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Der Auftakt der Erfolgsreihe, die zum Phänomen wurde Celaena Sardothien ist jung, schön und zum Tode verurteilt. Doch dann taucht Chaol Westfall, Captain der Leibgarde, auf und bietet ihr eine einzige Chance zum Überleben. Kronprinz Dorian hat sie dazu ausersehen, einen tödlichen Wettkampf zu bestreiten: Wenn es ihr gelingt, für ihn 23 kampferprobte Männer zu besiegen, wird sie ihre Freiheit wiedererlangen. Beim gemeinsamen Training mit Captain Westfall findet sie immer mehr Gefallen an dem jungen, geheimnisvollen Mann. Und auch der Kronprinz lässt sie nicht kalt. Zeit, über ihre Gefühle nachzudenken, bleibt ihr allerdings nicht. Denn etwas abgrundtief Böses lauert im Dunkeln des Schlosses – und es ist da, um zu töten. Enthält die Einzelbände »Throne of Glass 1 – Die Erwählte« »Throne of Glass 2 – Kriegerin im Schatten« »Throne of Glass 3 – Erbin des Feuers« Kennen Sie bereits die weiteren Serien von Sarah J. Maas bei dtv? »Das Reich der sieben Höfe« »Crescent City«
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Seitenzahl: 2067
Sarah J. Maas
Throne of Glass
Die ersten 3 Bände in einem eBook:Die ErwählteKriegerin im SchattenErbin des Feuers
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Layer
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Die Erwählte
Für alle meine Leser auf FictionPress –
dafür, dass ihr von Anfang an dabei wart und
bis lange nach dem Ende geblieben seid.
Danke für alles.
Nach einem Jahr Sklavenarbeit in den Salzminen von Endovier hatte Celaena Sardothien sich daran gewöhnt, dass sie überallhin mit Waffengewalt und in Ketten gebracht wurde. So behandelte man fast alle der Tausenden von Sklaven in Endovier – Celaena wurde auf dem Weg in die Minen und zurück allerdings immer von sechs zusätzlichen Wachen begleitet. Doch das war für Adarlans berüchtigtste Assassinin keine Überraschung. Sehr wohl eine Überraschung war jedoch der schwarz gekleidete Mann, der nun an ihrer Seite ging und dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war.
Er hielt sie am Arm gepackt, als er sie durch das helle, glänzende Gebäude führte, in dem die meisten Beamten und Aufseher von Endovier untergebracht waren. Sie gingen Flure entlang, stiegen Treppen hinauf und bogen so oft um die Ecke, bis Celaena absolut keine Chance mehr hatte, allein wieder hinauszufinden.
Zumindest war das wohl die Absicht ihres Bewachers, denn sie hatte es natürlich jedes Mal bemerkt, wenn sie innerhalb weniger Minuten dieselbe Treppe hinauf- und wieder hinuntergestiegen waren. Auch war ihr aufgefallen, dass sie zwischen den Stockwerken im Zickzack liefen, obwohl die Flure und Treppenhäuser in einem regelmäßigen Raster angeordnet waren. Als würde sie so leicht die Orientierung verlieren. Hätte er sich nicht solche Mühe gegeben, wäre sie fast beleidigt gewesen.
Sie betraten einen besonders langen Flur, in dem bis auf ihre Schritte Stille herrschte. Der Mann, der sie am Arm festhielt, war groß und durchtrainiert, sein Gesicht unter der Kapuze auch jetzt nicht zu erkennen. Sicher ein weiterer Versuch, sie einzuschüchtern und zu verwirren. Die schwarze Kleidung gehörte wahrscheinlich ebenfalls dazu. Er drehte den Kopf in ihre Richtung und Celaena grinste ihn an. Als er wieder nach vorn sah, wurde sein eiserner Griff fester.
Irgendwie fühlte sie sich geschmeichelt, auch wenn sie keinen blassen Schimmer hatte, was das hier sollte und warum der Mann vor dem Minenschacht bei den sechs Wachen auf sie gewartet hatte. Nach einem ganzen Tag Steinsalzklopfen im Inneren des Berges war ihre Laune bei seinem Anblick nicht gerade besser geworden. Aber als er sich ihrem Aufseher als Chaol Westfall, Captain der königlichen Leibgarde, vorgestellt hatte, war sie hellhörig geworden, und plötzlich war der Himmel drohend näher gerückt, die Berge hatten sich an sie herangeschoben und sogar die Erde schien sich emporzuwölben. Sie hatte schon lange keine Angst mehr gespürt, hatte sich nicht erlaubt, Angst zu spüren. Jeden Morgen beim Aufwachen wiederholte sie denselben Satz: Ich werde keine Angst haben. Ein Jahr lang hatten diese Worte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausgemacht, sie hatten sie davor bewahrt, in der Dunkelheit der Minen kaputtzugehen. Nicht, dass sie dem Captain irgendetwas davon verraten würde.
Celaena betrachtete die behandschuhte Hand, die ihren Arm hielt. Das Leder war beinahe genauso dunkel wie ihre verdreckte Haut.
Mit ihrer freien Hand zog sie ihren zerrissenen, schmutzigen Kittel zurecht und unterdrückte einen Seufzer. Da sie vor Sonnenaufgang in die Minen ging und erst nach der Abenddämmerung wieder herauskam, sah sie nur selten die Sonne. Unter dem Dreck war sie furchtbar blass. Früher war sie einmal attraktiv gewesen, sogar schön – aber das war jetzt wohl nicht mehr so wichtig.
Als sie in den nächsten Flur einbogen, betrachtete Celaena eingehend das kunstvoll gefertigte Schwert ihres Bewachers. Der schimmernde Griff hatte die Form eines fliegenden Adlers. Als der Unbekannte ihren Blick bemerkte, ließ er seine behandschuhte Hand auf den goldenen Adlerkopf sinken. Wieder zuckte ein Grinsen in ihren Mundwinkeln.
»Ihr habt Euch weit von Rifthold entfernt, Captain«, sagte sie und räusperte sich. »Seid Ihr mit dem Heer gekommen, das ich heute Morgen herumpoltern gehört habe?« Sie spähte in das Dunkel unter der Kapuze, konnte aber nichts erkennen. Trotzdem spürte sie seinen Blick auf ihrem Gesicht, schätzend, abwägend, prüfend. Sie starrte zurück. Der Captain der königlichen Leibgarde wäre ein interessanter Gegner. Vielleicht sogar einer, bei dem sie sich ein bisschen Mühe geben müsste.
Schließlich hob der Mann seine Schwerthand und ließ die Klinge in den Falten seines Umhangs verschwinden. Für eine Sekunde blitzte seine Tunika hervor und Celaena konnte den daraufgestickten goldenen Wyvern erkennen. Das königliche Wappen.
»Was geht Euch das Heer von Adarlan an?«, fragte er zurück. Wie angenehm es war, eine Stimme wie ihre eigene zu hören, ruhig und klar verständlich, selbst wenn sie einem widerlichen Mistkerl gehörte!
»Nichts«, erwiderte sie und zuckte mit den Schultern. Er stieß ein verärgertes Knurren aus.
Oh ja, es wäre herrlich, sein Blut über den Marmor spritzen zu sehen. Schon einmal hatte sie die Beherrschung verloren, als ihr erster Aufseher sie am falschen Tag eindeutig zu hart angefasst hatte. Sie erinnerte sich noch an das Gefühl, als sie ihm die Spitzhacke in den Bauch gerammt hatte, und an sein klebriges Blut auf ihren Händen und im Gesicht. Binnen einer Sekunde konnte sie zwei der Wachen entwaffnen. Ob der Captain sich besser schlagen würde als ihr früherer Aufseher? Celaena grinste ihn wieder an, während sie in Gedanken mögliche Szenarien durchspielte.
»Glotzt mich nicht so an«, warnte er sie und seine Hand wanderte wieder zum Schwert. Jetzt unterdrückte Celaena das Grinsen. Sie gingen gerade an ein paar Holztüren vorbei, die sie vor wenigen Minuten schon einmal gesehen hatte. Um zu fliehen, müsste sie nur links in den nächsten Flur abbiegen und drei Treppen nach unten laufen. Der Versuch, ihr die Orientierung zu nehmen, hatte nur dazu geführt, sie mit dem Gebäude vertraut zu machen. Idioten.
»Wohin gehen wir noch gleich?«, fragte sie mit süßer Stimme und strich sich eine Strähne ihres verfilzten Haars aus dem Gesicht. Als sie keine Antwort bekam, biss sie die Zähne zusammen.
In den Fluren hallte es zu stark. Wenn sie ihn angriff, würde sie das gesamte Gebäude alarmieren. Sie hatte nicht gesehen, wo er den Schlüssel für die Handeisen hingesteckt hatte, und die sechs Wachen hinter ihnen konnten ziemlich lästig werden. Ganz zu schweigen von den Ketten.
Sie betraten einen Flur mit eisernen Kronleuchtern. Hinter den Fenstern war es Nacht geworden; Laternen leuchteten so hell, dass es kaum Schatten gab, in denen man sich verstecken konnte.
Unten im Hof hörte Celaena die anderen Sklaven zu der Baracke schlurfen, in der sie schliefen. Der Klang ihrer Klagen und der rasselnden Ketten war ihr so vertraut wie die eintönigen Arbeitslieder, die sie den ganzen Tag sangen. Das gelegentliche Solo einer Peitsche vollendete die Symphonie der Brutalitäten, die Adarlan für die größten Verbrecher, die ärmsten Bürger und die Bewohner der neu eroberten Regionen bereithielt.
Während etliche der bisherigen Gefangenen der versuchten Magie angeklagt waren – obwohl sie sie gar nicht ausüben konnten, weil alles Magische aus dem Königreich verschwunden war –, trafen in den letzten Tagen immer mehr Rebellen in Endovier ein. Die meisten stammten aus Eyllwe, einer der letzten Regionen, die sich noch gegen Adarlans Herrschaft wehrten. Aber wenn Celaena sie nach Neuigkeiten auszufragen versuchte, starrten die meisten sie nur mit leeren Augen an. Schon jetzt gebrochen. Bei der Vorstellung, welche Gewalt sie durch Adarlans Schergen hatten erdulden müssen, bekam Celaena eine Gänsehaut. Manchmal fragte sie sich, ob die neuen Gefangenen nicht besser gleich bei den Massakern gestorben wären. Und ob sie selbst nicht auch besser in der Nacht gestorben wäre, in der sie verraten und gefangen genommen worden war.
Doch sie musste über Dringenderes nachdenken, während sie ihren Weg fortsetzten. Würde man sie nun doch hängen? Übelkeit stieg in ihr auf. Natürlich war sie wichtig genug, um eine Hinrichtung durch den Captain der königlichen Leibgarde persönlich zu rechtfertigen. Aber warum brachte man sie vorher in dieses Gebäude?
Endlich blieben sie vor einer rot-goldenen Glastür stehen, deren Flügel so dick waren, dass man nicht hindurchsehen konnte. Captain Westfall nickte kurz den beiden seitlich postierten Wachen zu und diese salutierten mit ihren Speeren.
Der Captain packte Celaena jetzt so fest, dass es wehtat. Er zerrte sie zu sich, aber ihre Füße waren wie aus Blei und sie stemmte sich dagegen. »Wollt Ihr lieber in den Minen bleiben?«, fragte er, fast ein wenig amüsiert.
»Wenn mir jemand erklären würde, was das Ganze hier soll, müsste ich mich vielleicht nicht so wehren.«
»Das werdet Ihr noch früh genug herausfinden.« Ihre Handflächen wurden feucht. Ja, jetzt würde sie sterben. Es war so weit.
Die Tür öffnete sich knarrend und gab den Blick in einen Thronsaal frei. Ein gläserner, einer Weinrebe nachempfundener Kronleuchter nahm fast die gesamte Decke ein und spie diamantene Funken an die Fensterscheiben am anderen Ende des Raums. Verglichen mit der Trostlosigkeit hinter den Fenstern, war dieser Prunk ein Schlag ins Gesicht. Eine Erinnerung daran, wie viel Profit man aus ihrer Arbeit schlug.
»Rein mit Euch«, knurrte der Captain, schubste sie mit der freien Hand und ließ sie schließlich los. Celaena stolperte, ihre schwieligen Füße rutschten auf dem glatten Marmorboden aus, als sie sich aufrichtete. Sie drehte sich um und sah noch weitere sechs Wachen auftauchen.
Vierzehn Wachen plus der Captain. Vorne auf ihren schwarzen Uniformen prangte das goldene königliche Wappen – das Zeichen der persönlichen Garde der Königsfamilie: allesamt blitzschnelle, erbarmungslose Soldaten, die von Geburt an dazu ausgebildet worden waren, zu beschützen und zu töten. Celaena schluckte.
Benommen und gleichzeitig mit einem Gefühl absoluter Klarheit blickte sie wieder in den Raum. Auf einem reich verzierten Thron aus Mahagoni saß ein gut aussehender junger Mann. Ihr Herz setzte aus, als alle sich vor ihm verneigten.
Sie stand vor dem Kronprinzen von Adarlan.
Eure Hoheit«, sagte der Captain der Garde. Nach einer tiefen Verbeugung richtete er sich auf und schlug die Kapuze zurück, sodass sein kurz geschorenes kastanienbraunes Haar zum Vorschein kam. Die Kapuze war eindeutig dazu gedacht gewesen, sie auf dem Weg hierher einzuschüchtern. Als ob so ein Trick bei ihr funktionierte. Trotz ihrer Empörung blinzelte Celaena überrascht, als sie sein Gesicht sah. Er war so jung!
Captain Westfall sah vielleicht nicht übermäßig gut aus, aber sie musste zugeben, dass sie sein markantes Gesicht und die hellen, goldbraunen Augen ziemlich ansprechend fand. Sie neigte den Kopf und war sich plötzlich nur allzu deutlich bewusst, wie schmutzig sie war.
»Das ist sie?«, fragte der Kronprinz von Adarlan und Celaenas Kopf wirbelte herum, als der Captain nickte. Beide starrten sie an und warteten auf ihren Knicks. Als sie nicht reagierte, trat Chaol unruhig von einem Bein aufs andere. Der Kronprinz warf seinem Captain einen Blick zu, bevor er das Kinn leicht reckte.
Vor dem da auf die Knie fallen? Wenn sie an den Galgen kam, würde sie die letzten Momente ihres Lebens ganz gewiss nicht mit kriecherischem Gehorsam vergeuden.
Hinter ihr donnerten Schritte und jemand packte sie im Nacken. Celaena erhaschte einen Blick auf gerötete Wangen und einen sandfarbenen Schnurrbart, bevor sie auf dem eiskalten Marmorfußboden landete. Ihr dröhnte der Kopf, sie sah Sternchen und ihre Schultern taten weh, weil sie die Arme wegen der Handeisen verdrehen musste. Wütend versuchte sie, die Tränen zurückzudrängen, die ihr vor Schmerz in die Augen traten.
»Das ist die angemessene Begrüßung deines künftigen Königs«, fuhr ein rotgesichtiger Mann sie an.
Die Assassinin zischte und bleckte die Zähne, als sie den Kopf zur Seite drehte, um den neben ihr knienden Dreckskerl anzusehen. Er hatte etwa die Statur ihres Aufsehers und war in Rot und Orange gekleidet, farblich passend zu seinem schütter werdenden Haar. Seine obsidianschwarzen Augen funkelten, als er ihren Nacken noch fester packte. Wenn sie ihren rechten Arm nur ein paar Zentimeter bewegen könnte, dann könnte sie ihn aus dem Gleichgewicht bringen und sein Schwert packen und … Die Kette grub sich ihr in den Bauch und ihr Gesicht wurde feuerrot. Sie kochte vor Wut.
Nach viel zu langem Schweigen sagte der Kronprinz: »Ich kann nicht verstehen, warum man jemanden zu einer Verbeugung zwingt, wo diese Geste doch Ergebenheit und Respekt demonstrieren soll.« Unglaubliche Langeweile schwang in seinen Worten mit.
Celaena versuchte, den Kopf so weit zu heben, dass sie den Prinzen sehen konnte, kam aber nur bis zu den schwarzen Lederstiefeln auf dem weißen Fußboden.
»Ihr respektiert mich natürlich, Herzog Perrington, aber es wäre vermutlich sinnlos, auch Celaena Sardothien dazu bewegen zu wollen. Wir beide wissen sehr gut, dass sie meine Familie nicht besonders liebt. Vielleicht wolltet Ihr sie also demütigen.« Der Prinz machte eine Pause und Celaena hätte schwören können, dass sein Blick auf ihrem Gesicht ruhte. »Aber ich glaube, davon hatte sie bereits genug.« Nach einer weiteren kurzen Pause fragte er: »Habt Ihr nicht eine Besprechung mit dem Schatzmeister von Endovier? Ich würde es sehr bedauern, wenn Ihr Euch verspätet, wo Ihr doch extra, um ihn zu treffen, einen so weiten Weg auf Euch genommen habt.«
Ihr Peiniger begriff, dass er sich zurückziehen sollte, und ließ sie los. Celaena löste die Wange vom Marmor, blieb aber auf dem Boden liegen, bis er aufgestanden war und ging. Wenn sie fliehen könnte, würde sie sich diesen Herzog Perrington vielleicht irgendwann schnappen und ihm seinen freundlichen Willkommensgruß heimzahlen.
Als sie aufstand, bemerkte sie stirnrunzelnd die Schmutzspuren, die sie auf dem sonst makellosen Boden hinterlassen hatte, und das Widerhallen ihrer klirrenden Ketten in dem stillen Raum. Aber sie war seit ihrem achten Lebensjahr zur Assassinin ausgebildet worden, seit jenem Tag, an dem der König der Assassinen sie halb tot am Ufer eines eiskalten Flusses gefunden und in seinen Unterschlupf gebracht hatte. Sie würde sich nicht demütigen lassen, schon gar nicht durch die Tatsache, dass sie schmutzig war. Sie nahm all ihren Stolz zusammen, warf den langen Zopf über die Schulter zurück, hob den Kopf und blickte dem Prinzen direkt in die Augen.
Dorian Havilliard lächelte sie an. Es war ein aalglattes Lächeln, dem man den bei Hof erlernten Charme von Weitem ansah. Er hatte sich auf den Thron geflegelt, das Kinn in eine Hand gestützt, und seine goldene Krone glitzerte im weichen Licht. Auf seinem schwarzen Wams prangte über die ganze Breite der Brust der goldene königliche Wyvern. Sein roter Umhang fiel elegant den Thron herab.
Und doch war da etwas in seinen verblüffend blauen Augen – blau wie die Gewässer der südlichen Länder – und in der Art, wie sie mit seinem rabenschwarzen Haar kontrastierten, das sie innehalten ließ. Er sah erschütternd gut aus und konnte nicht älter als zwanzig sein.
Prinzen sehen eigentlich nicht gut aus. Es sind weinerliche, dumme, abstoßende Geschöpfe! Dieser … er ist … Wie gemein von ihm, ein Prinz und trotzdem schön zu sein.
Celaena trat von einem Bein aufs andere, während er sie nun seinerseits musterte und dabei die Stirn runzelte. »Hatte ich dich nicht gebeten, sie waschen zu lassen?«, fragte er Captain Westfall, der einen Schritt vortrat. Celaena hatte ganz vergessen, dass sich noch jemand im Raum befand. Sie sah an ihren Lumpen und der verdreckten Haut hinunter und konnte einen Anflug von Scham nicht unterdrücken. In was für einem erbärmlichen Zustand sie war! Dabei war sie einmal schön gewesen.
Auf den ersten Blick konnte man ihre Augen für grau oder blau halten, vielleicht sogar für grün, je nach der Farbe ihrer Kleidung. Aus der Nähe betrachtet, wurden die miteinander wetteifernden Farbtöne jedoch von einem leuchtend goldenen Ring um ihre Pupillen überstrahlt. Das Auffallendste an ihr war allerdings ihr goldenes Haar und es bewahrte noch immer einen Abglanz seiner früheren Pracht. Kurz gesagt war Celaena Sardothien mit einer Handvoll attraktiver Merkmale gesegnet, die die Überzahl ihrer eher durchschnittlichen Züge aufwogen. Und schon in früher Jugend hatte sie gelernt, das, was an ihr durchschnittlich war, mithilfe von Schönheitsmitteln ihren außergewöhnlichen Vorzügen anzupassen.
Und jetzt stand sie hier vor Dorian Havilliard und sah kaum besser aus als eine Kanalratte. Hitze schoss ihr ins Gesicht, als Captain Westfall erwiderte: »Ich wollte dich nicht warten lassen.«
Chaol machte Anstalten, nach ihr zu greifen, aber der Kronprinz schüttelte den Kopf. »Das Bad ist jetzt egal. Ich kann ihr Potenzial auch so sehen.« Der Thronfolger richtete sich ein wenig auf und betrachtete Celaena weiterhin aufmerksam. »Ich glaube, wir hatten bisher nicht das Vergnügen, einander vorgestellt zu werden. Wie Ihr wahrscheinlich wisst, bin ich Dorian Havilliard, Kronprinz von Adarlan, inzwischen vielleicht Kronprinz von fast ganz Erilea.«
Sie ignorierte die bitteren Gefühle, die dieser Name in ihr weckte.
»Und Ihr seid Celaena Sardothien, Adarlans größte Assassinin. Vielleicht die größte Assassinin von ganz Erilea.« Er musterte ihren angespannten Körper, bevor er seine dunklen, sorgfältig gezupften Augenbrauen hob. »Eigentlich seht Ihr dafür zu jung aus.« Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. »Ich habe ein paar ziemlich faszinierende Geschichten über Euch gehört. Wie gefällt es Euch in Endovier, nachdem Ihr in Rifthold in solchem Überfluss gelebt habt?«
Arrogantes Arschloch.
»Ich könnte nicht glücklicher sein«, sagte sie leise, während sich ihre eingerissenen Nägel in die Handflächen bohrten.
»Ihr wirkt ziemlich lebendig nach einem Jahr in diesen Minen. Wie ist das möglich, wo dort die durchschnittliche Lebenserwartung doch nur einen Monat beträgt?«
»Ja, das ist wirklich ein Rätsel.« Sie warf ihm einen koketten Blick zu und schob ihre Handeisen zurecht, als wären es Spitzenhandschuhe.
Der Kronprinz wandte sich an seinen Captain: »Sie hat eine ziemlich spitze Zunge, nicht wahr? Und sie hört sich nicht an, als gehöre sie zum Pöbel.«
»Das will ich doch hoffen«, warf Celaena ein.
»Eure Hoheit«, fuhr Chaol Westfall sie an.
»Was?«, fragte Celaena.
»Ihr werdet den Prinzen mit ›Eure Hoheit‹ ansprechen.«
Celaena lächelte spöttisch und wandte sich wieder dem Prinzen zu.
Zu ihrer Überraschung lachte Dorian Havilliard. »Ihr wisst schon, dass Ihr eine Sklavin seid, oder? Habt Ihr aus Eurer Verurteilung nichts gelernt?«
Hätte sie keine Ketten getragen, hätte sie ihre Arme trotzig vor der Brust verschränkt. »Was hätte ich bei der Arbeit in den Minen anderes lernen sollen, als wie man eine Spitzhacke benutzt?«
»Habt Ihr nie versucht zu fliehen?«
Langsam breitete sich ein böses Lächeln auf ihren Lippen aus. »Ein Mal.«
Der Prinz zog die Brauen hoch und wandte sich an Captain Westfall. »Davon wurde mir nichts gesagt.«
Celaena sah über die Schulter hinweg Chaol an, der seinem Prinzen einen entschuldigenden Blick zuwarf. »Der Hauptaufseher hat mich erst heute darüber informiert, dass es einen Zwischenfall gegeben hat. Drei Monate …«
»Vier Monate«, fiel sie ihm ins Wort.
»Vier Monate nach ihrer Ankunft«, sagte Chaol, »hat Sardothien einen Fluchtversuch unternommen.«
Sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber er hatte dem nichts hinzuzufügen. »Das ist noch nicht einmal der beste Teil der Geschichte!«
»Es gibt einen ›besten Teil‹?«, fragte der Kronprinz halb befremdet, halb amüsiert.
Chaol starrte sie an, bevor er erklärte: »Es ist unmöglich, aus Endovier zu entkommen. Dein Vater hat dafür gesorgt, dass jeder Wachposten selbst ein Eichhörnchen aus zweihundert Schritt Entfernung trifft. Ein Fluchtversuch ist Selbstmord.«
»Aber Ihr lebt noch«, sagte der Prinz zu Celaena.
Ihr Lächeln verblasste, als die Erinnerung zurückkam. »Ja.«
»Was ist passiert?«, fragte Dorian.
Ihre Augen wurden hart und kalt. »Ich bin ausgerastet.«
»Ist das Eure einzige Erklärung für das, was Ihr getan habt?«, fragte Captain Westfall. »Sie hat ihren Aufseher und dreiundzwanzig Wachen getötet, bevor man sie überwältigen konnte. Sie war nur eine Handbreit von der Mauer entfernt, als die Wachen sie bewusstlos schlugen.«
»Und?«, sagte Dorian.
Celaena kochte vor Wut. »Und? Wisst Ihr, wie weit die Mauer von den Minen entfernt ist?« Er sah sie ausdruckslos an. Sie schloss ihre Augen und seufzte dramatisch. »Von meinem Schacht aus waren es einhundertzehn Meter. Ich habe jemanden nachmessen lassen.«
»Und?«, wiederholte Dorian.
»Captain Westfall, wie weit kommen Sklaven normalerweise bei einem Fluchtversuch aus den Minen?«
»Einen Meter«, erklärte er. »Die Wachen von Endovier schießen jeden nieder, wenn er sich auch nur einen Meter entfernt.«
Das Schweigen des Prinzen war nicht die Wirkung, auf die Celaena gehofft hatte. »Ihr wusstet, dass es Selbstmord war«, sagte er schließlich, jetzt nicht mehr amüsiert.
Vielleicht hätte sie nichts von der Mauer sagen sollen. »Ja«, erwiderte sie.
»Aber sie haben Euch nicht getötet.«
»Euer Vater hat befohlen, mich so lange wie möglich am Leben zu halten – damit ich das Elend ertragen muss, von dem Endovier so viel zu bieten hat.« Sie spürte ein Frösteln, das nichts mit der Raumtemperatur zu tun hatte. »Ich hatte niemals vor zu fliehen.« Als sie Mitleid in seinen Augen aufsteigen sah, hätte sie ihn am liebsten geschlagen.
»Habt Ihr viele Narben?«, fragte der Prinz. Sie zuckte mit den Schultern. Als er vom Thron herabstieg, lächelte er, wohl um die Stimmung zu heben. »Dreht Euch um und lasst mich Euren Rücken sehen.« Celaena runzelte die Stirn, gehorchte jedoch, als er auf sie zukam. Auch Chaol trat näher. »Unter dem ganzen Dreck kann ich sie nicht richtig erkennen«, sagte der Prinz, während er die Haut musterte, die zwischen den Fetzen ihres Hemds zu sehen war. Sie verzog das Gesicht und verzog es noch mehr, als er sagte: »Und was für ein fürchterlicher Gestank!«
»Wenn einem Bäder und Parfüm verwehrt bleiben, kann man eben nicht so fein duften wie Ihr, Eure Hoheit.«
Der Kronprinz schnalzte mit der Zunge und ging langsam um sie herum. Chaol – und alle Wachen – beobachteten die beiden mit der Hand am Schwert. Und das war auch gut so. In weniger als einer Sekunde konnte sie die Arme über den Kopf des Prinzen werfen und ihm mit der Kette die Luftröhre zerquetschen. Allein schon um Chaols Gesichtsausdruck zu sehen, würde es sich lohnen. Aber der Prinz sprach weiter, als wäre er sich der gefährlichen Nähe zu ihr nicht bewusst. Vielleicht sollte sie deswegen beleidigt sein. »Soweit ich sehen kann«, sagte er, »sind da drei lange Narben und vielleicht ein paar kleinere. Nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte, aber … Nun, die Kleider werden das abdecken, nehme ich an.«
»Kleider?« Er stand so nah bei ihr, dass sie das feine Gewebe seines Umhangs sehen konnte. Und er roch nicht nach Parfüm, sondern nach Pferden und Eisen.
Dorian grinste. »Was für außergewöhnliche Augen Ihr habt. Und wie wütend Ihr seid!«
Als der Kronprinz von Adarlan, der Sohn des Mannes, der sie zu einem langsamen, qualvollen Tod verurteilt hatte, jetzt nur noch eine Armlänge von ihr entfernt stand, balancierte ihre Selbstkontrolle auf einem sehr schmalen Grat – direkt über dem Abgrund.
»Ich verlange zu wissen …«, begann sie, aber der Captain der Garde zog sie so heftig vom Prinzen weg, dass ihre Knochen knackten. »Ich wollte ihn nicht töten, du Affe.«
»Passt auf, was Ihr sagt, sonst lasse ich Euch zurück in die Minen werfen«, sagte der Captain.
»Oh, das werdet Ihr wohl eher nicht tun.«
»Und warum nicht?«, gab Chaol zurück.
Dorian schlenderte zu seinem Thron und setzte sich. Seine saphirblauen Augen funkelten.
Celaena sah vom einen zum anderen und richtete sich auf. »Weil Ihr irgendetwas von mir wollt, und es ist so wichtig, dass Ihr sogar persönlich hergekommen seid. Ich bin nicht blöd, auch wenn ich dumm genug war, mich schnappen zu lassen. Es muss um irgendeine geheime Sache gehen. Warum sonst solltet Ihr Euch so weit aus der Hauptstadt herauswagen? Seit ich in diesem Gebäude bin, habt Ihr mich geprüft, ob ich körperlich und geistig gesund bin. Nun, ich weiß, dass ich noch immer bei Verstand und nicht gebrochen bin, trotz des Vorfalls an der Mauer. Deshalb verlange ich zu erfahren, warum Ihr hier seid und welche Dienste Ihr von mir erwartet, wenn ich nicht an den Galgen komme.«
Die Männer tauschten einen Blick. Dorian legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich möchte Euch ein Angebot machen.«
Ihre Brust zog sich zusammen. Niemals, nicht einmal in ihren kühnsten Träumen, hatte sie sich vorgestellt, einmal mit Dorian Havilliard zu sprechen. Es wäre so leicht, ihn zu töten, dieses Grinsen aus seinem Gesicht zu wischen. Sie könnte das Leben des Königs genauso zerstören, wie er ihres zerstört hatte …
Aber vielleicht konnte dieses Angebot ihr zur Flucht verhelfen. Wenn sie auf die andere Seite der Mauer gelangte, konnte sie es schaffen. Einfach immer weiterrennen, in den Bergen verschwinden und dort im dunklen Grün der Wildnis in Einsamkeit leben, unter sich einen Teppich aus Kiefernnadeln und über sich eine Decke aus Sternen. Sie konnte es schaffen. Sie müsste nur über die Mauer kommen. Sie war schon so nah dran gewesen …
»Ich höre«, sagte sie nur.
Die Augen des Prinzen funkelten amüsiert über ihre Dreistigkeit, verharrten aber etwas zu lange auf ihrem Körper. Sie hätte ihm dafür das Gesicht zerkratzen können. Andererseits – dass er sie trotz ihres furchtbaren Zustands überhaupt ansah … Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Der Prinz schlug die langen Beine übereinander. »Lasst uns allein«, befahl er den Wachen. »Chaol, du bleibst, wo du bist.«
Celaena trat näher, als die Wachen hinausgingen und die Tür schlossen. Großer, großer Fehler. Aber Chaols Gesicht blieb undurchdringlich. Er glaubte doch nicht im Ernst, er könnte sie aufhalten, wenn sie versuchte zu fliehen! Sie streckte den Rücken. Was planten die beiden, dass sie so leichtsinnig waren?
Der Prinz lachte in sich hinein. »Findet Ihr Eure Unverschämtheit nicht etwas gewagt, wo schließlich Eure Freiheit auf dem Spiel steht?«
Von allen Dingen hatte sie das am wenigsten erwartet. »Meine Freiheit?« Beim Klang des Wortes sah sie ein Land, in dem es Kiefern und Schnee gab, von der Sonne gebleichte Klippen und stürmische Meere, ein Land, wo das Licht sich im samtigen Grün der Anhöhen und Täler verlor – ein Land, das sie vergessen hatte.
»Ja, Eure Freiheit. Ich schlage also dringend vor, Miss Sardothien, dass Ihr Eure Arroganz ein wenig zügelt, bevor Ihr wieder in den Minen landet.« Der Prinz stellte die Beine nebeneinander. »Euer Verhalten könnte allerdings von Nutzen sein. Ich will nicht so tun, als wäre das Reich meines Vaters auf Vertrauen und Verständnis gebaut. Aber das wisst Ihr ja ohnehin.« Ihre Finger ballten sich zu Fäusten, während sie wartete, dass er fortfuhr. Er sah sie durchdringend und aufmerksam an. »Mein Vater hat sich in den Kopf gesetzt, dass er einen Champion braucht.«
Es dauerte einen köstlichen Moment, bis Celaena begriff.
Dann warf sie den Kopf zurück und lachte. »Euer Vater will ausgerechnet mich als seinen Champion? Wie bitte? Sagt bloß, er hat es endlich geschafft, jede edle Seele da draußen zu eliminieren! Es muss doch mindestens noch einen treuen Ritter geben, einen einzigen mutigen Lord mit unbezwingbarem Herzen.«
»Passt auf, was Ihr sagt«, warnte Chaol sie von der Seite.
»Was ist denn mit Euch?«, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch. Es war einfach zu komisch! Sie – Champion des Königs! »Findet Euch unser geliebter König nicht gut genug?«
Der Captain legte die Hand ans Schwert. »Wenn Ihr schweigen würdet, könntet Ihr hören, was Seine Hoheit Euch noch mitzuteilen hat.«
Sie sah den Prinzen an. »Nun?«
Dorian lehnte sich in seinem Thron zurück. »Mein Vater braucht jemanden, der dem Reich beisteht – jemanden, der ihm hilft, mit schwierigen Leuten umzugehen.«
»Ihr meint, er braucht einen Lakaien für die Drecksarbeit?«
»Wenn Ihr es so unverblümt ausdrücken möchtet, ja«, sagte der Prinz. »Sein Champion würde dafür sorgen, dass seine Widersacher schweigen.«
»Dass sie schweigen wie ein Grab«, sagte sie sanft.
Auf Dorians Lippen erschien ein Lächeln, aber er blieb ernst. »Genau.«
Als loyale Dienerin für den König von Adarlan arbeiten. Celaena reckte das Kinn. Für ihn töten – ein Reißzahn im Maul der Bestie, die sich schon halb Erilea einverleibt hatte … »Und wenn ich annehme?«
»Dann wird er Euch nach sechs Jahren die Freiheit schenken.«
»Nach sechs Jahren!« Aber das Wort »Freiheit« hallte noch einmal in ihr nach.
»Wenn Ihr ablehnt«, sagte Dorian und nahm damit ihre nächste Frage vorweg, »werdet Ihr in Endovier bleiben.« Seine saphirblauen Augen wurden hart und sie schluckte. Und hier sterben – er musste den Satz nicht zu Ende sprechen.
Sechs Jahre als ruchloser Dolch des Königs … oder für den Rest ihres Lebens in Endovier.
»Allerdings«, sagte der Prinz, »gibt es einen Haken.« Sie versuchte, unbeteiligt auszusehen, als er mit dem Ring an seinem Finger spielte. »Der Posten wird Euch nicht angeboten. Noch nicht. Mein Vater möchte vorher ein wenig Spaß haben. Er richtet einen Wettkampf aus. Er hat dreiundzwanzig Mitglieder seines Rates gebeten, jeweils einen möglichen Champion zu unterstützen, der im gläsernen Schloss trainieren und am Schluss im Zweikampf gegen die anderen antreten wird. Solltet Ihr siegen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln, »seid Ihr ganz offiziell der Champion des Königs.«
Celaena erwiderte sein Lächeln nicht. »Wer genau sind meine Gegner?«
Beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks wurde auch der Prinz ernst. »Diebe, Assassinen und Krieger aus ganz Erilea.« Sie wollte etwas erwidern, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Mein Vater hat geschworen, Euch die Freiheit zu schenken, falls Ihr siegt und Euch als geschickt und vertrauenswürdig erweist. Und außerdem werdet Ihr in der Zeit als sein Champion einen beachtlichen Lohn erhalten.«
Seine letzten Worte hatte sie kaum wahrgenommen. Ein Wettkampf. Gegen ein paar Niemande aus Nirgendwo. Und Assassinen! »Wer sind die anderen Assassinen?«, fragte sie.
»Keiner, von dem ich je gehört hätte. Keiner ist so berühmt wie Ihr. Und dabei fällt mir ein – Ihr werdet nicht als Celaena Sardothien antreten.«
»Was?«
»Ihr werdet unter einem Decknamen kämpfen. Wahrscheinlich habt Ihr nicht gehört, was nach Eurem Prozess geschah?«
»Als Minensklavin ist es eher schwierig, an Informationen zu kommen.«
Dorian lachte in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, dass Celaena Sardothien eine so junge Frau ist – alle dachten, Ihr wärt sehr viel älter.«
»Was?«, fragte sie wieder und wurde rot. »Wie kann das sein?« Eigentlich hätte sie stolz darauf sein sollen, diese Tatsache vor fast der gesamten Welt verborgen zu haben, aber …
»In all den Jahren, in denen Ihr frei herumgelaufen seid und alle möglichen Leute getötet habt, habt Ihr Eure Identität geheim gehalten. Nach dem Prozess erschien es meinem Vater ratsam, Erilea nicht zu informieren, wer Ihr seid. Er möchte, dass das so bleibt. Was würden Eure Feinde sagen, wenn sie erführen, dass wir uns alle vor einem Mädchen gefürchtet haben?«
»Ich soll also in diesem Dreckloch unter einem Titel und mit einem Namen schuften, der nicht einmal mein eigener ist? Was glauben die Leute denn, wer Adarlans Assassinin wirklich ist?«
»Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal. Aber ich weiß sehr wohl, dass Ihr die Beste wart und dass die Leute noch immer flüstern, wenn sie Euren Namen aussprechen.« Er fixierte sie. »Wenn Ihr bereit seid, für mich zu kämpfen und während der Monate des Wettkampfs mein Champion zu sein, dann werde ich dafür sorgen, dass mein Vater Euch nach fünf Jahren freilässt.«
Sie konnte seine körperliche Anspannung wahrnehmen, obwohl er sie zu überspielen versuchte. Er wollte, dass sie einwilligte. Ihm lag so viel daran, dass er bereit war zu verhandeln. Ihre Augen begannen zu funkeln. »Was meint Ihr mit ›dass Ihr die Beste wart‹?«
»Ihr wart ein Jahr in Endovier. Wer weiß, wozu Ihr überhaupt noch fähig seid?«
»Ich bin noch zu einer ganzen Menge fähig, danke«, sagte sie und pulte an ihren eingerissenen Fingernägeln. Fast wurde ihr schlecht bei all dem Dreck darunter. Wann waren ihre Hände zum letzten Mal sauber gewesen?
»Das werden wir sehen«, sagte Dorian. »Die Einzelheiten des Wettkampfs werdet Ihr bei unserer Ankunft in Rifthold erfahren.«
»Wenn man von dem unglaublichen Spaß absieht, den ihr Adligen dabei habt, auf uns zu wetten, scheint mir dieser Wettkampf vollkommen unnötig. Warum stellt Ihr mich nicht direkt ein?«
»Wie ich schon sagte, müsst Ihr Euch würdig erweisen.«
Celaena legte eine Hand auf die Hüfte und die Kette rasselte laut. »Ich denke doch, die Tatsache, Adarlans Assassinin zu sein, macht jeden Beweis überflüssig.«
»Ganz genau«, sagte Chaol und seine bronzenen Augen blitzten auf. »Es beweist, dass Ihr eine Verbrecherin seid und dass wir Euch die Privatangelegenheiten des Königs nicht sofort anvertrauen sollten.«
»Ich schwöre feierl…«
»Ich bezweifle, dass der König das Wort von Adarlans Assassinin für verbindlich hält.«
»Meinetwegen, aber ich verstehe nicht, warum ich das Training und den Wettkampf absolvieren muss. Ich meine, ich bin wahrscheinlich ein bisschen … außer Form, aber was erwartet Ihr, wenn ich mich hier mit Steinen und Spitzhacken zufriedengeben muss?« Sie warf Chaol einen gehässigen Blick zu.
Dorian runzelte die Stirn. »Ihr werdet das Angebot also nicht annehmen?«
»Natürlich werde ich das Angebot annehmen«, fauchte sie. Die Eisen hatten ihre Handgelenke so wund gescheuert, dass ihr Tränen in die Augen traten. »Ich werde euer alberner Champion, wenn Ihr einwilligt, mich nach drei Jahren freizulassen, nicht nach fünf.«
»Vier.«
»In Ordnung«, sagte sie. »So kommen wir ins Geschäft. Ich tausche zwar vielleicht eine Art der Sklaverei gegen eine andere, aber ich lasse mich nicht übers Ohr hauen.«
Sie würde ihre Freiheit zurückgewinnen. Freiheit. Sie spürte die kalte Luft der weiten Welt, die Brise, die von den Bergen herabwehte und sie mit sich davontrug. Sie könnte weit von Rifthold entfernt leben, der Hauptstadt, die einmal ihr Herrschaftsgebiet gewesen war.
»Ich hoffe, Ihr habt recht«, antwortete Dorian. »Und ich hoffe, Ihr werdet Eurem Ruf alle Ehre machen. Ich erwarte zu gewinnen und fände es nicht sehr amüsant, wenn Ihr mich blamiert.«
»Und wenn ich verliere?«
Bei der Antwort verschwand der Glanz aus Dorians Augen: »Dann wird man Euch hierher zurückschicken, damit Ihr den Rest Eurer Strafe abdient.«
Celaenas schöne Visionen zerstoben wie Staub beim Zuschlagen eines Buches. »Dann könnte ich auch gleich aus dem Fenster springen. Ein Jahr an diesem Ort hat mich fertiggemacht. Es ist klar, was geschieht, wenn man mich zurückbringt. Nach dem zweiten Jahr wäre ich tot.« Sie warf den Kopf zurück. »Euer Angebot ist nur recht und billig.«
»In der Tat, recht und billig«, sagte Dorian und winkte Chaol. »Bring sie in ihre Räume und lass sie baden.« Er starrte Celaena an. »Wir brechen morgen früh nach Rifthold auf. Enttäuscht mich nicht, Sardothien.«
Was für ein Unsinn. Wie schwer konnte es schon sein, ihre Mitbewerber zu übertreffen, zu überlisten und dann zu vernichten? Sie lächelte nicht, denn sie wusste, dass sie sich damit einem Gefühl von Hoffnung geöffnet hätte, das lange begraben gewesen war. Trotzdem hätte sie den Prinzen am liebsten gepackt und mit ihm getanzt. Sie versuchte, an Musik zu denken, sich an eine feierliche Melodie zu erinnern, aber ihr kam nur eine einzige Zeile aus den traurigen Arbeitsliedern der Eyllwe in den Sinn, tief und langsam wie aus einem Krug gegossener Honig: »Und fahr endlich heim …«
Sie registrierte nicht einmal, dass Captain Westfall sie fortführte und sie wieder einen Flur nach dem anderen entlangliefen.
Ja, sie würde fahren – nach Rifthold, wohin auch immer, sogar durch die Tore von Wyrd und in die Hölle selbst, wenn das Freiheit verhieß.
Schließlich bist du nicht umsonst Adarlans Assassinin.
Als Celaena sich nach dem Treffen im Thronsaal schließlich völlig erledigt auf ein Bett fallen ließ, konnte sie trotz der Erschöpfung, die sie in jeder Faser ihres Körpers spürte, nicht einschlafen. Die Wunden auf ihrem Rücken pochten, nachdem sie von unsensiblen Dienerinnen in gröbster Weise gewaschen worden war, und ihr Gesicht fühlte sich an, als hätte man es bis auf die Knochen abgeschrubbt. Sie drehte sich auf die Seite, um die Schmerzen an ihrem verbundenen Rücken zu lindern, fuhr mit der Hand die Matratze entlang und genoss die Bewegungsfreiheit. Chaol hatte ihr die Ketten abgenommen, bevor sie ins Bad gebracht worden war. Sie hatte alles überdeutlich wahrgenommen – wie der Schlüssel sich im Schloss ihrer Handeisen drehte, wie die Eisen sich lösten und zu Boden fielen. Noch immer konnte sie die Kette geisterhaft knapp über ihrer Haut schweben sehen. Sie blickte zur Decke, ließ ihre wund gescheuerten, brennenden Gelenke kreisen und stieß einen zufriedenen Seufzer aus.
Es war so ungewohnt, auf einer Matratze zu liegen, Seide auf ihrer Haut zu spüren und die Wange auf ein Kissen zu betten. Sie hatte auch vergessen, wie Essen schmeckte, mit Ausnahme von matschigen Haferflocken und hartem Brot, und was ein sauberer Körper und saubere Kleidung aus einem Menschen machen konnten. Das alles war ihr vollkommen fremd geworden.
Dabei war ihr Abendessen gar nicht mal so großartig gewesen. Das Brathähnchen hatte sie nicht besonders gefunden, und dann war sie nach wenigen Bissen auch noch ins Badezimmer gestürzt, um ihren Mageninhalt zu entleeren. Dabei wollte sie essen, alles in sich hineinstopfen, um am Ende die Hand auf ein gewölbtes Bäuchlein zu legen und sich zu wünschen, niemals einen Bissen angerührt zu haben, zu schwören, niemals wieder etwas zu sich zu nehmen. In Rifthold würde sie gut essen, oder? Und, was wichtiger war, ihr Magen würde sich daran gewöhnen.
In den Minen war sie immer dünner geworden, bis fast nichts mehr von ihr übrig war. Unter ihrem Nachthemd stachen die Rippen heraus; wo Fleisch sein sollte, sah man Knochen. Und ihre Brüste! Sie hatten einmal eine schöne Form gehabt und waren jetzt nicht mehr größer als zu Beginn der Pubertät. Ihr saß ein Kloß im Hals, den sie sofort hinunterschluckte. Die Matratze war so weich, dass sie darin zu ersticken glaubte, und sie drehte sich trotz der Schmerzen wieder auf den Rücken.
Ihr Gesicht hatte nicht viel besser ausgesehen, als sie im Badezimmerspiegel einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. Es war ausgezehrt: Ihre Wangenknochen waren spitz, ihr Kiefer stand vor und ihre Augen waren zwar nur leicht, aber doch in beunruhigender Weise eingesunken. Langsam atmete sie ein und genoss die aufkeimende Hoffnung. Sie würde essen. Viel essen. Und trainieren. Sie könnte wieder gesund werden. Mit Fantasien von unglaublichen Festmählern und der Wiederherstellung ihres früheren Ruhms schlief sie schließlich ein.
Als Chaol sie am nächsten Morgen holen kam, fand er sie in eine Decke gewickelt auf dem Fußboden. »Sardothien«, sagte er. Sie nuschelte etwas und grub das Gesicht tiefer ins Kissen. »Warum schlaft Ihr auf dem Boden?« Sie öffnete ein Auge. Natürlich sagte er nichts dazu, wie verändert sie nun, da sie sauber war, aussah.
Sie stand einfach auf, machte sich nicht die Mühe, sich hinter der Decke zu verstecken. Die vielen Meter Stoff, die man Nachthemd nannte, bedeckten sie ausreichend. »Das Bett war unbequem«, sagte sie einfach und vergaß den Captain, sobald sie das Sonnenlicht erblickte.
Reines, frisches, warmes Sonnenlicht. Sonnenlicht, an dem sie sich Tag für Tag würde wärmen können, sobald sie frei wäre. Genügend Sonnenlicht, um die endlose Dunkelheit der Minen zu überstrahlen. Es drang durch die schweren Gardinen, malte dicke Streifen in den Raum. Vorsichtig streckte Celaena eine Hand aus.
Die Hand war blass, fast skelettartig, aber trotz der Blutergüsse, Schürfwunden und Narben war etwas an ihr, das im Morgenlicht schön und neu aussah.
Sie rannte zum Fenster und riss die Gardinen beinahe herunter, als sie sie aufzog und die grauen Berge und die Kargheit von Endovier vor sich sah. Die Wachen unter dem Fenster blickten nicht hoch. Sie starrte in den blaugrauen Himmel, auf die Wolken, die ihr vorkamen, als wären sie in Schuhe geschlüpft und würden auf den Horizont zulaufen.
Ich werde keine Angst haben. Zum ersten Mal seit Langem fühlten sich diese Worte wahr an.
Ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln. Der Captain zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.
Sie war heiter, fast sogar fröhlich, und ihre Stimmung hob sich noch, als die Dienerinnen ihr geflochtenes Haar am Hinterkopf zu einem Knoten aufrollten und ihr in überraschend feine Reitkleidung halfen, die ihre elendig dürren Formen kaschierte. Sie liebte Kleider – das Gefühl von Seide, Samt und Satin, von Wildleder und Chiffon auf der Haut – und war fasziniert von eleganten Säumen, der komplexen Vollkommenheit einer bestickten Oberfläche. Sobald sie diesen lächerlichen Wettkampf gewonnen hatte, sobald sie frei war … würde sie sich so viele Kleider kaufen, wie sie wollte.
Chaol hatte missmutig zugesehen, wie Celaena sich fünf Minuten lang im Spiegel bewunderte, und zerrte sie nun geradezu aus dem Zimmer, aber sie lachte nur. Beim Anblick des heller werdenden Morgenhimmels hatte sie Lust bekommen, zu tanzen und durch die Flure zu hüpfen. Doch als sie jetzt in den Haupthof kamen und sie die knochenfarbenen Felsmassen am Ende des Geländes erblickte, die kleinen Gestalten, die die zahlreichen wie Mäuler in den Stein gehauenen Öffnungen betraten und verließen, stockte ihr das Herz.
Das Tagewerk hatte bereits begonnen und würde auch weitergehen, wenn sie fortging und alle anderen ihrem elenden Schicksal überließ. Mit einem Knoten im Bauch wandte sie sich von den Gefangenen ab und hielt mit dem Captain Schritt, der auf eine Gruppe Pferde nahe der mächtigen Mauer zusteuerte.
Kläffen war zu hören und zwischen den Pferden kamen drei schwarze Hunde hervorgelaufen, um sie zu begrüßen. Sie waren elegant und schmal wie Pfeile – zweifellos aus dem Zwinger des Kronprinzen. Celaena ging trotz ihrer schmerzenden Wunden in die Hocke, nahm ihre Köpfe in die Hände und streichelte das weiche Fell. Die Hunde leckten ihr über Finger und Gesicht und ließen die Schwänze wie Peitschen auf den Boden schlagen.
Ein paar ebenholzschwarze Stiefel blieben vor ihr stehen und die Hunde beruhigten sich sofort und machten Sitz. Celaena hob den Kopf und blickte in die Saphiraugen des Kronprinzen von Adarlan, die auf ihr Gesicht gerichtet waren. Er lächelte leicht. »Ungewöhnlich, dass sie auf Euch zugehen«, sagte er und kraulte einen der Hunde hinter den Ohren. »Habt Ihr ihnen etwas zu fressen gegeben?«
Sie schüttelte den Kopf, als der Captain hinter sie trat, so nah, dass seine Knie die Falten ihres waldgrünen Samtumhangs streiften. Mit nur zwei Bewegungen könnte sie ihn entwaffnen.
»Mögt Ihr Hunde?«, fragte der Prinz. Sie nickte. Warum war es schon so heiß? »Werde ich in den Genuss kommen, Eure Stimme zu hören, oder habt Ihr beschlossen, für die Dauer unserer Reise zu schweigen?«
»Ich fürchte, Eure Fragen bedurften keiner großen Worte.«
Dorian verneigte sich tief. »Dann möchte ich um Verzeihung bitten, Mylady! Was muss es für eine Zumutung sein, sich zu einer Antwort herabzulassen! Das nächste Mal werde ich mir ein anregenderes Gesprächsthema überlegen.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und schritt mit seinen Hunden im Gefolge davon.
Celaena richtete sich auf, der Ärger stand ihr ins Gesicht geschrieben. Und ihre Stirnfalten wurden noch tiefer, als sie den Captain der Garde grinsen sah, während sie sich unter die aufbruchsbereite Reisegesellschaft mischten. Dann brachte man ihr jedoch eine gescheckte Stute und das dringende Bedürfnis, jemanden durch eine Wand zu prügeln, ließ nach.
Sie saß auf. Der Himmel kam näher und dehnte sich immer weiter über ihr aus, bis zu fernen Ländern, von denen sie nie etwas gehört hatte. Celaena ergriff den Sattelknauf. Jetzt verließ sie Endovier also wirklich. All die hoffnungslosen Monate, die eiskalten Nächte … Vorbei. Sie holte tief Luft. Sie konnte aus ihrem Sattel davonfliegen, wenn sie es nur mit aller Kraft versuchen würde. Das wusste sie – sie wusste es einfach. Allerdings nur, bis sie wieder die Fesseln an ihren Armen spürte.
Es war Chaol, der die Handeisen um ihre verbundenen Handgelenke schloss. Eine lange Kette führte zu seinem Pferd und verschwand dort unter den Satteltaschen. Er stieg auf seinen schwarzen Hengst und sie erwog, von ihrem Pferd zu springen und ihn mit der Kette am nächsten Baum aufzuhängen.
Es war eine recht große Reisegesellschaft, insgesamt zwanzig Personen. Hinter zwei königlichen Fahnenträgern ritten der Kronprinz und Herzog Perrington. Dann folgte ein Trupp von sechs königlichen Leibgardisten, dumpf und uninteressant wie Haferbrei. Aber dazu ausgebildet, den Prinzen zu beschützen – vor ihr zu beschützen. Sie ließ ihre Ketten gegen den Sattel rasseln und blickte kurz zu Chaol. Keine Reaktion.
Die Sonne stieg höher. Nach einer letzten Überprüfung ihrer Vorräte brachen sie auf. Da fast alle Sklaven in den Minen arbeiteten und nur einige wenige damit beschäftigt waren, in ein paar klapprigen Schuppen das Salz zu reinigen, war der riesige Haupthof beinahe verlassen. Die Mauer rückte plötzlich drohend näher und das Blut stockte Celaena in den Adern. Das letzte Mal, dass sie der Mauer so nah gewesen war …
Ein Peitschenknall ertönte, gefolgt von einem Schrei. Celaena blickte über die Schulter, an den Wachen und dem Vorratswagen vorbei in den fast leeren Hof zurück. Keiner dieser Sklaven würde diesen Ort je verlassen – nicht einmal im Tod. Jede Woche wurde hinter den Schuppen ein neues Massengrab ausgehoben. Und jede Woche füllte es sich.
Plötzlich wurde Celaena sich der drei langen Narben auf ihrem Rücken schmerzlich bewusst. Selbst wenn sie die Freiheit erlangte, selbst wenn sie in Frieden irgendwo auf dem Land lebte – diese Narben würden sie immer daran erinnern, was sie durchlitten hatte. Und daran, dass andere immer noch in Unfreiheit lebten.
Celaena blickte nach vorn und schob diese Gedanken beiseite. Sie ritten nun in den Torgang in der Mauer ein, in dem die Luft dick, fast rauchig und feucht war. Das Getrappel der Pferde hallte wie Donnergrollen. Die eisernen Torflügel wurden geöffnet und sie konnte gerade noch den unheilvollen Namen der Mine lesen, bevor er sich in zwei Hälften teilte und nach rechts und links aufschwang. Nur ein paar Herzschläge später schloss sich das Tor quietschend wieder hinter ihnen. Sie war draußen.
Celaena hob die gefesselten Hände und beobachtete, wie die Kette zwischen ihr und dem Captain der Garde rasselnd hin und her schwang. Sie war an seinem Sattel befestigt.Vielleicht könnte sie den Gurt bei einem Zwischenhalt vorsichtig lösen, nur so weit, dass der Sattel durch einen heftigen Ruck an der Kette nach unten rutschen und der Captain vom Pferd fallen würde, und dann könnte sie –
Celaena spürte Captain Westfalls Blick. Unter gesenkten Brauen, die Lippen fest zusammengepresst, starrte er sie an. Achselzuckend ließ sie die Kette los.
Im Lauf des Vormittags wurde der Himmel strahlend blau, fast wolkenlos. Sie schlugen den Weg Richtung Wald ein und kamen rasch aus dem bergigen Ödland in freundlichere Gegenden.
Am späten Vormittag erreichten sie den Oakwald Forest, das riesige Waldgebiet, das Endovier umgab und die Grenze zwischen den »zivilisierten« Ländern des Ostens und den unerforschten Gebieten im Westen bildete. Man erzählte sich immer noch Geschichten über die sonderbaren, gefährlichen Leute, die hier lebten – die grausamen, blutrünstigen Nachfahren des untergegangenen Witch Kingdom. Einmal hatte Celaena mit einer jungen Frau aus diesem verfluchten Land zu tun gehabt, und obwohl sie sich als ebenso grausam wie blutrünstig entpuppt hatte, war sie eben doch nur ein Mensch gewesen. Und hatte auch genauso geblutet.
Nach stundenlangem Schweigen wandte sie sich Chaol zu. »Es geht das Gerücht, dass der König den Westen kolonisieren will, sobald der Krieg mit Wendlyn beendet ist.« Sie sagte es beiläufig, hoffte jedoch, er würde es bestätigen oder abstreiten. Je mehr sie über die momentane Lage und die Vorhaben des Königs wusste, desto besser. Der Captain musterte sie von Kopf bis Fuß, runzelte die Stirn und wandte sich dann ab. »Ich stimme Euch zu«, sagte sie mit einem lauten Seufzer. »Das Schicksal dieser leeren, weiten Ebenen und der trostlosen Bergregionen ist wirklich ein langweiliges Thema.«
Sein Kiefermuskel spannte sich an, als er die Zähne zusammenbiss.
»Wollt Ihr mich ewig ignorieren?«
Captain Westfall hob die Augenbrauen. »Mir war nicht klar, dass ich Euch ignoriere.«
Sie spitzte den Mund und hielt ihren Ärger zurück. Diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben. »Wie alt seid Ihr?«
»Zweiundzwanzig.«
»So jung!« Sie bedachte ihn mit einem erwartungsvollen Augenaufschlag. »Ihr seid in so kurzer Zeit zum Captain aufgestiegen?«
Er nickte. »Und wie alt seid Ihr?«
»Achtzehn.« Aber er erwiderte nichts. »Ich weiß«, fuhr sie fort. »Es ist wirklich beeindruckend, in so jungen Jahren schon so erfolgreich zu sein.«
»Verbrechen sind kein Erfolg, Sardothien.«
»Nein, aber die berühmteste Assassinin der Welt zu sein, schon!« Er sagte nichts dazu. »Ihr könntet mich fragen, wie ich das geschafft habe.«
»Was geschafft?«, fragte er knapp.
»So früh so gut und so berühmt zu sein.«
»Ich will nichts davon hören.«
Aber diese Worte wollte sie eigentlich nicht hören. »Ihr seid nicht sehr freundlich«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. Wenn sie ihn aus der Reserve locken wollte, würde sie sich wohl mehr Mühe geben müssen.
»Ihr seid eine Verbrecherin. Ich bin Captain der königlichen Garde. Ich bin nicht dazu verpflichtet, Euch irgendwelche Freundlichkeiten zu erweisen oder Konversation mit Euch zu machen. Seid froh, dass wir Euch nicht im Wagen einschließen.«
»Oh, danke. Ich wette, Ihr seid auch kein angenehmer Gesprächspartner, wenn Ihr jemandem Freundlichkeiten erweist.« Als er wieder schwieg, kam Celaena sich doch ein bisschen albern vor. Ein paar Minuten vergingen. »Seid Ihr eng mit dem Kronprinzen befreundet?«
»Mein Privatleben geht Euch nichts an.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Seid Ihr aus guter Familie?«
»Gut genug.« Sein Kinn hob sich fast unmerklich.
»Herzog?«
»Nein.«
»Lord?« Er antwortete nicht und sie lächelte langsam. »Lord Chaol Westfall.« Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Die Damen bei Hof werden sicher ziemlich um Euch herumscharwenzeln!«
»Nennt mich nicht so. Ich trage nicht den Titel eines Lord«, sagte er ruhig.
»Habt Ihr einen älteren Bruder?«
»Nein.«
»Warum tragt Ihr dann nicht den Titel?« Wieder keine Antwort. Sie wusste, dass sie lieber den Mund halten sollte, aber sie konnte es einfach nicht lassen. »Ein Skandal? Wurde Euch das Geburtsrecht entzogen? Bestimmt seid Ihr in irgendeine unerfreuliche Intrige verwickelt.«
Seine Lippen pressten sich so fest aufeinander, dass sie weiß wurden.
Sie beugte sich zu ihm. »Findet Ihr, dass –«
»Soll ich Euch knebeln oder seid Ihr auch ohne mein Zutun in der Lage, still zu sein?« Sein Gesicht wurde wieder ausdruckslos und er starrte nach vorn zum Kronprinzen. Bei ihrer nächsten Frage verzog er das Gesicht und sie musste sich das Lachen verbeißen. »Seid Ihr verheiratet?«
»Nein.«
Sie pulte an ihren Nägeln. »Ich auch nicht.« Seine Nasenflügel blähten sich. »In welchem Alter seid Ihr Captain der Garde geworden?«
Er zügelte sein Pferd. »Mit zwanzig.«
Auf einer Lichtung kam die Gesellschaft zum Stehen und die Soldaten saßen ab. Celaena wandte sich Chaol zu, der das Bein über sein Pferd schwang. »Warum halten wir an?«
Chaol löste die Kette von seinem Sattel und zog einmal kräftig daran, damit sie abstieg. »Mittagessen«, sagte er.
Celaena strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ sich auf die Lichtung führen. Wenn sie fliehen wollte, würde sie zuerst mit Chaol fertigwerden müssen. Wären sie allein gewesen, hätte sie es vielleicht versucht, auch wenn es wegen der Ketten schwierig war; aber mit einem Gefolge von königlichen Leibgardisten, die dazu ausgebildet waren, ohne Zögern zu töten …
Während ein Feuer angefacht und aus dem Proviant in den Kisten und Säcken ein Essen bereitet wurde, blieb Chaol dicht neben ihr. Einige Soldaten rollten Holzstämme herbei, bildeten daraus kleine Kreise und setzten sich, während andere kochten und brieten. Die Hunde des Kronprinzen, die gehorsam neben ihrem Herrn gelaufen waren, kamen schwanzwedelnd auf die Assassinin zu und legten sich ihr zu Füßen. Wenigstens sie freuten sich über ihre Gesellschaft.
Als endlich jemand Celaena einen Teller auf die Knie stellte, knurrte ihr schon der Magen und sie war ziemlich wütend, weil der Captain ihr die Handeisen nicht sofort abnahm. Er schloss sie erst nach einem langen, warnenden Blick auf und legte sie ihr um die Knöchel. Celaena verdrehte nur die Augen, während sie einen kleinen Bissen Fleisch zum Mund führte. Sie kaute gründlich. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, sich jetzt vor allen übergeben zu müssen. Die Soldaten unterhielten sich miteinander und Celaena konnte sich in Ruhe umblicken. Sie saß bei Chaol und fünf Soldaten. Der Kronprinz saß natürlich mit Perrington allein auf zwei Baumstämmen, ziemlich weit entfernt. Am Abend vorher war Dorian voller Überheblichkeit und Ironie gewesen, doch nun, im Gespräch mit dem Herzog, wirkte er sehr ernst. Sein ganzer Körper war angespannt und Celaena entging nicht, wie er die Zähne zusammenbiss, wenn Perrington sprach. Wie auch immer ihre Beziehung aussehen mochte – herzlich war sie jedenfalls nicht.
Celaena nahm einen weiteren Bissen und ließ den Blick vom Kronprinzen zu den Bäumen wandern. Im Wald war es still geworden. Die schwarzen Hunde hatten die Ohren gespitzt, auch wenn die Stille sie nicht zu beunruhigen schien. Sogar die Soldaten waren einsilbig. Celaenas Herz schlug schneller. Hier war der Wald anders.
Die Blätter baumelten an den Bäumen wie Edelsteine – winzige Tropfen aus Rubin, Perlmutt, Topas, Amethyst, Smaragd und Granat; und der Waldboden um sie herum war ebenfalls mit solchen Kostbarkeiten übersät. Dieser Teil des Oakwald Forest hatte die Verwüstungen der Eroberungszüge heil überstanden und bewahrte noch die letzten Reste der Macht, die diesen Bäumen einst solch übernatürliche Schönheit verliehen hatte.
Sie war erst acht gewesen, als Arobynn Hamel, der König der Assassinen und ihr Mentor, sie halb ertrunken am Ufer eines eiskalten Flusses gefunden und sie in seinen Unterschlupf im Grenzgebiet zwischen Adarlan und Terrasen mitgenommen hatte. In all den Jahren, in denen er sie zu seiner besten und treuesten Assassinin ausbildete, hatte er ihr nicht erlaubt, nach Terrasen zurückzukehren. Aber sie erinnerte sich noch daran, wie schön ihre Heimat gewesen war, bevor der König von Adarlan weite Teile davon hatte niederbrennen lassen. Nun gab es dort nichts mehr für sie und würde es auch nie wieder geben. Arobynn hatte es zwar nie direkt gesagt, aber wenn sie abgelehnt hätte, sich von ihm ausbilden zu lassen, dann hätte er sie ihren Feinden übergeben. Man hätte sie getötet oder noch Schlimmeres mit ihr angestellt. Sie war erst acht und hatte gerade ihre Eltern verloren, aber ihr war klar, dass sie bei Arobynn die Chance bekam, noch einmal neu anzufangen, einen anderen Namen anzunehmen, den niemand kannte. Einen Namen, vor dem eines Tages alle zittern würden. Sie bekam die Chance, dem Schicksal zu entgehen, das sie in jener Nacht vor zehn Jahren dazu getrieben hatte, in den eiskalten Fluss zu springen.
»Dieser verfluchte Wald«, sagte ein Soldat mit olivgrüner Haut in ihrer Runde. Der neben ihm kicherte. »Je schneller wir ihn abfackeln, desto besser.«
Die anderen Soldaten nickten. Celaena erstarrte.
»Er ist voller Hass«, sagte ein anderer.
»Was habt ihr denn erwartet?«, warf sie ein. Die Soldaten wandten sich zu ihr um, manche spöttisch grinsend, und Chaols Hand flog sofort ans Schwert. »Das ist kein gewöhnlicher Wald.« Sie deutete mit ihrer Gabel auf die Bäume. »Es ist Brannons Wald.«
»Mein Vater hat mir immer Geschichten erzählt, hier muss es von Feen und Elfen gewimmelt haben«, sagte ein Soldat. »Jetzt gibt es keine mehr.«
Ein anderer biss in einen Apfel und fügte hinzu: »Und auch keine gottverdammten Fae.«
»Die sind wir zum Glück los«, warf ein weiterer ein.
»Passt auf, was ihr sagt«, fauchte Celaena. »König Brannon war ein Fae und Oakwald gehört immer noch ihm. Es würde mich nicht wundern, wenn manche der Bäume sich noch an ihn erinnern.«
Die Soldaten lachten.
»Dann müssten die Bäume schon zweitausend Jahre alt sein!«, sagte einer.
»Die Fae sind unsterblich«, erwiderte sie.
»Aber die Bäume nicht.«
Empört schüttelte Celaena den Kopf und lud den nächsten kleinen Bissen Essen auf die Gabel.
»Was wisst Ihr über diesen Wald?«, fragte Chaol sie ruhig. Machte er sich über sie lustig? Die Soldaten beugten sich vor und wollten sie schon auslachen. Aber aus den goldbraunen Augen des Captains sprach nur Neugier.
Celaena schluckte ihr Fleisch hinunter. »Bevor Adarlan seine Eroberung begann, war dieser Wald voller Magie«, sagte sie sanft, aber nicht unterwürfig.
Chaol wartete darauf, dass sie weitersprach, doch sie ließ es dabei bewenden. »Und?«, fragte er.
»Das ist alles, was ich weiß«, erwiderte sie und sah ihm in die Augen. Enttäuscht darüber, dass es nichts zu lachen gab, wandten sich die Soldaten wieder ihrem Essen zu.
Sie hatte gelogen und das war Chaol klar. Sie wusste weit mehr über diesen Wald, wusste, dass er einst von Gnomen, Elfen, Nymphen, Kobolden und unzähligen anderen Wesen bewohnt gewesen war, an die sich niemand mehr erinnern konnte. Sie alle waren von ihren größeren, menschenähnlichen Verwandten regiert worden, den unsterblichen Fae – den Ureinwohnern des Kontinents und ältesten Lebewesen in Erilea.
Mit der wachsenden Verderbtheit Adarlans und dem Aufruf des Königs, sie zu jagen und zu töten, ergriffen die Feenwesen und die Fae die Flucht, zogen sich an die letzten wilden, unberührten Orte zurück. Der König von Adarlan hatte alles für geächtet erklärt – Magie, Fae, Feenwesen – und jedwede Spur so gründlich getilgt, dass sogar diejenigen, die Magie im Blut hatten, fast glaubten, es hätte sie nie wirklich gegeben. Auch Celaena gehörte zu ihnen. Der König hatte erklärt, die Magie sei eine Beleidigung der Göttin und ihrer Götter – sie auszuüben hieße, sich deren Macht anzumaßen. Er hatte sie verboten und doch kannten die meisten die Wahrheit: Innerhalb eines Monats nach seinem Erlass war alle Magie ganz von selbst spurlos verschwunden. Vielleicht hatte sie gespürt, welche Schrecken die Zukunft bringen würde.
Celaena konnte noch die Brände riechen, die in ihrem achten und neunten Lebensjahr gewütet hatten. Berge von Büchern waren mit dem gesamten alten, unersetzlichen Wissen in Rauch und Flammen aufgegangen, begnadete Seher und Heiler waren qualvoll auf dem Scheiterhaufen gestorben, Auslagenfenster und heilige Plätze hatte man zertrümmert und entweiht und aus der Geschichte getilgt. Viele, die Magie ausgeübt hatten und nicht verbrannt worden waren, endeten als Gefangene in Endovier – und die meisten überlebten dort nicht lange. Celaena hatte schon länger nicht mehr an die Gabe gedacht, die sie verloren hatte, obwohl die Erinnerung daran sie in ihren Träumen verfolgte. Trotz des Blutbads war es vielleicht doch gut, dass die Magie verschwunden war. Für einen normalen Menschen war es viel zu gefährlich, sie auszuüben; ihre magischen Fähigkeiten hätten sie vielleicht längst ins Verderben gestürzt.
Der Rauch des Feuers brannte ihr in den Augen, als sie den nächsten Bissen in den Mund schob. Nie würde sie die Geschichten über den Oakwald Forest vergessen, die Legenden von finsteren, schaurigen Schluchten, tiefen, reglosen Teichen und Höhlen voller Licht und himmlischem Gesang. Jetzt waren es nur noch Geschichten und nichts weiter. Davon zu sprechen würde nur Ärger bringen.
Celaena betrachtete die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach schienen, die Bäume, die sich mit ihren langen, knorrigen Armen gegenseitig hielten und sich im Wind wiegten. Sie unterdrückte ein Schaudern.
Zum Glück war das Mittagessen schnell vorbei. Die Eisen wurden wieder um ihre Handgelenke geschlossen, die ausgeruhten Pferde wieder beladen. Celaenas Beine waren so steif geworden, dass Chaol ihr beim Aufsteigen helfen musste. Das Reiten bereitete ihr Schmerzen und auch der ständige Gestank nach Pferdeschweiß und Exkrementen, der bis ans Ende des Gefolges drang, war kaum auszuhalten.
Den Rest des Tages waren sie unterwegs und die Assassinin sah schweigend zu, wie der Wald an ihr vorbeizog. Ihr wurde erst wieder leichter ums Herz, als sie die funkelnde Schlucht weit hinter sich gelassen hatten. Als sie zum Übernachten haltmachten, tat ihr alles weh. Beim Abendessen verlor sie kein Wort und es war ihr egal, dass man ein kleines Zelt für sie errichtete und Wachen davor postierte. Immer noch an einen von ihnen gekettet, bekam sie die Erlaubnis zum Schlafen. Sie träumte nicht, aber als sie aufwachte, traute sie ihren Augen kaum.
Am Fuß ihres Lagers lagen kleine weiße Blumen und zahlreiche Fußabdrücke in Kindergröße führten ins Zelt hinein und hinaus. Bevor jemand hereinkam und es bemerken konnte, verwischte Celaena die Spuren mit dem Fuß, bis absolut nichts mehr zu erkennen war, und stopfte die Blumen in eine Tasche.
Obwohl auf der weiteren Reise niemand die Feenwesen noch einmal erwähnte, forschte Celaena in den Gesichtern der Soldaten nach irgendeinem Zeichen, dass sie etwas Ungewöhnliches gesehen hatten. Einen großen Teil des folgenden Tages hatte sie schweißnasse Hände und Herzklopfen und behielt die vorbeiziehenden Wälder ständig im Auge.
In den nächsten zwei Wochen durchquerten sie den Kontinent in Richtung Süden, die Nächte wurden kälter und die Tage kürzer. Eisiger Regen begleitete sie vier Tage lang und in dieser Zeit fror Celaena so erbärmlich, dass sie in Erwägung zog, sich eine Schlucht hinunterzustürzen und dabei hoffentlich Chaol mitzureißen.
Alles war feucht und halb gefroren, und während sie ihr klatschnasses Haar noch irgendwie ertragen konnte, waren ihr die durchgeweichten Schuhe eine unerträgliche Qual. Sie konnte ihre Zehen kaum spüren. Abends wickelte sie ihre Füße in das erstbeste trockene Kleidungsstück, das sie zur Hand hatte. Sie kam sich vor, als würde sie allmählich verfaulen, und bei jedem eisigen, scharfen Windstoß fragte sie sich, wann ihr die Haut von den Knochen gerissen würde. Aber wie so manchmal im Herbst zog der Regen plötzlich ab und über ihnen wölbte sich wieder ein wolkenloser, strahlender Himmel.
Celaena döste auf ihrem Pferd vor sich hin, als der Kronprinz ausscherte und mit wehenden Haaren auf sie zugeritten kam. Sein roter Umhang hob und senkte sich in purpurnen Wellen. Über seinem schlichten weißen Hemd trug er ein dünnes, kobaltblaues Wams mit Goldbordüre. Instinktiv wollte Celaena die Nase rümpfen, aber in seinen kniehohen braunen Stiefeln sah er wirklich ziemlich gut aus. Und sein Ledergürtel passte perfekt dazu – obwohl auf dem Jagdmesser zu viele Juwelen glitzerten. Er schloss zu Chaol auf. »Komm«, sagte er zum Captain und deutete mit dem Kinn auf den steilen, grasbewachsenen Hügel, den die Gesellschaft vor sich hatte.
»Wohin?«, fragte der Captain und rasselte mit Celaenas Kette, damit Dorian sich erinnerte: Wohin auch immer er ging, sie musste mit.