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»Sie flogen fort und gelangten auf eine Insel, mit schönen Bäumen bestanden und von klaren Bächen durchflossen, aus denen sie trinken konnten. Hier bauten sie ihr Nest und lebten in Frieden und ohne Angst. Da kam eines Tages …« So beginnt das bildstarke und kluge Märchen von den »Tieren und dem Menschen« aus ›1001 Nacht‹. Über 20 Märchen und Geschichten aus dem Vorderen Orient mit dem Duft und dem Witz des ›Morgenlands‹ und seiner über zweitausendjährigen Geschichte versammelt dieser 3. Band der Reihe »Tiermärchen vieler Völker«. Alexander Gruber erzählt sie kraftvoll und neu und hat sie, zur besseren Orientierung, mit erläuternden Anmerkungen versehen.
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Seitenzahl: 157
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Alexander Gruber (Hg.) · Tiermärchen vieler Völker
Tiermärchen vieler Völker
Band 3:
Tiermärchen
aus dem Vorderen Orient
Neu erzählt
von Alexander Gruber
Inhalt
Vorwort
Katzen mit Kerzen
Ich, Esel
Fuchs in Zucchini
Der Rabenpascha und seine Geschenke
Der Sohn des Sultans
Eine arabische Maus
König Salomo und die Zikade
Ein gebratener Fisch tut das Maul auf
Schick was, worauf man reiten kann
Der Todesbote
Die Bärin als Amme
Die blutige Bestie
Wie ein toter Fisch wieder lebendig wird
Die Tiere und der Mensch
Der Igel als Ratgeber
Vom Elefanten, der sein Junges rächte
Ein treuer Hund
Märchen von dem Kamel, das weinte
Der Bär im Nussbaum
Die Straußendame des Sultans
Der fromme Weber und der Krebs
Das Testament des Hundes
Nachwort
Anhang
Editorische Notiz
Vorwort
»Vorderer Orient« – das ist ein eher moderner politischer Begriff, der einem fixierten Gesichtspunkt aus Westen geschuldet ist. Was er umfasst, ist jedoch keineswegs fixiert; er bleibt dehnbar, manchmal im Ungefähren, umfasst aber Syrien, den Libanon, Palästina mit Israel und Jordanien, den Irak mit Ostanatolien, die arabische Halbinsel, einschließlich der Golfstaaten, Oman, den Jemen, die Vereinigten Arabischen Emirate und ebenso den westlichen Iran, fallweise im Süden auch Ägypten.
Bis vor zwei, drei Jahrzehnten spiegelte der Begriff, trotz des tiefgreifenden Konflikts zwischen Israel und Palästina, eine gewisse politische Einheitlichkeit und Stabilität. Die Entwicklung im Iran, die Kriege im Irak, im Jemen, in Syrien zeigen seither eine andere und schreckliche Realität.
Märchen aus diesen Ländern herauszuklauben – und damit sind nicht partout die Staaten gemeint –, stellt eine besondere Aufgabe dar, auch wenn sie auf dem literarischen und ethnologischen Feld gestellt scheint. In Wirklichkeit geschieht es im Blick auf das Humanum, auf den Menschen, der, so muss man feststellen, wahr Mensch immer darin ist, wie er sich zum Tier verhält, von dem er sich weder sozialen Aufstieg, noch eine Belohnung, weder Macht noch Reichtum erwarten kann. Im schönsten Fall aber Liebe. Dann wenn er sie entgegenbringt.
Um zu belegen, wie weitverzweigt zeitlich und räumlich das diesmal beackerte Feld ist, wurde im Band 3 unserer Reihe »Tiermärchen vieler Völker« jedes Märchen mit einem Kommentar, mal kürzer, mal länger, und einem Vermerk zu seiner ›Herkunft‹ versehen.
Beides muss der Leser und – bestenfalls! – Hörer nicht beachten. Sie und er sollen sich an den so klugen wie manchmal witzigen, manchmal romantischen, oft überraschenden und immer eindringlichen Geschichten freuen.
Dafür sind sie da!
Alexander Gruber
Katzen mit Kerzen
Vor sehr, sehr langer Zeit, als noch ein Kaiser in Persien regierte, gab es einen klugen, erfahrungssatten Wesir, auf dessen Ratschläge und Hinweise der Kaiser größten Wert legte. So gut wie immer folgte er ihnen. Als er eines Tages unvermutet starb, folgte ihm sein Sohn auf dem Thron nach. Auch der war klug, gescheit und fleißig und hatte sich von früher Jugend an mit ausgezeichneten Lehrern umgeben. Von dem, was der Wesir zu sagen hatte, wollte er nichts wissen, zog ihn nicht mehr zu Rate, bestätigte ihn nicht in seinem Amt und musste sich dafür einige Vorhaltungen anhören: »Ohne ihn hat dein Vater nichts entschieden und ist gut damit gefahren!« – »Ich glaube nicht, dass mein Vater ihn richtig eingeschätzt hat«, antwortete er, »aber ich stell ihn selbst auf die Probe.«
Nach einigen Wochen schickte er ihm einen Boten mit der Frage: »Was tut beim Menschen die größere Wirkung: wie er veranlagt oder wie er erzogen ist?« Der Wesir brauchte keine Bedenkzeit: »Wie der Mensch veranlagt ist, damit wird er geboren und so bleibt er. Wie er erzogen wird, das kommt von außen dazu, verblasst in harter Not, oder blättert ganz ab.«
Daraufhin lud der junge Kaiser den Wesir zum abendlichen Gastmahl.
Wie gewöhnlich war die Tafel im kleinen kaiserlichen Speisesaal – was da so »klein« heißt! – exquisit gedeckt. Schwere Seidenvorhänge verdeckten den Ausblick in die Gärten. Um die Tafel standen strahlend schöne, erlesene Katzen mit langem, glänzendem Fell aufrecht und trugen brennende Kerzen in den Vorderpfoten. Sanft erklang Musik. »Du siehst!«, sagte der Kaiser zum Wesir. »Deine Ansicht kannst du vergessen. Die Väter dieser Katzen waren keine Kerzenzieher.« – »Nein, gewiss nicht!«, sagte der Wesir. »Aber, junge Majestät, ich bitte, gib mir bis morgen Zeit für die Erwiderung.«
Als der Wesir am Abend spät nach Hause kam, rief er einen Sklaven und befahl ihm: »Verschaff mir ein paar Mäuse, bind sie mit einem Faden fest und bring sie mir!« Am andern Abend knotete er die Mäuse in ein Tuch und steckte sie in seinen Ärmel, bevor er zum Kaiser ging.
Wieder standen die schönen Katzen mit Kerzen um die Tafel, als die Speisen aufgetragen wurden, und da knüpfte der Wesir heimlich das Tuch auf und ließ die Mäuse frei. Schon ging’s los! Die Katzen ließen wie auf Kommando die Kerzen fallen, dass beinah das ganze Schloss in Flammen aufgegangen wäre, und jagten, was hastu, was kannstu, den Mäusen nach. »Junge Majestät«, sagte der kluge Wesir, als wieder Ruhe eingekehrt war, »so ist es eben: Die Katze lässt das Mausen nicht, wie gut sie auch dressiert sein mag!« – »Ja, du hast Recht!«, antwortete der Kaiser, setzte den Wesir wieder in sein Amt ein und behandelte ihn ganz so, wie es sein Vater vor ihm getan hatte.*
(* Siehe Anmerkungen Seite 127)
Ich, Esel
Auf einer meiner vielen Reisen gelangte ich auch in das Land Sind und in eine seiner lebhaften Städte. Da sah ich, als ich umherschlenderte, eine junge Frau, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, so schön war sie, so schlank gewachsen, so anmutig in all ihren Bewegungen, so liebreizend ihre Augen, so zauberisch ihr Gebaren. Jäh aufwallende Leidenschaft ergriff mich, heißes Begehren erfüllte mich. Ich achtete nicht mehr, wohin ich ging, denn ich folgte nur ihr wie mit Stricken gezogen, bis sie zu ihrem Wohnhaus gelangte und hinter dem hohen Tor verschwand. Tag und Nacht wich ich nicht mehr von diesem Tor, ließ mich von meinem Diener, der mich endlich gefunden hatte, versorgen und belagerte sie förmlich, sodass sie nicht mehr ausgehen mochte, aber mir schließlich einen Boten schickte, der mich hieß, das Tor zu verlassen und mich vor Gewalttätigkeiten vonseiten ihrer Angehörigen warnte. Doch diesem Boten klagte ich, wie es um mich und meine Leidenschaft stand und sagte ihm, ich würde nicht von ihrer Türe weichen, auch wenn ich totgeschlagen würde. Nichts änderte sich, ich belagerte das Tor Tag und Nacht, sie durchschritt es nicht mehr. Schließlich ließ sie mir bestellen, sie habe mich im Verdacht, nur im Augenblick verliebt zu sein, sonst aber treulos. Wäre es anders, würde sie mir helfen, ja, mich heiraten, wenn ich ihre Bedingung erfüllte und ihr treu bliebe. Würde ich treulos werden, würde sie mich unbarmherzig bestrafen, ja, mich vernichten. Ich solle entscheiden. Voller Freude nahm ich ihre Bedingung an, gelobte ihr unverbrüchliche, heilige Treue und so wurde sie meine Frau. In süßen Nächten wurde mein Begehren gestillt.
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