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Heinrich Deterings Buch entdeckt und erforscht einen weißen Fleck auf der Landkarte von Thomas Manns Leben und Werk. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Thomas Manns bislang unbekannter Beziehung zur Unitarischen Kirche in Kalifornien – eine Geschichte, die vom Verhältnis zwischen Politik und Religion handelt, vom öffentlichen Engagement und von den Aufgaben der Literatur. »Selten, wenn überhaupt je, habe ich ein so lebhaftes und militantes Interesse an irgendeiner religiösen Gruppe genommen«, schreibt Thomas Mann 1951. Heinrich Deterings entdeckungsreiches Buch führt in zentrale Bereiche von Thomas Manns Denken und Schreiben im Exil. Es wird ergänzt durch einen Essay von Frido Mann. »Eine bahnbrechende Studie.« Hans Rudolf Vaget
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Seitenzahl: 449
Heinrich Detering
Thomas Manns amerikanische Religion
Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil
Fischer e-books
Mit einem Essay von Frido Mann
So gründlich das Verhältnis Thomas Manns zur Religion ausgeleuchtet worden ist – seine späte und dauerhafte Hinwendung zur Unitarischen Kirche in den USA hat bis heute im Dunkel gelegen: als hätte niemand erwartet, dass abseits der großen Scheinwerferkegel überhaupt noch etwas Wesentliches unbemerkt geblieben sein könnte. Das ist immerhin erstaunlich, wenn man bedenkt, in welch starken Ausdrücken Thomas Mann nicht nur im amerikanischen Exil, sondern noch nach seiner Rückkehr dieses Verhältnis beschrieben hat. Jahrelang sei der Unitarismus seinem Herzen nahe gewesen, schreibt er 1951, »close to my heart«; und »selten, wenn überhaupt je«, habe er »ein so lebhaftes und militantes Interesse an irgendeiner religiösen Gruppe« genommen.[1] Den Unitariern fühle er sich »auf mancherlei Weise verbunden, auf persönliche und allgemein geistige«;[2] ihnen verdanke er, so ist in der Entstehung des Doktor Faustus nachzulesen, »die angenehmste kirchliche Erfahrung, die ich gemacht habe«.[3] »My interest in and warm sympathy for Unitarianism«, so schreibt er 1950, »are of long standing. […] Moreover, the First Unitarian Church of Los Angeles is particularly close to my heart and mind.«[4] Und noch wenige Monate vor seinem Tod schreibt er aus Kilchberg dem unitarischen Pastor aus Los Angeles, den er seinen Freund nannte: »Der Geist Ihrer Kirche […] – dieser Geist ist es, der mich anzieht, seit ich ihn kennen lernte […].«[5] Von keiner anderen Religionsgemeinschaft hat Thomas Mann so gesprochen, weder von der lutherischen Kirche, die doch ein unentbehrlicher Teil Lübecks als geistiger Lebensform war, noch von der katholischen, deren kosmopolitische und traditionsbewusste Humanität ihn in diesen späten Jahren auf eine ganz andere Weise anzog. Selten, vielleicht niemals ist er einer ›Konfession‹ so nahe gekommen wie hier.
Diese Anteilnahme umfasst die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens. Und sie reicht bis tief ins Private und ins Rituelle. Seine jüngste Tochter und ihr Mann wurden von einem unitarischen Geistlichen getraut, Unitarier verhalfen seinem Sohn Golo und seinem Bruder Heinrich zur Flucht aus Europa. Hatte Thomas Mann seine Kinder noch, der Familientradition folgend, in der lutherischen Kirche taufen lassen, so wurden alle seine vier Enkel, und zwar allein auf seinen Wunsch hin, in der First Unitarian Church in Los Angeles getauft. Für die Gemeindebriefe ebendieser Gemeinde hat Thomas Mann Beiträge verfasst, in ihr hat er selber die Kanzel als Gastredner in einem Gottesdienst betreten, an den der neue Pfarrer seine Gemeinde noch lange erinnerte – um dann seinerseits rückblickend zu erklären, Thomas Mann habe damals aktiv daran mitgewirkt, »to define the concept of religion we were attempting to circulate«.[6] Als Heinrich Mann starb, da hat auch ihn, wiederum auf Thomas Manns Wunsch hin, dieser unitarische Geistliche begleitet.[7] Noch über den Tod hinaus bleibt Thomas Mann ihm in Erinnerung als »one of our most cherished friends«.[8] Und es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass dies auch dessen eigener Auffassung entsprach.[9]
Nichts von alldem hat in den umfangreichen Forschungen und Diskussionen über Thomas Manns Verhältnis zur Religion bislang eine Rolle gespielt. Allein sein Enkel Frido Mann hat in jüngster Zeit auf diese Bedeutung der Unitarischen Kirche für Thomas Manns religiöse und kirchliche Orientierungen aufmerksam gemacht, gleich zweimal – und mit ganz unzureichender Resonanz. Zuerst hat er beim Lübecker Thomas-Mann-Kolloquium 2005 eine Sonderstellung der Unitarier in Thomas Manns religiösem Leben behauptet;[10] in seinem autobiographischen Bericht Achterbahn hat er diese These 2008 wiederholt und bekräftigt.[11] Hatte er lange Zeit seine »unitarische Taufe immer als einen von meinen religiös indifferenten Eltern aus Rücksicht auf bürgerliche Konventionen veranlassten symbolischen Akt der Eingliederung in unser amerikanisches Gast- und Exilland interpretiert«,[12] so sieht Frido Mann die unitarischen Kontakte seines Großvaters heute im Zusammenhang mit den religiösen Sujets, die im »biblischen Werk«[13] des Joseph-Romans und der Gesetz-Novelle, dann im Doktor Faustus und schließlich im Erwählten so unübersehbar in den Vordergrund treten, aber auch mit dem unermüdlichen Engagement des politischen Redners und Essayisten im amerikanischen Exil. Allerdings ist Frido Mann der Spur, auf die er so nachdrücklich hinwies, bei beiden Gelegenheiten selbst nur wenige Schritte nachgegangen.
Das frappierende Desinteresse der Leser und Forscher könnte mit einem transatlantischen Vorurteil zu tun haben, das den Fokus der Wahrnehmung verändert: einer unreflektierten kulturellen Indifferenz nämlich von Europäern gegenüber einer sehr spezifisch amerikanischen Institutionsform des Religiösen. Es ist, mit dem Titel von Hans Rudolf Vagets Buch zu sprechen, Thomas Mann, der Amerikaner, der sich ihr öffnet. In der Hinwendung Thomas Manns zur Unitarischen Kirche kulminiert sein Bemühen, eine Synthese zu finden zwischen den politischen, philosophischen und religiösen Traditionen seiner eigenen Herkunft und denjenigen einer amerikanischen Kultur, der er sich so weit wie möglich anzunähern versuchte und die ihm eine neue Heimat werden sollte.
Es war ein sehr langer und sehr deutscher Weg, der ihn von seinen Anfängen im Geiste neuromantischer Kunstreligion und Schopenhauer’scher Willensmetaphysik, von Wagner und Nietzsche bis an diesen Ort geführt hatte. Einige wesentliche Strecken dieses Weges müssen zunächst und in aller hier gebotenen Vereinfachung in Erinnerung gebracht werden. Denn nur so lassen sich die intellektuellen Voraussetzungen verstehen, aus denen heraus Thomas Manns Hinwendung zur amerikanischen Religion überhaupt möglich wurde.
Während in Thomas Manns erzählerischem und essayistischem Frühwerk kirchliches Leben und kirchliche Repräsentanten aus entschieden skeptischer Distanz geschildert werden, respektvoll zwar gegenüber den geistigen Lebensformen des Bürgertums, aber doch verlachend gegenüber dem seiner Ansicht nach Veralteten und Überständigen einer ihm nicht mehr glaubhaften Tradition – während also die Institutionen des Christentums ihre Autorität für ihn weitgehend eingebüßt haben, machen sich in den poetologischen Essays Auffassungen geltend, die weitgehend im Rahmen neuromantischer Kunstreligion zu verstehen sind.[14]
Da ist etwa der umfangreiche Versuch über das Theater von 1908. Da bereits 1907 ein Teil daraus unter dem Titel Das Theater als Tempel abgedruckt wurde, wird deutlich, dass es hier im Wesentlichen um den Hohepriester des Tempeltheaters in Bayreuth geht. Das Theater als Tempel: diese Formel bezeichnet den Kern von Richard Wagners Kunstreligion; »sein [des Theaters] Ehrgeiz, ein Tempel zu sein, wird immer wieder erwachen«, schreibt Thomas Mann, »und er ist gut in seinem Wesen gegründet«.[15] Dieses grundlegende »Wesen« des Theaters leitet sich aus seinem Ursprung ab: das Theater will deshalb wieder Tempel werden, weil es in seinem Beginn Tempel war.[16] Weil von Anfang an zu seinem Wesen »Symbolik und Zeremoniell« gehört haben, braucht es in Wagners letztem Musikdrama nur »einen Schritt weiter noch, oder kaum noch einen Schritt, und wir haben die szenische Handlung an dem Punkte, wo sie rituell und Weiheakt wird, wir haben das Theater auf seinem Gipfel – nämlich auf dem Hügel von Bayreuth, wir haben das Schauspiel dort, wo es ›Parsifal‹ heißt …« Da ist »der Kultus in Form von Taufe, Fußwaschung, Abendmahl und Monstranzenthüllung auf die Bühne zurückgekehrt«.[17]
Dem Anschein nach ist also in Bayreuth das Theater nach Jahrtausenden wieder zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt, ist die Trennung von Kunst und Religion überwunden. Aber schon die Ironie in Thomas Manns Rhetorik deutet an, dass der Schein trügt: In Bayreuth habe, so schreibt er, das Theater »nach Jahrtausenden zum zweiten Male – wenigstens die Miene eines Nationalaktes und künstlerischen Gottesdienstes angenommen: wobei der Verdacht, daß dieses Bayreuth doch schließlich nur der Ausdruck höchsten Künstlerehrgeizes […] sei, freilich nicht ganz zu unterdrücken ist«.[18] Zwar sei es Wagner »gelungen, […] sein Theater zu einer Weihestätte, einem […] Haus der Mysterien zu machen«,[19] aber letztlich sei das vermeintliche Mysterium doch wieder nur moderne Kunst gewesen, der künstlerische Gottesdienst nur Götzendienst am Künstler. Denn wie geht es zu, wenn die Gemeinde gläubig den Tempel betritt? In dieser Schilderung wird der Essay fast zur Satire:
Und so macht man sich denn auf zur Tempelbude […]. Man wirft sich in Schwarz, man hat Gesellschaftsfieber. Es trifft sich möglicherweise schlecht, man ist vielleicht müde, verstimmt, ruhebedürftig; aber man hat sechs Tage vorher unter bedeutenden Opfern an Zeit und Bequemlichkeit sein Billett von einem Beamten erstanden und ist gebunden. Man wallfahrtet per Droschke zur Gnadenstelle. Man kämpft den Kampf der Garderobe […]. Und dann dort oben das Ideal, zu dem man, rasch trunken von Musik, emporstarrt […].[20]
Der Spott gilt allein der Praxis der »Weihestätte«, nicht der grundsätzlichen Legitimität ihrer Forderung. Im Gegenteil. Das Tempel-Kapitel wird beendet mit einer emphatischen Prophezeiung:
Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen Formelwesens (denn das »Leitmotiv« ist eine Formel, – mehr noch: es ist eine Monstranz, es nimmt eine fast schon religiöse Autorität in Anspruch) führt mit Notwendigkeit ins Zelebrierend-Kirchliche zurück, – ja, ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus ist, aus welchem es bei Heiden und Christen hervorgegangen. Kirche und Theater, so weit auch ihre Wege auseinander gegangen sind, so sind sie doch stets durch ein geheimes Band verbunden geblieben; und ein Künstler, der, wie Richard Wagner, gewohnt war, mit Symbolen zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, mußte sich schließlich als Bruder des Priesters, ja, selbst als Priester fühlen.[21]
Noch in Leiden und Größe Richard Wagners1933 werden diese Formulierungen nahezu wörtlich wieder auftauchen. 1907 aber leitet Thomas Mann daraus eine Zukunftsvision ab, die weit über Bayreuth hinausreicht: Es scheine ihm »nicht mehr unmöglich, daß in irgend einer Zukunft, wenn es einmal keine Kirche mehr geben sollte, das Theater allein das symbolische Bedürfnis der Menschheit zu befriedigen haben würde –, daß es die Erbschaft der Kirche antreten und dann allen Ernstes ein Tempel sein könnte«.[22] Wohlgemerkt: in irgendeiner Zukunft.
In der bildungsbürgerlich trivialisierten Gegenwart scheint das weit entfernt. Wo also wäre die kunstreligiöse »Weihestätte« jetzt zu suchen? Die Antwort gibt der große Essay Bilse und ich, der zuerst in einer Zeitung und dann als eigenes Bändchen erscheint – das, mit den Worten Hans Rudolf Vagets, »zentrale Dokument seiner Poetik«.[23] Was als Selbstrechtfertigung gegen juristische und familiäre Anfeindungen nach den Buddenbrooks begann, mündet in Reflexionen über Kunst und Leben und über die Erlösung eines hässlichen Lebens durch die schöne Kunst. Das liegt an den Gewährsmännern Schopenhauer und Nietzsche, denen zufolge der Künstler ein für sich genommen bedeutungsloses Daseinsmaterial zu gestalten, es so zu unterwerfen und die Kunst als Lebenskritik auszuüben habe. Aber es hat auch mit dem von Nietzsche scharfsinnig analysierten Kunstpriester Wagner selber zu tun. Thomas Manns Essay proklamiert nicht nur eine ontologische Überlegenheit des Kunstwerks über das Leben, sondern auch eine neue Variante jener Kunstreligion, um die es bei Wagner und in Nietzsches Wagner-Kritik ging. Eine Zeitlang hat Thomas Mann ernstlich daran gedacht, diesen Essay zusammen mit dem Versuch über das Theater zu veröffentlichen. Denn gemeinsam ist beiden Texten die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Kunst als eines modernen Erlösungsmysteriums. Das Tempeltheater hat sie einstweilen verfehlt – der Roman aber kommt ihr zumindest nahe.
Das zeigt sich in einem close reading, das die scheinbar beiläufigen Metaphern ernst und beim Wort nimmt. Im Verlauf von Bilse und ich nämlich treten immer mehr Begriffe und Bilder in den Vordergrund, die religiöser Sprache entlehnt sind. Jeder dieser für sich genommen scheinbar bloß redensartlich zitierten theologischen Begriffe wird eingeschmolzen in eine produktionsästhetische Reflexion – mit der Folge, dass dabei die Ästhetik eine eigentümlich religiöse Aura erhält. Das sind zunächst die konventionellen Bestimmungen des Dichters als eines schöpferischen alter Deus. Darüber hinaus aber entfaltet und variiert der Text spezifisch christliche Denkfiguren. Indem einige anfangs beiläufig erscheinende Schlüsselwörter leitmotivisch wiederholt und beim Wort genommen werden, rückt schließlich die Gestalt des Dichters selbst metaphorisch in die Position eines leidenden Erlösers ein. So werden die Vorwürfe mangelnder Erfindungsgabe, narzisstischer Gefühlskälte und Rücksichtslosigkeit umgedeutet in Tugenden einer durch Selbstzucht, ja Selbstopfer bewirkten Läuterung, als Heilung einer defizienten Lebenswirklichkeit.
Durch seinen »Odem« vollbringt der Künstler eine »Beseelung« seiner »Geschöpfe« und macht sie »zu seinem Eigentum«, auf das fortan »niemand die Hand legen darf«[24] – so wie der Brudermörder Kain vom Herrn als sein Eigentum gezeichnet wird, damit niemand ihn erschlage. Dabei steigt der Dichter als souveräner Schöpfer hinab in die Sphäre des Stofflichen, und er »identifiziert« sich dort »mit seinen Geschöpfen«, er macht sie sich zu eigen, nimmt sie in sich auf. Damit werden sie ihrerseits verwandelt in das, was er »Emanationen des dichtenden Ich« nennt (so wie die neuplatonische Schöpfungsmystik die geschaffene Welt als Emanation des Schöpfers beschrieb). Diese Verwandlung vollzieht sich nun auch, ja am auffallendsten dann, wenn es sich um »ein widriges und entsetzliches Wesen« handelt. Was damit entsteht, nennt Thomas Mann das »innere Einswerden« von Schöpfer und Geschöpf. Für das widrige Geschöpf bedeutet es eine Erhöhung, für den Schöpfer eine Erniedrigung – oder, mit einem zweiten Schlüsselwort des Essays: »Schmerz«. Der »Schmerz des Erkennens und Gestaltens« macht für den Künstler »jedes Erleben zu einem Erleiden«. Dieses »Leiden« nennt Thomas Mann sein »Martyrium« und dann sogar ausdrücklich: seine »Passion«. Sie ist unumgänglich, man könnte sagen: heilsnotwendig. Denn allein »das Werk, das ein Künstler in Schmerzen tat«, »rechtfertigt« seinen Ehrgeiz. Wäre es bloß im Vorübergehen gesagt, dann wäre das Verb ›rechtfertigen‹ im Sinne von ›legitimieren‹ zu verstehen. In diesem Kontext aber, und durch Kursivdruck hervorgehoben, soll es seinen theologischen Ursprung durchscheinen lassen. In dieser Kunstreligion geht es noch immer um die Rechtfertigung des Sünders, nicht weniger.
Das Ergebnis dieses Vorgangs nennt Thomas Mann denn auch eine »Erlösung«. Im zentralen Gedanken seines Essays erläutert er das Gemeinte: In ihm lebe der »Glauben […], daß böse und stumme Dinge erlöst und gut gemacht werden, wenn man sie ausspricht«. Nicht nur um Heilung geht es, sondern um Heil. Dies ist der Punkt, in dem die ästhetisch-handwerkliche und die kunstreligiöse Linie des Textes sich treffen: der Glaube, dass durch eine Kunst, die gut gemacht ist, das Böse gut gemacht wird. Das ästhetisch Gelungene bewirkt ebendeshalb das moralisch Gute, die Perfektion des l’art pour l’art bewirkt die Erlösung des Lebens in der Kunst. So darf nun auch der Romancier, der seine Schauplätze und Figuren ohne Rücksicht nach lebenden Vorbildern gestaltet – so darf auch dieser »Künstler-Egoist sein eigenes Herz als Monstranz zu erheben« beanspruchen.
In der eigentümlichen Wendung, »daß böse und stumme Dinge erlöst und gut gemacht werden, wenn man sie ausspricht«, ist noch ein zweiter Gedanke angedeutet: dass nämlich dieser Künstler mit seinem Werk auch sich selbst erlöst. Das Kunstwerk vollbringt diese Erlösung ›des Lebens‹ nicht nur im Werk, sondern auch durch das Werk. Das »Werk«, das der Meister in Leiden und Größe hervorgebracht hat, dieses Werk muss – wiederum ausdrücklich – auch den Meister selbst »rechtfertigen«. Noch deutlicher und sehr viel pathetischer wird Thomas Mann dies 1913 in seiner Gedenkrede auf den Schriftsteller Friedrich Huch formulieren: »Denn die Seele des Dichters ist Sehnsucht, und die letzte, die tiefste Sehnsucht ist die nach Erlösung.«[25] Dort der Tempel des einst als höchste der Künste geschätzten Dramas, der zur »Tempelbude« heruntergekommen ist – hier der moderne Roman, der die sündige Lebenswirklichkeit erlöst. Dort ein ›ästhetischer Katholizismus‹,[26] hier die protestantische Rechtfertigung. Dort die Sinnlichkeit im Halbdunkel der pfäffischen Kultübungen – hier das sola Scriptura des sprachlichen Kunstwerks: Dieser Künstler inszeniert sich wie ein Reformator der neuromantischen Kunstreligion.
Je weiter diese kunstreligiösen Züge des Frühwerks etwa seit dem Erscheinen des zweiten Romans Königliche Hoheit1909 verblassen, desto deutlicher tritt, von den Betrachtungen eines Unpolitischen bis zum Zauberberg, ein zweiter, in seinen Ansätzen ebenfalls bis in die frühesten Novellen und Essays zurückzuverfolgender Grundzug von Thomas Manns Denken über die Religion hervor. Im Fragment über das Religiöse fasst er ihn 1931, unter Hinweis auf den Zauberberg, in zwei kurzen Sätzen zusammen: »Was aber ist denn das Religiöse? Der Gedanke an den Tod.«[27] Wie die religiöse Überhöhung von Künstler und Kunstwerk, so war auch die vieldiskutierte Todesmetaphysik, die so lakonisch noch einmal zusammengefasst wird, nicht nur Thomas Manns eigene, sondern diejenige einer ganzen spätromantisch-bürgerlichen Epoche der europäischen Kultur. Und sie meinte keineswegs ein melancholisches Bewusstsein der Vergänglichkeit und Endlichkeit aller Dinge, sondern vielmehr eine Sehnsucht nach dem Vergehen, nach Entgrenzung des Selbst, nach Vergessen und Auflösung im Meer des Süßen Schlafes.[28] Nach ihm sehnte sich schon der kleine Hanno Buddenbrook, in ihm versank Gustav von Aschenbach am Ende von Der Tod in Venedig, ihm verfällt um ein Haar der im Schneesturm halluzinierende Hans Castorp im Zauberberg.
Der Essayist Thomas Mann fand diese Sehnsucht bekanntlich am verführerischsten in Wagners Tristan und Isolde ausgedrückt, kannte sie aber auch als Grundzug der Willens-Philosophie Schopenhauers wie als Unterstrom des romantischen Denkens vor allem bei Novalis. In diesem Sinne hatte er auch das interpretiert, was ihm – vermittelt durch Schopenhauer und Nietzsche und dann durch eigene religionsgeschichtliche Lektüre – vom Buddhismus bekannt geworden ist.[29] Und wie dieser, so ist auch Thomas Manns Todesreligion durchaus gottlos, eine Religion ohne Gott und insofern auch – mit einem seiner frühen, von dem französischen ›Kulturkatholiken‹ Ernest Renan entlehnten Lieblingszitate – »piété sans la foi«, also metaphysisch-andächtige Frömmigkeit ohne einen Gottesglauben im jüdisch-christlichen Sinne. Die Abkehr von der ›buddhistischen‹ Sehnsucht nach dem Vergessen, dem Schlaf, dem Nirwana hat er als eine sittlich entschlossene, der eigenen Neigung abgezwungene Hinwendung zum bejahten Leben vollzogen, einem Leben, das für ihn auch soziale Gemeinschaft und Verantwortung bedeutete, einem Leben also im Geiste einer durchaus christlich verstandenen Menschenliebe.
Ebendeshalb lässt er schon 1903 Tonio Kröger, wenn der am Ende seiner Überlegungen zu den Aufgaben der Kunst das Wort »Erlösung« gebraucht, besonderen Nachdruck auf den christlichen Horizont des Wortes legen. »Denn«, so schreibt Tonio am Ende der Novelle an Lisaweta,
wenn irgend etwas imstande ist, aus einem Litteraten einen Dichter zu machen, so ist es diese meine Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von der geschrieben steht, daß Einer mit Menschen- und Engelszungen reden könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sei.[30]
Es ist der erste Brief des Paulus an die Korinther, in dessen 13. Kapitel dieser Satz über die Liebe »geschrieben steht«.
Die Denkfigur der Überwindung einer ursprünglichen, mit dem Wesen der Religion identifizierten Todessehnsucht des einsamen Einzelnen in die nun ihrerseits religiös verstandene Bejahung des Lebens in mitmenschlicher Gemeinschaft: diese Denkfigur wird durch Thomas Manns gesamtes Werk hindurch beständig wiederkehren. Aber vom »strengen Glück« der Königlichen Hoheit über die Betrachtungen eines Unpolitischen und die weitausholende Erörterung über Goethe und Tolstoi bis in den Zauberberg und noch bis in Der junge Joseph hinein wird sie intensiv verhandelt; immer von neuem wird der Überwindungskampf ausgefochten, vor allem im Joseph auch im Zeichen von Bachofens Antagonismus von »mutterrechtlicher« Zügellosigkeit und »vaterrechtlicher« Strenge, Disziplin und einer Ordnung, zu der er sich wie seine Romanhelden gleichsam fortwährend selber rufen muss.
Wie aber die Neigung zur Todesmetaphysik dabei immer wach bleibt (und diejenige zur Tristan-Musik), so stellt sich auch die alte Wertung immer von neuem ein: Immer wieder ist es die Schopenhauer’sche Todesmetaphysik, die als die eigentliche, heimliche Wahrheit des menschlichen Daseins erscheint und deren Erkenntnis von seelischer Tiefe zeugt; ihr gegenüber muss die Lebensbejahung immer wieder gegen den eigenen Vorbehalt verteidigt werden, sie sei im Grunde doch nur trivial, brav und flach. Drastisch illustriert das etwa der frühe Notizbucheintrag über den geliebten Freund Paul Ehrenberg, Vorbild von Tonio Krögers »Blonden und Blauäugigen«, er sei »so gemein, daß man nicht denken kann, er könne jemals sterben. Er ist der Weihe und Verklärung des Todes nicht werth.«[31] Weite Teile der Vorbehalte, die in den Betrachtungen gegen die Humanitätsideale der Aufklärung, gegen den Pazifismus, gegen Demokratie und Republik vorgebracht werden, entspringen ebendiesem Affekt.
Eine Umwertung dieser Werte seiner künstlerischen Frühzeit empfindet Thomas Mann seit der Zeit des Zauberbergs zunehmend als eine Lebensaufgabe, oft genug gegen seinen eigenen Widerstand. Wie leicht ist die »Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen« zu verlachen angesichts des »Gedankens an den Tod«, dessen »Weihe und Verklärung« Bürger wie der brave Paul gar nicht verdient haben! Wie gefährlich nahe am Kalenderspruch balanciert der von Thomas Mann selbst so genannte »Ergebnissatz« des Zauberberg, wie nahe an den beschwingten Maximen des zur Karikatur gewordenen Aufklärers Settembrini! »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken«, das begreift Hans Castorp bekanntlich (im betonten Kursivdruck) am Ende seines Schneetraums, begreift es auch gegen die Todesverführung Naphtas – und hat es bald wieder vergessen. Wie also könnte eine Umwertung aussehen, die sich nicht in Plattitüden verlöre und die dennoch der Verführung des Todes, der wollüstigen Selbstaufgabe, dem seligen Versinken und Vergessen widerstände?
»Es gibt zweierlei Lebensfreundlichkeit«, so unterscheidet Thomas Mann in einer Rede 1925: »eine, die vom Tode nichts weiß; die ist recht einfältig und robust, und eine andere, die von ihm weiß, und nur diese, meine ich, hat vollen geistigen Wert. Sie ist die Lebensfreundlichkeit der Künstler, Dichter und Schriftsteller«.[32] Das wird, in mannigfachen Varianten, seine Formel bleiben, vom frühen Essay Süßer Schlaf! bis hin in den größten religionskritischen und religiösen Roman des 20. Jahrhunderts, den Joseph, in dem sie wiederkehren wird als der Doppelsegen »von oben und von der Tiefe, die unten liegt«. Der »Tod«, von dem zu wissen die Eingeweihten von den bloß Robusten und Gesunden unterscheidet (und »Gott weiß, welche Fülle von Mißachtung ich in das Wort ›gesund‹ versenke!«, schreibt der zwanzigjährige Thomas Mann an seinen Freund Otto Grautoff):[33] dieser »Tod« umfasst die weitläufigen Regionen romantischer Todessehnsucht, Verschmelzungs- und Auflösungsphantasien, Schopenhauers Willensmetaphysik, Nietzsches apollinische Träume und dionysischen Rausch und immer wieder die von schmerzlich-wollüstiger Entgrenzung bestimmte Liebestodmusik des Wagner’schen Tristan.
Selbst noch im politischen Kampf gegen die Todesverkünder in ihrer depraviertesten, vulgärsten, menschenfeindlichsten Gestalt wird diese Ambivalenz ein leitender Gedanke Thomas Manns bleiben, und eine der großen Stärken seiner Argumentation. Bruder Hitler heißt bekanntlich der erstaunliche Essay, in dem der Kampf gegen den Nationalsozialismus auch damit begründet wird, dass der Kämpfende von der Verführungskraft des Bekämpften weiß. Ebendeshalb ist ihm an der »Lebensfreundlichkeit« so sehr, so um Lebens und Sterbens willen gelegen, weil er die Todessehnsucht so gut kennt, weil er sie selbst im entsetzlichen Bruder Hitler noch wiedererkennt.
In diesem Kampf allerdings verschieben sich nach und nach auch die Gewichte. Wenn 1925 jene Lebensfreundlichkeit, »die vom Tode nichts weiß«, noch als »recht einfältig und robust« abgetan wird, dann schwingt im Spott noch etwas von der Verachtung für Paul und andere Bürger mit (und erst recht für seinen Bruder Heinrich). Das ändert sich in dem Maße, in dem sich gerade Einfalt und Robustheit als besonders taugliche und zuverlässige Kampfgefährten, ja womöglich als in ihrer unerschütterten Sicherheit und Stärke überlegen erweisen. Denn nun geht es nicht mehr nur um Romantik und Aufklärung, um Geistesflachheit und Seelentiefe – nun geht es um den Kampf gegen die »Pogrom-Monarchisten und Patriotenlümmel«, den Thomas Mann, immerhin einer der Wortführer der Konservativen, als einer der Ersten aufnimmt. Mit anderen Worten: Es geht um den Kampf gegen das, was er selbst nun die antirepublikanische »Reaktion«[34] nennt, gegen den heraufziehenden Faschismus, schließlich gegen die Herrschaft Hitlers.
Begonnen hat die Umwertung schon mit dem großen Vortrag über Goethe und Tolstoi1921; im riesenhaften Vorhaben des Joseph, das fünf Jahre später beginnt und sich anschickt, »den Mythos den fascistischen [sic] Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane ›umzufunktionieren‹«,[35] wird sie in buchstäblich biblischen Dimensionen fortgesetzt. Und hier setzt auch seine Hinwendung zum Westen an, zur Republik, zur Aufklärung, zu Demokratie und Sozialismus. Das Jahr 1922 bildete mit der Republikrede eine Art biographischer Wasserscheide.
Je pragmatischer die Texte geraten, die Thomas Mann fortan schreibt, desto entschiedener wird ihre Sympathie mit den Robusten, ihren Vereinfachungen, ihrer hilfreichen, wohltuenden Einfachheit. Die andere Seite – die Selbstzweifel, anthropologische und kulturkritische Skepsis, Relativierung und »Sympathie mit dem Abgrund« – wird in den Romanen verhandelt, der bemühte Optimismus der Menschenliebe und der Dezisionismus der guten Tat aber in den öffentlichen Reden und Essays artikuliert. Diese Zweiteilung wird von nun an lange zu jenen Grundzügen von Thomas Manns Werk gehören, um deren Überwindung er im amerikanischen Exil bemüht ist. Den Kampf des Exilierten gegen den Nationalsozialismus, das Engagement des entschlossen zum Amerikaner gewordenen Thomas Mann gegen die antikommunistische Hysterie, in der er eine amerikanische Variante des Faschismus heraufkommen sah, und für die Politik Roosevelts, dem er nicht nur in seinen Reden, sondern auch im Schlussband des Joseph ein Denkmal setzt: dieses Engagement hat er zuweilen selbst ironisiert. Und er hat es doch auch gegen die eigenen Anfechtungen mit dauerhaftem Nachdruck als einen wesentlichen Teil seines Werkes und seiner künstlerischen Existenz verteidigt.
Auch dort also, wo Thomas Mann sich den biblischen Überlieferungen und der ägyptischen und altorientalischen Religionsgeschichte und Mythologie zuwendet, wo er mit Heiligenlegenden spielt, wo er nach Kirche und Bekenntnis fragt, wo er in der gegenwärtigen Kirche seiner lutherischen Herkunft so vorbildhafte Gestalten wie den christlichen Widerstandskämpfer Martin Niemöller verehrt und wo er endlich sogar selbst mit der zielstrebig herbeigeführten Privataudienz bei Papst Pius XII. in die Welt der katholischen Tradition seines Romans einzutreten meint – auch dort noch hält er unbeirrbar an dieser moralischen, sozialen und ausdrücklich auch politischen Verpflichtung aller Religion (wie der Literatur) fest. Auch hier bleibt er, mit Hermann Kurzkes schönem Ausdruck, »ein Pragmatiker des Glaubens«.[36]
Diese Entwicklung nun vollzieht sich schon seit ihrem Beginn um 1922 unter den Auspizien einer sehr spezifisch amerikanischen Auffassung des Verhältnisses zwischen Religion und Humanismus, Humanität und Demokratie. Wie eine Chiffre dieser neuen Auffassung erscheint in den Quellen, denen er sich zuwendet, der Name »Amerika« selbst – verstanden als Bezeichnung nicht lediglich einer weiteren Nation, sondern der neuen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationsform einer übernational gedachten, von allen Fesseln der Tradition befreiten Menschheitsfamilie. »Send these, the homeless, tempest-tossed to me«, hatte die Dichterin Emma Lazarus 1883 Amerika selbst sagen lassen, in ihrem berühmten Sonett The New Colossus, das 1903 auf dem Sockel der Freiheitsstatue angebracht wurde.[37]
Schon während der Arbeit an seinem 1909 erschienenen zweiten Roman, Königliche Hoheit, hatte Thomas Mann sich mit einem ihn sozusagen selbst überraschenden Interesse der Kultur und Gesellschaft dieses Amerika zugewandt.[38] Mit seiner republikanischen Wende aber gewinnt dieses Interesse neue Dimensionen und eine ungleich größere Relevanz. Zu den Eigenarten der amerikanischen Demokratie, nach denen der nicht mehr unpolitische Thomas Mann nun zu fragen beginnt, gehören Auffassungen von Religion und Gesellschaft, die sich in den USA seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Varianten historisch konkretisiert (und institutionalisiert) haben. In ihrem Mittelpunkt steht immer wieder eine eigentümliche Verbindung derselben Begriffe. Danach wird »Religion« in einem als zeitgemäß verstandenen Sinne proklamiert als ein aufgeklärter und pragmatischer, gegenüber dem Christentum und anderen Religionen zugleich respektvoller und kritischer Humanismus, der sich notwendig in einer demokratischen Republik frei entwickelter Individuen verwirklichen müsse, wie sie als emphatisches Leitbild in der amerikanischen Revolution entworfen worden war.
Seit der American Renaissance der 1830er bis 1860er Jahre[39] wird in Teilen dieser durchaus heterogenen Bewegungen ein alter, auf die Reformationszeit zurückgehender theologischer Terminus neu aufgegriffen und in seinem Geltungsbereich erheblich erweitert. Er lautet ›Unitarismus‹, und ihm entspricht institutionell die (wiederum in sehr unterschiedlichen Formen realisierte) ›Unitarische Kirche‹. Ihr wird sich der amerikanische Exilant Thomas Mann so vehement zuwenden, wie er das mit keiner anderen Religionsgemeinschaft jemals getan hat.
Davon handelt dieses Buch. Es soll zeigen, (1) dass Thomas Manns Denken über Religion seit seiner ›republikanischen Wende‹ im Zeichen einer spezifisch amerikanischen Auffassung von Wesen und Institutionen der Religion gestanden hat, die noch ohne den Begriff des Unitarismus auskommt, (2) dass er sich im Exil in den USA, bestärkt durch prägende Erfahrungen und Begegnungen, sehr bewusst und bis zur Identifikation einem christlich verstandenen amerikanischen Unitarismus zuwandte und (3) dass im Licht dieses Engagements Zusammenhänge zwischen politischer Praxis, essayistischem und erzählerischem Werk sichtbar werden, die bislang weithin im Schatten gelegen haben.
Aber worin bestand die amerikanische Religion, der Thomas Mann zuerst in der Lektüre und dann in der Praxis begegnete? Das ist nun in einigen wesentlichen Grundzügen zu klären, ehe der Protagonist selbst, im übernächsten Kapitel, wieder die Szene betritt.
In ihrer überwiegenden Zahl und ihren weltweit wirkungsmächtigsten Strömungen sind die Unitarier seit dem 19. Jahrhundert eine wesentlich angelsächsische, ganz überwiegend US-amerikanische Erscheinung;[40] sie entstehen aus häretischen Bewegungen innerhalb der protestantischen Kirchen im Mitteleuropa der Reformationszeit (davon wird später noch die Rede sein), dann in England und schließlich im kolonialen und postkolonialen Neuengland. Schon in Großbritannien sind sie aus der Bewegung der Dissenters, im Neuengland der Aufklärungsepoche dann aus den puritanischen Traditionen, aber auch aus Teilen der Quäker-Bewegung hervorgegangen. Bis heute berufen sich amerikanische Unitarier stolz auf Thomas Jefferson, dessen in Reden und Schriften formulierte »unitarische« Überzeugungen dank seiner gleichermaßen intellektuellen und politischen Autorität gewissermaßen in die geistige Textur der jungen Republik eingegangen sind:
The pure and simple unity of the creator of the universe is now all but ascendant in the Eastern states; it is dawning in the West, and advancing towards the South; and I confidently expect that the present generation will see Unitarianism become the general religion of the United States.[41]
Auch wenn diese Zuversicht sich nicht bestätigt und der »Unitarismus« sich in der folgenden Zeit noch erheblich gewandelt hat – in den an Religionsformen und Denominationen so unerschöpflich reichen USA ist er doch, wie solche Sätze zeigen, nicht einfach eine Weltanschauung unter anderen. Sondern er versteht sich von Beginn an als Inbegriff (und oft genug auch Sammelbegriff) einer spezifisch amerikanischen Religiosität; entsprechend unscharf ist seine Abgrenzung zu anderen weltanschaulichen Strömungen. Dabei hat er diese moderne Gestalt erst in den Generationen nach Jefferson angenommen, namentlich in der American Renaissance des 19. Jahrhunderts. Im Neuengland des Schriftstellers und Philosophen Ralph Waldo Emerson, seiner Lehrer und Schüler finden diese Synthesen aus aufklärerischen und romantischen Gedanken um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren prägnantesten und provozierendsten, selbstbewusst amerikanischen Ausdruck. Von ihm aus rückblickend werden dann auch Denker wie Jefferson zu Vorkämpfern und Propheten der eigenen Bewegung erhoben.[42]
So weit also einerseits die theologischen Wurzeln zurückreichen und auf so viele häretische Bewegungen innerhalb der unterschiedlichen christlichen Traditionen die amerikanischen Unitarier sich berufen können, so entschieden verdanken sie andererseits ihre bis heute fortwirkenden Prägungen den Eigenarten der amerikanischen Romantik, ihren besonderen Varianten idealistischer Philosophie und überhaupt jenem weiten Überschneidungsbereich religiöser, sozialer und politischer Ordnungen, die seit Robert Bellahs Abhandlung 1967,[43] im Blick etwa auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung und die Bill of Rights, unter dem Begriff einer civil religion zusammengefasst werden. In der darauf gegründeten amerikanischen Romantik wird das Denken der Aufklärung nicht zum Gegenstand kritischer Distanzierungsbemühungen und Gegenentwürfe, sondern soll im Gegenteil, in entschieden pragmatischer Ausrichtung, emphatisch fortentwickelt werden. Für die Denker der amerikanischen Romantik, namentlich für die Concord School um Emerson und Henry D. Thoreau, bleibt das Erbe der englischen und amerikanischen Aufklärung ebenso maßgeblich wie Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dann auch die durch die Übersetzungen und Essays Emersons und Margaret Fullers nach Amerika vermittelte Naturphilosophie Goethes und der romantische Idealismus, schließlich die sozialen Reformbewegungen, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auch den Kampf gegen die Sklaverei und die Entwicklung eines social gospel umfassen werden.
Derart amerikanisch ist der Unitarismus im 18. und 19. Jahrhundert geworden, dass eine seiner neueren Gesamtdarstellungen geradezu den Titel An American Reformation trägt.[44] (An seiner Entwicklung und Aufnahme zeigen sich allerdings dann auch besonders scharf die gegenläufigen Tendenzen der neueren amerikanischen Religionsgeschichte, die bis heute immer schärfer ausgeprägten Gegensätze von liberalen und fundamentalistischen, aufklärerischen und evangelikalen Formen des Religionsverständnisses, des religiösen Lebens und der Auffassungen von seinem Verhältnis zur Gesellschaft.) Seine moderne Version wird 1819 durch den radikalen Bostoner Geistlichen William E. Channing geprägt, der eine in Baltimore zur Amtseinführung eines Pastors gehaltene Predigt mit den Worten Unitarian Christianity überschreibt – zu einer Zeit, in der der Pfarrer und Theologe Henry Ware, Mitbegründer der Harvard Divinity School, die Grundlinien des amerikanischen Unitarismus der Sache nach bereits gezogen hat.[45] Sechs Jahre später wird die American Unitarian Association gegründet. Nicht mehr die im engeren Sinne dogmatischen Auseinandersetzungen um die Einheit oder Dreifaltigkeit Gottes und das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Natur in Christus stehen hier im Zentrum – sie liegen für die meisten dieser dezidiert ›modernen‹ Unitarier schon in der Vergangenheit und erscheinen als abgetane gelehrte Spekulationen oder gar Begriffsklaubereien –, sondern die aus persönlich-unmittelbarer Gottesbeziehung hervorgehende, vernunftbetonte und diesseitszugewandte, oft lebensphilosophisch getönte Sittlichkeit, die als Kern der Botschaft und Praxis Jesu, bald aber auch anderer religiöser Lehrer und Vorbilder, verstanden wird und der in Wort und Tat nachzufolgen ist. Die Tendenz, den einen Gott weniger als ein personales Wesen zu verstehen denn als mehr oder weniger identisch mit dem, was Emerson – der bei weitem wichtigste und wirkungsmächtigste Schüler Channings – als kosmische Oversoul verehrt und was die individuelle Seele auf eine nicht genau bestimmte Weise mit einer Art kollektiver Menschheitsseele und mit dem Göttlichen verbindet: diese Tendenz führt die unitarische Gotteslehre heran an Überlieferungen des Hinduismus, des Daoismus und mehr noch des Buddhismus. Andererseits verstärkt diese Tendenz auch jene Nähe zu den nicht mehr personalen Gottesvorstellungen des Deismus, die schon in der amerikanischen Aufklärung von Benjamin Franklin bis zu Thomas Jefferson dominierte – so dass das bis heute verbreitete Scherzwort entstehen konnte, die Unitarier feierten statt Ostern lieber den Geburtstag Jeffersons. Tatsächlich tragen nicht wenige unitarische Kirchen in den USA bis heute die Namen Emersons oder Jeffersons.
Die geographische wie intellektuelle Nähe des anfangs weitgehend auf Massachusetts beschränkten Unitarismus zu Boston und der Universität Harvard hat seiner landesweiten Wirksamkeit zeitweise im Weg gestanden. Dem unitarischen Glaubensbekenntnis des Pastors James F. Clarke zu »the fatherhood of God, the brotherhood of man, the leadership of Jesus, salvation by character, and the progress of mankind onward and upward forever« setzten Spötter eine kürzere Version entgegen; sie lautete: »The fatherhood of God, the brotherhood of man, and the neighborhood of Boston.«[46] So gehört es zu den Voraussetzungen, vielleicht überhaupt zu den Ermöglichungsgründen für Thomas Manns Hinwendung zur verfassten Unitarischen Kirche, dass sie sich nicht schon in Princeton vollzog (wo seine Tochter Elisabeth unitarisch getraut wurde) oder in Harvard (wo ihm am 20. Juni 1935 die Ehrendoktorwürde verliehen wurde), sondern erst Anfang der vierziger Jahre am anderen Ende des amerikanischen Kontinents in Los Angeles: Dort hatte sich eine politisch und religiös radikale Form des Unitarismus entwickelt, die sich markant gegenüber dem abgrenzte, was sie als Ostküsten-Establishment verspottete.
Man hat die Predigten und Reden, Publikationen und Debatten, die zu dieser Entwicklung führten, in ihrer Gesamtheit geradezu »the second Unitarian controversy« genannt, gleichsam das zweite Schisma der unitarischen Bewegung: Hatten die sich als strikt theistisch verstehenden Einsprüche gegen die Trinitätslehre der christlichen Kirchen einen »Unitarismus« begründet, der sich im Rückbezug auf die Arianer als Verteidiger des wahren Christentums sah, so wird nun im Geiste einer aufklärerisch-romantischen Anthropologie und Naturphilosophie auch die exklusive Bindung an das Christentum selbst tendenziell aufgegeben. Dieses ›tendenziell‹ umfasst freilich sehr unterschiedliche Möglichkeiten von einer fortdauernden christlichen Traditionsbindung bis hin zu einer dezidiert postchristlichen, interreligiösen Ausweitung.
Die amerikanische Kirchengeschichte unterscheidet denn auch heute die älteren »theologischen« Unitarier (als Anhänger eines nichttrinitarischen, aber an einen persönlichen Gott glaubenden und sich auf die Bibel berufenden Christentums) und die neueren »kirchlich organisierten Unitarier« (als nicht mehr ausschließlich christliche, sondern auch andere religiöse Traditionen aufnehmende und agnostische Positionen akzeptierende Bewegung) als zwei grundsätzlich verschiedene, nur historisch miteinander verbundene Gruppen. Diese Differenz erscheint als so grundlegend, dass »kirchliche« Unitarier die Überzeugungen der »theologischen« Unitarier zwar teilen können, aber keineswegs teilen müssen – weshalb auch Christen, die an die Dreifaltigkeit Gottes glauben, sich ihnen durchaus anschließen können.[47] Wie das praktisch aussehen konnte, wird sich am Beispiel der Gemeinde zeigen, in der Thomas Mann mitwirkte.
Ebendarum verstehen sich die Unitarier zumal in der Zeit der Weltkriege – ihre Selbstbezeichnung von der Theologie auf die soziale Sphäre transponierend – ganz wesentlich als Einheitsstifter einer zerstrittenen Menschheit: als Vermittler zwischen den Konfessionen, ja zwischen religiösen und nichtreligiösen Traditionen humanistischer Gesinnungen, die gerade aus dem spezifisch amerikanischen Patriotismus heraus kosmopolitische, oft auch pazifistische Leitvorstellungen einschließen. Dennoch beharrt der moderne amerikanische Unitarismus, als in seinem Ursprung protestantisch-kirchliche Bewegung, von seinen Anfängen bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf einer genuin christlichen Begründung seines Humanismus: auf dem Glauben an den einen Gott und auf der Orientierung an Leben und Botschaft Jesu Christi als des exemplarischen Menschen, des vorbildlichen Sittenlehrers, des Verkünders dieses einen Gottes – weshalb denn auch der späte, gegenüber aller Christologie zunehmend skeptische Emerson 1832 sogar das unitarische Pfarramt niederlegt und als unabhängiger Schriftsteller und Philosoph seine Philosophie des »Transcendentalism« entwickelt. In seiner in Henry Wares Fakultät in Harvard gehaltenen Divinity School Address – nach Channings Ordinationspredigt 1819 das zweite Gründungsdokument des amerikanischen Unitarismus und einer der maßgeblichen Texte amerikanischer Intellektualität[48] – erklärt er zur Christologie und damit zur Frage der Christlichkeit seines Denkens überhaupt:
Jesus Christ belonged to the true race of prophets. […] One man was true to what is in you and me. He saw that God incarnates himself in man […] He said, in this jubilee of sublime emotion, »I am divine. Through me, God acts; through me, God speaks. […]« But what a distortion did his doctrine and memory suffer in the same, in the next, and in the following ages! […] The idioms of his language, and the figures of his rhetoric, have usurped the place of his truth […]. Historical Christianity […] has dwelt, it dwells, with noxious exaggeration about the person of Jesus. The soul knows no persons. It invites every man to expand to the full circle of the universe, and will have no preferences but those of spontaneous love.[49]
Abb. 1: Ralph Waldo Emerson (um 1857)
Allein das »moral sentiment« des einzelnen Menschen – und damit der Menschheit im Ganzen – galt ihm nun noch als letztverbindliche Autorität christlichen Lebens; das schloss einen entschieden anti-institutionellen Vorbehalt ein. Für weite Teile der unitarischen Bewegung, deren wirkungsmächtigster Repräsentant Emerson doch eine Zeitlang gewesen war, musste er fortan seinerseits als Häretiker gelten; namentlich der einstige Vorkämpfer des Unitarismus und Weggefährte Channings, der in Harvard lehrende Theologe Andrews Norton, wurde zu seinem großen Widerpart. Für die ›modernen‹ Varianten des Unitarismus aber, die sich auf Emersons Transzendentalismus und auf das durch ihn bewirkte Schisma beriefen und berufen, gehört das einst als Herabsetzung gegen die Unitarier gerichtete Wort von der heresy spätestens seit dieser Zeit zu ihrer Selbstbeschreibung; Nonkonformismus wird seit und nach Emerson zu einem wesentlichen unitarischen Tugendideal.
Im genauen Gegensatz zu Norton ist die Bibel für Emerson ein historisch zu lesendes (und nur als solches dann auch hochzuschätzendes und moralisch lehrreiches) Dokument; Jesus ist ihm eine vorbildliche und verehrungswürdige, hier weithin durch den Blick eines romantischen Idealismus verklärte historische Gestalt (die als solche dann auch zur moralischen Nachfolge auffordert); und die Kirche versteht er als eine Gemeinschaft aufgeklärter und emanzipierter Individuen mit dem Ziel der Selbstvervollkommnung (so in dem großen Essay Self-Reliance), des gesellschaftlichen und geistigen Fortschritts. Die Nähe zu Goethes »Bildungs«-Ideal ist in Emersons Naturauffassung wie in seiner Anthropologie unschwer zu erkennen. Unter seinen zeitweiligen Weggefährten wird, in einem komplizierten persönlichen Verhältnis, der Dichter Walt Whitman eine besondere wirkungsgeschichtliche Bedeutung gewinnen.
Der Dichter der Leaves of Grass verstand sich nicht als Unitarier im konfessionellen Sinne. Er war von einer anderen radikal reformatorischen Bewegung in die Nähe Emersons gekommen, den Quäkern. Deren wesentliche theologische Grundauffassungen aber standen denen der Unitarier so nahe, wie ihr sozialer Ort von ihnen entfernt war. In der Überzeugung von der Freiheit des Einzelnen und seiner Unmittelbarkeit zu Gott und im daraus abgeleiteten Republikanismus waren beide sich einig, und da auch die Quäker die Lehre von der Trinität ablehnten, waren auch sie im dogmatischen Wortsinne ›unitarisch‹ gesinnt. Ihre Distanz zur unitarischen Bewegung ergab sich vor allem aus deren sozialer Verwurzelung im wohlhabenden, liberalen Bürgertum der Ostküste, auch aus der noch vergleichsweise engeren Bindung der Quäker an die reformatorischen Traditionen. Gerade in dieser Hinsicht aber fand der junge Whitman sich 1855, in zeitweise von beiden enthusiastisch konstatierter Übereinstimmung, an der Seite Emersons wieder – von dem ihn dann nicht nur sein ungestüm zur Schau getragenes Selbstgefühl wieder distanzierte, sondern auch seine auf Entgrenzung und ekstatische Gemeinschaft ausgerichtete Kritik des Emerson’schen Individualismus.
So lässt denn das Bild eines befreiten Selbst, das Whitman aus Emersons Jesus-Bild ableitet, diese Ursprünge noch deutlich erkennen. Hatte Emerson in der Divinity School Address seinen Jesus die Offenbarung Gottes im Inneren jedes Menschen verkünden und ihn, als den dies erkennenden Repräsentanten der Menschheit, jubelnd ausrufen lassen: »I am divine. Through me, God acts; through me, God speaks«, so verkündet Whitman nun im Song of Myself, seinerseits als ein solcher Repräsentant: »Divine am I inside and out, and I make holy whatever I touch or am touched from.«[50]
Abb. 2: Walt Whitman (um 1860)
Was Whitman dann bald, neben persönlichen Unstimmigkeiten, wieder von Emerson entfernte, waren seine radikalen Ausweitungen dieser Humanitätsreligion. Da war zum einen die Leidenschaft, mit der er einen Kult des Körpers proklamierte und Seele und Leib, unter Einschluss der Sexualität im Allgemeinen und der Homosexualität im Besonderen, als ganz gleichrangige Instanzen des neuen Menschenbildes verkünden wollte. Und da war zum anderen die Entschiedenheit, mit der er in der Konsequenz der neuen Religion alle alten Institutionen als überholt und erledigt ansah. »There will soon be no more priests«, schrieb er im Vorwort zu Leaves of Grass: »Their work is done.«[51] Dagegen hielt der Emerson der 1850er Jahre noch an der Organisationsform einer Kirche fest; ein Reformator, kein Revolutionär.[52]
Ebendiese Verbindung von aufgeklärtem Pragmatismus, romantischer Geschichts- und Naturphilosophie und einem von seinen dogmatischen Ursprüngen schon weit distanzierten christlich-humanen Ethos wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und mit zunehmender Tendenz im 20. Jahrhundert zur Leitschnur der erfolgreichsten Variante unitarischer Lehre und Praxis. Auf Emerson (dessen gesammelte Predigten allein immerhin vier umfangreiche Bände füllen) beriefen sich nun junge Geistliche, die gerade auf der Grundlage seiner Philosophie die Bewegung als eine Kirche weiterentwickeln und sich von ihr aus den politischen und sozialen Zeitproblemen offensiv zuwenden wollten. Unitarismus wurde zunehmend zu einer Art Sammelbegriff für das, was man auch liberal religion nennen konnte – mit politischen Auswirkungen über die Bürgerrechtsbewegung bis in die Schriften und Reden Barack Obamas, und von fundamentalistisch-evangelikalen Bewegungen ebenso vehement angegriffen wie diese.
Der berühmteste und umstrittenste dieser Vorkämpfer für einen Unitarismus, der auf soziale Gerechtigkeit, Justizreformen, Gleichberechtigung der Rassen und Geschlechter ausgerichtet sein sollte, wurde Theodore Parker.[53] Seine 1841 gehaltene Rede The Transient and Permanent in Christianity wurde – nach Channings Predigt von 1819 und Emersons Divinity School Address, dessen Jesus-Deutung sie fortsetzte und vertiefte – zum dritten Gründungsdokument moderner unitarischer Theologie in Amerika. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkte Parker fort, als Anreger und Vorbild für Abraham Lincoln wie für Martin Luther King und auch für die unitarische Gemeinde, der Thomas Mann sich dann zuwandte, in ihrem Kampf für die Gleichberechtigung der ›Rassen‹.[54] (Weshalb neben Emerson auch Lincoln selbst, der leidenschaftliche Leser Channings und Parkers, bis heute von den Unitariern als einer der Ihren beansprucht wird und wie Jefferson als Namenspatron zahlreicher unitarischer Kirchen figuriert.)
Seit Emerson und mit wachsender Geschwindigkeit im Laufe des 20. Jahrhunderts nimmt der Unitarismus in Amerika eine bemerkenswerte Wendung: Von den Auseinandersetzungen innerhalb der protestantischen, schließlich überhaupt der christlichen Bekenntnisse und kirchlichen Organisationsformen wird er zu einem zwar historisch im Christentum begründeten, in seiner Entwicklungstendenz aber zunehmend inter- und überreligiös ausgerichteten, sozial und politisch engagierten Humanismus. Dabei werden seine schon im 19. Jahrhundert durchaus prekären Abgrenzungen zu anderen Weltanschauungen immer fließender: Einflüsse, die aus radikal-reformatorischen Bewegungen wie denen der Quäker hervorgehen, können ebenso im Vordergrund stehen wie solche, die aus der Aufklärungsphilosophie kommen; und Züge einer romantischen Natur- und Lebensphilosophie können sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bemerkenswert leicht mit sozialen, zunehmend auch mit sozialistischen Utopien verbinden. Als gemeinsamer Grund aber bleibt der emphatische Bezug auf die Grundwerte der amerikanischen Revolution erkennbar: das aus einem theologisch nicht spezifizierten, dezidiert überkonfessionellen Gottesbegriff abgeleitete Postulat der freien Entwicklung des Einzelnen, die optimistisch mit der neuen Erfahrung eines demokratisch organisierten Kollektivs vermittelt wird – eines auf eine neue, weil die gesamte Menschheitsvielfalt repräsentierende Weise nationalen und darum zugleich menschheitlichen Kollektivs, in dem aus den vielen Körpern gleichsam ein kollektiver Körper wird (wie Whitman ihn hymnisch gefeiert hatte).[55] Negativ bestimmt nun nicht mehr der dogmatische Gegensatz zu den Trinitariern das Selbstverständnis der Unitarier als einer neuen religiös-humanistischen Bewegung, sondern derjenige zu den partikularen konfessionellen Traditionen und den von ihnen bestimmten Dogmen und Institutionen selbst.
Je weniger die modernen amerikanischen Unitarier die alten dogmatischen Streitigkeiten zwischen Trinitariern und Unitariern betonen, desto weiter öffnen sie sich im 20. Jahrhundert nicht nur Theisten und Deisten, sondern auch Agnostikern und Atheisten, sofern ihre anthropologischen und moralischen Leitvorstellungen sich aus religiösen Traditionen ableiten und auf sie beziehen lassen. Folgerichtig fand im Verlauf dieser Entwicklung die vormals antitrinitarische Bewegung der Unitarians zusammen mit derjenigen der einst aus der Opposition gegen die calvinistische Prädestinationslehre entstandenen Universalists, die anstelle der Erbsündenlehre die menschliche Fähigkeit zur Charakterbildung (Emersons Forderung der Selbstvervollkommnung) und anstelle der Unterscheidung von Erlösten und Verdammten eine Allversöhnung proklamierten (die sich schon im demokratischen Miteinander weltlich realisieren soll). »Dissenter« im Wortsinn waren beide Bewegungen ihrer Herkunft nach, und für beide wurde die jeweils aus der offensiv vertretenen Häresie entstandene Selbstbezeichnung im Laufes des 19. Jahrhunderts erweiternd aus- und umgedeutet. Wie die Universalisten sich nun zunehmend als Versöhner einer mit sich selbst zerfallenen Menschheit schon im Hier und Jetzt verstanden, so begriffen sich ja auch die modernen amerikanischen Unitarier als Bewegung, die auf eine Vereinigung der Getrennten zielte: »To find the great world-embracing unities of universal religion, overarching the narrow territories of sectarianism, is our greatest undertaking.«[56]
Der formelle Zusammenschluss der unitarischen und der universalistischen Bewegungen war darum seit der amerikanischen Romantik nur noch eine Frage der Zeit. Formell wurde er erst 1961 vollzogen, im Verband der Unitarian Universalists of America (UUA; erst 1995 wurde ein International Council of Unitarians and Universalists gegründet); faktisch aber hat er an den meisten Orten in den USA schon seit den vierziger Jahren bestanden.[57] Diese Gemeinden sind sich, bei aller programmatischen Autonomie – einem organisatorischen Grundzug, der sie mit vielen aus den radikalen Bewegungen der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften von den Amish bis zu den Quäkern verbindet –, einig darin, dass sie anstatt einer dogmatisch antitrinitarischen Theologie das Unitarische und Universalistische im Sinne eines humanistischen Pragmatismus entschieden in den Vordergrund stellen: »Deeds not Creeds«.[58] Eine der jüngsten Einführungen in die Geschichte und Gegenwart der Unitarian Universalists sagt es ähnlich knapp und programmatisch: »Unitarianism is an ethical, not creedal, religion.«[59]
Der anthropologische Optimismus der Unitarier hält das humanistische Ideal einer fortschreitenden Charakter-›Bildung‹ aufrecht und beruft sich dafür dort, wo die christliche Überlieferung weiterhin betont wird, gern auf das Bibelwort, dass der Mensch »nach dem Bilde Gottes« geschaffen sei. Sünde, Gnade oder Erlösung begreift er wesentlich als soziale, ökonomische und politische Kategorien und die Kirche, ausdrücklich »the Church«, als freie Assoziation, als »society« oder »association« von Gleichgesinnten; Thomas Mann selbst wird das Wort »agency« gebrauchen. Ritual, Liturgie, Hierarchie spielen demgegenüber eine nachgeordnete Rolle; Praxis geht vor Dogma. Die Autorität der Bibel – neben die nun auch andere heilige Schriften der Weltreligionen treten können – wie der kirchlichen Instanzen ist in diesem Prozess immer weiter zurückgetreten gegenüber dem Primat des Gewissens. Das Gewissen ist es, das als Stimme Gottes in jedem Menschen und in dieser Hinsicht als letzter Ort einer sonst nicht mehr geglaubten Offenbarung verstanden wird – zumal es in Emersons romantischer Konzeption einer Oversoul allen Individuen gemeinsam ist und darum die vielen, im Sinne der proklamierten Self-Reliance selbstbewussten Einzelnen doch zu einer Gemeinschaft verbinden kann.
Seinem Wesen nach derart ethisch orientiert, ist dieser moderne Unitarismus, der mit so unterschiedlichen Propheten wie Channing, Emerson und Parker seinen Anfang genommen hatte, im Laufe seiner amerikanischen Geschichte zunehmend und absichtsvoll dogmatisch indifferent, ja bewusst dogmenfern geworden.[60] In theologischer Hinsicht kann er darum als so etwas wie die zunehmend synkretistische Schwundstufe eines aufgeklärten Kulturprotestantismus erscheinen – aber eben auch, in der komplementären politisch-sozialen Hinsicht, als die fortdauernde religiöse Perspektivierung einer menschenfreundlich-liberalen Anthropologie und Soziallehre. Insofern sind die modernen Unitarier in mancher Hinsicht auch die entlaufenen Kinder Schleiermachers und die gar nicht so fernen Geschwister Paul Tillichs. Gerade der mit seinem Namen verbundenen Ausprägung moderner protestantischer Theologie, die zumal aus dem amerikanischen Exil heraus unabsehbare (und hier nicht zu erörternde) Auswirkungen auf die protestantische Theologie gehabt hat, stehen die amerikanischen Unitarier um die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht sehr fern – in ihren Auseinandersetzungen mit der christlichen Gotteslehre und Anthropologie, aber auch mit deren sozialen und politischen Konsequenzen.
Das zeigt sich besonders deutlich in den Arbeiten James Luther Adams’, des wohl wichtigsten Theologen im amerikanischen Unitarismus des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften lohnen hier einen genaueren Blick, weil sich an ihnen geradezu mustergültig erkennen lässt, wie unitarische Intellektuelle in den USA in der Zeit von Thomas Manns Exil dachten – und das heißt hier vor allem: mit welcher umgestaltenden Intensität sie sich noch auf die Tradition der protestantischen Kirche und Theologie bezogen. Hierin liegt der vielleicht wichtigste Unterschied zu weiten Teilen der heutigen unitarischen Bewegungen, und hieraus wird sich ein wesentlicher Teil gerade seiner Anziehungskraft für Thomas Mann ergeben. Also, ein Seitenblick auf Adams.
James Luther Adams (1901–1994) stammte aus einem protestantischen (baptistischen) Elternhaus und wurde zum zeitweise einflussreichsten Gelehrten der unitarischen Bewegung. Nachdem er zunächst in Massachusetts als unitarischer Pastor tätig gewesen war, lehrte er Theologie unter anderem in Chicago und an der Harvard Divinity School (und blieb auch währenddessen in der Unitarischen Kirche aktiv). Adams war einer der wichtigsten amerikanischen Vermittler deutscher Theologie, als Übersetzer Ernst Troeltschs, Karl Holls und vor allem seines spätereren Harvarder Kollegen Paul Tillich.[61] Eine knappe Zusammenfassung seiner theologischen Anschauungen gibt er 1946 in dem von Stephen Fritchman herausgegebenen Sammelband Together We Advance – einem Buch, das Thomas Mann möglicherweise benutzt hat (für den ja seinerseits Tillich der wichtigste theologische Berater während der Arbeit am Doktor Faustus war).[62]
Adams’ Aufsatz unternimmt eine selbstbewusste Verteidigung des Unitarismus, gerichtet an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Gegen das Vorurteil, Unitarier ›glaubten‹ entweder gar nichts oder Beliebiges, erläutert er den Unitarismus als »A Faith for Free Men«.[63] Auf der Grundlage eines auf Kant und Schiller gegründeten individuellen Freiheitsbegriffs und im Blick auf seine Entstellung und Zerstörung im Faschismus rekonstruiert er ein Konzept von »Religion«, das auf der Erkenntnisfähigkeit und Willensfreiheit des Einzelnen gründet, der über sich selbst als bedingtes Wesen hinausfragt nach dem Unbedingten: »We have no choice but to be free in the choice of our faith.«[64] Der Begriff des »Glaubens« ebenso wie das Wort »Gott« werden in diesem Argumentationsgang, im wörtlichen Zitat, mit Tillich erklärt:
To be sure, the word God is so heavily laden with unacceptable connotations that it is for many people scarcely usable without confusion. […] Indeed, the word God may in the following formulations be replaced by the phrase, ›that which ultimately concerns man,‹ or by the phrase ›that which we should place our confidence in‹ […] or that in which we may have faith […].[65]
Auf dieser Grundlage rekonstruiert Adams nun die drei Hauptartikel des kirchlichen Glaubensbekenntnisses in einer, mit seinem Ausdruck, »liberalen« Perspektive – so dass »theists and religious humanists find common ground here«.[66] Die Redeweise von Gott dem Vater meint danach, mit Tillichs Formel, eben das, »was uns unbedingt angeht«, als dasjenige oder denjenigen, das oder der uns Sein und Freiheit gibt. Eben hieraus leitet Adams auch die biblische Redeweise von der Gottebenbildlichkeit ab:
The free man’s faith is therefore in the giver of being and freedom. Man’s dignity derives from the fact that he participates in the being and freedom of this reality. If we use the terms of historical Christianity we may say, man is made in the image of this creative reality […] a transforming reality that breaks through encrusted forms of life and thought to create new forms […].[67]
Die Redeweise von Gott dem Sohn wird im Blick auf Jesus ausgelegt als eine – wenn nötig leidens- und opferbereite – Nachfolge derjenigen tätigen Einwilligung in diese »schöpferische Wirklichkeit«, die Jesus exemplarisch vorlebt:
a power we may trust to heal the wounds of life and to create the joy of sharing and community. This is the power the Christian calls the forgiving, redemptive power of God […]. It drew Jesus up Golgotha to a cross. Thus Jesus was not only a martyr dying for his convictions, but also the incarnation of the affirmative power of love transforming life, even in death –
und die Fortsetzung dieses Satzes reformuliert dann sogleich, und folgerichtig, den dritten Glaubensartikel, die Redeweise von Gott dem Heiligen Geist: »and creating a transforming community, a fellowship of free men yielding to the tides of the spirit«.[68] Von diesem Grundgedanken aus lässt sich dann, noch einmal mit Tillichs argumentativer Hilfe, sogar Luthers Ekklesiologie neu aktualisieren: als geistgewirkte Gemeinschaft derer, die als zur Freiheit befähigte und in deren Verwirklichung doch unvollkommene Menschen zugleich Erlöste und Sünder sind (»simul iustus et peccator«):
The free church is that community which is committed to determining what is rightly of ultimate concern to men of free faith. It is a community of the ›faith-ful‹ [sic] and a community of sinners.[69]
Die Notwendigkeit dieser Gemeinschaft erklärt sich für Adams aus ihrer Aufgabe für eine konkrete soziale Verwirklichung des schöpferischen Liebesgebots: »the perennial task of the liberal faith, – to keep religion ethical. […] Freedom requires a body as well as a spirit. Man liveth not by spirit alone.«[70]
So charakteristisch wie der durchgängige Rückbezug auf christliche Theologie ist für diesen Gedankengang – der im selben Atemzug die Bibel und Schiller, Lincoln und Luther zitiert – allerdings auch der durchgängige Protest gegen das, was Adams als dogmatische Fixierung und institutionelle Verkrustung des Christentums kritisiert. Aus diesem Protest erst ergibt sich die Begründung der unitarischen Bewegung als einer auf permanente Bewegung und Veränderung zielenden Kirche neuen Typs: »no formulation is definitive and mandatory«, sagt Adams auch über seine eigenen terminologischen Bestimmungsversuche; und die Unitarische Kirche, für die er argumentiert, soll auf dem Vertrauen in »the transforming power of God« gründen, nicht auf der Restauration des Überlieferten.[71]
So wird denn auch im Diskurs der amerikanischen Unitarier in den vierziger und fünfziger Jahren – bestärkt durch die Wendung gegen autoritäre Tendenzen in der Innenpolitik – die Erinnerung an ihre häretische Abkunft immer wichtiger, ebenso wie die prinzipielle Bereitschaft zur Verteidigung aller potentiellen Häresien. Sie wird mit zunehmendem Nachdruck auch als Einladung zu einem religiösen Pluralismus ausgesprochen, im Übergang eben von den Unitarians zu den Unitarian Universalists, die im Hause des himmlischen Vaters viele Wohnungen sehen.
Dieser noch in der schärfsten Kritik erkennbare Bezug auf das Christentum ist im amerikanischen Unitarismus erst allmählich verlorengegangen. Noch in ihrer 2009 erschienenen dritten Auflage beschreibt die Encyclopedia of American Religious History