7,99 €
Christopher und Serenity sind im Hide Out zum Nichtstun verdammt. Während die Kohärenz ihre Fäden immer dichter spinnt, verlieren sie jeden Mut. Als dann auch noch mit viel Werbeaufwand der Lifehook eingeführt wird - mit dem die Menschen fast ohne Aufwand gedanklich kommunizieren können - ahnt Christopher, dass die Kohärenz zum alles entscheidenden Schlag ausgeholt hat. Doch dann hat er eine Idee, wo die Schwachstelle des globalen Netzwerkes liegen könnte. Gemeinsam mit Serenity macht er sich auf, um das Unmögliche zu wagen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 600
Titel
Andreas Eschbach
Time*Out
Impressum
Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenDieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 GarbsenEinbandgestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80174-2www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.dewww.eschbach-lesen.de
Befreiung
1
Jetzt rührte sich etwas. Doch es war nur ein magerer, jammervoll aussehender Hund, der von Schatten zu Schatten schlich und an Mülleimern schnüffelte. Ab und zu schaute er witternd herüber, als ahne er, dass ihn aus dem grauen Lieferwagen am Straßenrand vier Männer und ein siebzehnjähriger Junge beobachteten. Schließlich spitzte er die Ohren und huschte davon.
Niemand sagte etwas. Alle waren damit beschäftigt, zu atmen, zu schwitzen, am Leben zu bleiben. Christopher griff nach der Flasche mit dem Wasser, aber das schmeckte brühwarm und abgestanden und erfrischte längst nicht mehr.
»Das war keine gute Idee«, sagte er leise.
Er sagte es eigentlich zu sich selbst, aber Kyle hatte es gehört, klopfte ihm von hinten auf die Schulter und meinte: »Nur kein Neid, Sportsfreund. Bloß, weil es ausnahmsweise mal nicht deine Idee war.«
»Quatsch«, gab Christopher ärgerlich zurück.
Allerdings fragte er sich tatsächlich, warum er nicht selber auf die Idee gekommen war. Vor Kyle zumindest, der von Computern und Mobilfunktechnik so gut wie nichts verstand.
Andererseits, sagte sich Christopher, hatte er damals einfach anderes im Kopf gehabt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Er kniff die Lider zusammen, öffnete sie wieder. Der Schweiß biss in den Augen. Ihm war, als brenne sich der Anblick draußen allmählich in seine Netzhaut ein: eine ausgebleichte Asphaltstraße, auf einer Seite eine Reihe identisch aussehender Häuser, auf der anderen Niemandsland bis zum Horizont. Karge Steppe, graues bleiches Gras und schließlich, wie zum Hohn, schneebedeckte Berge, deren Konturen in der aufsteigenden Hitze flimmerten.
Vor dieser Szenerie stand eine abgeschabte Plakatwand. Sie war leer. Kein Wunder: Wer würde Geld dafür bezahlen, hier zu werben, in dieser öden, verlassen daliegenden Straße?
Christopher betrachtete die Häuser. Es stimmte nicht, dass sie alle gleich aussahen. Eines davon war größer, sein Garten besser gepflegt, und es besaß nicht wie die anderen eine simple Einfahrt vor einer Garage, sondern einen Carport. Ein protziges Schild verkündete: Immobilien Albert Burns.
Und schräg gegenüber hatten sie ihren Wagen am Straßenrand geparkt, so, dass sie, hinter einer halb verspiegelten Sonnenschutzfolie verborgen, alles gut im Blick hatten. Denn dieses Haus war der Grund, warum sie hier waren.
Hinter Christopher rauschte plötzlich das Funkgerät. »Ein Wagen biegt ab«, sagte eine undeutliche Stimme. »Der Beschreibung nach könnte er das sein.«
Die Männer rings um Christopher setzten sich auf, rutschten in ihren Sitzen zurecht, streckten die Köpfe nach vorn. Jemand patschte Christopher auf die Schulter, mit einer heißen, feuchten Hand. »Dass du dir die Nummer von diesem Motorrad gemerkt hast – sagenhaft. In so einer Situation. Reife Leistung.«
Christopher sagte nichts. Er bereute es längst, das mit dem Motorradkennzeichen überhaupt erwähnt zu haben. Und was hieß reife Leistung? Er hatte nun mal ein Gedächtnis für Zahlen, Codes, Programme, Passwörter und so weiter. Sich so etwas zu merken, ging bei ihm ganz von selbst.
Anstrengung erforderte es höchstens, sich die Begleitumstände ins Gedächtnis zu rufen, unter denen er sich ein Detail gemerkt hatte. In diesem Fall kein Problem, dazu waren die Geschehnisse zu dramatisch gewesen: Er sah das Kennzeichen noch vor sich, dann das Motorrad und schließlich die ganze Szenerie. Passiert war es rund zweihundertfünfzig Kilometer von hier entfernt, mitten in Nevada, auf einer der wenigen Straßen, die die Wüste durchquerten. Ein hagerer älterer Mann in Motorradkluft hatte sie angehalten und behauptet, seiner Frau sei schlecht.
In Wirklichkeit war es eine Falle der Kohärenz gewesen. Der Mann hatte sie mit einer Waffe bedroht. Und Serenity hatte ihn hinterrücks niedergeschlagen, mit einem Stück Holz, das ihr Bruder Kyle als Unterlage für den Wagenheber dabeigehabt hatte, und mit einer wütenden Entschlossenheit, die Christopher immer noch imponierte, wenn er daran zurückdachte. Er bezweifelte, dass er das selber so hingekriegt hätte.
Anhand des Motorradkennzeichens hatten sie den Halter des Motorrads ermittelt. Was solche Dinge anbelangte, verfügten die Leute von Hide-Out über eindrucksvolle Beziehungen. Und die Spur hatte hierhergeführt. Zu einem Immobilienmakler namens Albert Burns.
Inzwischen war Christopher davon überzeugt, dass die Kohärenz das Ganze damals inszeniert hatte, um ihn dazu zu bringen, ins Feld zu gehen. Das Feld war erstaunlich stark hier in Nevada. Zumindest fand man es erstaunlich, bis man sich klarmachte, dass in Kalifornien, vor allem im berühmten Silicon Valley, mehr Upgrader lebten als sonst irgendwo in den USA. Und da die Upgrader viel reisen mussten, war das Mobilfunknetz auch in den umliegenden menschenleeren Wüstenstaaten stark ausgebaut worden.
»Da kommt er.« Kyles Stimme klang angespannt.
Es war ein Schiff von einem Auto, mit einer fetten Stoßstange, viel zu vielen Scheinwerfern und getönten Scheiben. Es rauschte an ihnen vorbei, bog in einer schwungvollen Kurve in den Carport ein und kam schaukelnd zum Stehen. Ein Mann stieg aus.
»Okay.« Russell, der das Kommando hatte, reichte Kyle das Fernglas. »Euer Job.«
Kyle hob das Glas vor die Augen. »Das ist er«, erklärte er ohne Zögern und reichte es an Christopher weiter.
Auch Christopher erkannte das Gesicht wieder. Der Mann trug statt der Lederjacke ein dünnes weißes Leinenjackett, aber Christopher erinnerte sich nur zu gut an die stechenden Augen und die wie gegerbt wirkende Haut. »Ja«, bestätigte er. »Das ist der Mann.«
»Okay«, sagte Russell. »Dann los.«
2
Matthew und Patrick stiegen aus. Christopher duckte sich, obwohl er wusste, dass die Folie an der Innenseite der Frontscheibe keinen Blick ins Wageninnere zuließ. Der Mann durfte auf keinen Fall jemanden zu Gesicht bekommen, den die Kohärenz kannte, und ihn schon gar nicht.
Niemand sprach. Alle schauten sie gebannt zu, wie die beiden Männer die Straße überquerten und auf den Immobilienmakler zutraten, die Hände zu einem harmlos wirkenden Gruß erhoben.
»Mr Burns?«, hörten sie Matthew sagen. Ein winziges Mikrofon in seinem Kragen übertrug seine Stimme.
Was der Mann daraufhin erwiderte, hörte man nicht, dazu war er wohl noch zu weit weg oder sprach zu leise. Aber er sah nicht aus, als schöpfe er Verdacht.
»Freut mich, Sie zu treffen. Mein Name ist Tom Miller junior und das ist mein Cousin Peter Hecker.« Sie schüttelten Burns die Hand.
»Wir haben auf Ihrer Website gesehen, dass Sie auch Farmen im Angebot haben«, fuhr Patrick alias Peter fort. »Und da wir gerade in der Gegend waren, haben wir gedacht, schauen wir doch einfach vorbei.«
»…dachten Sie denn?« Das war, ganz leise, die Stimme des hageren alten Mannes. Christopher erkannte sie wieder. Dieselbe Stimme hatte damals »Keiner bewegt sich« gesagt. Und dann: »Wir brauchen nur den Jungen, Christopher Kidd.«
Christopher lief immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn er an diesen Augenblick zurückdachte.
»Irgendwas, das sich für Hühnerzucht eignet. Nicht zu klein. Think big, sag ich immer.«
Burns, der eine Aktentasche in der Hand trug, musterte die hemdsärmelig dastehenden Männer. Christopher hielt den Atem an. Die beiden wirkten harmlos, aber Patrick hatte eine sperrige, ziemlich geräumige Tasche über der Schulter hängen. Das musste sein, war aber ziemlich auffallend.
Sie hörten Burns etwas von »engem Zeitplan« und »Termin machen« sagen. Schöpfte er Verdacht?
»Ja, klar. Können wir machen«, sagte Patrick. Christopher fand ihn beneidenswert cool. »Aber ich würde gern wissen, dass Sie auch gerade was im Angebot haben, was annähernd hinkommt. Sonst lohnt sich der Weg ehrlich gesagt nicht.«
»... kommen Sie her?«
»Aus Richmond, Utah. Aber Sie wären der Erste, der das kennt, der nicht von dort ist.« Patrick lachte.
Sie hatten sich die Einzelheiten dieser Geschichte sorgfältig zurechtgelegt. Es gab eine Ortschaft namens Richmond in Utah: Es kostete die Kohärenz nur den Bruchteil einer Sekunde, das nachzuprüfen.
Christopher hörte Kyle neben sich aufatmen. »Es klappt«, murmelte er, als sie sahen, wie Burns eine einladende Handbewegung machte.
»Gefällt mir nicht, dass sie nur zu zweit sind«, brummte Russell. »Drei wären besser gewesen.«
»Drei Männer wären verdächtig gewesen«, widersprach Kyle. »Da hat mein Vater schon recht.«
Russell sagte nichts. Er war einst beim Marine Corps gewesen, hatte in Kriegen in Übersee gekämpft, bis er nicht mehr daran hatte glauben können, dass er auf diese Weise die Welt besser machte. Zweifellos war er derjenige von ihnen, der am meisten vom Kämpfen verstand.
Burns ging voraus, auf die Haustür zu. Patrick und Matthew folgten ihm. Patrick hatte die Hand auf der Umhängetasche, bereit hineinzugreifen. Die beiden hatten das alles in Hide-Out bis zum Abwinken geübt.
»Jetzt können wir nur beten, dass das klappt mit dem Kupfernetz«, fügte Kyle mit angespannt klingender Stimme hinzu.
In diesem Moment meldete sich Finn wieder per Funk. »Achtung. Weißer Lieferwagen ohne Aufschrift nähert sich euch. Fährt ziemlich schnell.«
»Verdammt«, knurrte Russell.
Der Makler schloss gerade die Tür auf, sagte irgendwas. »Ja, genau«, hörten sie Patrick lachend erwidern.
»Und jetzt?«, fragte Kyle.
»Wir müssen es laufen lassen«, erwiderte Russell. Aber er nahm seine Pistole aus dem Ablagefach der Fahrertür und entsicherte sie.
Patrick, Matthew und Burns betraten das Haus. Die Tür schlug hinter ihnen zu.
Im nächsten Augenblick drang Stimmengewirr aus dem Lautsprecher. »Was soll das?«, hörte man Burns rufen, gleich darauf schrien die drei Männer durcheinander.
»Halt ihn!«
»Jetzt!«
»Hoch!«
»Hilfe!«
»Schnell, verdammt!«
Dann war es mit einem Schlag still.
»Okay«, hörten sie gleich darauf Patricks Stimme. Er atmete schwer. »Alles in Ordnung.«
Russell sicherte seine Pistole wieder.
»Es hat geklappt.« Patrick schien es selber kaum glauben zu können. »Krass, aber … ja. Los, beeilt euch.«
Im gleichen Moment kam der weiße Lieferwagen heran und hielt direkt vor ihnen am Straßenrand.
3
»Wir warten«, entschied Russell. »Erst mal sehen, was das wird.«
Ein Mann in einem weißen Overall stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete schwungvoll die Seitentür. Dann holte er einen Plastikeimer und einen breiten Pinsel an einem Stiel heraus und begann, die Plakatfläche einzukleistern.
»Er klebt ein Plakat an«, sagte Kyle verblüfft.
»Okay.« Russell zog die Schutzfolie von der Frontscheibe. »Der Typ ist harmlos. Wir machen nach Plan weiter.«
Er ließ den Motor an, fuhr neben den Lieferwagen des Anklebers und setzte in einem raschen Bogen zurück. Als das Heck des Wagens dicht vor der Haustür stand, sprang Kyle auf, um die hinteren Türen zu öffnen. Gleich darauf kamen Patrick und Matthew aus dem Haus. Sie trugen eine rötlich metallisch glitzernde Last.
»Ist er schwer?«, hörte Christopher Kyle fragen.
»Ach was. Ein alter Mann?« Patricks Stimme kam gleichzeitig aus dem Lautsprecher.
»Beeilt euch!«, rief Russell, der den Mann an der Plakatwand nicht aus den Augen ließ. Doch der kümmerte sich nicht um sie, sondern klebte den ersten Teil des Plakats an. Am 8. Juni beginnt stand darauf.
Patrick und Kyle hievten derweil ihre Last auf eins der Stockbetten im hinteren Teil des zu einem Wohnmobil umgebauten Lieferwagens. Der Mann war in ein stabiles engmaschiges Kupferdrahtnetz gewickelt und rührte sich nicht.
»Warte. Leg ihm das Kopfkissen unter«, sagte Kyle halb laut.
»Wir müssen ihn noch richtig fesseln«, sagte Patrick.
»Kann ich los?«, rief Russell nach hinten.
»Yep«, rief Matthew und schlug die Hecktüren krachend von innen zu. »Gib Gas!«
Das nahm Russell wörtlich. Er bog aus der Einfahrt nach rechts ab und drückte das Gaspedal durch. Kurz vor der Kurve sah sich Christopher ein letztes Mal nach dem Ankleber um. Der war damit beschäftigt, den zweiten Teil des Plakats auseinanderzufalten, und würdigte sie keines Blickes.
Russell drückte die Sprechtaste am Walkie-Talkie. »Finn? Wir sind auf dem Rückweg.«
»Finn hier«, kam es krachend aus dem Lautsprecher. »Hat es geklappt?«
»Sieht so aus«, gab Russell zurück. Die Skepsis in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Was war mit dem weißen Van?«
»Nur ein Plakatankleber.«
Hinten fesselten sie den eingewickelten Mann mit zusätzlichen Stricken um Beine und Brustkorb. Dabei erzählte Patrick aufgekratzt, was sich im Haus abgespielt hatte: »Das war der Hammer. Es ist tatsächlich so abgelaufen, wie Christopher es vorausgesagt hat. Als wir drin waren, bin ich hinter ihn, zieh das Netz aus der Tasche und werfe es ihm genau mittig über den Kopf. So, wie wir’s geübt haben. Klar, er wehrt sich, aber da packt Matthew ihn schon mitsamt dem Netz um den Leib und hebt ihn hoch. Der Kerl schreit. Ich runter. Ich denke, Scheiße, das klappt nicht, greife nach den Enden des Netzes, so viel ich davon kriegen kann – der Kerl strampelt mit den Füßen, aber ich zurre alles zusammen –, und peng, er wird bewusstlos!« Er zurrte den letzten Knoten fest, kam nach vorn. »So richtig verstehe ich es immer noch nicht.«
»Das Netz ist eine Abschirmung«, sagte Christopher. »Es schirmt ihn vom Mobilfunknetz ab. Oder besser gesagt, seinen Chip. Und wenn ein Upgrader die Verbindung zur Kohärenz verliert, verliert er erst mal das Bewusstsein.«
»Weil ihn die Kohärenz nicht mehr fernsteuert? Aber wieso wird jemand deswegen bewusstlos? Er müsste doch … was weiß ich, frei sein in dem Moment?«
Christopher rieb sich die Nasenwurzel an der Stelle, hinter der auch er einen Chip sitzen hatte. Zwei mittlerweile, um genau zu sein. Der Unterschied war nur, dass er seine Chips unter Kontrolle hatte, sie nach Belieben ein- und ausschalten konnte.
»So einfach funktioniert das nicht«, sagte er. Sie hatten das den Leuten von Hide-Out natürlich schon ausgiebig erklärt, aber es dauerte immer eine Weile, bis man den entscheidenden Punkt kapiert hatte. »Ein Upgrader wird nicht ferngesteuert, er ist ein Teil der Kohärenz. Die Chips verbinden die Gehirne der Upgrader direkt miteinander. Das heißt, Gedanken wandern nahtlos von einem Gehirn in alle anderen Gehirne. Dadurch verschmilzt der eigene Geist mit dem der anderen und eine Art Über-Geist entsteht.« Er wies auf den eingewickelten Mann. »Das ist nicht mehr Albert Burns gewesen. Sein Gehirn war ein Teil des Super-Gehirns, das in seiner Gesamtheit die Kohärenz bildet. Es hat sich umstrukturiert, um als Teil der Kohärenz zu funktionieren, und jetzt muss es sich zurückkonfigurieren, um wieder als Individuum zu funktionieren. Das wird eine ganze Weile dauern. In dieser Zeit ist er bewusstlos.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »So war es jedenfalls bei meinem Vater.«
Matthew ließ ein Räuspern hören. »Könnte man sagen, dass wir sozusagen mit einem Prozessor ausgestattet sind und diese Kohärenz eine Art Multiprozessor-System ist?«
»Sozusagen«, bestätigte Christopher.
»Und wieso ein Netz aus Kupferdraht?« Matthew kam auch nach vorn, drängte sich neben Patrick. »Klar, zur Abschirmung gegen die Funkverbindung. Aber ehrlich, im ersten Moment hab ich gedacht, das geht in die Hose. Als ich ihn gepackt und in die Höhe gehalten habe, damit Patrick das Netz unten schließen konnte, da war er noch voll da, hat sich gewehrt, hat regelrecht … also, fast als ob er mal irgendeinen Kampfsport gelernt hätte.«
»Zur Kohärenz gehören auch Leute, die Kampfsportarten beherrschen. Deren Wissen steht allen anderen Upgradern ebenfalls zur Verfügung«, erklärte Christopher. »Bloß war sein Körper nicht trainiert. Sonst hättet ihr keine Chance gehabt.«
Matthew furchte skeptisch die Stirn. Man sah ihm an, dass er das jetzt für übertrieben hielt. Aber da täuschte er sich, Christopher wusste es.
»Jedenfalls«, fuhr der breitschultrige Mann fort, »Patrick hat das Netz zugemacht – und peng, war der Typ hinüber. Auf einen Schlag. Kaum zu glauben.«
Alle sahen Christopher fragend an. Also war es wieder an ihm, die Sache zu erläutern. Wie oft hatte er das jetzt eigentlich schon erklärt? Egal.
»Die Chips stehen über das Mobilfunknetz miteinander in Verbindung«, sagte er so geduldig, wie er konnte. »Und Mobilfunk findet in einem Frequenzbereich statt, dessen Wellen auch noch durch kleinste Öffnungen in abschirmenden Materialien kommen. Wenn das nicht so wäre, könnte man im Inneren von Autos nicht telefonieren. Eigentlich ist die Karosserie eines Fahrzeugs nämlich eine Abschirmung; sie hält einschlagenden Blitzen stand …«
»Faradayscher Käfig«, warf Kyle ein.
»Genau. Aber einem Mobilfunktelefon genügen die Fensteröffnungen, um Verbindung zu bekommen. Deswegen musste das Netz, das ihr dem Mann übergeworfen habt, aus Kupfer sein: weil Kupfer ein guter Leiter ist. Die Maschen mussten eng sein und vor allem musste es den ganzen Körper umschließen. Kein Spalt durfte übrig bleiben.«
»Krass«, meinte Matthew nach kurzem Nachdenken. Er wandte den Kopf, warf einen Blick auf den Mann, der immer noch reglos auf dem Bett lag.
Inzwischen kamen die letzten Häuser von Wells in Sicht. Russell lenkte den Wagen an den Straßenrand. »Die Nummernschilder«, sagte er.
Patrick sprang rasch aus dem Wagen, um die Schilder auszuwechseln, und er tat das mit einer Selbstverständlichkeit, dass Christopher nur staunen konnte. Die Leute von Hide-Out waren wirklich auf die unglaublichsten Aktionen eingerichtet!
»Alles klar«, rief Patrick, als er zurückkam. Die falschen Nummernschilder flogen in eine Ecke, und die Fahrt ging weiter.
Sie fuhren und fuhren. Die einzigen Pausen fanden statt, wenn sie tanken mussten, ansonsten lösten sich Russel, Matthew und Kyle am Steuer ab, ohne anzuhalten.
Es begann zu dämmern, was den angenehmen Effekt hatte, dass es endlich kühler wurde. Ein normales amerikanisches Auto hätte eine Klimaanlage gehabt, aber für die Fahrzeuge, die die Gruppe um Jeremiah Jones verwendete, traf das nicht zu. Es hätte sich schlecht damit vertragen, dass Jones weitestgehende technische Enthaltsamkeit predigte – er duldete Technik nur, wenn sie unbedingt nötig war. Was man unter »unbedingt« zu verstehen hatte, darüber konnten er und seine Freunde ganze Abende diskutieren, ohne dass es ihnen langweilig wurde.
Jones und seine Freunde hatten früher friedlich auf einer Farm in Maine gelebt und biologischen Landbau betrieben. Doch dann hatte man ihnen Bombenanschläge auf Rechenzentren zur Last gelegt, die in Wirklichkeit das Werk der Kohärenz gewesen waren, und sie hatten fliehen müssen: zuerst in die Wälder von Montana und Idaho, wo Christopher, Kyle und Serenity zu ihnen gestoßen waren, schließlich nach Arizona, in ein Versteck namens Hide-Out.
Hide-Out war eine Art Bunker, den eine Gruppe von Leuten sich in einem ehemaligen Silberbergwerk eingerichtet hatte, um einen Atomkrieg zu überleben. Der Atomkrieg hatte nicht stattgefunden, aber weil es ihnen gefiel, ihre eigenen Herren zu sein, lebten sie immer noch dort, von aller Welt vergessen.
Dass genau dieser Welt eine viel heimtückischere Gefahr in Form eines Mikrochips drohte, den man den Menschen nur zu implantieren brauchte, um sie ihrer Individualität zu berauben – das beunruhigte diese Männer und Frauen so sehr, dass sie sich bereitwillig an den Aktionen beteiligten, die sich Jeremiah Jones ausdachte.
Jones hoffte immer noch, der Kohärenz beizukommen. Er wollte sie besiegen, sie ausschalten, und Christopher hatte es aufgegeben, ihm begreiflich zu machen, wie aussichtslos das war. Die Kohärenz umfasste inzwischen weit über hunderttausend Mitglieder, von denen viele einflussreiche Stellen in Banken, bei der Polizei und den Geheimdiensten innehatten. Zwar gehörten selten die Spitzen dieser Organisationen dazu – es war schwierig, Vorstandsvorsitzende, Staatschefs und dergleichen gegen ihren Willen in Upgrader zu verwandeln, ohne Aufsehen zu erregen –, aber das schwächte die Kohärenz nicht. Dadurch, dass alle Upgrader in völliger Übereinstimmung handelten, aus einem geeinten und durch die Vereinigung superintelligent gewordenen Geist heraus, waren sie, war die Kohärenz als Ganzes weitaus effektiver als jede Verschwörung. Denn eine Verschwörung musste sich vor Verrätern in Acht nehmen oder vor Spitzeln in den eigenen Reihen, während so etwas bei der Kohärenz gar nicht möglich war. Die Kohärenz war ein einziger Geist in vielen Körpern. Dass ein Teil von ihr gegen den Willen des Ganzen handelte, wäre gewesen, als widersetze sich einem der kleine Finger der eigenen Hand, wenn man nach irgendetwas griff.
Es wurde dunkel. Die Fahrbahn begann, vor Christophers Augen zu verschwimmen, zerfloss zu einem dahinfließenden Strom aus Lichtern und bleichem Asphalt. Ein paar Mal nickte er ein. Irgendwann klopfte ihm jemand auf die Schulter und sagte: »Komm, Junge. Leg dich hinten hin.«
Das war eine gute Idee, fand Christopher und kletterte auf das obere der beiden Stockbetten. Es schaukelte ziemlich, einen Moment lang befürchtete er, seekrank zu werden … aber dann war er auch schon weg.
Bis ihn ein jäher Schrei aus dem Schlaf schreckte.
»Was ist los? Was ist los?«, hörte er. Und: »Wer sind Sie?«
Christopher brauchte einen Moment, ehe er begriff, dass die Stimme zu Albert Burns gehörte, der im Bett unter ihm zu sich gekommen war.
»Beruhigen Sie sich«, erklang Russells tiefer Bass. »Wer wir sind, erklären wir Ihnen später. Sie sind in Sicherheit und Sie haben nichts zu befürchten. Wir bringen Sie an einen Ort, an dem man Ihnen den Chip entfernen wird.«
»Oh«, stieß der alte Mann hervor. Er atmete eine Weile heftig, dann sagte er: »Das ist gut. Ja, das ist gut.«
Im nächsten Moment begann er zu schnarchen.
»Hmm«, machte Russell verwundert. »War’s das schon? Er wollte nicht mal wissen, wieso er in Drahtgeflecht eingewickelt und gefesselt ist.«
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Christopher. »Bei meinem Vater hat es Tage gedauert, ehe er richtig wach geworden ist.« Er hob den Arm, versuchte, auf die Armbanduhr zu sehen, aber es war zu dunkel, als dass er die Zeiger erkennen konnte. »Wie spät ist es?«, fragte er.
»Halb drei vorbei«, sagte Patrick, der am Steuer saß. »Noch gut zwanzig Meilen, dann erreichen wir Arizona.«
»Schlaf weiter, Junge«, riet Matthew. »Dauert noch, bis wir zu Hause sind.«
Christopher ließ sich zurück auf die Matratze sinken. Zu Hause. Wie das klang. Was für ein schönes Wort das war. Dann schlief er wieder ein.
4
Serenity erwachte wieder mit dem Gefühl, zu ersticken. Sie fuhr auf, hielt die Hand an das Belüftungsgitter …
Nein, alles okay. Es strömte Luft herein. Die Belüftungsanlage funktionierte. Natürlich. In Hide-Out war alles neu, alles vom Feinsten.
Aber sie war es einfach seit ihrer Kindheit gewöhnt, bei offenem Fenster zu schlafen, von Vogelgezwitscher oder Straßenlärm geweckt zu werden. Das gab es hier unter der Erde alles nicht.
Was half es? Sie würde sich dran gewöhnen müssen. Sie wälzte sich aus dem Bett, sammelte ihre Klamotten ein und machte sich auf den Weg ins Bad.
Am Eingang zum Waschraum der Frauen stolperte sie, wie fast jeden Morgen, über einen Felsbrocken, der dort aus dem roh abgeschliffenen Boden ragte. Dass man den nicht entfernt hatte! Überhaupt gab es nirgendwo so etwas wie eine gerade Wand. Sie lebten in behauenem Felsen oder in mit Beton zugekleistertem Geröll. Jede Menge Holzbalken, die die Decken stützten. Überall Stromkabel, die zu Leuchtstoffröhren führten, die Tag und Nacht leuchteten. Strom gab es genug; tief unterhalb von Hide-Out floss ein starker unterirdischer Fluss, der einen Generator antrieb. Vor rund hundert Jahren hatte man hier Silber abgebaut, es aber wieder aufgegeben, weil das Gestein ringsum zwar Silber enthielt, jedoch so fein verteilt, dass sich der Abbau nicht lohnte. Heute wirkte das Metall abschirmend und verhinderte, dass sie von Spionagesatelliten aufgespürt werden konnten.
»Guten Morgen, Serenity«, sagte eine der Frauen, die zur Stammbesatzung gehörte. »Na, gut geschlafen?«
»Ging so«, erwiderte Serenity unleidig und stellte ihren Waschbeutel auf den Rand eines der Waschbecken. Sie hatte den Namen der Frau vergessen. Josephine oder so ähnlich.
»Man braucht eine Weile, bis man sich daran gewöhnt«, sagte die Frau mit den zu kurzen Zöpfen geflochtenen Haaren. Sie massierte sich in aller Seelenruhe das Gesicht mit irgendeiner Paste. »Ging mir auch so. Das ist das Silber im Boden. Das spürt man.«
»Verstehe.« Serenity hatte keine Lust auf ein tiefer gehendes Gespräch. Nicht unmittelbar nach dem Aufstehen. Und nicht über so ein Thema. Die Hide-Out-Leute hatten eine Vorliebe für ziemlich schräge Diskussionsthemen.
»Magst du auch?« Die Frau schob ihr den tönernen Tiegel hin. »Ein selbst gemachtes Peeling. Total natürlich.«
»Danke. Lieber nicht.« Serenity musterte ihr eigenes sommersprossiges Gesicht im Spiegel. Ein Peeling? So empfindlich, wie ihre Haut war, wäre das gewesen, als behandle sie sich mit einem Stück Schleifpapier.
»Weißt du, ob Christopher und die anderen schon zurück sind?«, fragte sie.
Die Frau – Jacqueline, jetzt fiel es Serenity wieder ein – hob die Schultern. »Ich bin auch gerade erst aufgestanden.«
Serenity seufzte, nahm ihren Kamm und bearbeitete ihr vom Schlaf zerzaustes Haar, das sich wie üblich tapfer gegen alle Versuche wehrte, in eine zivilisierte Gestalt gebracht zu werden. Schrecklich. Morgens sah sie immer aus wie frisch aus dem Urwald gezerrt. Und später nicht viel besser.
Aber irgendwie machte ihr das in letzter Zeit weniger aus als früher. Vielleicht, weil sie nicht mehr an der Schule war und es keine Rolle mehr spielte, ob sie von den Jungs aus ihrer Klasse wahrgenommen wurde?
Nein. Seit sie den Verdacht hatte, dass es jemanden gab, der mehr an ihr sah als ihre äußere Erscheinung.
Eine Katzenwäsche später schlüpfte Serenity rasch in ihre Kleider und eilte anschließend hinab in die »Halle«, wie die große Höhle direkt hinter dem stählernen Zufahrtstor genannt wurde. Es war eine riesige, natürlich entstandene Kaverne. Vor Jahrmillionen, hatte ihr jemand erklärt, habe derselbe Fluss, der jetzt tief unter ihnen floss, sie aus dem Gestein gewaschen. Ein Erdrutsch weiter nördlich hatte bewirkt, dass sich das Gewässer unter die Erde verlagert hatte. Und viel, viel später hatte man hier Silber gefunden, woraufhin das Bergwerk gegraben worden war.
Was sie einem eben immer so erzählten. Jahrmillionen – das konnte sich Serenity nicht wirklich vorstellen. Jedenfalls diente die Höhle nun als Abstellplatz für alle Fahrzeuge, über die sie verfügten. Entsprechend roch es nach Abgasen, Benzin und Steinstaub.
Da – der graue Lastwagen, der Brian Dombrow, einem alten Freund ihres Vaters, gehörte, stand wieder an seinem Platz! Also waren sie zurück. Erleichtert rannte Serenity die Wendeltreppe hinauf, die in den Hauptstollen führte, wo sich die Gemeinschaftsräume befanden.
Die Küche war nicht nur der eigentliche Mittelpunkt von Hide-Out, sondern auch der am freundlichsten eingerichtete Raum des ganzen Bunkersystems. Wenn man sie betrat, konnte man im ersten Moment glauben, auf eine Terrasse zu gelangen. Das war ein Trick; der Eindruck wurde durch die versteckt angebrachte Beleuchtung erzielt, deren Licht auf wuchernde Kräuterbeete entlang der Wände fiel. Außerdem umgab eine Balustrade aus dunklem Holz die Sitzgruppen, als läge jenseits davon ein weitläufiger Garten.
Ein paar Männer und Frauen waren an den Herden beschäftigt, vermutlich schon mit Vorbereitungen für das Mittagessen. Ihre Mom stand an der Kaffeemaschine. Serenity begrüßte sie mit einem raschen Kuss, schnappte sich eine Tasse und erkundigte sich, während sie sich einen Kaffee einschenkte, wie es der Gruppe ergangen und wann sie zurückgekommen war.
»Hat das was zu bedeuten?« Ihre Mutter musterte Serenity skeptisch. »Wieso fragst du nicht, wann dein Bruder und die anderen zurückgekommen sind?«
Serenity stutzte. »Wieso? Hab ich doch gefragt?«
»Nein. Du hast gefragt, wann Christopher und die anderen zurückgekommen sind.«
Ups. Serenity hatte das Gefühl, rot anzulaufen. Hastig nahm sie einen Schluck Kaffee, hustete dann übertrieben und stöhnte: »Brr! Ist der bitter ohne Milch.«
Ihre Mutter ließ sich nicht ablenken. Serenity kannte diesen Blick.
Sie räusperte sich. »Meinte ich ja. Also, wann sind sie angekommen?«
»Heute Morgen um halb sechs. Hat dein Vater jedenfalls erzählt; ich war um die Zeit noch nicht auf«, sagte Mom. Sie wirkte auf einmal müde. »Es hat wohl alles geklappt. Sie haben diesen Mann mitgebracht und Dr. Connery und Barbara operieren ihn gerade.«
Serenity musste einen Moment überlegen, ehe ihr wieder einfiel, von welcher Frau ihre Mutter sprach. Barbara Fowler hatte all die Jahre als Ärztin der Hide-Out-Leute fungiert – bloß war sie gar keine Medizinerin; sie hatte sich alles, was sie wusste, selber beigebracht.
Serenity nippte weiter an ihrem Kaffee. »Gibt es immer noch keine Milch?«, fragte sie.
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Gestern gab es den ganzen Tag über keine blinde Zeit. Ich glaube aber, heute fährt jemand raus.«
Die Tür ging auf. Es war Christopher, noch ziemlich verschlafen.
»Morgen«, nuschelte er und schnitt seltsame Grimassen, als müsse er verhindern, dass seine Augenlider von selber wieder zufielen. Als er Serenity erblickte, meinte sie, einen Moment lang so etwas wie ein Leuchten über sein Gesicht huschen zu sehen.
Sie hob ihren Kaffeebecher an den Mund, wie um sich dahinter zu verstecken. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Vielleicht am besten gar nichts.
»Morgen, Christopher«, dröhnte einer der Hide-Out-Leute vom Herd herüber. »Ich hätte gedacht, ihr schlaft alle noch, nach dieser Mammutfahrt!«
»Ich hab unterwegs geschlafen, hab’s nicht mehr ausgehalten im Bett.« Er rieb sich den Nacken, warf einen Blick an die Decke. »Ich schlaf überhaupt schlecht hier.«
»Das ist das Silber«, platzte Serenity heraus. »Man muss sich erst daran gewöhnen.«
Er sah sie mit großen Augen an und schien über ihre Worte nachzudenken, auf seine eigenartige Weise, die sie nie verstehen würde. Wahrscheinlich würde er zu dem Schluss kommen, dass das alles Blödsinn war. Dass die weitverbreitete Schlaflosigkeit ganz andere, viel einfachere Ursachen hatte – die Belüftung oder so etwas. Serenity ärgerte sich, dass sie nicht die Klappe halten konnte.
»Willst du einen Kaffee?« Ihre Mom hielt Christopher eine leere Tasse hin.
Der schüttelte sich. »Nein, danke. Ich steh nicht so auf Kaffee.«
»Du siehst aber aus, als könntest du einen vertragen.«
Christopher sah zu Boden. »Ehrlich gesagt weckt allein der Geruch ungute Erinnerungen.«
Serenity wusste, was er meinte. Während der Flucht aus dem letzten Waldcamp hatte Christopher eines Abends, um wach zu bleiben, so viel Kaffee in sich hineingeschüttet, wie er nur konnte. Es war eine schrecklich lange Nacht geworden, eine seltsame lange Nacht …
Doch irgendetwas war passiert in dieser Nacht. Mit ihm. Und mit ihr auch.
Sie wusste nur noch nicht genau, was.
5
Wieder klappte die Tür. Diesmal war es Dad, der beschwingten Schrittes hereinkam, sie begrüßte und sich dann einen Kaffee zapfte. Er trank ihn schwarz, wie immer, sodass ihm das Fehlen der Milch nicht auffiel.
»Hat Christopher euch schon alles erzählt?«, fragte er und pustete über seine Tasse, mit einer Bewegung, die so charakteristisch für ihn war, dass Serenity ihn allein daran erkannt hätte. Und er wartete eine Antwort gar nicht ab. Auch das war typisch für ihn. »Erfolg auf ganzer Linie. Damit sind wir einen großen Schritt weiter. Einen richtig großen Schritt.«
»Wieso? Was ist an diesem … Albert Burns so wichtig?«, fragte Mom.
Dad winkte ab. »Um Burns selber geht es gar nicht. Der ist nur ein ganz normales Opfer der Kohärenz. Man hat ihm den Chip verpasst, weil man ihn aus irgendeinem Grund brauchte, weiter nichts. Nein, ich meine die Methode! Dass man jemanden nur in ein engmaschiges Netz aus leitendem Material einwickeln muss, um ihn aus der Kohärenz zu lösen. Das ist ein entscheidender Schritt. Vor allem, weil wir damit auch die Möglichkeit haben, auf einfache Weise festzustellen, ob jemand ein Upgrader ist oder nicht. Ein normaler Mensch wird nicht ohnmächtig, nur weil man ihn in ein Netz wickelt. Ein Upgrader dagegen unweigerlich.« Er rieb sich den kahl geschorenen Schädel. »Das hilft uns enorm weiter.«
Wieder knallte die Tür auf. Diesmal war es Dr. Connery, der zielstrebig auf den Kaffeeautomaten zustrebte. Er wirkte erschöpft und hatte rötliche Striemen über den Ohren, die von den Haltebändern der Chirurgenmaske stammten.
»Lief gut«, stieß er hervor, während er sich Kaffee einschenkte. »Lief vor allem besser als bei James damals. Viel besser.«
James Kidd war Christophers Vater; der erste Mensch, den sie aus der Kohärenz befreit hatten. Das war eine aufwendige Aktion gewesen, ein Abenteuer auf Leben und Tod.
Dr. Connery nahm einen tiefen Schluck, ohne Zucker, ohne alles, wischte sich dann den Bart rings um den Mund trocken. »Wenn man Instrumente für mikroinvasive Eingriffe zur Verfügung hätte …« Er sah Dad an. »Ich meine fast, man könnte diese Injektoren, die die Kohärenz verwendet, dazu umbauen, die Chips auch wieder zu entfernen. Damit wäre das eine Sache von Minuten. Blutstillendes Spray hinterher, und fertig. Okay, ich bin kein Ingenieur, aber so kommt es mir vor.«
»Ich spreche mal mit den Hide-Out-Leuten«, erwiderte Dad. »Die sind ja große Bastler; vielleicht fällt denen was dazu ein.«
Serenity lief ein Schauer über den Rücken, als sie an die Injektoren dachte, die sie erbeutet hatten. Die Geräte sahen aus wie vergoldete Pistolen, nur dass sie einen sehr langen, sehr dünnen Lauf besaßen. Man schob sie dem Opfer in die Nase, um den Chip in die Nähe des Riechnervs zu implantieren. Dazu war nötig, die Knochenwand zwischen Nasenhöhle und Gehirn zu durchbrechen oder zumindest zu perforieren … und weiter wollte Serenity nicht darüber nachdenken.
»Barbara war übrigens grandios.« Dr. Connery hob die Kaffeetasse, als wolle er mit jemandem anstoßen. »Hut ab. Die kann echt alles. Kaum zu glauben, dass sie all das nur aus Büchern gelernt haben will. Jedenfalls mach ich mir keine Sorgen mehr, was passiert, falls mein Blinddarm mal rausmuss.« Er leerte die Tasse vollends. »Ich hab ihr die Wache überlassen, bis Burns aus der Narkose aufwacht.«
»Wann wird das sein?«, wollte Dad wissen. »Wie schätzt du das überhaupt ein? Wann können wir mit ihm sprechen?«
Dr. Connery sah auf die Uhr. »Schwer zu sagen. Die Narkose endet zwischen zwei und drei Uhr, aber wann er zu sich kommen wird … Du weißt, wie das mit James war. Das kann Tage dauern.«
»Ähm, Dr. Connery«, sagte da Christopher plötzlich, die Arme um den Leib geschlungen. »Wenn die OP so gut verlaufen ist … könnten Sie dann vielleicht meine Chips auch entfernen?«
Dr. Connery sah ihn mit großen Augen an. »Deine Chips? Wozu? Ich meine, du hast sie doch wieder vollständig unter Kontrolle, oder? Und keine Beschwerden? Körperlich, meine ich.«
»Ich halte das für keine gute Idee«, schob Dad sofort nach. »Du kannst jetzt dank des zweiten Chips und des Virus im ersten ins Feld der Kohärenz gehen, ohne dass sie dich bemerkt. Das könnte noch einmal ein entscheidender Faktor werden!«
»Aber die Kohärenz wird nicht aufgeben, mich zu kriegen«, sagte Christopher. »Und wir können nicht wissen, was ihr als Nächstes einfällt. Wir können es einfach nicht wissen.«
Serenity beobachtete ihren Vater und hielt den Atem an. Ihr Dad war ein vorwiegend friedliebender, diskussionsbereiter Mann. Aber es gab auch einen Jeremiah Jones, den die meisten nicht kannten. Serenity hatte ihn in Momenten erlebt, in denen er vor Wut brannte, vor Zorn fast explodierte, in denen er keine andere Meinung gelten ließ als seine eigene.
Eine Erinnerung war besonders stark. Sie war mit ihren Eltern im Wald unterwegs gewesen, hatte ihre Schuhe ausgezogen und war durch einen Bach gewatet, wie sie es als Kind oft und gern getan hatte. Plötzlich ein Schmerz, Blutspuren im Wasser: Sie hatte sich die Fußsohle an einer Glasscherbe aufgeschnitten, die, wie sich herausstellte, von einem Haufen Müll stammte, den jemand achtlos in den Wald gekippt hatte. Dad war rot angelaufen, hatte einen dicken Ast gepackt und am nächsten Baum zerschmettert, ihn mit einem wuchtigen Schlag buchstäblich in Fetzen geschlagen und gebrüllt: »Manchen Leuten müsste man es mit dem Baseballschläger erklären!«
Und in letzter Zeit – seit dieser Kampf gegen die Kohärenz, dieser so aussichtslos scheinende Krieg gegen eine Übermacht, immer schärfer wurde – entdeckte sie an ihrem Vater wieder Anflüge dieses unnachsichtigen Zorns. In manchen Momenten merkte sie, dass seine Bereitschaft, sich auf Kompromisse einzulassen, nachließ.
Es war nur ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, dann war er wieder der Jeremiah Jones, den die meisten kannten: wortgewandt argumentierend, seinen Standpunkt mit Humor und Hartnäckigkeit vertretend, aber um Ausgleich bemüht.
»Ich kann verstehen, dass du die Chips loswerden willst«, sagte er zu Christopher. »Ich an deiner Stelle würde mir wohl auch nichts sehnlicher wünschen. Aber du bist nun einmal immer noch unsere größte Hoffnung in diesem Kampf. Niemand sonst könnte mit diesen Chips so umgehen wie du, der beste Hacker der Welt. Wir haben nicht so viele Chancen gegen die Kohärenz. Wir können es uns nicht leisten, auf eine davon zu verzichten.«
»Vor drei Wochen hat nicht viel gefehlt und ich hätte mich von einer Chance in eine Gefahr verwandelt«, sagte Christopher düster.
»Aber es ist nicht so gekommen. Du warst stark genug. Du warst mutig genug. Und letzten Endes – auch das sollte man nicht gering schätzen – war das Schicksal auf deiner Seite. Wärst du nicht gewesen«, sagte Dad und legte seinen Arm um Serenitys Schulter, »wären meine Tochter und mein Sohn der Kohärenz zum Opfer gefallen. Niemand anders als du hätte sie retten können.«
Christopher sah Dad an, dann sah er Serenity an. Der Blick seiner Augen wurde weich. »Okay«, meinte er schließlich mit einer Stimme, in deren Klang sich Resignation und Stolz mischten.
6
Als Christopher am Sonntagmorgen aufwachte, fühlte er sich bleischwer. Das Abenteuer in Wells steckte ihm immer noch in den Knochen.
Es war dunkel. Allerdings war es hier immer dunkel, egal, wann man aufwachte. Er hörte die gleichmäßigen Atemzüge seines Vaters, der in dem Bett an der gegenüberliegenden Wand schlief. Die Stollenanlage des Hide-Out war riesig, klar, aber die Anzahl der bewohnbaren Räume darin war begrenzt. Das meiste waren Gänge. Tief unten gab es Stollen, in denen Stockbetten standen, Hunderte davon – »für den Notfall«, hatte jemand erklärt. Man hatte sich seinerzeit vorgestellt, Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, wenn der Dritte Weltkrieg ausbrach.
Dass ein Weltkrieg auch ganz anders aussehen konnte – das hatte man damals nicht ahnen können. Doch nichts anderes war es, was die Kohärenz tat: Sie führte einen heimlichen Krieg mit dem Ziel, die Welt zu erobern.
Und sie würde es schaffen. Nur ein Wunder konnte das noch verhindern.
Christopher seufzte leise. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Er hatte von früher geträumt. Von der Zeit, als sie in Frankfurt gewohnt und seine Großeltern noch gelebt hatten. In dem Traum hatte er im Atelier seiner Großmutter gesessen, eine Tasse Kakao in der Hand, und ihr beim Malen zugesehen. Sie hatte an einem riesigen Bild gearbeitet, einem hässlichen Gemälde, das aus nichts anderem als einem schier endlosen Gittermuster zu bestehen schien. »Na?«, hatte sie gefragt. »Fällt dir nichts auf?« Und da hatte Christopher entdeckt, dass sie auf jeden Kreuzungspunkt des Gitters ein Gehirn malte!
Davon war er aufgewacht. Und sein Herz raste immer noch.
Er stieß die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte.
Hatte er seinen Vater geweckt? Oder hatte der schon wach gelegen? Auf jeden Fall hörte er, wie Dad sich aufrichtete, dann ging die Leselampe über seinem Bett an. »Christopher? Bist du wach?«
»Ja.«
»Mir geht das nicht aus den Kopf«, sagte sein Dad. »Es ist doch gut gelaufen, wie ihr den Mann aus der Kohärenz geholt habt, oder?«
»Hat jedenfalls geklappt.« Die Frage war, ob es ein zweites Mal funktionieren würde. In den Sekunden, die es gedauert hatte, das Abschirmnetz vollends zu schließen, war Burns ja noch Teil der Kohärenz gewesen. Damit hatte die mitgekriegt, was passiert war. Sie war bestimmt schon dabei, sich Gegenmaßnahmen auszudenken.
»Meinst du nicht, man könnte deine Mutter auf die gleiche Weise rausholen?«
Christopher schloss für einen Moment die Augen. Diese Frage hatte ja kommen müssen. Wobei es ihn irgendwo auch beruhigte, dass Dad sie stellte. Seit sie ihn von dem Chip befreit hatten, hatte man den Eindruck kriegen können, dass er sich kaum an seine Frau erinnerte.
Doch das tat er offensichtlich noch. Ja, es lag so viel Schmerz, so viel Sehnsucht in seiner Stimme, dass es Christopher schwerfiel zu antworten.
Zumal er selber schon Dutzende derartiger Pläne entwickelt und wieder verworfen hatte.
»Dad«, sagte er. »Wie soll das gehen?«
»Na, genauso. Netz drüber, abtransportieren, raus mit dem verdammten Chip.«
»Aber Mom ist in London.«
»Ja. Bei der Silverstone Bank.«
»Also. Und London liegt zehntausend Kilometer weit weg.« Es war ein gutes Zeichen, dass ihm solche Details wieder einfielen. Bisher hatte er nur gewusst, dass sie bei einer Bank in der Londoner City arbeitete. »Wir können dort nicht mal hin. Die hätten uns, ehe wir im Flugzeug säßen.«
Sein Dad schwieg. Irgendwie war das schlimmer, als wenn er Gegenargumente gebracht hätte. »Ich vermisse sie, weißt du«, sagte er schließlich irgendwann.
Christopher spürte einen Kloß im Hals. Ich auch, dachte er. Ich auch.
»Vielleicht können wir sie irgendwie herlocken?«, schlug sein Vater vor. »In die Staaten zumindest?«
»Glaube ich kaum. Die Kohärenz wird nicht vergessen haben, dass sie dich auf diese Weise verloren hat. Sie lässt Mom garantiert nicht in unsere Nähe.«
»Wir müssten es eben so aussehen lassen, als sei es ganz anders als damals im Silicon Valley.«
»Dad – wenn wir ›Sie-weiß-dass-ich-weiß-dass-sie-weiß‹ mit der Kohärenz spielen, verlieren wir. Keine Chance. Auf dem Gebiet ist sie nicht zu schlagen.«
Dad starrte einen Moment lang ins Leere. »Ja. Stimmt. Ich erinnere mich. Das war immer ein endloses Einerseits, Andererseits, Hin-und-Her … Ich frage mich jetzt oft, wie da überhaupt je ein Entschluss zustande gekommen ist.«
Christopher schauderte. Es war nach wie vor gespenstisch, daran zu denken, dass sein Vater bis vor Kurzem selber Teil der Kohärenz gewesen war – und zwar ein richtiger Teil davon. Anders als Christopher, der während seiner Zeit in der Kohärenz insgeheim seine geistige Eigenständigkeit hatte bewahren können, hatte Dads Gehirn im Gleichtakt mit allen anderen gearbeitet.
Dann fiel ihm sein Traum wieder ein. Das Bild seiner Großmutter. Träume sind Schäume, sagte man. Garbage-Collection des Gehirns. Nächtliche Maintenance-Routinen.
Aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass ihm dieser Traum irgendetwas sagen wollte.
Er kam nur um alles in der Welt nicht darauf, was.
7
Den Samstag hatte Serenity vergessen können. Christopher war in einer Besprechung nach der anderen gewesen, über die Aktion in Nevada, was daraus zu lernen war, was man beim nächsten Mal besser machen konnte – endlos. Und wenn er sich nicht gerade mit Jeremiah und den anderen zusammengehockt hatte, war Serenity in der Küche eingeteilt gewesen. Keine Chance, auch nur drei Worte mit ihm zu wechseln.
Diese ewigen Dienste – das war noch so etwas, das begann, ihr auf den Geist zu gehen. Verglichen mit den Waldcamps war das Leben in Hide-Out richtig anstrengend. Dauernd gab es was zu tun, jeder musste ran, immer war es eilig.
In den Wäldern hatte sie auch arbeiten müssen. Aber dort waren frische Luft, Sonnenschein und Bäume um sie herum gewesen. Hier umgab sie Felsgestein und Neonlicht: Irgendwie machte das alles mühseliger.
Und sie kam nie raus. Nicht mal auf eine der Einkaufsfahrten. Ein paar Stunden über verlassene Straßen, um in irgendeinem Supermarkt Milch und Obst einzuladen: Zu riskant, fand Dad. Die Polizei suchte Serenity als vermisst. Sie könne ja in der blinden Zeit spazieren gehen, hatte Mom vorgeschlagen.
Super – durch Geröll und Staub stapfen, nur um mal ein paar Sonnenstrahlen abzukriegen!
Auch am Sonntagmorgen klappte es nicht, Christopher allein zu treffen. Als Serenity zum Frühstück kam, war noch fast niemand auf. Sie sah Dad an einem Tisch im Hintergrund, wo er sich mit John Two Eagles besprach. Die beiden sahen nicht so aus, als sei ihnen Gesellschaft willkommen. Und dann noch ein paar Hide-Out-Leute, die ihr Müsli mit Keimlingen mampften.
Serenity holte sich einen Kaffee. Während sie unentschlossen das Büffet studierte, hörte sie plötzlich Stimmen von der Tür her: Ihre Mutter kam herein, vertieft in ein Gespräch mit Barbara Fowler – und Christopher direkt hinter ihnen! Doch sie hatten wieder keine Gelegenheit, miteinander zu reden, denn die pummelige Ärztin ging an Dads Tisch und verkündete mit sanfter Stimme: »Mr Burns ist aufgewacht. Und er ist ansprechbar.«
Dad stand auf. »Schon? Das ist ja großartig.« Er blickte sich um und entdeckte Serenity und Christopher. »Ihr beiden kommt mit«, rief er. »Ich will sehen, ob er euch wiedererkennt.«
Serenity zuckte zusammen. Musste das sein? Sie schaute Hilfe suchend zu Christopher hinüber, aber der hob nur ergeben die Schultern.
Es war das erste Mal, dass Serenity die Krankenstation von Hide-Out betrat. In dem kleinen Raum mit zwei Betten stank es derart nach Chemikalien, dass man das Gefühl hatte, die Nasenschleimhäute stürben einem ab. »Dr. Connery hat eine Flasche Desinfektionsmittel umgeworfen«, erklärte Barbara Fowler grinsend.
In einem der Betten lag der Mann, den Serenity – vor hundert Jahren, wie es ihr vorkam – k. o. geschlagen hatte. Sie machte sich unwillkürlich klein. Okay, er hatte damals eine Pistole in der Hand gehabt und sie bedroht, und was sie getan hatte, war Notwehr gewesen … trotzdem.
»Albert Burns?«, fragte Dad und trat neben das Bett, in dem der Mann lag, angeschlossen an allerlei Schläuche und mit einem weißen Verband über der Nase. »Guten Tag. Mein Name ist Jeremiah Jones. Sagt Ihnen das etwas?«
Burns musterte Dad, dann nickte er matt. »Sie sind dieser Zurück-zur-Natur-Typ, nicht wahr? Eines Tages kam in den Nachrichten, Sie hätten irgendwelche Gebäude in die Luft gesprengt. Und dann war ich … war ich …« Er hob hilflos die Hand. »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll.«
»Leute sind gekommen und haben Ihnen einen Chip eingepflanzt.«
Burns nickte schwach. »Mit so einem goldenen … Ding. Und danach war ich irgendwie … nicht mehr ich selber.«
»Sondern?«
Der Mann schien nach Worten zu suchen. »Also, wenn Sie mir sagen würden, dass ich tot war und dass Sie mich wieder aufgeweckt haben, ich würd’s fast glauben«, sagte er schließlich. »Ich hab die ganze Welt gesehen, alles gleichzeitig, durch Tausende von Augen. Und es war nicht so verwirrend, wie sich das anhört. Bloß war ich gar nicht ich, falls Sie verstehen, was ich meine. Ich war jemand anders. Ich war … Es klingt blöd, aber wenn ich zurückdenke, kommt es mir vor, als sei alles ein Traum gewesen. Ein Traum, dass ich die Welt beherrsche.« Burns atmete schwer. »Ja. Genau. Und ich hab Sie gesucht, Jones. Sie und …« Sein Blick blieb auf Christopher haften. »Und ihn. Ihn vor allem.«
»Warum ihn?«, fragte Dad rasch.
»Weil er gefährlich ist. Ich muss ihn zurückbekommen … oder ihn töten.« Er schloss die Augen, keuchte. »Entschuldigung. Das sind nicht meine Gedanken. Das sind nur Erinnerungen an Gedanken, die ich gedacht habe, weil ich sie denken musste. Ich war … ich war irgendwie Teil eines riesigen Geistes, der nichts von mir selbst übrig gelassen hat.«
Serenity musterte Christopher, der dem Mann im Bett scheinbar unbeeindruckt zugehört hatte. Am Anfang, als sie ihn noch nicht so gut gekannt hatte, hatte sie diese Reglosigkeit völlig irritiert. Inzwischen wusste sie, dass er sich damit schützte. Das war seine Art und Weise, Bedrohungen nicht an sich herankommen zu lassen.
»Mr Burns«, sagte Dad eindringlich, »man hat Ihnen einen Chip eingepflanzt. Dieser Chip hat Ihr Gehirn mit einer virtuellen Wesenheit aus etwa hunderttausend anderen Gehirnen verbunden. Wir nennen diese Wesenheit die Kohärenz. Können Sie mit diesem Begriff etwas anfangen?«
»Ja«, stieß Burns hervor. »Ich weiß, so nennt ihr uns. Mich. Der Name ist nicht ganz falsch – Kohärenz, ja. Gehirne im Gleichtakt. Die größte Macht der Welt. Die Zukunft der Menschheit.«
»Können Sie uns sagen, aus welchem Grund man Sie in die Kohärenz geholt hat?«
Albert Burns zögerte. »Es ging um diese Grundstücke«, murmelte er undeutlich. »Für die Mobilfunkantennen. Ich war im Gemeinderat, man hat auf mich gehört. Zwei Firmen wollten die Grundstücke, eine hat mehr geboten, aber wir wollten den Vertrag mit der anderen machen … Eines Abends sind drei Männer gekommen, drei Männer mit einem Injektor und einem Chip …« Seine Stimme versandete.
Die Ärztin trat auf die andere Seite des Bettes, fühlte den Puls des Mannes. »Ganz ruhig, Mr Burns«, sagte sie. »Sie sind den Chip jetzt los, das wissen Sie?«
»Ja«, sagte er, lächelte schief. »Es ist schön, noch mal ein paar Monate lang allein im eigenen Kopf zu sein …«
Noch mal ein paar Monate lang? Serenity hatte das Gefühl, dass ihr sich bei diesen Worten die Nackenhaare aufstellten. Ihrem Vater schien es genauso zu gehen. »Was meinen Sie mit ›ein paar Monate‹, Mr Burns?«
Burns fuhr sich flüchtig über die Stirn. »Ich hab so viel vergessen … lauter lose Enden im Kopf, furchtbar …« Er seufzte. »Die Kohärenz, wie Sie sie nennen, wird expandieren. Sie wird die ganze Menschheit aufnehmen. Eine Welt, ein Geist – das ist das Ziel. Und das wird schnell gehen. Unglaublich schnell. Monate, das ist fast schon optimistisch gedacht.«
Serenity war, als sei es auf einen Schlag ein paar Grad kälter im Raum geworden.
Dad räusperte sich vernehmlich. »Wir wissen, was die Kohärenz vorhat. Aber ich versichere Ihnen, dass in dieser Hinsicht das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.«
Mr Burns sah ihn traurig an. »Ich fürchte, dagegen können Sie nichts machen.«
»Oh, ich glaube schon.« Dad lächelte zuversichtlich. »Uns ist nämlich aufgefallen, dass die Kohärenz enorm viel Wert darauf legt, im Verborgenen zu wirken. An dieser Stelle werden wir sie treffen. In wenigen Wochen – am ersten Juli, um genau zu sein – wird in über fünfhundert verschiedenen unabhängigen Zeitschriften, Zeitungen und anderen Medien ein Artikel erscheinen, der die Kohärenz öffentlich machen wird. Dieser Artikel wird die Namen von Firmen nennen, die unseres Wissens nach der Kohärenz gehören. Er wird die finanziellen Machenschaften der Kohärenz aufdecken. Und er wird genau erklären, wie man Upgrader – also Menschen, die den Chip tragen – identifizieren kann. Bislang brauchte man dazu eine Röntgentomografie, doch nun wissen wir, dass es auch viel einfacher geht: mit einem simplen Kupferdrahtnetz. Fast zweihundert Radiostationen werden gleichzeitig auf diesen Artikel hinweisen, den wir zudem über eine weltweite Mail-Kampagne an jeden Besitzer eines E-Mail-Accounts schicken. Was immer danach geschieht, die Kohärenz wird nicht mehr im Geheimen operieren können.«
Serenity fühlte ihr Herz schlagen, spürte regelrecht, wie der Optimismus ihres Vaters auf sie übersprang. Ja, es war noch nicht alles verloren. So groß die Gefahr auch sein mochte, sie hatten noch eine Chance. Und sie würden sie nutzen, oh ja!
Sie suchte Christophers Blick. Wenn er doch diese Zuversicht teilen könnte! Er konnte es nicht, sie sah es ihm an. Er kämpfte gegen die Kohärenz, aber er rechnete nicht damit, am Ende zu gewinnen. Er sah keine Zukunft, sah nur ein schwarzes Morgen. Im tiefsten Grunde war er verzweifelt.
Sie hätte ihm diese Verzweiflung so gerne genommen. Wenn sie nur gewusst hätte, wie.
Ein trockenes Husten ließ sie herumfahren. Es kam von Burns. Er schüttelte den Kopf. »Das weiß die Kohärenz längst«, stieß er hervor. »Sie weiß, was Sie vorhaben. Vergessen Sie’s. Es laufen schon Gegenmaßnahmen.«
Mobilmachung
8
Diese Behauptung war ein regelrechter Schock für Jeremiah. Lilian Jones konnte es spüren. Die anderen merkten vermutlich nichts davon – ihr Exmann war ein Meister darin, seine Unsicherheit zu überspielen. Aber ihr machte er nichts vor, dazu kannte sie ihn zu lange. Auch die Jahre, die sie getrennt gelebt hatten, hatten nichts daran geändert.
Lilian wusste, dass Jeremiah all seine Hoffnungen in dieses Projekt setzte. Die Kohärenz ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, das war für ihn die einzige Chance, die ihnen noch blieb. Er hatte alles getan, um die Vorbereitungen für diesen Schlag geheim zu halten … und nun sollte die Gegenseite schon Bescheid wissen? Woher? Wie war das möglich?
Und vor allem: Was wollte die Kohärenz dagegen unternehmen?
»Wir müssen das nachprüfen«, sagte Jeremiah, als sie die Krankenstation wieder verließen. »Wann beginnt die nächste blinde Zeit?«
Die Frage war an niemand Bestimmtes gerichtet und er schien auch nicht mit einer Antwort zu rechnen. Stattdessen stürmte er allen voran in Richtung Küche, wo einer der Bildschirme stand, an denen man diese Zeiten ablesen konnte.
»Von 10:22 bis 10:49«, stellte Jeremiah fest. »Das ist kurz. Und dann erst wieder morgen früh. Hmm, das heißt, jetzt muss alles schnell gehen.« Er hob den Kopf. »Wir brauchen zum Glück nur für eine Übernachtung zu packen. Wer könnte mich begleiten? Rus vielleicht, Finn –«
Lilian begriff, was er vorhatte. »Willst du etwa selber gehen?«
»Natürlich«, erwiderte er. »Die Leute in den Redaktionen haben bisher immer mit mir gesprochen. Da kann ich jetzt in der Krise nicht andere vorschicken.«
Da war er wieder, der unbeugsame Ritter für das Gute und Wahre. Der Mann, der niemals Kompromisse machte, auch nicht für seine eigene Familie. Auf einmal fiel Lilian wieder ein, warum sie es damals nicht mehr mit Jeremiah Jones ausgehalten hatte.
»Entschuldigen Sie«, sagte in diesem Augenblick eine jugendliche Stimme hinter ihr. »Aber das ist keine gute Idee.« Es war Christopher, der sich einmischte. »Sie sollten da nicht rausgehen. Nicht jetzt.«
Jeremiah musterte den Jungen. Wahrscheinlich, überlegte Lilian, war sie die Einzige, die merkte, wie er seine Wut über diese Einmischung unterdrücken musste.
»Ah ja?«, erwiderte er. »Was bringt dich zu dieser Einschätzung?«
»Der Kohärenz ist klar, dass Mr Burns sein Wissen verraten kann. Und sie wird genau mit dieser Reaktion von Ihnen rechnen.«
Jeremiah furchte die Augenbrauen. »Mag sein, aber was hilft ihr das? Sie weiß ja nicht, wo wir sind. Wo ich bin.«
»Sie wird die Fahndung über das FBI und die Polizei intensivieren.«
»Ich wüsste nicht, was man da noch intensivieren könnte.«
»Ich schon«, sagte Christopher.
Lilian hätte beinahe aufgelacht, als sie sah, wie sprachlos Jeremiah diese Antwort machte. Sie konnte sich nur an wenige solcher Momente erinnern. Überhaupt wusste sie immer noch nicht, was sie von dem schmächtigen, dunkelhaarigen Jungen halten sollte. Er galt als bester Computerhacker der Welt. ComputerKid nannte man ihn. Aber wenn man ihn so ansah, fiel es einem schwer zu glauben, dass es diese unscheinbare Gestalt gewesen sein sollte, die im Alter von dreizehn Jahren die Welt in die schwerste Finanzkrise aller Zeiten gestürzt hatte, einfach dadurch, dass er das Bankensystem gehackt und jedem Besitzer eines Bankkontos eine Milliarde Dollar aus dem Nichts überwiesen hatte. Bis auf ein paar Fachleute wusste bis heute niemand, wie er das gemacht hatte, und diese Fachleute schwiegen wohlweislich.
Dann fiel ihr Blick auf ihre Tochter, und das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Wie Serenity ihn ansah – kein Zweifel, sie war dabei, sich in diesen mageren Jungen zu verlieben. Man konnte zusehen, wie es geschah. Nur – warum? Was zum Teufel fand sie an einem Computerfreak, für den die Bezeichnung »schräger Vogel« noch geschmeichelt war?
Jeremiah hatte sich erholt. »Und was schlägst du stattdessen vor?«, fragte er Christopher grimmig.
»Dass jemand anders geht.«
»Was macht das für einen Unterschied? Nach den meisten Leuten, die infrage kämen, wird ebenfalls gefahndet.«
»Ja, aber in Ihrem Fall ist es so, dass Millionen Menschen Sie kennen, von Ihren Fernsehauftritten früher, von Buchplakaten, Interviews und so weiter.«
»Ist mir klar. Deswegen habe ich mir den Rauschebart abrasiert, den ich früher hatte, und die Haare noch dazu«, erwiderte Jeremiah und strich sich über den spärlich behaarten Schädel.
»Man erkennt Leute genauso leicht an ihrer Art, sich zu bewegen. Die können Sie nicht ändern.«
Jeremiah gelang ein spöttisches Lächeln. »Ich weiß deine Fürsorge zu würdigen, aber ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen. Ich werde schon auf mich aufpassen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich mich durchs Land bewege.«
»Das kann man nicht vergleichen«, beharrte Christopher. Lilian hatte den Eindruck, dass der Junge gar nicht merkte, wie er Jeremiah damit auf die Palme trieb. »Wie gesagt, die Kohärenz rechnet mit so einer Reaktion. Sie wird Telefone überwachen, Anrufe zurückverfolgen … Und anders als früher gibt es kein Camp mehr, das alle paar Tage weiterzieht. Wenn die Kohärenz Sie jetzt erwischt, wird sie Ihnen einen Chip verpassen und dann alles über Hide-Out wissen, was Sie wissen. Und dann?«
Einen Moment lang zögerte Jeremiah. Einen winzigen Moment lang, den wahrscheinlich außer Lilian niemand bemerkte. Dann schüttelte er den Kopf. »Es muss sein. Ich muss mit den Leuten reden, den Klang ihrer Stimmen hören, und sei es nur am Telefon. Ich brauche ein Gefühl dafür, was da draußen vor sich geht. Ich kann niemand anders schicken. Wir werden eben aufpassen.« Er klatschte in die Hände. »Ende der Diskussion, Zeit zu packen.«
9
10:37. Serenity schaute dem Geländewagen nach, wie er sich entfernte, kaum noch auszumachen war zwischen Felsen und trockenen Büschen. Ein letztes Aufblitzen einer Scheibe oder eines Rückspiegels im grellen Sonnenlicht, wie ein Zuzwinkern, dann war er verschwunden.
Das also würde das Letzte sein, was sie von ihrem Vater gesehen hatte, falls ihm tatsächlich etwas zustoßen sollte. Es war wie ein brennender Schmerz, das zu denken, aber gleichzeitig kam es Serenity vor, als könne sie das Schicksal damit beschwören. Als würde Dad heil zurückkehren, wenn sie nur diesen Schmerz bis dahin in sich festhielt und erduldete.
»Es ist ein unnötiges Risiko«, sagte Christopher leise neben ihr. »Ich glaube nicht, dass sie irgendwas rausfinden.«
»Warum nicht?«, fragte Serenity.
Jetzt drehte das Bürstenauto um, das Dad und die anderen begleitet hatte. Mit gesenkten Drahtbürsten kam es zurück, schleppte eine dichte hellbraune Staubwolke hinter sich her, die alle Spuren zudecken würde.
»Wenn die Kohärenz schon Gegenmaßnahmen eingeleitet hat, werden das Maßnahmen sein, gegen die wir nicht das Geringste machen können«, sagte Christopher.
Sie musterte ihn von der Seite. Da war sie wieder, diese Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit. Und dennoch hatte er nicht aufgegeben, denn wenn das so wäre, dann wäre er nicht mehr hier. Aber wie brachte er es nur fertig, diesen Kampf zu kämpfen, den er längst für verloren hielt? Irgendwie kam es ihr gerade vor, als sei das der eigentliche, der wahre Heldenmut: für eine Sache zu kämpfen, nicht weil man sich Chancen ausrechnete, sondern weil es die richtige Sache war.
Ein leiser, elektronischer Gong aus einem Lautsprecher. Die letzte Minute blinder Zeit. Der Bürstenwagen kam hereingebrettert, wirbelte so viel Staub auf, dass sich Serenity unwillkürlich das T-Shirt vor die Nase zog.
»Serenity!« Das war Mom. Sie kam zu ihnen herüber, während das Metalltor begann, sich brummend zu schließen. »Denkst du daran, dass du Küchendienst hast? Irene braucht Hilfe beim Brotbacken.«
Küchendienst. Ja, klar. Wie hätte Serenity das vergessen können? »Ich geh schon«, sagte sie missmutig.
Mom wandte sich an Christopher: »Und du sollst Matthew Ingelman helfen. Es geht um Satellitendaten. Er hat gemeint, du wüsstest Bescheid.«
Christopher nickte nur. »Okay.«
Seltsam. Als sie sich auf den Weg machten, wurde Serenity das Gefühl nicht los, dass es ihrer Mutter vor allem darum gegangen war, Christopher und sie voneinander zu trennen.
Christopher fand Matthew in dem Raum neben der großen Werkstatt, in dem zwei Computer und der Server standen, der die technischen Systeme von Hide-Out steuerte. »Gut, dass du kommst«, sagte Matthew. »Wir müssen uns beeilen.«
Dad saß schon an einem der Computer, hatte eine Datei voller Zahlen vor sich am Schirm. »Fünf neue Satelliten. Mindestens.«
Hide-Out hatte ein großes Problem: Wie konnte man verhindern, dass das Versteck von Satelliten aus entdeckt wurde? Die Umgebung des Unterschlupfs war quasi Wüste. Fahrzeuge, die sich dem Eingang näherten, wären auf den Aufnahmen von Erdbeobachtungssatelliten früher oder später unweigerlich entdeckt worden. Und wenn nicht die Fahrzeuge selbst, dann die Reifenspuren, die sie im Sand hinterließen.
Die Hide-Out-Leute hatten auch dafür eine Lösung gefunden. Auf geheimen Wegen hatten sie sich die Bahndaten sämtlicher militärischer Satelliten besorgt, anschließend hatte einer von ihnen ein Programm geschrieben, das auf die Minute genau ausrechnete, wann das Gelände rings um die ehemalige Silbermine vom Himmel aus sichtbar war. Die Perioden, in denen kein Satellit über dem Horizont stand, nannte man »blinde Zeiten« und nutzte sie, um das Bunkersystem zu verlassen oder zu betreten. Man folgte dabei einer Route, die vorwiegend über blanken Fels führte, sodass kaum Reifenspuren zurückblieben. Um auch die noch zu beseitigen, gab es das »Besenauto«, das eben die Spuren des Wagens von Jeremiah Jones verwischt hatte.
Natürlich waren diese blinden Zeiten wild verteilt. Zudem lag der nächste Supermarkt über hundert Meilen weit entfernt, und dort wollte man nicht durch ungewöhnlich große Einkäufe auffallen: Das machte die Versorgung mit frischen Nahrungsmitteln schwierig, seit sie alle hier Unterschlupf gefunden hatten.
»Aber keine Sorge, verhungern werden wir auf keinen Fall«, hatte Clive Tucker versichert. Clive war so etwas wie der Sprecher der Hide-Out-Leute: ein schriller Typ, der nur Overalls trug – vorwiegend in Farben wie Bonbonrosa oder Kotzgrün – und seinen enormen Bart zu zwei Zöpfen flocht, die er im Nacken miteinander verknotete. Er hatte ihnen die Vorratskammern gezeigt: schier endlose Stollen voller Regale, in denen sich Dosen, Säcke und Plastikboxen stapelten; haltbare Nahrungsmittel und genug davon, um notfalls mehrere Jahre ohne Kontakt mit der Außenwelt überleben zu können.
Nun gab es neue Satellitendaten. Doch derjenige, der das Programm geschrieben hatte, war inzwischen zu seinen Eltern zurückgekehrt, weil sein Vater, der eine kleine Softwarefirma führte, einen Schlaganfall erlitten hatte und vorerst nicht mehr arbeiten konnte. Deswegen waren die Hide-Out-Leute froh über Christophers Hilfe. Es genügte nämlich nicht, die Daten, die, so munkelte man, von einem Kontaktmann im Pentagon kamen, einfach nur einzuspielen. Man musste auch nachprüfen, ob das Programm überhaupt noch richtig rechnete und ob womöglich ein Satellit dazugekommen war, der die bisherigen Lücken schloss.
Genug zu tun also. Und Christopher war froh, dass er in dem ganzen Tohuwabohu, zu dem sein Leben geworden war, endlich wieder einmal das tun durfte, was er am besten konnte: Programmieren.
Das Schönste dabei war, dass Dad wieder mitmachte. Es war fast wie früher, wenn sie an den Computern saßen und sich über Unterprogrammaufrufe, Variablenbelegungen und Laufzeitprobleme unterhielten.
Wenn ein Tag wie im Flug verging.
Brotbacken war nicht das Problem. Wie man das machte, hatte Serenity schon als Kind gelernt. Damals, als sie noch mit ihren Eltern und ihrem Bruder Kyle in dem Haus am Waldrand gelebt hatte und die Welt in Ordnung gewesen war. Sie hatte noch im Ohr, was Mom über das richtige Kneten gesagt hatte: »So lange, bis du nicht mehr kannst. Und dann noch ein bisschen.«
Brot für so viele