4,99 €
I gave you my heart, but the very next day, you gave it away … Eigentlich hat sich Romy auf gemütliche Kleinstadt-Weihnachten abseits des College-Trubels gefreut. Doch als ihr unerwartet Finn über den Weg läuft, löst sich ihre festliche Stimmung in Luft auf. Denn er ist der Grund für ihr gebrochenes Herz. Aber jemandem in einer Kleinstadt aus dem Weg gehen? Unmöglich! Da kommt Romy der große Weihnachtswettbewerb gerade recht, um auf andere Gedanken zu kommen. Vor allem kann sie das Preisgeld mehr als gut gebrauchen. Zwischen Lebkuchenhäusern, hölzernen Nussknackern und jeder Menge Winter-Weihnachtszauber ist es ausgerechnet Finn, mit dessen Hilfe sie den Wettbewerb gewinnen könnte. Wenn da nicht seine "Beinahe"-Küsse wären, die Romy immer wieder aus dem Konzept bringen. Aber egal, wie nahe ihr Finn auch kommt, auf keinen Fall wird sie ihm noch einmal ihr Herz schenken – auch nicht zu Weihnachten … Eine Winter-Romance zum Dahinschmelzen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2022
This (Last) Christmas
Julia Pelzer wurde 1982 in der Nähe von Hannover geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Schon als Teenager mochte sie am liebsten Geschichten, in denen die Liebe eine große Rolle spielt. Bis heute hat sich das nicht geändert - genau wie ihr Hang zu Tagträumen. Nicht selten entstehen so neue Ideen zu Love Storys, die dann unbedingt niedergeschrieben werden müssen. Wenn sie nicht gerade einen Stift in der Hand hält, steckt ihre Nase in einem Buch oder sie lebt ihre Sammelleidenschaft für Tassen aus, auf denen sich mit Vorliebe Disney-Motive befinden.
Eigentlich hat sich Romy auf gemütliche Kleinstadt-Weihnachten abseits des College-Trubels gefreut. Doch als ihr unerwartet Finn über den Weg läuft, löst sich ihre festliche Stimmung in Luft auf. Denn er ist der Grund für ihr gebrochenes Herz. Aber jemandem in einer Kleinstadt aus dem Weg gehen? Unmöglich! Da kommt Romy der große Weihnachtswettbewerb gerade recht, um auf andere Gendanken zu kommen. Vor allem kann sie das Preisgeld mehr als gut gebrauchen. Zwischen Lebkuchenhäusern, hölzernen Nussknackern und jeder Menge Winter-Weihnachtszauber ist es ausgerechnet Finn, mit dessen Hilfe sie den Wettbewerb gewinnen könnte. Wenn da nicht seine „Beinahe“-Küsse wären, die Romy immer wieder aus dem Konzept bringen. Aber egal, wie nahe ihr Finn auch kommt, auf keinen Fall wird sie ihm noch einmal ihr Herz schenken – auch nicht zu Weihnachten …
Julia Pelzer
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin November 2022 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-95818-724-5
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Danksagung
Leseprobe: Hook me up
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Hört nie auf, an den Zauber von Weihnachten zu glauben. Niemals!
Da müsste Musik seinÜberall, wo du bistDenn wenn es am schönsten istSpiel es wieder und wieder
»Musik sein« von Wincent Weiss
Würde der Zauber von Weihnachten jemals seine Wirkung auf mich verlieren? Niemals. Da war ich mir absolut sicher. Ich glaubte nicht daran, dass es angeblich ein ganz normaler Prozess des Erwachsenwerdens war. Und wenn es doch stimmen sollte, dann gehörte ich definitiv zu den Menschen auf dieser Welt, die dagegen immun waren. Oder ich war mit siebzehn einfach noch nicht erwachsen genug. Es konnte aber auch daran liegen, dass ich in einer verrückten Kleinstadt lebte, die im Dezember genauso viel Strom für Weihnachtsbeleuchtung verbrauchte wie alle Leute in Manhattan zusammen. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, in diesem Augenblick war ich mir mehr als sicher, dass nichts auf dieser Welt den Weihnachtszauber für mich zerstören konnte.
Ungeduldig sah ich auf die Uhr. Es war schon kurz vor Mitternacht und Weihnachten damit offiziell fast vorbei – aber nicht für mich. Schon vor einer gefühlten Ewigkeit hatte ich mich unter dem Vorwand, müde zu sein, in mein Zimmer geschlichen. Und jetzt saß ich auf meinem Bett und sah immer wieder erwartungsvoll zu meinem Fenster, wie ein kleines Kind, kurz bevor es am Weihnachtsmorgen seine Geschenke auspacken durfte. Doch auf was ich wartete, war so viel mehr als irgendwelche hübsch verpackten Kartons unter einem Weihnachtsbaum.
Um mich abzulenken, griff ich nach meiner alten Gitarre, stimmte sie und schlug leise ein paar Akkorde an. Ganz automatisch summte ich die Melodie von Last Christmas dazu, als mein Fenster von außen aufgeschoben wurde. Endlich. Eine Sekunde später wurde ich von dem süßesten Jack Russell Terrier der Welt angesprungen. Barney versuchte mich mit einer Reihe schlabbriger Hundeküsse zu begrüßen, denen ich gekonnt auswich. »Du kleiner Schlingel. Ich habe dich ja auch schrecklich vermisst.« Immer wieder strich ich dem vierbeinigen Energiebündel über den Kopf. Der kleine Hund freute sich so sehr, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen. »Na wer hat dich denn so hübsch gemacht? Da fehlt ja nur noch eine rote Mütze.« Barney trug bei diesem Wetter oft einen Hundepullover. Heute war es ein besonders festlicher, dessen Muster an den Mantel des Weihnachtsmanns erinnerte.
»Das war Grandpa Bob.«
Augenblicklich stellten sich die feinen Härchen in meinem Nacken auf, als der eisige Winterwind durch das immer noch offene Fenster hereingeweht wurde. Aber vielleicht war auch nicht der Wind dafür verantwortlich, sondern der Mensch, der sich jetzt geschmeidig wie eine Katze durch die Öffnung schob und mich mit dem unwiderstehlichsten Lächeln auf dieser Welt ansah. Ich hatte keine Ahnung, wie oft Finn bereits durch mein Fenster gestiegen war. Er hatte das schon immer getan, und seitdem wir zusammen waren, fast jede Nacht.
»Ich dachte schon, ich müsste Weihnachten ohne dich verbringen.«
Finn fuhr sich verlegen durch seine zerzausten schwarzen Haare und schob dann eine Hand lässig in die Hosentasche seiner Jeans. Für einen kurzen Moment zog er die Unterlippe zwischen seine Zähne, bevor er wieder auf diese Art lächelte, die mir die Knie weich werden ließ.
»Hattest du eine Ahnung davon, wie viele verschiedene Lebkuchen-Rezepte es gibt und dass irgendwo in Florida ein Museum steht, in dem die ausgestellt werden?«
Unwillkürlich musste ich lachen. »Gebacken oder roh? Lass mich raten, dein Grandpa hat die Geschichte erzählt.« Ich stand von meinem Bett auf und zog Finn in meinen Arm, um mein Gesicht in seiner Halsbeuge zu vergraben. »Du riechst sogar noch nach Lebkuchengewürz.«
»Ich musste auch Tonnen davon essen, damit ich schneller bei dir sein konnte.«
»Du hast extra für mich Bauchschmerzen in Kauf genommen, damit das Weihnachtsfest mit deiner Familie schneller zu Ende geht?«
»Für dich würde ich alles riskieren.« Er strich mir eine dunkle Locke aus dem Gesicht und verschränkte dann seine Finger mit meinen.
»Du hättest aber auch durch die Haustür kommen können.«
»Damit dein Vater in einer halben Stunde hier reinkommt und mich nach Hause schickt? Niemals. Außerdem hätte ich dann nicht das hier mitbringen können.« Finn zog grinsend eine Flasche Rum hinter seinem Rücken hervor.
»Hast du die etwa von deinen Eltern geklaut?«
Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Geklaut ist so ein großes Wort. Sie stand in der Küche.« Gleichgültig zuckte er mit den Achseln. »Das ist die Entschädigung dafür, dass ich mir stundenlang diesen dämlichen Quatsch über Lebkuchen anhören musste. Es hat niemand gemerkt. Grandpa Bob war viel zu sehr damit beschäftigt, im Internet nach Reisegruppen zu suchen, die von hier nach Florida fahren, um dieses Museum zu besichtigen.«
Wieder musste ich schmunzeln. »Du hast dich also heimlich weggeschlichen.«
»Ich habe Barney als Alibi benutzt. Der arme Junge musste sowieso mal raus.«
Barney hatte sich am Fußende meines Bettes eingerollt und döste zufrieden, als wäre das der beste Platz auf der ganzen Welt.
»Außerdem wissen doch sowieso alle, wo ich bin. Also …« Auffordernd schwenkte er die Flasche in die Luft.
»Aber wir dürfen doch noch überhaupt keinen Alkohol trinken.«
Für eine gefühlte Ewigkeit sah Finn mir in die Augen. Mit seiner freien Hand strich er über meine Wange, bevor er seine Lippen auf meine legte und mich küsste. »Romy Green, ich liebe es, wie du dich ausnahmslos und wirklich immer an die Regeln hältst.« Er stellte den Rum auf meinem Schreibtisch ab, ohne den Blick von mir zu nehmen. In der nächsten Sekunde zog er mich wieder in seinen Arm und verteilte eine Reihe hauchzarter Küsse auf der empfindlichen Stelle an meinem Hals. »Was wohl deine Eltern sagen würden, wenn sie wüssten, wie viele Nächte ich heimlich bei dir bin?«
Erneut bildete sich eine Gänsehaut in meinem Nacken, als Finns Atem leicht darüberstrich. Es war unmöglich, jetzt daran zu denken, was meine Eltern dazu sagen würden. Aber Finn wollte ganz offensichtlich eine Antwort darauf haben, denn er sah mich erwartungsvoll an. Widerwillig löste ich mich von ihm. »Wir sind keine Kinder mehr. Außerdem hat meine Mutter im Sommer deine Fußspuren in ihrem Beet unter meinem Fenster entdeckt. Sie kann sich also denken, dass wir uns treffen, wenn niemand es mitbekommen soll. Und sicher wird sie auch ahnen, was wir dann tun.«
Finns braune Augen wurden noch einen Ton dunkler, als er mir einen Finger auf meine Lippen legte. »Bitte nicht. Auch wenn du meinem Kopfkino gerade ordentlich einheizt, möchte ich nicht an deine Eltern denken müssen, wenn wir zusammen in diesem Bett liegen.«
Neckend gab ich ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Wir können uns ja auch bei dir treffen, wenn du willst.«
»Und riskieren, dass mein verrückter Grandpa hereinplatzt, um uns zu erzählen, dass er vorhat, eine Alpakazucht zu eröffnen, um dann aus der Wolle Hundepullover stricken zu wollen? Danke, ich verzichte.« Er sah über meine Schulter zu meinem Bett herüber. »Hast du gerade gespielt?«
»Nur ein bisschen. Und leise, damit es keiner hört.«
»Sollten sie aber. Im Ernst, du bist eine so talentierte Musikerin. Du solltest zumindest für deine Familie spielen.«
Ich atmete hörbar aus. »Ja schon. Aber ich fühle mich einfach sicherer, wenn ich nur für dich spiele. Und spätestens, wenn ich übernächstes Jahr im Sommer zu dir nach Nashville komme, habe ich ja keine Wahl mehr. Dann muss ich vor Publikum spielen.«
Wieder küsste er mich. »Das klingt nach einem super Plan. Im Übrigen, mir gefällt dein Hoodie.«
Grinsend sah ich an mir herunter. Auf meinem Pullover stand in großen Buchstaben What would Dolly Parton do?, darunter war ein Bild der Countrysängerin abgebildet. »Den habe ich von meinen Eltern bekommen. Mit Dolly kann in Nashville absolut nichts mehr schiefgehen.«
»Aber war Whitney Houston nicht viel erfolgreicher mit diesem Cover von ihr?«
»Es kommt doch nicht auf den Erfolg an. Das Wichtigste ist, dass du immer mit dem Herzen dabei bist, egal was du machst. Und genau das drückt dieses Shirt aus.«
»Wenn du das so siehst, dann habe ich das perfekte Weihnachtsgeschenk für dich.« Er dirigierte mich rückwärts auf mein Bett und ging dann zum Fenster, um es erneut zu öffnen.
»Du sollst mir doch nichts schenken. Du brauchst deine Ersparnisse für dein Studium.« Mein Protest stieß auf taube Ohren. Im nächsten Augenblick hatte er einen großen Karton in mein Zimmer gezogen und ihn mir auf den Schoß gelegt.
»Was ist das?«
»Mach es auf.«
Ich löste die Schleife und hob den Deckel von der Schachtel. »Das ist eine Gibson-Westerngitarre.« Ungläubig sah ich ihn an. »Die hat ein Vermögen gekostet! Du musst sie zurückgeben.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest, deswegen habe ich die Rechnung verbrannt.«
»Du hast was?«
Als Antwort schob er seine Hände in meine Haare und verschloss im nächsten Moment meinen Mund mit seinen Lippen. Dieser Kuss schmeckte nach Lebkuchen, Zimt und noch so viel mehr. War es möglich, dass man sich jeden Tag immer noch mehr in dieselbe Person verlieben konnte?
Finn löste sich von mir und deutete dann mit dem Kopf auf den Karton in meinem Schoß. »Ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen, wie deine perfekten Finger mit diesem alten Teil spielen. Außerdem muss ich doch sicher sein, dass du mich hier nicht vergisst, wenn wir uns ab September nicht mehr so oft sehen.«
»Und eine so teure Gitarre soll dabei helfen?«
»Dieses Exemplar ist etwas ganz Besonderes.« Er nahm das Instrument aus dem Karton und drehte es um. In verschnörkelter Schrift war dort sein Name eingraviert. »Sie heißt genauso wie ich. Wie kannst du da nicht an mich denken, wenn du sie spielst?« Seine Augen funkelten spitzbübisch bei seinen Worten, und ich verschränkte meine Hände in seinem Nacken, um ihn näher an mich zu ziehen. »Wie könnte ich nur eine Sekunde nicht an dich denken?«
»Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.«
Den Karton mit der Gitarre schob ich, ohne den Blick von Finn zu nehmen, neben mir aufs Bett. Dabei fiel etwas zu Boden. »Was ist das?« Finn beugte sich vor, um das Stück Papier aufzuheben.
»Den hat mir Mr Nessbit gegeben. Das ist eine Anmeldung für einen Musikkurs. Die Juilliard ist eine der renommiertesten Schulen für Musiker und darstellende Künstler in New York. Die Ausbildung dort ist einmalig und auf der ganzen Welt hoch angesehen. Die bringen in allen Bereichen große Talente hervor. Für Interessierte bieten sie jeden Sommer ein Camp an.«
»Und du willst dahin?«
»So eine Möglichkeit bekomme ich nie wieder. Mr Nessbit meinte, es wäre eine Chance, meine Angst in den Griff zu bekommen, wenn ich mit anderen Musikern zusammenspielen würde. Nach dem Highschoolabschluss fällt es mir durch so eine Erfahrung bestimmt viel leichter, in der Musikbranche zurechtzukommen.«
»Ja vielleicht.« Finns Blick war auf den Fußboden gerichtet, während er den Flyer immer wieder langsam durch seine Finger gleiten ließ.
»Hey, was ist los?«
Er sah mich an und schüttelte dann kaum merklich den Kopf. »Nichts. Probier sie endlich aus.«
Vorsichtig strich ich über den Schriftzug der Gitarre, bevor ich sie stimmte. Schon jetzt war der Klang so viel besser, als alles, was ich bisher gehört hatte. Erneut schlug ich leise den Refrain von Last Christmas an. »Ich kann es kaum erwarten, wenn wir zusammen an der gleichen Uni in Nashville studieren. Und abends hörst du mir beim Spielen in einer der vielen Musikbars zu.«
»Egal in welchem Laden du auftrittst, ich werde der Typ mit dem bekloppten Gesichtsausdruck sein, der überall rumerzählt, dass das da auf der Bühne seine Freundin ist.«
»Und insgeheim spiele ich jedes Lied nur für dich.«
Mitten im Song ließ ich das Instrument verstummen und legte es zur Seite.
»Warum hörst du auf?«
»Ich habe auch etwas für dich.« Mit der Hand tastete ich blind nach etwas unter meinem Bett und zog Sekunden später einen kleinen, in Weihnachtspapier eingepackten Karton hervor. »Ich sollte dich vorwarnen. Es ist nicht so großartig wie deins.«
»So ein Quatsch! Ich wette, es ist absolut perfekt.« Er riss, ohne zu zögern, das Papier auf und hielt dann für einen Augenblick in der Bewegung inne. »Das ist eine echt alte Ausgabe von Oliver Twist. Wo hast du die her?« In seiner Stimme schwang ein ehrfürchtiger Unterton mit.
»Um ehrlich zu sein, habe ich sie aus dem Bücherschrank bei Rosie’s Market. Die Ausgabe ist von 1922 und wurde nicht wie die Neuauflagen überarbeitet. Gefällt sie dir?«
Langsam strich er mit der Handfläche über den vergilbten Einband. »Ob sie mir gefällt? Sie ist unglaublich. Von diesen Exemplaren gibt es kaum noch welche.« Finn hob den Kopf und zog eine Augenbraue nach oben. »Aber läuft das mit so einem Bücherschrank nicht eigentlich anders? Tauscht man da nicht Buch gegen Buch, oder hast du jetzt doch deine kriminelle Ader entdeckt, von der ich bisher noch nichts wusste?«
»Finn Anderson, denkst du wirklich, ich hätte es geklaut?« Gespielt entsetzt stemmte ich die Hände in die Hüften, was Finn ein schiefes Lächeln entlockte. »Das würde ich niemals denken. Nicht bei dir. Gegen was hast du den alten Dickens getauscht?«
»Gegen sich selbst. Ich habe im Buchladen eine neue Ausgabe gekauft und sie für die alte in den Bücherschrank gestellt.«
»Ich kenne keinen Menschen auf dieser Welt, der das tun würde. Du bist unglaublich, weißt du das?« Erneut blätterte er durch die Seiten, bis sein Blick wieder auf den kleinen Karton fiel. »Was ist denn das noch?«
Verlegen räusperte ich mich. »Das ist ein bisschen kitschig, ich weiß, und du musst ihn auch nicht behalten, wenn du nicht willst. Aber er stand auch im Bücherschrank.«
Finn holte die kleine Holzfigur aus dem Karton und drehte sie in seiner Hand hin und her. »Ein Nussknacker.«
»Er ist ein bisschen kaputt am linken Arm. Deswegen hätte Rosie ihn bestimmt weggeschmissen, wenn sie ihn entdeckt hätte. Ich konnte ihn einfach nicht stehen lassen, aber wenn er dir nicht gefällt …«
Weiter kam ich nicht. Finn zog mich auf seinen Schoß und sah mich auf diese ganz bestimmte Weise an. »Das ist das Schönste, was ich je geschenkt bekommen habe.« Als seine Lippen auf meine trafen, schloss ich die Augen, um jeden Moment in mich aufzusaugen.
Das mit Finn und mir war für immer, daran gab es keinen Zweifel. Genauso wenig wie daran, dass der Zauber von Weihnachten niemals seine Wirkung auf mich verlieren würde.
In den letzten zehn Minuten wurde ich viermal angerempelt. Einmal gab es sogar einen Dominoeffekt, denn eigentlich wurde Tess neben mir angestoßen und sie hatte mich dann versehentlich gegen einen Typen geschubst, der beinahe seine fünf Becher Kaffee über mich gekippt hätte. Joe’s Coffé Bar war so voll, dass die Schlange vom Tresen schon fast bis zur Tür reichte. Trotzdem drängten sich immer mehr Studenten in das winzige Campus-Café. Hier einen Tisch zu ergattern, war wohl für die nächsten Stunden – wenn nicht sogar für die ganze nächste Woche – unmöglich. Aus den Boxen dröhnte kaum hörbar Mariah Careys All I Want for Christmas Is You, das irgendwo eine Gruppe Typen so schief mitgrölte, dass selbst Rudolf mit seiner roten Nase keine Lust mehr auf Weihnachten gehabt hätte. Hier ging es schlimmer zu als bei einem Footballspiel der New York Jets.
Dieses ganze Chaos sollte also der Vorbote des besinnlichen Fests der Liebe sein? Tess seufzte zufrieden und pustete sich dabei eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht. »Ist das nicht schön?« Sie deutete auf einen Typen mit einer Weihnachtsmannmütze, der irgendwelche Flyer an die Leute verteilte.
»Meinst du diesen Wahnsinn hier?«
Sie schüttelte den Kopf, während die Schlange zur Kaffeeausgabe sich langsam vorwärtsbewegte. »Nein. Ich meine das.« Der Typ kam jetzt auf uns zu und drückte uns beiden einen seiner Zettel in die Hand. Er trug ein eng anliegendes weißes Shirt, unter dem sich aus dieser Distanz jetzt auch noch ein beeindruckendes Muskelspiel erkennen ließ.
»Ich bin mir gerade nicht sicher, was du genau meinst. Den Typen oder die gefühlt hundertste Einladung zu einer Weihnachtsparty?«
»Vielleicht beides.« Sie leckte sich genüsslich über die Lippen und drehte sich noch einmal nach dem Weihnachtsmann um, der bereits dabei war, einer anderen Gruppe Studenten, die an der Tür standen, ebenfalls ein paar Flyer in die Hand zu drücken. »Bist du dir sicher, dass du dir diesen Spaß entgehen lassen willst?« Sie sah mich an und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. »Das alles gibt es nur einmal im Jahr, und das auch noch gratis.«
Unwillkürlich musste ich schmunzeln. »Ich habe extra zwei Hausarbeiten eher abgegeben und gestern noch ein Gespräch mit Professor Brown gehabt. Meinen vorgezogenen Weihnachtsferien steht nichts mehr im Weg.« Seit Finns plötzlichem Abgang war ich immer erst einen Tag vor Weihnachten nach Hause gefahren. Keine Minute eher. Denn auf keinen Fall wollte ich ihm begegnen. Ihn nach all dem zu sehen, wäre unerträglich gewesen.
»Und du bist dir sicher, dass er wirklich nicht da sein wird?« Das Wort er hatte Tess schon fast geflüstert. Ihre hellseherische Fähigkeit, genau zu wissen, was in meinem Kopf vor sich ging, beeindruckte mich immer wieder aufs Neue. »Er ist die letzten zwei Jahre an Weihnachten nicht zu Hause gewesen. Und wenn doch, dann nur kurz an den Feiertagen, und da sind wir uns nicht über den Weg gelaufen. Und eigentlich ist mir das auch total egal.« Ich klang trotziger, als ich wollte. Räuspernd korrigierte ich mich. »Es spielt keine Rolle mehr, ob er da ist oder nicht. Die Sache zwischen uns ist lange vorbei, und die Welt dreht sich weiter.« Die Wahrheit war, dass sie sich für Finn sehr viel schneller weitergedreht hatte als für mich. Meine Welt war in Millionen Teile zerbrochen; wie eine Schneekugel, die man auf einen harten Stein hatte fallen lassen. Nach dem Sommercamp in New York hatte Grandpa Bob mir gesagt, dass Finn weg sei – einfach so. Kein Auf Wiedersehen, kein Anruf, keine Erklärung. Von einer auf die andere Sekunde gab es keinen Platz mehr für mich in seinem Leben. Er hatte mich einfach ausradiert. Mir keinen Grund genannt und mir keine Chance gegeben, seine Entscheidung zu verstehen. Selbst als klar wurde, dass er gar nicht in Nashville lebte, obwohl er es schon immer so geplant hatte. Monate später erfuhr ich durch einen Zufall, wo er war: Finn studierte irgendwo an der Westküste. Da, wo die Temperaturen nie unter fünfzehn Grad fielen und Schnee zu Weihnachten nur als künstliches Zeug aus der Sprühdose existierte. Mehr wollte ich auch nicht wissen. Im letzten Sommer hatte ich entschieden, dass es endlich Zeit wurde, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Viel zu lange waren all die Fragen, auf die ich ohnehin nie eine Antwort bekommen würde, zu laut in meinem Kopf gewesen. Und weil Finn penibel darauf zu achten schien, dass wir uns tatsächlich nie über den Weg liefen, war es für mich an der Zeit, dieses Weihnachtsfest endlich wieder in vollen Zügen zu genießen – mit allem Drum und Dran. Und das bedeutete auch, mir die komplette Ladung Kleinstadt-Vorweihnachtszauber zu geben – ungefiltert und auch schon vor den Feiertagen. »Du kannst ja mitkommen. Deine Eltern würden sich bestimmt auch freuen, wenn sie dich etwas früher zu Gesicht kriegen.«
Tess riss entsetzet die Augen auf, als hätte gerade jemand sämtliche Studentenpartys abgesagt. »Ich soll das hier alles gegen Lebkuchen-Backwettbewerbe, Weihnachtsmärkte und andere unnötige Veranstaltungen tauschen?«
Neckend knuffte ich sie in den Oberarm. »Du darfst das traditionelle Nackt-Eisbaden am ersten Weihnachtstag nicht vergessen.«
»Himmel, stimmt! Ein Haufen alter Menschen in Badehosen aus dem vorletzten Jahrhundert. Wie konnte ich das vergessen?«
Ich musste lachen. Es war kaum vorstellbar, dass wir beide in der gleichen weihnachtsverliebten Stadt aufgewachsen waren. »Ich kann dich also nicht überreden mitzukommen?«
»Genauso wenig, wie ich dich überreden kann, hierzubleiben und mit mir süße Weihnachtsmänner abzuchecken.« Tess drückte auf meine Rentierbrosche, die ich mir heute Morgen angesteckt hatte. Sofort begann die Nase rot zu blinken. »Was willst du trinken? Ich lade dich ein.« Tess kramte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie, als wir endlich an der Reihe waren.
»Dreimal darfst du raten.« Ich konnte mir ein breites Grinsen nicht verkneifen.
Tess rollte gespielt übertrieben mit den Augen. »Einen Kaffee und eine heiße Schokolade mit Sahne, extra Zimt und diesen kleinen Dingern obendrauf.«
Die Barista sah uns verwirrt an. »Marshmallows?«
»Genau die. Und bitte to go«, warf ich ein, bevor Tess die arme Frau mit ihrer Grinch-Art noch mehr durcheinanderbrachte.
Demonstrativ steckte ich auch noch einen rot-grün gestreiften Strohhalm in meinen Becher, was Tess ein unverständliches Grummeln entlockte und mich nur noch mehr grinsen ließ.
Wir bahnten uns den Weg zu meinem Auto. Über Nacht hatte es heftig geschneit, und die Straßen wurden gerade im Akkord geräumt. Immer wieder verengten Schneeberge den Fußweg, sodass wir im Gänsemarsch hintereinander laufen mussten.
»Du solltest das Ding nicht immer nur mit dir rumschleppen, sondern auch spielen. Damit lässt sich sicher auch eine Reihe gut aussehender Kerle aufreißen.« Tess deutete kichernd auf meine ausgefranste Gitarrentasche, die ich über der Schulter trug.
»Funktioniert das mit dem Aufreißen nicht eigentlich nur umgekehrt? Frauen stehen da doch eher drauf.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert. Ich wette, Finn hat es immer scharfgemacht, wenn du für ihn gespielt hast.«
»Tess!« Abrupt hielt ich an.
»Schon gut, wir reden nicht mehr über ihn, auch wenn ich bestimmt recht habe.«
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß anlief. Tess war schon ewig meine beste Freundin und wusste beinahe alles über mich. Auch was Finn betraf. Dass ihre Vermutung eine Reihe von Bildern in meinem Kopf auslöste, die definitiv nicht jugendfrei waren, würde ich nicht einmal zugeben, wenn mein Leben davon abhinge.
»Aber du solltest wirklich spielen. Du trägst das Ding ständig mit dir herum und benutzt es nie.«
»Das tue ich doch, aber eben nur für mich. Wenn es niemand hört.«
»So schrecklich kann es doch nicht klingen, oder?«
Wir hatten meinen alten Toyota Prius erreicht, und ich verstaute die Gitarre und den Rest meiner Klamotten auf dem Beifahrersitz. »Keine Ahnung, wie es sich anhört. Für mich ist es okay.«
»Es ist bestimmt mehr als nur okay, und du vergeudest dein Talent, indem du es versteckst. Ich meine, du sollst ja gar keine zweite Taylor Swift werden, aber du könntest doch wenigstens für deine Freunde spielen. Ich organisiere auch ein Lagerfeuer, wenn du dich dann wohler fühlst.«
Tess’ Vorschlag brachte mich zum Schmunzeln. Normalerweise hasste sie alles, was mit Romantik zu tun hatte – auch Lagerfeuer.
»Ich verstehe wirklich, dass das eine große Sache ist, aber wovor hast du Angst? Dass man dich mit faulem Obst bewirft?«
Ich ließ die Autotür ins Schloss fallen und nahm einen Schluck von meinem Kakao. » Wenn ich spiele, lege ich da alles hinein. Meine Gefühle, meine Seele und alles dazwischen, und ich lasse mir nicht gerne bis auf den Grund meines Herzens sehen. Nicht mehr.«
»Und alles dazwischen«, wiederholte sie meine Worte. »Wow! Er hat ganz schön was kaputtgemacht.«
Mir war sofort klar, dass Tess schon wieder von Finn sprach. Aber hatte sie wirklich recht? Der Entschluss, auch nicht nach Nashville zu gehen, war ganz allein meine Entscheidung gewesen. Genauso wie ich mich gegen ein Musikstudium an der Juilliard entschieden hatte. Früher war Finn der Einzige gewesen, für den ich spielen wollte. Er kannte mich wie sonst niemand. Den Fehler, jemals wieder jemanden so nah an mich heranzulassen, würde ich nicht noch einmal machen. Um meiner selbst willen konnte ich es nicht zulassen, dass erneut auf meinem Herzen herumgetrampelt wurde. Im Grunde hatte er mir sogar einen Gefallen getan, oder?
Schnell schob ich den Gedanken beiseite und wechselte das Thema. Für heute stocherte Tess mir eindeutig zu viel in der Vergangenheit herum. Ich startete einen letzten Versuch, sie doch noch zu überzeugen. »Hier.« Aus meiner Jackentasche zog ich ein zerknittertes Stück Papier hervor und reichte es ihr.
»Was ist das? Noch eine Einladung zu einer Party?«
»Nicht so ganz.« Verlegen trat ich von einem Bein auf das andere. »Das ist eine Auflistung aller Weihnachtsveranstaltungen in Norpond Creek. Vielleicht sagt dir ja doch was zu.«
Tess hob skeptisch eine Augenbraue. »Du lässt einfach nicht locker, was?« Während sie den Flyer studierte, bildete sich auf ihrer Stirn eine Falte, die mit jeder Sekunde tiefer zu werden schien. »Grundgütiger, dieses Jahr hat sich der Stadtrat echt selbst übertroffen. Ein Weihnachtswettbewerb in fünf Disziplinen? Echt jetzt?« Sie las laut vor: »Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält fünfhundert Dollar in bar. Gesponsort von Rosie’s Market und Trevor’s Hühnerfarm.« Dann stopfte sie den Zettel zurück in meine Jackentasche. »Du hättest mich beinahe gehabt.«
Schmollend schob ich meine Unterlippe vor. »Ach komm schon! Morgen wird der große Tannenbaum und die Eisfläche eröffnet. Willst du dir das wirklich entgehen lassen?«
Tess griff sich an den Hals und unterdrückte ein Würgen. »Als könnte man die alte Scheune am Star Lake wirklich mit dem Rockefeller Center vergleichen.«
Wieder musste ich lachen. »Natürlich kann man das nicht vergleichen, aber es ist trotzdem toll, und Grandpa Bob ist felsenfest davon überzeugt, dass die New Yorker sich diese Tradition von uns abgeguckt haben und nicht umgekehrt.«
»Ja klar. Und ich bin eine verschollene Nachfahrin der letzten Zarenfamilie.«
»Du gehörst wohl eher zur Verwandtschaft der bösen Schneekönigin.«
Tess’ Mundwinkel hoben sich zu einem diabolischen Grinsen. »Da könntest du recht haben.« Bevor ich einen erneuten Überredungsversuch starten konnte, zog sie mich in eine Umarmung. »Fahr vorsichtig und ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
»Ganz egal wann?«
»Egal wann. Dafür sind doch beste Freundinnen da, oder?«
Aus den Radioboxen meines Autos säuselte Justin Bieber einen seiner Weihnachtssongs, als ich die schneebedeckte Auffahrt hochrollte. Im Vorgarten begrüßte mich eine ganze Herde von aufblasbaren Rentieren, die sich synchron im Wind hin und her bewegten. Ich war endlich zu Hause. Keine stressigen Vorlesungen oder überfüllte Campus-Cafés mehr für dieses Jahr. Nur noch die pure Weihnachtsstimmung aus jedem Winkel dieses verschlafenen Städtchens. Schon am Ortsschild hatte mich ein überdimensionaler Weihnachtsmann begrüßt, der den Anfang einer ganzen Reihe von freundlich winkenden Männern in roten Mänteln bildete. Hier in Norpond Creek war es ein ungeschriebenes Gesetz, sein Haus inklusive Vorgarten so weihnachtlich wie möglich zu schmücken. Die ganze Stadt versank in einem Meer aus kleinen Lichtern, aufgeblasenen Rentieren und Weihnachtsmännern. Und es gab auf der ganzen Welt keinen Ort, an dem ich jetzt lieber sein wollte.
Im Haus roch es verführerisch nach Vanillezucker, der auf noch heiße Plätzchen gestreut wurde. Meine Mutter musste gerade gebacken haben. »Hallo? Ist jemand da?« Niemand antwortete mir. Im Flur streifte ich meine Stiefel ab, hängte meine Jacke auf und ging in die Küche. Es war tatsächlich keiner da. Vielleicht würde mir ein Blick auf mein Smartphone Klarheit verschaffen, aber erst würde ich meine Sachen in mein Zimmer bringen. Mitten auf der Treppe, die von der Küche in den ersten Stock führte, stoppte ich. Da war ein Geräusch, das ich nicht einordnen konnte. Als würde etwas über den Boden kratzen. Im letzten Sommer hatte sich ein Waschbär ins Haus geschlichen und im Schlafzimmer meiner Eltern verschanzt. Es hatte Stunden gedauert, bis wir das Tier eingefangen hatten. Das angerichtete Chaos war allerdings nicht so schnell wieder zu beseitigen gewesen. Aber das Geräusch kam nicht von oben, sondern eher aus Richtung der Hintertür. Ich stellte meine Sachen auf der Treppe ab und schlich vorsichtig zurück in die Küche. Wieder war das Kratzgeräusch zu hören, diesmal etwas lauter. Es kam eindeutig von draußen. Vielleicht streifte wirklich ein Waschbär oder ein Dachs auf der Suche nach etwas Essbarem durch unseren Garten. Auf Zehenspitzen ging ich zur Hintertür, um sie im nächsten Moment mit Schwung aufzureißen und das streunende Tier auf diese Weise zu erschrecken. Ein dumpfer Aufprall stoppte die Tür so abrupt, dass mir vor Schreck die Klinke aus der Hand flog. Irgendwas hatte ich getroffen. Oder irgendjemanden. Ich hatte wirklich mit allem gerechnet. Und selbst eine ganze Horde Waschbären wäre mir lieber gewesen als die Person, die jetzt hinter der Tür hervorkam und sich mit beiden Händen die Nase hielt – Finn!
Es war unmöglich, dass ein kaputtes Herz so laut schlagen konnte. Aber meins tat es und übertönte damit jede noch so kleine Stimme in meinem Inneren.
Ich hatte mir ungefähr zehntausend Dinge überlegt, die ich Finn an den Kopf werfen wollte, wenn ich ihn je wiedersehen würde. Und auch genauso viele Situationen hatte ich mir ausgemalt; dass er in unserer Küche saß und ich ihm eine Packung Tiefkühlerbsen auf die geschwollene Nase drückte, war definitiv keine davon.
Finn schloss stöhnend die Augen. »Wenn du vorhattest mich umzubringen, kann ich dir gratulieren. Du hast es fast geschafft.«
Ich war mir sicher, dass man jemanden nur in einem schlechten Film so um die Ecke bringen konnte, aber ich wollte ihn nur zu gerne in diesem Glauben lassen. »Bin ich so leicht zu durchschauen? Ich habe Jahre an diesem genialen Plan gefeilt. Alles umsonst.«
Ein leises Lachen drang unter der Erbsenpackung hervor. Ein Geräusch, das mir immer noch viel zu vertraut war.
»Schon gut. Ich habe es verdient.« Er öffnete wieder die Augen und fixierte mich mit seinem Blick. Wir hatten uns über zwei Jahre nicht gesehen, und trotz seiner lädierten Nase konnte ich nicht leugnen, dass er noch immer unglaublich gut aussah. Seine dunklen Haare trug er ein wenig kürzer, trotzdem fielen ihm auch jetzt einzelne Strähnen ins Gesicht. Seine Gesichtszüge waren ein wenig markanter geworden, was sich besonders an seinen Wangenknochen bemerkbar machte. Generell schien sein ganzer Körper muskulöser als früher zu sein. Nur seine zimtbraunen Augen, mit denen er mich intensiv musterte, waren noch dieselben.
»Überlegst du dir gerade einen neuen Plan, wie du mich aus dem Weg räumen kannst, oder warum siehst du mich so an?« Er nahm die Erbsen von seinem Gesicht, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Verlegen räusperte ich mich. Er sollte das nicht tun. Er sollte mich nicht einfach so in ein lockeres Gespräch verwickeln. Nicht nach all dem, was zwischen uns passiert war. Genau genommen sollte er überhaupt nicht hier sein. Nicht in Norpond Creek und erst recht nicht in der Küche meiner Eltern. Es war nicht nur ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um sich zu unterhalten, es fühlte sich auch verdammt falsch an. »Was willst du hier?«
»Deine Eltern sind drüben bei uns, und mein Grandpa hat mich gebeten, dir Bescheid zu sagen.« Als wäre das nur eine Gefälligkeit unter Nachbarn, zuckte er mit den Schultern.
»Und da dachtest du, es sei eine gute Idee, sich durch die Hintertür anzuschleichen?«
»Ich habe mich nicht angeschlichen. Du hast die Tür aufgerissen und sie mir ins Gesicht geschlagen.«
»Das war keine Absicht. Ich dachte, du bist ein Waschbär. Und selbst wenn es Absicht war, was hast du denn erwartet? Dass ich dir nach fast drei Jahren um den Hals falle?«
»Also wolltest du in Wirklichkeit ein wehrloses Tier umbringen?«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Er hatte sich kein Stück geändert. Immer noch versuchte er mit seinen Sprüchen ernsten Gesprächen aus dem Weg zu gehen oder sie auf diese Weise aufzulockern. Aber das, was er getan hatte, war kein Dummejungenstreich gewesen, den er mit seinem Charme einfach wegzwinkern konnte. »Du kannst dir das echt sparen.« Entschieden nahm ich ihm die Tiefkühlerbsen aus der Hand.
»Ich kann verstehen, dass du wütend auf mich bist und …« Er brach mitten im Satz ab und atmete hörbar aus.
»Du kannst es verstehen?« Etwas in meiner Brust krampfte sich zusammen. Es wäre so einfach gewesen, von Anfang an wütend auf ihn zu sein. Aber Wut war nicht der Grund für die vielen Nächte ohne Schlaf. Genauso wenig wie für die Tränen. Die Wut war erst so viel später gekommen. »Drei Jahre, Finn. Drei Jahre, in denen du mich nicht einmal angerufen hast, in denen du nicht einmal nach mir gefragt hast. Niemand wusste, wo du bist. Nicht einmal deine Eltern. Und jetzt stehst du plötzlich hier und machst einen auf verständnisvoll? Gehört das auch zu einem genialen Plan, der nur in deinem Kopf Sinn macht? Warum bist du hier?«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Romy, es tut mir leid. Ich wollte das alles nicht. Nicht so.«
Das war also seine Antwort. Eine Entschuldigung, die sogar aufrichtig klang, aber für mich nicht genug war. Es gab Dinge, die sich nicht einfach so wegentschuldigen ließen. »Das ist alles? Mehr hast du nicht zu sagen?«
»Du hast mir gerade die Nase gebrochen. Gib mir einen Moment.« Er beugte sich stöhnend vor, um sich die Erbsen aus meiner Hand zurückzuholen und erneut auf sein Gesicht zu legen.
»Sie ist nicht gebrochen. Du hast kein Nasenbluten, und deine Augen sind nicht gerötet. Außerdem sah sie nicht verformt aus.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich war mal mit einem Typen zusammen, dessen Nase nach einer Prügelei genauso aussah. Und die war auch nicht gebrochen.«
Finns leises Lachen drang erneut unter dem Beutel hervor. Er wusste genau, dass ich ihn damit meinte.
»Na, dann bin ich ja in den besten Händen.« Wieder sah er mich mit diesem intensiven Blick an, als hätten seine Augen mir das zu sagen, was er mit Worten nicht ausdrücken konnte. Oder nicht wollte. Aber diese Masche zog nicht – sie durfte es nicht. Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust: »Glaub mir, bist du nicht. Und wenn du mir meine Fragen nicht beantworten willst, dann such dir jemand anderen, der dich mit gefrorenem Gemüse verarzten kann.«
Kaum hatte ich meinen Satz beendet, stand er auf und gab mir den Beutel zurück. »Es ist Weihnachten, deswegen bin ich hier.«
Uns beiden war klar, dass das nicht die einzige Antwort war, auf die ich wartete. Aber noch einmal würde ich ihn nicht fragen. Unwillkürlich straffte ich meine Schultern und bemühte mich, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. »Na, dann wünsche ich dir und deiner Familie frohe Weihnachten.«
Für eine gefühlte Ewigkeit sah Finn mich einfach nur an, bevor er sich umdrehte und zur Tür ging. »Du gehörst nicht nach Nashville.« Das war alles, was er sagte, bevor er die Tür öffnete und nach draußen verschwand. Es wäre so einfach gewesen, ihm hinterherzulaufen und ihn zu fragen, was er damit meinte. Aber die Tatsache, dass er nicht einmal versucht hatte, mir alles zu erklären, hielt mich hier fest. Ich ballte die Hände zu Fäusten, und die weichen Erbsen verformten sich darin zu einem matschigen Brei.
Er sollte nicht hier sein. Er sollte die Feiertage irgendwo weit weg in einem anderen Bundesstaat verbringen, wie er es auch die letzten Jahre getan hatte. Und vor allem sollte er nicht diese Wut in mir auslösen.
Mit Schwung schmiss ich die klumpigen Erbsen zurück ins Eisfach und knallte die Tür des Kühlschranks zu. Vor einer halben Stunde wollte ich nirgends sonst auf der Welt sein. Jetzt wollte ich nur noch weg. Weg aus Norpond Creek und weg von Finn … Und selbst diesen Gedanken konnte ich nicht zu Ende denken, weil etwas tief in mir es verhinderte und mein Herz aus dem Takt brachte, wenn ich auch nur in Erwägung zog, an Finn zu denken. Ich atmete tief durch und zog mein Handy aus der Jackentasche, um Tess’ Nummer zu wählen.
»Hey, so schnell habe ich mit einem Anruf von dir überhaupt nicht gerechnet. Ist was passiert?« Im Hintergrund war ein Gewirr aus Stimmen zu hören, als wäre sie in einer Bar.
»Störe ich? Es klingt, als wärst du beschäftigt.« Das Letzte, was ich wollte, war, Tess jetzt auch noch die Laune zu verderben, aber ich musste dringend mit jemandem reden.
»Ich bin nie zu beschäftigt, wenn meine beste Freundin anruft. Also, was ist los?«
»Er ist hier.« Mehr brauchte ich nicht zu sagen; Tess wusste sofort, von wem ich sprach.
»Das ist ein Scherz, oder? Du willst mich verarschen.«
»Will ich nicht. Er ist wirklich hier und …«
»Und?« Tess gab sich nicht mit halben Sätzen zufrieden. »Was hat er gesagt? Hat er überhaupt mit dir gesprochen? Was will er denn auf einmal zu Hause?«
»Ich habe keine Ahnung. Er stand plötzlich vor der Tür, und als klar war, dass ich ihm nicht die Nase gebrochen habe, war er auch schon wieder weg.«
»Du hast was?«
»Es war ein Unfall. Ich habe ihn hinter der Tür nicht gesehen.«
Am anderen Ende der Leitung war es für einen Moment still. »Wow! Du bist kaum in Norpond Creek angekommen, und dein Leben ist innerhalb von Minuten ins totale Chaos gestürzt.« Tess’ nüchterne Erkenntnis hätte mich in jeder anderen Situation zum Lachen gebracht, aber das hier war viel zu ernst. »Was mache ich denn jetzt?«
»Sieht er gut aus?«
»Was?«
»Ich rede von Finn. Sieht er gut aus?«
»Mein Leben ist die reinste Katastrophe, und du stellst mir solche Fragen?«
»Jep. Mir wäre das wichtig, wenn ich in deiner Haut stecken würde. Also?«
Mit der freien Hand wischte ich mir eine lose Haarsträhne aus meinem Gesicht. Ich sollte einfach Nein sagen, aber das wäre eine Lüge. Und Tess konnte ich sowieso nichts vormachen. »Ja, er sieht gut aus. Und eigentlich sollte ich das überhaupt nicht laut sagen.«
»Wieso nicht? So wie ich das sehe, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder setzt du dich in dein Auto und kommst wieder zurück zur Uni. Oder du bleibst und bekommst vielleicht ein paar Antworten auf die Fragen, die du dir schon so lange stellst.«
»Oder ich verstecke mich einfach bis Weihnachten in meinem Zimmer.«
»Das könntest du natürlich auch machen, aber dann verpasst du diesen ganzen ekelhaft süßen Weihnachtskram, für den du extra früher nach Hause gefahren bist.«
Tess hatte recht. Mich zu verkriechen war auch keine Option.
»Das Leben ist das, was du draus machst. Du schaffst das schon. Ich muss jetzt Schluss machen. Halt mich auf dem Laufenden, ja?«
Obwohl Tess mich nicht sehen konnte, nickte ich, bevor ich meine Hand mit dem Telefon darin sinken ließ. Das Leben ist das, was du draus machst. Tess’ Weisheiten lösten meine Probleme ganz sicher nicht. Eher stürzten sie mich noch weiter ins Chaos; das verräterische Klopfen in meiner Brust war der eindeutige Beweis dafür.
Gab es etwas Besseres, als von frischem Kaffeeduft geweckt zu werden? Nur der Duft von Kaffee in Kombination mit dem selbst gemachten Lebkuchensirup meiner Mutter, konnte das noch überbieten. Mit dem Vorrat, den sie mir vorsorglich immer an Thanksgiving mitgab, ließ sich selbst Tess ein kleines bisschen in Weihnachtsstimmung versetzen. Auch wenn dieser Zustand für gewöhnlich nicht besonders lang anhielt. Denn das, was aus der Kaffeemaschine unserer Studentenwohnung lief, konnte einem wirklich die Laune verderben. Das hatte mich gestern auch daran gehindert, einfach wieder zu Tess an die Uni zu fahren: dass ich vom Kaffeeduft meiner Mutter geweckt werden wollte und hier in meinem Zimmer ungestört auf meiner Gitarre spielen konnte.
Leise schlug ich eine langsame Version von Last Christmas an. Ich fand es unglaublich, dass ein und dasselbe Lied jedes Jahr aufs Neue so erfolgreich war und in viereinhalb Minuten beinah die ganze Welt in maximale Weihnachtsstimmung versetzen konnte. »This year, to save me from tears …« Weiter sang ich nicht. Obwohl der Song zu meinen liebsten Weihnachtsliedern gehörte, war es genau diese Zeile, die mir mehr als je zuvor aus der Seele sprach. Dieses Weihnachten sollte einfach nur toll werden – ohne Tränen. Denn davon hatte ich für Finn an den letzten Weihnachtsfesten genug vergossen. Dass ich in den nächsten Tagen keine fünfzehn Meter von ihm entfernt leben musste, versuchte ich zu ignorieren. Es konnte doch nicht so schwer sein, einem Typen aus dem Weg zu gehen, der mir nichts mehr bedeutete.
Das leise Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken. Sofort legte ich meine Hand auf die Saiten meiner Gitarre, um sie verstummen zu lassen.
»Bist du schon wach?« Meine Mutter schob ihren Kopf durch die halb geöffnete Tür.
»Schon eine Weile. Dein Kaffee lässt einem da auch keine Wahl.«
»Ich wusste doch, dass ich dich so aus dem Bett kriege.« Lächelnd strich sie sich eine ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. »Ich habe im Antiquitätenladen einen riesigen Weihnachtsschatz erstanden, der gerade geliefert wurde. Dein Dad ist schon mit den Anderson-Männern unterwegs, und ich bräuchte ein wenig Hilfe.«
Jetzt war ich neugierig. Meine Mutter hatte schon immer eine besondere Vorliebe für alte Möbelstücke gehabt, die sie dann selbst restaurierte. Aber ein Weihnachtsschatz war noch nie dabei gewesen. Ich sprang aus dem Bett, um ihr zu folgen. Am Treppenabsatz blieb ich stehen. Mitten in unserer Küche stand ein riesiger Nussknacker.
»Ich musste ihn einfach kaufen. Sie hätten ihn sonst entsorgt. Aber ist er nicht zauberhaft?«
Ich konnte nur nicken. Das war er tatsächlich. Meine Gitarre stellte ich auf der obersten Treppenstufe ab, bevor ich nach unten ging. Von hier aus sah der Nussknacker noch imposanter aus, er war bestimmt über zwei Meter hoch. Er musste lange draußen gestanden haben, seine Farben waren sehr verblasst und an einigen Stellen komplett abgeblättert. Einzig sein betrübter Gesichtsausdruck war noch sehr gut zu erkennen. »Warum sehen alle Nussknacker immer so traurig aus?«
Meine Mutter drückte mir eine dampfende Tasse Kaffee in die Hand, aus der ich sofort einen großen Schluck nahm.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass sie in Wirklichkeit verzauberte Prinzen sind, die nur darauf warten, dass endlich jemand kommt und den bösen Zauber bricht.«
Mein Mund kräuselte sich zu einem zaghaften Schmunzeln. »Und wie soll das gehen? Mit einem Kuss vielleicht?«
»Du kannst es gerne ausprobieren.« Sie machte eine auffordernde Geste mit ihrer Hand.
»Danke, aber ich glaube, ich verzichte lieber. Mein Leben ist schon kompliziert genug. Noch mehr Drama kann ich wirklich nicht brauchen.«
»Du sprichst von Finn, oder?« Sie machte eine kurze Pause, als müsste sie über ihre nächsten Worte erst nachdenken. »Ich hatte selbst keine Ahnung, dass er dieses Jahr hier sein würde, sonst hätte ich es dir gesagt.«
Ich senkte meinen Blick auf den Kaffee in meiner Hand, als wären die Antworten auf all meine Fragen direkt auf dem Boden der Tasse zu finden. »Ist schon gut. Wir sind Nachbarn. Dass wir uns früher oder später über den Weg laufen, war doch klar.« So gleichgültig, wie ich konnte, zuckte ich mit den Schultern.
»Ich will ja nur sagen, dass ich verstehen kann, wenn du ihn nicht sehen willst. Gerade jetzt an Weihnachten.«
Das unerwartete Zusammentreffen mit Finn hatte mich die halbe Nacht nicht schlafen lassen. Meine Gedanken waren immer mehr zu einer undurchdringlichen Masse verschmolzen, aus der sich rein gar nichts Objektives mehr herausfiltern ließ. Und meinem Kopf zu befehlen, die Klappe zu halten, war ein genauso schwieriges Unterfangen, wie einem Schneehasen Salz auf den Schwanz zu streuen – unmöglich.
Dass Finn ganz offensichtlich immer noch in der Lage war, etwas in mir auszulösen, machte mich wütend. Ich sollte überhaupt nichts mehr fühlen, wenn ich an ihn dachte. Bisher hatte das doch auch prima funktioniert.
»Die nächsten Tage werde ich ihm einfach so gut es geht aus dem Weg gehen. Und vielleicht probiere ich das mit dem Kuss doch mal aus.« Das halbherzige Lächeln auf meinem Gesicht durchschaute meine Mutter sofort, als ich den Kopf in Richtung des Nussknackers drehte.
»Ich denke nicht, dass das funktioniert.«
»Wieso nicht? Das steht doch in jedem Märchenbuch. Ein Kuss der wahren Liebe bricht jeden Fluch.«
»Das ist schon richtig, aber bei einem Nussknacker ist es etwas anderes. Da hilft nicht nur ein Kuss. In der Geschichte hat Clara den Fluch gebrochen, indem sie ihr Leben für ihn riskiert hat. Mutig und selbstlos hat sie sich dem Mäusekönig in den Weg gestellt. Ungeachtet dessen, was sie in diesem Kampf alles verlieren könnte. Einzig ihre Liebe für diesen alten, kaputten Nussknacker zählte.«
Die Art, wie meine Mutter Geschichten und Märchen erzählte, hatte ich schon immer geliebt. Als kleines Kind hatte ich sie alle geglaubt. Aber irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich auch diese Dinge einfach geändert hatten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es noch schaffe, den armen Kerl bis Weihnachten wiederherzurichten. Diese Seite scheint doch mehr abbekommen zu haben, als ich dachte.« Liebevoll strich sie dem Holzmann über den linken Arm, der tatsächlich etwas schräg abstand. Tief in mir bahnte sich die Erinnerung an einen anderen Nussknacker den Weg an die Oberfläche. Ein sehr viel kleineres Exemplar, das aber genau die gleiche Verletzung an seinem Arm hatte wie dieser hier. Und an die Person, an die ich ihn an einem meiner schönsten Weihnachtsfeste verschenkt hatte. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Ich musste aufhören, immer wieder an Finn zu denken. Es gab Tausende Nussknacker da draußen und mit Sicherheit auch eine ganze Armee mit kaputten linken Armen, und keiner von ihnen hatte etwas mit Finn zu tun.
»Kannst du mir ein bisschen helfen, ihn wieder auf Vordermann zu bringen? Zusammen schaffen wir es vielleicht doch noch bis Weihnachten. Wäre das nicht wunderbar, wenn er dann vor unserer Haustür stehen würde?« Meine Mutter lächelte zufrieden, als ich nickte. Mir war jede Beschäftigung recht, die mich ablenkte.
»Aber erst mal sollten wir ihn zur Treppe rüberschieben, damit er nicht im Weg steht.« Ich stellte meine Tasse auf dem Küchentisch ab, um meiner Mutter zu helfen. In ruckartigen Schüben schafften wir es, die massive Figur langsam vorwärtszubewegen, bis wir endlich gegen die Brüstung des Treppengeländers stießen. Zwei Sekunden später ertönte ein hohles, hölzernes Scheppern von der obersten Treppenstufe. Noch bevor ich realisieren konnte, woher es kam, fiel meine Gitarre ungebremst die Treppe hinunter und schlug dabei immer wieder hart auf einzelnen Stufen auf.
»Bitte nicht!« Aber ich war nicht schnell genug, um Schlimmeres zu verhindern. Warum hatte ich die Gitarre auch ausgerechnet da oben abgestellt? Mir entfuhr ein Keuchen, als sie endlich zum Liegen kam. Zwei Saiten waren gerissen, und am Kopf klaffte ein Riss im Holz. Doch erst als ich das Instrument in den Händen drehte, zeigte sich mir der eigentliche Schaden. Und der war vernichtend: Die Rückwand des Korpus hatte sich komplett abgelöst und lag in mehrere Teile zersplittert auf der ganzen Treppe verstreut. »Nein, nein, nein! Das darf nicht passieren. Nicht hier!« Und nicht jetzt, wo ich sie mehr als dringend brauchte.
»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Das kriegen wir schon wieder hin.« Meine Mutter begann, die Holzsplitter von der Treppe zu sammeln, als handelte es sich um Puzzleteile, die man nur wieder zusammensetzen musste.
Resigniert ließ ich mich gegen die Wand sinken. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Warum passierte mir das? Die Gitarre war schon alt gewesen, als ich sie bekommen hatte. Mir eine neue zu kaufen, war längst überfällig. Aber für ein einigermaßen gut spielbares Modell musste man mehr als nur ein paar Dollar hinlegen.
»Vielleicht sieht es ja schlimmer aus, als es ist.«
Wie gerne hätte ich meiner Mutter in diesem Moment geglaubt. »Soll ich dich zu diesem Musikgeschäft fahren, in dem du früher immer warst? Die können dir sicher helfen.«
Den Blick auf das totale Unglück gerichtet, schüttelte ich den Kopf. »Das ist lieb, aber ich will dich nicht von deinen Weihnachtsvorbereitungen abhalten. Ich schaffe das auch allein.«
Eine halbe Stunde später stand ich mit den Überresten meiner Gitarre im Drum and More, dem einzigen Musikgeschäft im Umkreis von hundertfünfzig Meilen. Der Laden war nicht besonders groß und mit nichts zu vergleichen, was man in der Großstadt finden konnte, aber im Augenblick war er meine einzige Hoffnung.
»Unsere Tauschaktion für alte Instrumente ist seit letztem Monat vorbei.« Der Typ auf der anderen Seite des Tresens hatte nur kurz zu mir aufgesehen, bevor er weiter in einem Musikmagazin blätterte. Selbst bei diesen Temperaturen trug er das verwaschene T-Shirt einer Rock-Band, von der ich mir sicher war, dass sie sich schon im letzten Jahrhundert aufgelöst hatte.
»Das weiß ich. Kann man sie nicht irgendwie reparieren?«
Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. »Du willst das Ding reparieren lassen? Warum? Gehörte sie früher Jimi Hendrix oder so?«
»Nein. Aber ich habe nur die eine und …« Den Rest des Satzes ließ ich unausgesprochen. Egal, was ich sagen würde, seine Antwort konnte ich mir schon denken.
»Sorry, aber das Ding ist reif für die Tonne. Da würde selbst Klebeband nichts mehr nützen.«
»Gibt es wirklich überhaupt keine Möglichkeit?«
»Sieh dich um. Alle Möglichkeiten, die du hast, stehen hier.« Er deutete auf die Gitarren im hinteren Teil der Ladenfläche. »Ich kann dir auch eine bestellen, wenn nichts für dich dabei ist. Aber die kommt dann erst nach Weihnachten.«
Gute Instrumente waren nicht billig, das wusste ich. Vor dem College war dieser Laden die einzige Möglichkeit, um schnell an alles zu kommen, das mit Musik zu tun hatte. Ich kannte die Preise nur zu gut. Meine Hoffnung, hier etwas innerhalb meines Budgets zu finden, war so gering wie die Wahrscheinlichkeit einer plötzlichen Schneeschmelze zu Weihnachten hier in Connecticut. Trotzdem warf ich einen Blick auf die wunderschönen Instrumente, die entweder an der Wand hingen oder in einem Gitarrenständer Platz gefunden hatten. Vorsichtig strich ich mit den Fingerspitzen über die Saiten einer Konzertgitarre. Selbst dieses kurze Geräusch klang fantastisch. Wie schön wäre es, sie einfach umzuhängen und auf ihr zu spielen. Ohne darüber nachzudenken, einfach alles auszublenden und mich vollkommen in der Musik zu verlieren. Unwillkürlich formten die Finger meiner linken Hand in der Luft Akkorde. Für jeden anderen musste es wie der klägliche Versuch eines Luftgitarrenspiels aussehen, aber für mich war es mehr. Eine stumme Möglichkeit, zu jeder Zeit spielen zu können.
Ich ließ meinen Blick weiter über die Ausstellungsstücke schweifen. Und dann sah ich sie. Sie hing an der Wand zwischen zwei Akustikgitarren und war sogar noch schöner als in meiner Erinnerung. Ich hätte sie überall wiedererkannt – eine Gibson-Westerngitarre. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. War es möglich, dass an einem leblosen Gegenstand so viele Erinnerungen und Träume hängen konnten?
»Willst du sie spielen? Sie hat einen einmaligen Klang. Dolly Parton schwört auf dieses Modell.« Der Verkäufer war neben mir aufgetaucht und blickte ehrfürchtig auf die Gibson an der Wand. »Ich habe auch die Nachfolgermodelle hier, wenn du lieber eines von denen ausprobieren möchtest.«
Kein Musiker auf dieser Welt hätte sich so eine Chance entgehen lassen. Ich vermutlich auch nicht, wenn alles so gekommen wäre, wie ich mir meine Zukunft vorgestellt hatte. Aber so war es eben nicht. Nichts von dem war in Erfüllung gegangen. Du gehörst nicht nach Nashville. Finns Worte trafen mich mehr, als ich zugeben wollte. Wie ein Brandeisen, das in meine Haut gedrückt worden war und eine schmerzende Wunde hinterlassen hatte. Eine unsichtbare Verletzung, von der ich dachte, sie wäre längst vernarbt. Dabei war das doch die einzige Entscheidung gewesen, die ich selbst und aus freien Stücken getroffen hatte – Nashville aufzugeben. Und wer nicht auf den großen Bühnen dieser Welt stehen wollte, brauchte auch keine Gitarre, die dafür gemacht war. Schon gar nicht mit Finns Namen darauf. »Wie viel kostet das günstigste Modell, das ihr habt?« Eigentlich war die Frage völlig überflüssig, denn ich hatte nicht einmal hundert Dollar in der Tasche.
»Ich kann dir eine Fender für dreihundertfünfzig anbieten.«
»Und was ist mit einem Leihinstrument?«
»So was machen wir nicht. Hast du einen Gig oder so was?«
Ich schüttelte den Kopf.