Ansätze, die sich mit sozialethischen Fragen beschäftigen, bleiben zu häufig vage und unklar, unentschlossen. Das liegt daran, dass die aktuell tonangebenden ethischen Konzepte zwar die ärztlich-therapeutische Handlungssituation im Fokus haben, jedoch die Abgrenzung gegenüber Rahmenbedingungen unklar bleibt. Dadurch wird der Begründungszusammenhang der Verantwortlichkeiten intransparent und umständlich.

Abb. 1.2:Ethische Begründungskonzepte und Methodologie der Medizinethik. Der methodologische Gegensatz von Prinzipienethik und diskursethischem Ansatz darf als Herausforderung für einen weiterführenden Ausgleich gelten, der seinen Abschluss findet in einer konkreten existentiellen Entscheidung. Ethik in der Begegnung von Arzt und Patient: Hier greift das 3-Phasen-Prozessmodell der therapeutischen Situation (vgl. insbes. ▸ Kap. 7). Pflichtethische und konsequentialistische Ethikkonzepte sind sich gegenüberzustellen, sie bilden die Grundlage eines Ausgleichs, der in der existentiellen Entscheidung aufgehoben ist.

»Medizinethisches Handeln ist häufig so strukturiert, dass es sich auf das Besondere einer Situation einlässt und genau diese Partikularität zum Dreh- und Angelpunkt der Entscheidung nimmt.«6 Wenn das so ist, muss diese Situation spezifiziert, erläutert und begründet werden. Zu klären ist die Frage nach der Struktur der Situation, in der sich ärztlich-therapeutisches Erkennen und Handeln gestaltet und ethisch behaupten muss.

Angesprochen ist damit auch der Stellenwert der zur Verfügung stehenden allgemeinethischen Konzepte und methodologischen Ansätze, wie sie in der konkreten Handlungssituation Orientierung geben können (▸ Abb. 1.2). Pflichtethik und Konsequentialismus, beide, haben ihre Berechtigung in der ärztlich-therapeutischen Handlungssituation. Sie müssen gewichtet werden und können nicht stets in einen quasi geradlinigen und konsistenten Begründungszusammenhang gebracht werden, ohne das medizinethische Anliegen, den infrage stehenden und zu bewahrenden, in der therapeutischen Situation zu erreichenden Wert, als Sinnziel zu verfehlen. Dieser Abgleich kann mit einem diskursethischen Ansatz vorangebracht werden ohne die Illusion, hier stets und quasi algorithmisch zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Vielmehr ist von einem solchen Diskurs primär und vor allem die Erfassung und Klärung der dilemmatischen Konstellation zu erwarten. Dies ist ein erhellendes Zwischenergebnis, das tugendethische Aspekte zusätzlich herausfordert, um die damit gegebene Krise der Entscheidung und im äußersten Fall die Grenzsituation durchzustehen. Dass ein alleiniger prinzipienethischer Ansatz häufig zu endlosen Begründungsrekursen führt, über die dann doch keine »letztbegründende« Einigkeit zu erzielen ist, ist für medizinethische Probleme weitgehend anerkannt. Wenn darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Prinzipienethik mit der konkreten Lebenswelt oft erst in Verbindung gebracht werden müsse,7 so ist dem zuzustimmen, gleichzeitig jedoch klarzustellen, welche Lebenswirklichkeit des therapeutischen Handelns genau gemeint ist. Die sogenannte Care-Ethik8 ist ein diesbezüglicher Versuch; sie kann jedoch keine befriedigende Antwort geben,9 weil die Aufmerksamkeit zu einseitig auf das Bedürfnis der Person gerichtet ist. Verfehlt wird dabei die Auseinandersetzung mit dem, was als »Bedarf« zu erfassen wäre. Die entscheidende Frage ist damit ausgesprochen, wie diese Aspekte in der therapeutischen Handlungssituation zusammengeführt werden können, um zu einer aus ganzheitlicher Sicht ethisch vertretbaren Entscheidung zu kommen. Hermeneutische Ansätze bieten sich an,10 führen jedoch zu einem Abbruch eben dort, wo es um die Berücksichtigung und den bewertenden Umgang mit im medizinischen Alltag doch stets präsenten, nicht verständlichen »Fragmenten« geht. Richtig ist, dass hier die Reflexion der Beziehung der Akteure vollumfänglich tragend wird, zugleich aber aus dieser heraus als Grundlage der Entscheidung und des Handelns Verständliches und Nichtverständliches zu einer Zwischensynthese zu führen ist, um zum verantwortlichen Handeln zu kommen.

Damit gelangt man zu der Frage, wo diese sehr spezifische, nämlich therapeutische Situation beginnt, wie und ob überhaupt sie die Komponenten des Erkennens und Handelns zu einem Sinnziel der Hilfe, dem Therapieziel, zusammenführt und damit zu einem Abschluss bringt: Wie also ist die Struktur der therapeutischen Erkenntnis- und Handlungssituation gekennzeichnet, in der medizinische Ethik zur Geltung kommen kann?

In der medizinethischen und medizintheoretischen Literatur der letzten Jahrzehnte ist u. W. nirgendwo die Struktur der therapeutischen Situation vertieft entfaltet worden. In der psychotherapeutischen Literatur taucht der Begriff gelegentlich auf, jedoch nur prozessual-deskriptiv, nicht als Orientierungsgegebenheit mit eigenständiger Relevanz. Abgesehen von V. E. von Gebsattels11 richtungsgebender Situationsanalyse, die außerhalb der anthropologischen Medizin und Psychiatrie kaum rezipiert wurde, ist die Relevanz der therapeutischen Situation für das medizinische, ethisch begründete Handeln bisher unbeachtet geblieben.12

1.2 Bisherige Ansätze und offene Fragen

Das Fehlen einer Begrifflichkeit für die therapeutische Situation und das Übersehen einer diesbezüglichen Relevanz für die medizinische Debatte bedeutet ein gravierendes Orientierungsdefizit und einen erheblichen Nachteil für die Entwicklung der Medizinethik der letzten Jahrzehnte. Es ist dies anhand vieler medizinethischer Veröffentlichungen zu belegen, die in ihren ethischen Schlussfolgerungen methodisch und inhaltlich vage bleiben. Hartmut Kreß13, der konsequent von einem allgemeinethischen Ansatz aus argumentiert und von daher bemerkenswerte Durchblickbahnen auf aktuelle medizinethische Problemsituationen eröffnet, erwähnt den Begriff der therapeutischen Situation14 zwar, zieht diesen jedoch nicht für die Fülle medizinethischer Problemstellungen heran. Er beklagt die Einseitigkeit des den medizinischen Alltag dominierenden objektiven Krankheitsbegriffs und erhofft sich aus der Dialogsituation heraus einen Gewinn an Beziehungsqualität, d. h. an Verständigung zwischen Arzt und Patient, aus der dann die »dialogische Verantwortungsethik«15, konkret, die ethisch vertretbare Handlung resultiert. Dies ist wichtig, bleibt jedoch, für medizinethische Belange methodisch zu allgemein, um die Bedeutung gleichzeitiger Berücksichtigung von subjektiven und objektiven Komponenten und deren personaler Integration in der konkreten therapeutischen Handlungssituation befriedigend aufzuzeigen.

Aufgrund des fehlenden Rückbezugs auf die Struktur der therapeutischen Handlungssituation kommt es zu charakteristischen Verwerfungen bereits auf der Ebene des Erkennens von Krankheit und Not, welche nur in ihrem subjektiv-objektiven Doppelaspekt16 adäquat zu erfassen ist. Besonders deutlich wird dies bei psychiatrischen Krankheitsbildern. In der prinzipienethischen Entwicklung einer Patientenautonomie als »Schlüssel-Kontroverse« der Therapie bleibt die Frage ungeklärt, wo diese aus ethischen Gründen therapeutisch relativiert werden darf und muss und worauf hin (!).17 Rehbock18 rekurriert nach einem existentiellen Ansatz doch schließlich wieder auf einfache Kriterienkataloge, wie sie im Rahmen prinzipienethischer Ansätze vorzufinden sind, an denen sich ethisches Verhalten und Entscheiden in der Praxis orientieren solle. Der existentielle Ansatz, der philosophisch konsequent entwickelt wird, bleibt gegenüber der konkreten therapeutischen Erkenntnis- und Entscheidungssituation unverbunden, ratlos. Dies liegt wesentlich daran, dass die Struktur der medizinischen Erkenntnis- und Handlungssituation nicht erfasst wurde.19 Das ist aber eine Bedingung, um zu verstehen, von welchen Voraussetzungen her und auf welche Sinnziele hin die medizinischen Entscheidungen getroffen werden sollen. Nicht jede medizinische bzw. therapeutische Erkenntnis- und Handlungssituation ist eine ethische Grenzsituation für den zur Entscheidung aufgerufenen Arzt. Sie wird es allerdings dann, wenn der Arzt konfrontiert ist mit Dilemmata, die unausweichlich zu einer Verletzung, wenn nicht gar zur Nichtbeachtung eines Wertes in dieser ganz spezifischen therapeutischen Entscheidungssituation führen, um einen anderen zu bewahren. Zwar soll die philosophische Ethik zur Lösung medizinethischer Probleme beitragen – sie kann es und muss es –, jedoch können und sollen innerhalb der akuten therapeutischen Handlungssituation – unter Zeitdruck etwa – nicht die theoretischen Probleme der philosophischen Ethik expliziert und gelöst werden.20 Rehbock21 diskutiert die medizinethischen Fragen, die durch einen theoretisch-philosophischen Ansatz nicht geklärt werden können. Dem ist zuzustimmen, da die theoretischen Ansätze einer allgemeinen Ethik so lange nichts zu einer medizinethischen Entscheidung praktisch beitragen, als nicht die Grundsituation, innerhalb derer sie etwas beitragen sollen, geklärt ist. Sonst könnte eine therapeutisch verantwortlich, aus Fürsorge getroffene Entscheidung, um einem Patienten mit destabilisierter Autonomie unter Inkaufnahme einer vorübergehenden Einschränkung der Autonomie zur Restitution der Autonomie zu verhelfen, nachfolgend ungerechtfertigterweise als paternalistisch oder autoritär apostrophiert werden.

Heubel22 sieht die ärztliche Handlungssituation in direkter Abhängigkeit und im Zusammenhang mit dem sozialökonomischen System und Umfeld (Makrosituation). Diese Betrachtungsweise erschwert eine Auseinandersetzung mit diesem Umfeld aus der ärztlich-therapeutischen Position heraus: Sie überfordert den Arzt durch die gleichzeitige Beanspruchung als Therapeut und Agent einer Auseinandersetzung, die in eine Systemkritik mündet, münden muss. Das hat zur Folge, dass der Arzt als Therapeut sich in einer laufenden ökonomischen, im Grunde sozialpolitischen Auseinandersetzung nach außen befindet, was eine Überforderung bzw. zumindest eine Ablenkung vom ärztlichen Kerngeschäft der Therapie mit sich bringt. Ärztliches Handeln darf sich nicht abhängig machen vom umgebenden Wirtschaftssystem. Es ist allerdings abhängig von einer – politisch zu verantwortenden und durchgeführten – Finanzierung durch das jeweilige Wirtschaftssystem. Heubel, Kettner und Manzeschke23 stellen wiederholt fest, dass »die Entlassung der Institution Krankenhaus aus öffentlicher Verantwortung« einen »moralisch relevanten Defekt« darstelle. Institutionell müsse gesichert sein, dass zwischen dem medizinisch Angezeigten und dem finanziellen »Gewinninteresse« auf transparente Weise abgewogen werde. Transparenz alleine genügt jedoch nicht, da mit jeder therapeutischen Aktion die Spannungen mit der institutionellen Umgebung aufleben und als Konflikt ausgetragen werden müssten. Heubel schlägt den »Schutz der therapeutischen Interaktion« als normative Vorgabe sowohl für den Krankenhausträger wie für eine sich selbst organisierende Profession vor. Wie das allerdings gewährleistet werden soll, bleibt ungeklärt angesichts der offensichtlichen Macht-Asymmetrie von Arzt und Institution bzw. kommerzialisierten Krankenhauskonzepten, die die Abwicklung der Therapie zwischen Arzt und Patient schlichtweg als »Leistungsaustausch« auf der Basis einer geschäftlichen Verhandlung betrachten. Das medizinethische Anliegen auf die »therapeutische Interaktion« zu begrenzen, greift zu kurz, weil es nicht nur um rational verhandelbare, sondern seitens des Patienten um emotionale Anliegen zudem im Status der Schwäche, des Leidens und Krankseins geht. Dieses Leiden kann nur beantwortet werden im Rahmen einer in seiner Komplexität klar erkannten und analysierten Gesamtsituation, in der wirtschaftliche Interessen und therapeutische Notwendigkeiten auch unterschieden werden können. Eine Reduzierung auf den Aspekt der Interaktion zwischen Arzt und Patient bedeutet eine Überforderung, da diese dem sozioökonomischen Druck der Umgebung schutzlos ausgesetzt ist, einem Druck, der sich selbst für hinreichend marktförmig begründet bzw. rational gerechtfertigt hält.

Wenn Wiesing und Marckmann24 davon sprechen, dass der Arzt als »Doppel-Agent« gefordert sei, so ist damit eben diese Gegebenheit beschrieben, dass er als solcher zugleich dem individuellen Wohl des Patienten wie dem Allgemeinwohl, der Solidargemeinschaft, verpflichtet sei. Wiesing und Marckmann verkennen allerdings, dass dieses Problem grundsätzlich nicht mit einer Vergegenwärtigung der Verhältnisse und auch nicht mit einer Erweiterung der zur Verfügung gestellten Ressourcen zu lösen ist. Verdeutlicht werden muss die Problemlage vielmehr durch eine Bewusstmachung des Handlungsfeldes und einer Klärung der Identität des Akteurs in diesem Feld. Klare Identität ermöglicht die Übernahme unterschiedlicher Rollen, zum einen als Therapeut und zugleich als Rollenakteur in den komplexen sozialpolitischen Strukturen der Handlungssituation nach außen. Solange der Zusammenhang von Identität und Handlungsfeld, Identität und Rolle nicht gelöst ist, bleibt die sogenannte Doppelagentenrolle nebulös, damit überfordernd. Sind die Gegebenheiten allerdings klar, liegt die Verantwortlichkeit des Arztes oder seiner Repräsentanten zuallererst darin, für die Zurverfügungstellung der medizinisch als erforderlich erkannten Ressourcen zu argumentieren und in den entsprechenden politischen Gremien diesbezüglich zu verhandeln. Für die getroffenen Entscheidungen sind die Repräsentanten und Mandatsträger der Gesellschaft sozialpolitisch verantwortlich.25 Für ein Erkennen von individuellen Dringlichkeiten der Verteilung dagegen ist Erfahrung und Ethos des Arztes in der spezifischen ärztlichen Handlungssituation, die nicht in formalen Regeln aufgeht, erforderlich.26 Zusätzlich notwendig ist ein kompetenter Umgang mit Dilemmata ineins und zusammen mit Kenntnis und Anerkennung situativer Strukturen, die Hilfe und Orientierung geben. Das eben soll in einem hier darzustellenden, medizinethisch vertretbaren Handlungskonzept unter Heranziehung und Erfassung der Struktur der therapeutischen Situation ermöglicht werden.

Wirtschaftspolitische, neoliberal inspirierte Lösungsansätze laufen darauf hinaus, dem Ansatz von Heubel diametral entgegengesetzt27 (der eben durch Darstellung therapeutischer Erfordernisse nach außen auf das Wirtschaftssystem Einfluss nehmen möchte), gleichfalls ohne klar definierte Substruktur (Situationsgrenze) die Instrumente der Ökonomiewissenschaften in die ärztliche Tätigkeit zu transferieren. Entsprechend dem Wissenschaftsverständnis der Ökonomiewissenschaften sollen Krankheiten auf ihre objektivierbaren Aspekte (Merkmale) reduziert und daran anknüpfend die Wirksamkeit von Eingriffen festgestellt und von daher der Einsatz der Mittel bestimmt werden. Dieser Ansatz muss schon daran scheitern, dass das therapeutische Handlungsfeld vielschichtiger, Krankheit komplexer ist, als dass sie sich auf die objektivierende Ebene reduzieren ließen. Es ist ein klarer Mangel des gegenwärtigen Medizinbetriebes und maßgeblicher Vertreter der Ärzteschaft, hier dem einseitig objektivistischen Ansatz um des ökonomischen Trends willen gefolgt zu sein. So heißt es, Ärzte sollten zu Therapiemanagern werden und sollten endlich lernen, was im Hinblick auf die effiziente Führung des Unternehmens »Arztpraxis« und des Unternehmens »Krankenhaus« zu tun sei.28 Angesichts eines solchen Maßes an erschreckender Orientierungslosigkeit seitens der Politik und leider auch eines nicht unerheblichen Teils der Ärzteschaft bezüglich der unterschiedlichen Charakteristika von therapeutischem und geschäftlichem Handlungsfeld ist es vordringlich, die anthropologischen und empirisch-faktischen Voraussetzungen des therapeutischen Handelns und der Regeln des geschäftlichen Handelns zu klären, was im Verlauf der weiteren Argumentation geschehen soll.

Hinzu kommt: Ein zukunftsweisendes Konzept muss Klarheit darüber schaffen, was die Besonderheiten des therapeutischen Handlungsfeldes ausmacht und zudem, welcher Status den therapeutischen Akteuren, welcher Schutz und welche Unterstützung seitens der Gesellschaft und der politischen Verantwortungsträger ihnen zukommen muss, damit sie ihre Aufgabe des Erkennens und Behandelns von Krankheit erfüllen können. Wie im Weiteren gezeigt werden wird, verdeckt die Transferierung von ökonomischen Begrifflichkeiten in einen Bereich, in den sie nicht gehören, die Spezifität und Komplexität des therapeutischen Handlungsfeldes.

Wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in unserem Gesundheitssystem zeigen, reicht ein Transfer allgemeinethischer Konzepte auf medizinethische Fragestellungen nicht aus. Solche Konzepte bedürfen nämlich in der Praxis jeweils für den medizinischen Einzelfall umständlicher Herleitungen, die ad hoc in der akuten medizinischen Handlungssituation nur schwer zu leisten sind. Deontologische, konsequentialistische wie auch tugendethische und diskursethische Aspekte sind als Grundlage für eine medizinethische Argumentation selbstverständlich zu berücksichtigen. Die Frage ist aber, wie diese in der konkreten Situation zusammenzuführen bzw. gegeneinander abzuwägen sind. Dieses Anliegen hat Niederschlag gefunden in der medizinischen Prinzipienethik von Beauchamp und Childress (1979), die sich bekanntlich an den Prinzipien der Autonomie, des Nichtschadens, des Nützens bzw. der Fürsorge und des Prinzips der Gerechtigkeit ausrichtet (Vierprinzipienkonzept). Die Gewichtung der Prinzipien bleibt im individuellen Entscheidungsfall ein kombiniertes Erkenntnisproblem und ein Problem des darüberhinausgehenden abwägenden Diskurses. Das gilt für den Abgleich des Prinzips der Fürsorge und Autonomie im individuellen Fall und dem Prinzip der Gerechtigkeit im Verhältnis des Individuums (salus privata) gegenüber der Solidargemeinschaft (salus publica). Die Autoren selbst verkennen dieses Problem natürlich nicht. Am Schluss des 500-seitigen Werkes wird ohne Weiteres konzediert, dass es von dem Charakter des Akteurs abhänge, wie er in diesen Prinzipienfragen mit Haltung und Charakter entscheide. Das ist eine allgemeinethisch gewiss anerkennenswerte Ehrlichkeit, bleibt im medizinischen Entscheidungsprozess jedoch unkonkret und unbefriedigend.

Ansätze der hermeneutischen Ethik, die diese zunächst unverbundenen Prinzipien im individuellen Fall durch ein Verstehen des Patienten zusammenzuführen trachten, belassen es bei dem Hinweis auf den Diskurs, im Sinne eines allgemeinen Dialogs, basierend auf Tugend und Gewissen bei der Entscheidung.29 Das Besondere der Dialogstruktur aus der Sicht der Verantwortung des Arztes und des Vertrauens des Patienten ist damit gar nicht erfasst. Sie müsste in eine Hermeneutik überleiten als einer Methode des Verstehens der biographischen Gestalt in einer bestimmten medizinischen Handlungssituation, kann jedoch nicht ausweisen, wo aus ethischem Belang der hermeneutische Prozess abzubrechen und zum entschiedenen Handeln überzugehen ist. Die Diskursethik, die insoweit der hermeneutischen Methode nahesteht, profiliert sich insbesondere in der Herausarbeitung von Dilemmasituationen, die für die praktische Medizinethik das zentrale, sehr ernst zu nehmende Problem, aber nicht die Lösung sind.

Sieht man, wie etwa Maio30, die Fürsorgeethik bzw. Care-Ethik als »eine Reaktion auf die Einseitigkeit der Prinzipien- bzw. der Pflichtethik«, so macht er auf etwas Wichtiges aufmerksam, zeigt jedoch eben nicht, wie die Prinzipien, die nicht auf eine »Umsetzung von Regeln reduziert werden«, noch etwa sich in subjektiver Beliebigkeit erschöpfen dürfen, in eine ethisch begründete therapeutische Handlung umzusetzen wären. Richtig immerhin ist die Feststellung, dass ein individuelles Eingehen auf einen ganz bestimmten Menschen innerhalb eines vorgegebenen Rahmens31 erforderlich sei. Es unterbleibt leider die notwendige Bestimmung dieses Rahmens als therapeutische Handlungssituation. Damit wird die Lösung der Grundfrage verfehlt, wie sich in einer Arzt-Patient-Beziehung und Handlungssituation die genannten Prinzipien als ordnungsstiftende Komponenten aufgreifen und zu einer konkreten Lösung führen lassen. Die traditionellen Aporien, die sich natürlich auch in den aktuellen methodologischen Ansätzen wiederfinden, müssen schließlich in einen praktischen Lösungsweg münden und in einer Entscheidungaufgehoben sein. Die allgemeinethischen Ansätze, so unverzichtbar sie für eine medizinische Ethik als Bezugsbereich sind, reichen eben nicht aus, um das medizinische Erkenntnisanliegen hinsichtlich der Erfassung von Krankheit, der Indikation und der daraus folgenden ethischen Handlungskonsequenzen zu entwickeln und zu begründen.

Dabei stößt man auf das Problem, dass es für die jeweils konkrete, therapeutische Erkenntnis- und Handlungssituation auf eine wiederum ethisch zu begründende Eingrenzung der Verantwortung zum einen und zum anderen um eine erweiterte komplexere Erkenntnislage geht. Eine hermeneutische Ethik des Verstehens kann und möchte hier über die Festlegung auf objektivierbare Fakten hinausführen. Sie geht jedoch einher mit einer Gefährdung durch uferlosen Diskurs und einer Ratlosigkeit gegenüber nichtverstehbaren Befund-Komponenten, ferner gegenüber der Frage, wie mit dem »Rest«, etwa somatisch determinierter Prozesshaftigkeit, umzugehen sei. Auch eine Erweiterung dieses Ansatzes in der Ethik der Sorge (Care-Ethik) führt hier nicht zu einem Orientierungsgesichtspunkt dahingehend, wann vom Mitfühlen und Verstehen zum entschiedenen Handeln überzugehen ist. In der Weiterführung als einer Ethik der Begegnung von Arzt und Patient ist zwar zu einer Differenzierung der Beziehungsqualität und zur Gestaltung eines respektvollen Dialogs zu gelangen, sachlich und »technisch« notwendige und sinnvolle Asymmetrien in der Beziehung zwischen Arzt, Patient und Gesellschaft können in diesem Ansatz nicht adäquat erfasst und abgebildet werden. Das führte, geschichtlich lässt sich dies zeigen, immer wieder zu Einseitigkeiten, die die subjektive Innerlichkeit als alleinigen Maßstab des Handelns auffassten. Notwendig stößt man also auch hier auf die Frage nach der Struktur der Erkenntnis- und Handlungssituation. Zu fragen ist daher, wie Betroffenheit durch die Not verbunden werden kann mit einer durchaus distanzierten objektivierenden Erfassung der Störung bzw. der Krankheit und schließlich wie dies zusammenzuführen ist mit einem adäquaten, hermeneutischen Geschehen im Dialog, das im Idealfall zu einer gemeinsam und differenziert verantworteten Handlungsentscheidung führt. Bedingung für einen solchen Lösungsansatz muss sein, dass die genannten Gesichtspunkte, wie auch pflichtethische und konsequentialistische Aspekte, weiterhin auf einen Ausgleich von Individual- und Gemeinwohl bezogene Gesichtspunkte, in einen ethischen Diskurs eingebracht werden. Aufgeworfen ist damit die Frage der Zuordnung der Gesichtspunkte, die Frage also hinsichtlich der Binnenverfassung der medizinischen Erkenntnis- und Handlungssituation, und von daher zum einen die Frage nach der Erkenntnisebene, von Betroffenheit (Subjektivität), der Ebene von objektivierbaren Gegebenheiten, schließlich der personalen Ebene, auf der subjektive und objektivierbare Gegebenheiten zusammengeführt werden. Dies kann selbstverständlich nicht zu einer Harmonisierung der unterschiedlichen ethischen Gesichtspunkte auf der theoretischen Ebene führen. Erforderlich und anzustreben ist es jedoch, in einer therapeutischen Erkenntnis- und Handlungssituation die unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden und in Spannungen stehenden ethischen Prinzipien und Konzepte für die konkrete und individuelle Erkenntnis- und Handlungskonstellation zu gewichten und dieser Gewichtung entsprechend die Handlung zu verantworten. Damit ist bereits über eine Betrachtung der strukturellen Ebene hinaus eine prozessuale Perspektive berührt, die für das Verständnis einer Lösungsfindung unter adäquater Berücksichtigung allgemeinethischer Gesichtspunkte von grundlegender Bedeutung ist. Die Definition der therapeutischen Situation als Praxis, erweitert durch eine theoretische, etwa prozessdynamische Sichtweise, wird daher im Zentrum jeder lösungsorientierten Konzeptualisierung stehen müssen.

1.3 Offene Systemwidersprüche: Humanität und Rentabilität

Medizinethische Konzeptbildungen greifen typologisch auf unterschiedliche Lösungsansätze zurück, um eine »medizinische Bereichsethik« zu definieren. Eine Gruppe von Ansätzen bezieht sich auf unterschiedliche allgemeinethische Konzepte und bestimmt bei jeder konkreten medizinethischen Fragestellung erneut ab ovo die spezielle medizinethische Entscheidung. Auch wenn dies inhaltlich nachvollziehbar und hinsichtlich der jeweiligen Resultate konsistent ist, so ist für die Praxis in einer akut zu fällenden Entscheidung ein solches Vorgehen kaum handhabbar. Von daher gehen medizinethische Konzepte in der Regel doch wieder pragmatisch auf abgeleitete Kriterienkataloge zurück, die sich auf ein bestimmtes typologisches Repertoire von Entscheidungskonstellationen beziehen. Es bleibt die bekannte Schwierigkeit aller Kriterienkataloge, dass diese dem speziellen Fall nie ganz entsprechen. Sie bewegen sich dann methodisch in vergleichbarer Nähe zu ethischen Prinzipien mit den bekannten Schwierigkeiten bei der konkreten Applikation. Eine Prinzipienethik weist zwar die Prinzipien aus, die grundsätzlich relevant sind, kann jedoch aus diesem Ansatz heraus nicht stets zeigen, wie bei sich widersprechenden Prinzipien konkret zu verfahren ist, um zu einer tragfähigen Entscheidung zu kommen.

Systemische Ansätze gehen von einer prozessualen Einheit spezieller bzw. individueller Entscheidungssituationen und dem jeweiligen sozialen Umfeld aus. Zwei typologisch unterschiedliche Ansätze sind hier in der medizinethischen Argumentation zu erkennen. Die Argumentation kann von der individuellen Mikrosituation (Interaktion von Arzt und Patient) ausgehen und Anforderungen von daher hinsichtlich des diese Situation umgebenden Gesamtfeldes, also im Blick auf wirtschaftliche und sozialpolitische Gegebenheiten, stellen. Auf diese Weise wird versucht, die medizinethischen Anliegen zu sichern. Eine solche Systematik ist jedoch sozialpolitisch kaum durchsetzbar, da es bedeuten würde, das gesamte Wirtschaftssystem, etwa die klinischen Institutionen und auch die individuellen therapeutischen Handlungssituationen, umstandslos auf klinische Bedürfnisse auszurichten. Vor allem aber wäre sozialethisch dadurch das Gerechtigkeitselement gegenüber der Solidargemeinschaft nicht gesichert bzw. infrage gestellt. Umgekehrt kann ein systemisches Modell auch auf der Makroebene ansetzen mit der Behauptung etwa, dass ein liberales Marktsystem am besten geeignet sei, preiswerte Angebote und ethische Werte bis auf die Mikroebene der therapeutischen Situation zu sichern. Dass dem nicht so ist, liegt in der Charakteristik der Verhandlungssituation von Akteuren mit asymmetrischen Voraussetzungen, wie an anderer Stelle ausgeführt werden wird. Es resultiert ein begründeter Appell dahingehend, hier Systemgrenzen zu beachten: Letztere sollen Makrosituationen, die sozialpolitischen und marktwirtschaftlichen Regeln folgen, unterscheiden von Mikrosituationen, in der therapeutische Regeln bzw. Grundsätze gelten.

Konzeptuell wird hier im Allgemeinen versucht, durch ein Rollenmodell im Sinne der Zuschreibung einer doppelten Rollenverantwortung des Hauptakteurs, des Arztes, Deutlichkeit zu erreichen. So richtig die Zuordnung dieser doppelten Verantwortung ist, so muss dieses Rollenmodell weiter spezifiziert werden. Zum einen hinsichtlich einer Zuteilung im Bereich der therapeutischen Mikrosituation für den einzelnen Patienten wie auch als Verantwortlicher für die richtige Verteilung von Ressourcen aus dem sozialpolitisch vorgegebenen Rahmen der Solidargemeinschaft. Diese sogenannte »Doppelagentenrolle« erfasst Richtiges, überfordert als reines Rollenmodell jedoch den Arzt als Person, weil die Widersprüchlichkeiten ohne ordnungsstiftende Zusatzannahmen nicht zu lösen sind. Die richtig gesehene Doppelrolle muss bezogen werden auf eine einheitliche therapeutische Identität. Mit der therapeutischen Identität des Handelnden ist der Bereich der Verantwortung definiert, die begrenzt ist auf den therapeutischen Handlungsraum, innerhalb dessen eben der Verantwortung durch die Rollenübernahme nachgekommen werden kann. Dadurch ist eine differenzierende Übernahme zum einen der Rolle als für den Patienten verantwortlicher Therapeut, wie zusätzlich als Verteiler der zuvor sozialpolitisch verhandelten und zugeteilten Ressourcen möglich. Hier bedarf es also einer grundsätzlichen identitätstheoretischen Erweiterung, der dann das mehrdimensionale Rollenmodell zuzuordnen ist. Die daraus sich ergebende Konsequenz wird später konzeptuell aufzugreifen sein.

Gesetzgeberische, institutionelle bzw. staatliche Rahmenbedingungen definieren die zur Verfügung gestellten Ressourcen, schützen und limitieren sie auch. Dies gilt auch und gerade für ein Gesundheitssystem, das im Rahmen einer liberalen Marktwirtschaft funktionieren soll. Damit sind sozialethische und politische Fragen der gerechten Allokation und der Humanisierung der Limitierung aufgeworfen.32 Natürlich sieht sich das Gesundheitswesen in unserem politischen System, wie andere Kulturprodukte auch, stets mit Fragen der Wirtschaftlichkeit konfrontiert. Die Besonderheit hinsichtlich des Gegenstandsbereiches Gesundheitswesen indes ist, dass bei Misslingen dieses Unternehmens stets grundlegende humane Werte gefährdet sind. Wenn die These richtig ist, dass die ungeklärten Fragen unseres Gesundheitswesens die inneren Systemwidersprüche unserer freiheitlichen, liberalen und sozialen Demokratie paradigmatisch widerspiegeln, so kann in der Bearbeitung der damit deutlich werdenden Probleme eine Überlebensfrage gesehen werden. Der innere Systemwiderspruch unserer Gesellschaftsordnung und so auch unseres Gesundheitswesens liegt darin, dass es wirtschaftlich als Überlebensstrategie auf Rentabilität setzen muss, jedoch sich daraus die Lösung der sozialen Fragen und mit ihr die Verwirklichung menschlicher Werte keineswegs von selbst ergibt (!). Die Verwirklichung von menschlichen Werten, z. B. Förderung der Schwachen, Sorge um die Kranken, bedarf ihrerseits freilich einer wirtschaftlichen Basis, soll sie auf Dauer gelingen. Ein System, das den Kontakt zu den wirtschaftlichen Ressourcen verliert, kann nicht überleben und wird damit auch in der humanen Umsetzung der Werte scheitern. Unser freiheitliches System hat den Vorteil, dass diese Systemwidersprüche gesehen und offengelegt werden können, was eine Voraussetzung eines fairen Ordnungs- und Verteilungsverfahrens ist.

Aufgabe einer Medizinethik kann es nicht sein, den Systemwiderspruch zwischen Ökonomie und Humanität im allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang zu lösen: Es ist jedoch erhellend, diesen Widerspruch offenzulegen. Daraus resultiert die Einsicht, dass eine Abgrenzung zwischen politischem Handlungsraum und therapeutischem Handlungsfeld jedenfalls von elementarer Bedeutung für richtiges Handeln und die Zuordnung von Verantwortung ist. Mit dem Ansatz der therapeutischen Handlungssituation wird ein spezifischer Begründungszusammenhang hergestellt, was bedeutet, dass diese aus einem reinen Kosten-Nutzen-Kalkül, also der Ökonomie, herausgenommen werden kann. Eine wesentliche Funktion der Grundrechte und des Rechts besteht darin, externe Präferenzen, und so auch ökonomische Aspekte, in ihre Schranken zu verweisen. Dies ist hier im speziellen Fall unter Rekurs auf einen medizinethischen und medizintheoretischen Ansatz zu leisten. Da zur Verfügung gestellte Ressourcen im Gesundheitswesen stets begrenzt sein werden, wird die Verteilung der Ressourcen in der individuellen ärztlichen Handlungssituation einem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgen müssen, denn bei begrenzten Ressourcen verknüpft nur das Verhältnismäßigkeitsprinzip den Individualrechtsschutz in angemessener Weise mit dem Gerechtigkeitsprinzip (Gleichheitsprinzip