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Aufgewachsen im Mafiamilieu kennt Tommaso Cosolino nur die lieblose, brutale und gnadenlose Art seines Vaters. Als er nach einem Schusswechsel im Sterben liegt, ergibt sich jedoch plötzlich eine neue Alternative. Ein kleines Mädchen erobert sein Herz und um sie zu retten, verlässt er sogar das Land und somit seine vermeintliche Familie. Nach der Flucht beginnt er ein neues Leben, in dem endlich Platz für einen normalen Alltag und somit auch für die Liebe ist. Doch wie lange kann dieser Frieden währen, wenn die Vergangenheit wie ein Schatten über ihm liegt? Band eins der Time to-Trilogie
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Time to change – Time to-Reihe Band 1
© 2020/ Charlene Vienne
www.facebook.com/Charlene.Vienne.Autorin/
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.
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Charlene Vienne; Bilder: pixabay.com
Bildmaterial Buchlayout
pixabay.com
Lektorat/ Korrektorat
Elke Preininger
Erschienen im Selbstverlag:
Karin Pils
Lichtensterngasse 3-21/5/9
1120 Wien
Dieser Roman wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, lektoriert und korrigiert. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer. Das Buch enthält explizit beschriebene Sexszenen und ist daher für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.
Für Elke
Aufgewachsen im Mafiamilieu kennt Tommaso Cosolino nur die lieblose, brutale und gnadenlose Art seines Vaters. Als er nach einem Schusswechsel im Sterben liegt, ergibt sich jedoch plötzlich eine neue Alternative. Ein kleines Mädchen erobert sein Herz und um sie zu retten, verlässt er sogar das Land und somit seine vermeintliche Familie.
Nach der Flucht beginnt er ein neues Leben, in dem endlich Platz für einen normalen Alltag und somit auch für die Liebe ist. Doch wie lange kann dieser Frieden währen, wenn die Vergangenheit wie ein Schatten über ihm liegt?
Band eins der Time to-Trilogie.
Sybil Miller, 1. Januar 1999, Chicago
»Was ist, wenn er deine Hilfe gar nicht will?« Ich greife seinen Hemdkragen, kralle mich in dem Flanell fest.
»Lass mich los, Mum. Ich muss es einfach tun, es ist vielleicht die letzte Chance.« Er reißt sich von mir los, verschwindet im Dunkeln, und lässt mich und meine Angst zurück.
Obwohl ich versuche, es nicht zu tun, beginne ich zu weinen, schlinge meine Arme um meinen Oberkörper, damit ich aufhöre zu zittern. Ohne Erfolg! Die Wut kommt wieder – stärker als zuvor – verdammter Junge! Warum kann er nicht endlich aus unserem Leben verschwinden? Oder besser gesagt, wieso kommt mein Sohn nicht von ihm los?
Wie eine unheilschwangere Ahnung spüre ich ihr Seufzen, noch bevor ich es höre, drehe mich zu ihr um, und meine zornigen Augen werden sanft, als ich ihr Leid erfasse, ihre Panik, die meiner gleicht und doch so anders ist. »Ich habe Angst!«, wispere ich. Ich will, dass sie versteht, und das tut sie, denn sie rückt näher und nimmt mich in ihre Arme. Zu fühlen, wie ihre Furcht ihren kleinen Körper schüttelt, ist entsetzlich. Sie ist so zart, so verletzlich, und ich verfluche mich zum tausendsten Mal, dass es mir nicht gelungen ist, sie vor ihrem Schicksal zu bewahren.
»Ich kann ihn nicht im Stich lassen«, sagt sie.
Wie von selbst bewegt sich mein Kopf hoch und runter. »Ich weiß«, antworte ich, trotzdem vibriert meine Stimme vor unterdrückter Wut. »Aber wie viele Leute müssen dafür büßen, dass er von einem Leben freikommt, das er doch sichtlich so genießt.«
Wie ein Kind starrt sie mich an. Flehend! Ihre Augen glänzen, und ihre Verzweiflung zwingt meinen Zorn in die Knie.
»Warum hasst du ihn so?«, fragt sie traurig, was mich tief seufzen lässt.
»Ich hasse ihn nicht. Ich kann nur nicht leiden, dass er dich und Chay immer wieder verletzt.«
»Du irrst dich. Er ist nicht, wie du ihn siehst. Das Leben, das er bis jetzt geführt hat, hat das aus ihm gemacht, was du kennst. Er verdient es, glücklich zu sein, so wie jeder andere auch. Früher war ich zu schwach, um ihn da rauszuholen. Jetzt endlich kann ich tun, was meine Pflicht als seine Mutter ist.«
Meine Skepsis lässt sich kaum verbergen. »Wie willst du ihn dort rausholen? Er wird ihn nicht einfach gehen lassen. Das weißt du. Du weißt, von wem wir hier reden.«
Sie nickt mit zusammengepressten Lippen. Jetzt spüre ich ihre Angst, sie ist genauso groß wie meine. Ich greife nach ihren Händen, halte sie fest, versuche, nichts zu sagen, doch es gelingt mir nicht. Bevor ich es verhindern kann, kommen die Worte aus meinem Mund. »Er wird euch jagen, und wenn er euch findet, seid ihr so gut wie tot.«
Ihr Schweigen ist lauter als jede Explosion. Tränen schimmern in ihren Augen, die flehend auf mich gerichtet sind. »Wir lieben ihn«, erklärt sie mir schließlich mit zärtlicher Stimme, dann leise, eindringlich: »Wir haben dich nicht gebeten, ihm zu helfen. Aber lass uns ihm helfen, bitte.«
Dieses Mal ist mein Seufzen deutlich hörbar. »Du verlangst einiges von mir. Du möchtest, dass ich die Sicherheit meines Sohnes riskiere, um deinen aus einem Leben zu befreien, das er womöglich gar nicht verlassen will. Das ist etwas viel, meinst du nicht?
»Würdest du für deinen Sohn nicht das Gleiche tun?«, fragt sie, und ich stimme ihr zu, und doch auch wieder nicht, denn mein Sohn ist unschuldig – ihrer nicht.
Für einen kurzen Moment wünschte Tommaso, er wäre der Typ, der an das Leben nach dem Tod glaubt. Die Sicherheit, dass danach noch etwas kommt, ihn am Ende dieser Qual irgendetwas Gutes erwartete, das ihm erlauben würde, dem Drängen seines Körpers nachzugeben und ihn sterben zu lassen. Eine bleierne Müdigkeit drückte ihn zu Boden, und die Kraft, die er aufwenden musste, um sich bei Bewusstsein zu halten, raubte ihm buchstäblich den Atem. Keine Frage, es wäre viel leichter, jetzt einfach aufzugeben. Leider war er Realist – dachte er zumindest. Legenden und Mythen ohne unerschütterliche Beweise gehörten nicht in seine Welt. Also entschloss er sich zu kämpfen – er war noch nicht bereit, zu gehen.
Ein leises Ächzen kroch über seine Lippen, bevor seine Augenlider endlich ihren Kampf gewannen und sich öffneten. Sein Kopf lag auf der Seite, und so war ihm lediglich die Aussicht auf eine schmutzige Hausmauer und ein paar weggeworfene Zigarettenstummel, die sich mit dem dreckigen Sud der Straße vollgesogen hatten, vergönnt. Vergeblich bemühte er sich, sein Gesicht in eine andere Richtung zu drehen, doch der stechende Schmerz in seiner Brust beherrschte ihn völlig, lähmte seinen restlichen Körper, raubte ihm die Kraft. Seine Augen schlossen sich erneut, aber das Dunkel hinter seinen Lidern brannte, also schlug er sie wieder auf. Ein Stöhnen war zu hören, diesmal lauter, und er stellte erstaunt fest, dass es sein eigenes war.
Nur einen Moment später erschien wie aus dem Nichts Mikes Gesicht dicht vor ihm.
»Hey, bleib wach!«
Der Versuch zu antworten misslang, doch durch die Konzentration, die Tommaso dafür aufgewendet hatte, schienen seine Nackenmuskeln mit einem Mal wieder zu funktionieren, und er schaffte es schließlich, den Kopf zu drehen. Endlich konnte er den klaren Nachthimmel über sich sehen. Ein paar wenige Farbschauer schmückten den Himmel – Nachzügler der großen Willkommensfeier für das Jahr 1999. Irgendwo krachten Böller, und er zuckte zusammen, weil er für einen Moment sicher war, das Schießen hätte wieder begonnen. Seine Lippen teilten sich und entließen ein heiseres Ächzen. Das Brennen und der Druck in seinem Brustkorb dominierten all seine Empfindungen. Da war nur Schmerz – und sein Körper, der seine letzten Kraftreserven aktivierte, um dagegen anzukämpfen.
Die Zeit verrann, nahm den Schock mit, was ihm nach und nach half, neben dem Schmerz auch die kalte, nasse Straße unter sich wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu fühlte sich das pochende Loch in seiner Brust heiß an. Das Atmen fiel ihm schwer, jeder Atemzug brannte wie Feuer in seiner Lunge und brachte doch nicht die gewohnte Erleichterung – es schien nicht genug Luft da zu sein. Wieder fielen seine Augen zu, und er ließ sich ein bisschen in die schmerzfreie Stille sinken. Es schien zu einladend, einfach einzudösen, dem ganzen Wahnsinn hier zu entfliehen. Die Geräusche rund um ihn vergingen. Das näherkommende Sirenengeheul und das aufgeregte Schreien der Leute verschwammen zu einem undeutlichen Hintergrundgeräusch. Ein leises Summen erfüllte seinen Kopf und versuchte, ihm einen neuen Weg aufzuzwingen, lockte ihn mit der Leichtigkeit der Schmerzlosigkeit. Er sank tiefer, ließ sich darauf ein.
Der Druck einer Hand an der seinen riss Tommaso brutal zurück, eine Stimme schnitt scharf in seine Stille und schaffte es schließlich, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es war Mike! Er hielt ihn fest, würde ihm helfen, das hier durchzustehen. Darauf konzentrierte er sich, kämpfte sich aus dem Dämmerschlaf, nur ein Stück – er war noch nicht so weit.
»Komm schon, bleib bei mir, Figo. Joe holt den Wagen, wir bringen dich gleich zu Doc.« Mike klang panisch, und Tommaso wünschte, er könnte ihn beruhigen. Er bemühte sich, zu nicken, doch seine Nerven schienen bereits tot, sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Es kostete ihn seine ganze Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben. Sein Leben hing buchstäblich am seidenen Faden und er kämpfte verzweifelt darum, nicht loszulassen.
Plötzlich war da das Gefühl zu schweben. Er trieb einfach davon, nur ein sanfter Druck an seiner Seite störte die Illusion der Schwerelosigkeit. Erst langsam gelang es ihm, die Empfindung zuzuordnen. Es waren Hände an ihm, und er schloss daraus, dass ihn jemand trug. Wieder bemühte er sich, die Lider zumindest einen Spalt zu öffnen. Als es ihm glückte, konnte er durch einen Schleier aus Tränen Joes Gesicht erkennen.
Weine ich etwa?, dachte er fast belustigt.
Joe schien in Panik mit jemandem zu sprechen.
Tommaso konzentrierte sich auf seine Ohren, aber außer einem dumpfen Dröhnen war da nichts. Durch das Wagenfenster sah er die Häuser in rasender Geschwindigkeit vorbeiziehen. Grell blitzte das Licht der Straßenlampen durch die dunkle Nacht herein. Er fror, begann unkontrolliert zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Irgendjemand legte seine Jacke über ihn, was ihn eine unendliche Dankbarkeit für diesen Jemand empfinden ließ.
Mike drängte sich ein weiteres Mal in sein Blickfeld. Er sprach zu ihm, aber er konnte nichts hören, beobachtete nur fasziniert die Bewegung seiner Lippen. Wieder versuchte er zu sprechen. Er wollte Mike sagen, dass er taub war, doch sein Mund blieb stumm. Verzweifelt schloss er erneut die Augen und sank zurück in die Bewusstlosigkeit.
Grelles Licht war das Nächste, was Tommaso sah. Angenehm hell, nicht wie die blendende Qual, wenn man morgens erwachte, oder nachmittags nach einer schweren Nacht. Sofort stellte er fest, dass irgendjemand anscheinend den Ton wieder angestellt hatte. Er konnte das nervöse Gemurmel rund um sich hören, und es schien von vielen Menschen zu kommen. Klar, sie hatten ihn nach Hause gebracht!
»Sie waren plötzlich da. Ich konnte nichts mehr tun. Tommaso stand einfach zu nah, er … er ging sofort zu Boden.« Anthonys Stimme überschlug sich, bevor sie brach.
»Habt ihr sie wenigstens auch erwischt?«
Tommaso erschauerte, als er erkannte, wer dies gesagt hatte – der Capo war also ebenfalls da. Natürlich!
»Zwei, in den Rücken. Der Dritte war zu schnell.«
»Ihr wollt mir erzählen, ihr habt meinen besten Mann verloren, ohne den Auftrag zu meiner Zufriedenheit erfüllt zu haben?«
Der Bass von Salvatores Gebrüll vibrierte an Tommasos Haut. Wäre es ihm möglich gewesen, er hätte gelacht. Das war typisch sein Vater – das Geschäft ging vor. Wenigstens hatte er ihn als besten Mann bezeichnet. Eine Ehre – und das wusste er plötzlich mit Sicherheit –, die er nur dem Umstand verdankte, dass er auf der Schwelle zum Tod stand.
Seine Jungs schwiegen, keiner wollte derjenige sein, der das Scheitern eingestand. Wie gerne nähme er die Schuld auf sich – nichts lieber als das–, aber sein Körper ließ es nicht zu. Die Befehle seines Hirns wurden von seinem Mund sträflich ignoriert.
»Wir werden ihn finden, Capo«, versprach Joe. »Und er wird dafür bezahlen.«
Doc sprach flüsternd mit seinem Vater, doch so verzweifelt Tommaso sich auch anstrengte, er konnte sie nicht verstehen. Mühsam bemühte er sich, den Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln, um erkennen zu können, wer an seinem Bett stand. Endlich erhaschte er einen kurzen Blick auf den weißen Kittel des Doktors. Hinter ihm unterhielt sich Anthony mit Joe.
»Mike, Doc sagt, es ist bald soweit.« Sein Vater trat näher. Mit einem eigentümlichen Ausdruck im Gesicht blickte er auf ihn hinunter. War es Ärger? Bedauern?
»Tommaso wird es nicht schaffen, ruft seine Mutter an.« Salvatores Stimme war vollkommen ruhig, er gab einfach Tatsachen weiter. Dabei suchte er Tommasos Blick, und für einen Moment sahen sie sich tief in die Augen. Salvatores Hand legte sich wie in Zeitlupe auf den Kopf seines Sohnes.
Die Berührung erschien Tommaso fast lächerlich zärtlich in Anbetracht des Umstands, dass sie von einem Mann kam, der unfähig war, Gefühle zu zeigen.
»Addio, mio caro figlio!«, sagte Salvatore traurig lächelnd und mit seltsam belegter Stimme. Danach sandte er ihm ein letztes, angedeutetes Lächeln, bevor er abdrehte und das Zimmer verließ, ohne zurückzusehen.
Was soll das? Tommasos Gedanken überschlugen sich. Warum verabschiedete er sich von ihm? Er war doch noch hier! Plötzlich wurde er wütend, er konnte förmlich spüren, wie der Ärger seine Kräfte mobilisierte. Wie kann er mich einfach aufgeben?
Mike und Anthony saßen auf Stühlen neben seinem Bett, der Doc war im Dunkel verschwunden, das den hinteren Teil des Zimmers versteckte. Seine einzige Aufgabe bestand nun darin, zu warten, bis es vorbei war, um danach Tommasos Tod zu bestätigen. Der Geruch einer Pfeife zog durch den Raum und es war zu hören, wie Mike aufgeregt in sein Handy sprach.
Müdigkeit hüllte Tommaso ein. Es gelang ihm kaum, die Augen offen zu halten. Sein Hals war komplett ausgetrocknet und er schluckte ein paar Mal schwer, versuchte, um Wasser zu bitten, doch kein Ton kam über seine Lippen. Stattdessen fielen seine Lider zu und er sank tiefer in die Stille.
Ich bin noch nicht bereit, dachte er verzweifelt, aber auf einmal wurde alles dunkel.
Das Nächste, was Tommaso spürte, war eine kühle Hand an seinem Gesicht. Sein Bewusstsein war zurück, was ihn mit unendlicher Erleichterung überschwemmte. Noch war es nicht vorbei.
Dann plötzlich ein Einstich an seinem rechten Arm. Unter größter Anstrengung schaffte er es irgendwie, die Lider zu öffnen. Sanfte braune Augen musterten ihn. »Chay!« Auch seine Stimme funktionierte wieder.
»Hey, Kleiner!« Chay lächelte, wenngleich seine Stirn in Sorgenfalten lag. »Ich wusste, dass es irgendwann soweit kommen wird. Aber Mann, so bald hatte ich nicht damit gerechnet. Konntest du nicht wenigstens deinen zweiundzwanzigsten Geburtstag abwarten?«
Chay nahm seine Hand und hielt sie fest. Es tat gut, ihn zu spüren, er wurde sofort ruhiger.
»Ich sterbe, oder?«, krächzte Tommaso.
»Der Doc kann nichts tun. Einen Transport ins Krankenhaus würdest du erst recht nicht überstehen.«
»Okay!« Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Chay beugte sich grinsend über ihn. »Gibst du so schnell auf?«
»Was soll ich tun?«
»Du nichts«, flüsterte er, sein Lächeln wurde geheimnisvoll.
Tommaso versuchte zurückzulächeln und scheiterte. »Ich bin so müde, Chay!«
»Schlaf, mein Bruder! Ich bin hier.«
Und wieder war es dunkel.
Ein stetiges Piepsen drang durch den dichten Nebel seines Unterbewusstseins. Es störte ihn in seinem Frieden – er wollte nicht aufwachen. In seinem Hals brannte ein Fremdkörper, und das Atmen fiel ihm schwer, trotzdem hatte er seltsamerweise genug Luft.
Neugierig öffnete Tommaso seine Lider. Er lag in einem verdunkelten Zimmer. Nur der blasse Schein einiger Lämpchen der Apparatur neben seinem Bett spendete ein bisschen Licht. Eine Krankenschwester machte sich daran zu schaffen. Sie schien nicht zu bemerken, dass er wach war. Er schloss für einen Moment wieder die Augen, versuchte, sich zu erinnern. Angestrengt durchforstete er seinen Kopf. Doch da war nichts außer Dunkelheit, Stille und …
Aufs Äußerste konzentriert vollzog er einen Körpercheck – die Schmerzen waren noch da, aber sehr schwach. Ein undeutlicher Abklatsch der Tortur, die hinter ihm lag. Dann ein abrupter Schock. Warum war er im Krankenhaus?
Chay, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte ihm gesagt, er würde es nicht schaffen, und doch war er noch da.
Ein leises Stöhnen erklang. Es kam aus seinem Mund, allerdings gedämpft durch den Beatmungsschlauch. Die Schwester drehte sich zu ihm um, ihre Miene war erst erstaunt, dann erleichtert, und schließlich lächelte sie. »Sie müssen absolut stillliegen«, säuselte sie, und er stöhnte innerlich auf. Na klar, als läge es in seiner Macht sich zu bewegen, nicht einmal seine Stimmbänder gehorchten ihm.
Ihr routinierter Griff an seinem Handgelenk prüfte seinen Puls, doch das Ergebnis schien sie nicht wirklich zufrieden zu stellen. »Ich werde sofort einen Arzt holen«, murmelte sie und verschwand.
Als sich die Tür einige Minuten später öffnete, war es nicht Doc, der firmeneigene Doktor, der hinter der Krankenschwester hereinkam. Ein junger Mann in weißem Kittel, mit Hornbrille und einem breiten Grinsen im Gesicht baute sich vor seinem Bett auf. »Mr. Cosolino«, begann er nach einem kurzen Räuspern.
Tommaso blinzelte erschrocken. Nicht gut – er kannte seinen Namen.
»Mein Name ist Bill Burton. Ich bin ihr zuständiger Arzt, also wenden Sie sich gerne mit allen Wünschen und Beschwerden an mich.«
Seine Augen zusammenziehend musterte Tommaso ihn verärgert. Sehr witzig, dachte er.Zum einen konnte er nicht sprechen und zum anderen hatte er dem Clown sicher nichts zu sagen.
Dr. Burton prüfte seine Vitalwerte und verabschiedete sich wieder, mit jeweils einem breiten Lächeln an ihn und die Krankenschwester. Tom drückte seinen Kopf zurück ins Kissen; die freundliche Miene des Arztes weckte in ihm das Gefühl, kotzen zu müssen. Typen wie er waren ihm in der Vergangenheit genug begegnet. Aufgewachsen in einem wohlbehüteten Zuhause, geschaffen von Eltern, deren Lebensaufgabe darin bestand, ihren prächtigen Sohn zu unterstützen und ihm alle Steine aus dem Weg zu räumen. Für einen undeutlichen Moment durchströmte ihn Neid auf das perfekte Leben des jungen Mannes, doch er war schnell vorbei und machte Platz für Wut – wie sehr er solche Typen hasste!
Er ließ die Erinnerung an seine eigene Kindheit zu, die kurzen Jahre des Glücks und das abrupte Ende, als alles zerbrach.
Sein Vater, Salvatore Abraham Cosolino, hatte aus einer Laune heraus beschlossen, dass es Zeit wurde, einen Erben in die Welt zu setzen. Also hatte er dafür gesorgt, ohne sich davor den Kopf zu zerbrechen, welche Verantwortung er damit vielleicht übernehmen müsste. Er hatte einen perfekten Nachfolger erwartet und ein kleines, hilfloses Wesen bekommen, das ihm eine Frau geboren hatte, die ihn eigentlich nicht mehr interessierte. Tommaso Salvatore Cosolino – sein Sohn, sein Prinz, seine Zukunft.
Cosolino Inc. war seit der Gründung durch Salvatores Vater zu einem riesigen Imperium angewachsen, das den Chicagoer Immobilien-Markt genauso dominierte, wie Salvatore die wichtigen Viertel der Stadt. Es gab kaum jemanden, der ihm nicht einen Gefallen schuldete, und kein anderes Unternehmen, das es gewagt hätte, ihm bei einem Geschäft in die Quere zu kommen. Taten sie es dennoch, kam es sehr gelegen, dass er als Capo vor so gut wie nichts zurückschreckte, um seine Ziele zu erreichen. Nicht umsonst war er im Kreise der Cosa Nostra aufgewachsen.
Das Leiten einer solchen Firma duldete natürlich keine Nebenjobs. Nachdem er jedoch seine Ehefrau Claire und ihren gemeinsamen Sohn aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatte, stellte er schnell fest, dass die Geburt von Tommaso eine weitaus größere Veränderung mit sich brachte, als er gedacht hatte. Seine junge Frau erholte sich schlecht von der zweitägigen anstrengenden Niederkunft und so kam es, dass er bereits zwei Wochen später genug vom Familienleben hatte. Claire war sehr schwach, aber er hatte keine Lust, zusätzliche Pfleger und Krankenschwestern in sein Haus zu holen. Ganz abgesehen davon ging ihm das Geplärre des Babys furchtbar auf die Nerven. Seine Machenschaften verlangten absolute Diskretion, und einen Haufen Pflegepersonal hier zu haben, hätte die ungestörte Ausübung seiner Geschäfte extrem gefährdet. Das galt es zu verhindern!
Also entwickelte er einen Plan, der außerdem dazu diente, der Tatsache aus dem Weg zu gehen, dass seine Ehefrau nicht gut auf seine diversen Geliebten reagierte. Daher übergab er sie, zusammen mit dem Säugling und zwei seiner verlässlichsten Mitarbeiter, in die häusliche Pflege ihrer Schwester Sybil. Gut, Claire und Sybil waren nicht blutsverwandt, lediglich gemeinsam in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Trotzdem oder vielleicht sogar deshalb standen sie sich näher, als er es je bei einer nicht sizilianischen Familie erlebt hatte. Irgendwo hatte es einmal einen weiteren Bruder gegeben, doch über ihn wurde nie gesprochen. Und Salvatore war sicher der Letzte, der dieses Thema auf den Tisch gebracht hätte.
Der Umstand, seine Frau und seinen Sohn zwar nicht in der Nähe, aber unter Kontrolle zu haben, erwies sich als absolut praktisch. Daher verzichtete er darauf, sie wieder zu sich zu holen, nachdem es Claire besser ging. Stattdessen stattete er das Haus, in dem sie jetzt wohnten, recht großzügig aus und sorgte mittels monatlicher Geldzuwendung dafür, dass es den beiden an nichts fehlte. Zur Überwachung der Verfassung seines Sohnes wurde eine ewig mies gelaunte Gouvernante eingestellt. Auch dieser Umstand hatte einen Mehrwert. Es amüsierte ihn, wie sehr sich seine junge Frau darüber echauffierte, dass ihr die Kinderfrau in die Erziehung hineinpfuschte, und außerdem war dafür gesorgt, dass jedes Wort, das in ihren vier Wänden fiel, an ihn weitergetragen wurde. Die Gouvernante blieb bis zu Tommasos drittem Geburtstag bei ihnen und aus späterer Sicht wurde Tommaso klar, für wie viele Probleme zwischen Claire und Salvatore sie wahrscheinlich verantwortlich gewesen war.
Ihr Lauschposten wurde danach neu besetzt. Zwei Männer, als Bodyguards getarnt, waren Tag und Nacht an der Seite Tommasos, also zumindest im Haus, sodass es Claire weiterhin unmöglich war, auch nur einen Schritt mit ihrem Sohn zu machen, ohne dass der Capo davon erfuhr.
Solange sich Tommaso zurückerinnern konnte, hatte Salvatore seine Tante Sybil verabscheut, wenngleich sie von ihm geduldet wurde, wohl aus Dankbarkeit, da sie ihn von der Last seiner Familie befreite. Der Grund für diese Abneigung blieb ihm lange verborgen, aber je älter er wurde, umso klarer zeichnete sich ab, dass es absolut auf Gegenseitigkeit beruhte. Seine Tante vermied es, im Haus zu sein, wenn er kam, und wechselte mit seinen Männern nur in Notfällen ein Wort. Sie sprach auch nicht über Salvatore – nicht mal mit seiner Mutter, zumindest nicht, solange er ebenfalls im Raum war.
Salvatore ließ bei seinen Besuchen deutlich erkennen, dass sein Interesse nur seinem Sohn galt. Dennoch verhielt er sich seiner Frau gegenüber höflich distanziert. Tommaso versuchte in seiner viel zu kurzen Kindheit, den Glauben aufrecht zu erhalten, dass sein Vater seine Mutter irgendwann wirklich geliebt hatte, zumindest für eine Weile. Er kannte die Geschichte. Sie war so jung gewesen, als sie ihm begegnete, kaum sechzehn. Der attraktive, reiche Sizilianer hatte sie heftig umworben und sie hatte sich beeindrucken lassen. Von den teuren Restaurants und wertvollen Geschenken. Trotzdem war sie so standhaft geblieben, dass Salvatore sich schließlich gezwungen sah, sie in einer schlichten Zeremonie zu Mrs. Cosolino zu machen. Zwei Monate später war sie schwanger geworden – und etwa zu diesem Zeitpunkt hatte er das Interesse an ihr verloren.
Entgegen den sporadischen Stippvisiten in der Anfangszeit von Tommasos Lebens begann sein Vater, sie ab seinem dritten Geburtstag regelmäßig zu besuchen. Einmal pro Woche kam er vorbei, und dafür wurde Tommaso geschniegelt und gestriegelt und in einen der teuren Anzüge gesteckt, die sonst in seinem Schrank versauerten. Der Stoff kratzte und zwickte, so sehr, dass er oft zwei Nächte vorher schon Alpträume davon hatte. Oder von der Tortur des Kämmens! Das war auch so eine Sache, die sich wie tiefe Narben in seine Erinnerung gebrannt hatte. Seine anfangs noch strohblonde Haarpracht war etwas, das seine Mutter und Tante Sybil regelmäßig in Verzückung versetzte. Sie bestand bis zu seinen Teenager-Jahren aus extrem widerspenstigen Locken, anscheinend ein Erbe irgendeiner Urgroßmutter. Hatte sich jedoch sein Vater zum Besuch angekündigt, wurden diese mit einem nassen Kamm solange bearbeitet, bis auch die letzte Biegung daraus verschwunden war, und anschließend mit einer seltsamen durchsichtigen Masse festgepappt. Er hasste es und Chay ließ keine Gelegenheit aus, ihm zu erklären, dass er aussah, wie ein Musterschüler.
Chay! Einer der Lichtblicke seiner Kindheit. Er war sein Cousin, und einer Liaison Sybils mit einem furchtbar gutaussehenden, jungen Indianer entsprungen. Tommaso liebte es, gemeinsam mit seinem Cousin ihren Erzählungen zu lauschen, und er bemühte sich redlich, seinem eigenen Vater gegenüber auch nur halb so viel Ehrerbietung und Liebe entgegenzubringen, wie Chay sie anscheinend für die Erinnerung an seinen Dad empfand. Es gab Bilder von diesem geheimnisumwobenen Mann, und Tommaso war überzeugt, dass er ihn gemocht hätte. Leider hatte das Glück seiner Tante ein schnelles und schreckliches Ende gefunden. Ihr Verlobter war bei einem Raubüberfall auf offener Straße erschossen worden. Sybil und er waren gerade auf dem Heimweg von der Kirche gewesen, den Termin für die Hochzeit in der Tasche, die Liebe in den Augen. Vorbei!
Die Schreie, mit denen seine Tante manchmal nachts aus ihren Alpträumen aufschreckte, ließen auch die anderen im Haus ihren Schmerz nicht vergessen. Beinahe jedes Mal, wenn ihr Weinen durch die Räume schallte, verließ Tommaso sein Bett und stürmte über den Gang, um zu Chay in die Federn zu kriechen. Tief in sich hatte er immer gewusst, dass der ihn in diesen Momenten genauso brauchte, wie er ihn. Und so hatten sie dagelegen, sich aneinander festhaltend – vereint in Schmerz und Angst.
Chay hatte ihn stets Tom genannt, weil ihn sein richtiger Name zu sehr daran erinnerte, nach wem er benannt worden war und er zumindest teilweise im Bilde war, warum Sybil so ein Problem mit Salvatore Cosolino hatte. Trotzdem hatte er sich geweigert, mit ihm über dieses Thema zu sprechen. Tommaso war irgendwie immer klar gewesen, dass er es Claire zuliebe getan hatte.
Tommasos Kindheit war, von den Besuchen seines Vaters abgesehen, eine absolut glückliche Zeit gewesen. Bei seiner Mum und Sybil fand er Liebe und Geborgenheit. Sie erzogen ihn zu einem höflichen, rücksichtsvollen Jungen, der trotz der Versuchungen, die die etwas gewöhnungsbedürftige Umgebung bot, nie auch nur den Wunsch verspürte, vom rechten Wege abzukommen.
Natürlich war er kein Engel. Bereits früh ließ er sich von Chays Vorliebe für Mark Twains Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn anstecken. Deren Erlebnisse inspirierten die beiden immer wieder zu neuen Streichen, was dazu führte, dass sie mehr als genug Unsinn trieben und in ihrem Streben nach dem absoluten Spaß die Grenzen öfter als einmal überschritten. Das brachte ihnen regelmäßig Stubenarrest ein, was allerdings leicht zu ertragen war, da Chay immer einen Weg kannte, sich in sein Zimmer zu schleichen. War das nicht möglich, schrieben sie sich heimliche Nachrichten, die das Hausmädchen für sie hin und her schmuggelte. Unterschrieben waren diese stets mit Tom und Huck – und beide fanden das Ganze furchtbar abenteuerlich.
Alles änderte sich kurz vor Tommasos zwölftem Geburtstag. Der Wendepunkt in seinem Leben kam für ihn jedoch so unerwartet und überraschend, dass er ihn erst zur Kenntnis nahm, als er bereits vorüber war.
Chay war einige Wochen zuvor neunzehn geworden. Die letzten Tage vor Tommasos Ehrenfest wich er ihm praktisch nicht von der Seite, was seltsam war, weil er die Monate vorher eigentlich immer öfter ausgegangen war. Es hatte Tommaso nicht gefallen, dass er so oft weg gewesen war, aber er hatte versucht, ihn zu verstehen. Chay war dabei, erwachsen zu werden, er selbst war noch ein Kind. Er wusste, er liebte ihn, trotzdem war ihm klar, dass er auch Zeit für sich benötigte.
Und dann war er plötzlich wieder ständig zu Hause. Er, Claire und Sybil steckten auffällig oft ihre Köpfe zusammen und sprachen davon, dass sie alle in Kürze zu seiner Großmutter nach Europa reisen würden. Natürlich versuchten sie, zu verhindern, dass Tommaso ihre Pläne mitbekam, doch in der Aufregung hatte Chay wohl vergessen, wie viele Verstecke sie in all den Jahren gefunden hatten, von denen aus man die Erwachsenen bequem belauschen konnte. Und so hörte Tommaso praktisch alles, begriff jedoch nicht einmal die Hälfte davon.
Was ihn aber noch mehr durcheinanderbrachte, war das Verhalten seiner Mum. Sie schien ständig in Panik zu sein und hatte wenig Zeit für ihn. Stattdessen dominierten häufige Streitgespräche zwischen ihr, Chay und Sybil die Tage, und der Inhalt dieser Diskussionen gab ihm erst recht Rätsel auf. Seine Mum war unzufrieden, dass ES so langsam voranging. Sie verlangte, dass ES viel eher über die Bühne gehen sollte, da sie es satthatte, in der Angst zu leben, ER würde sonst vorher zuschlagen. Wenn sie aber bei Tommaso war, beobachtete sie jede seiner Bewegungen, und ihre Augen bekamen dabei einen verzweifelten, ängstlichen Blick. Weit öfter als normal schloss sie ihn einfach fest in ihre Arme, sagte ihm, wie sehr sie ihn liebte. Ihre intensive Fürsorge machte ihn nervös – normalerweise war sie keine typische Glucken-Mutter.
Einige Wochen vor Tommasos Geburtstag hatte Chay das erste Mal seine Freundin mit nach Hause gebracht. Amayeta, eine indianische Schönheit, die nicht nur wahnsinnig nett, sondern auch augenscheinlich bis über beide Ohren in Chay verliebt war, und er nicht weniger in sie. Diese Tatsache amüsierte Tommaso natürlich sehr, und er ließ keine Gelegenheit aus, seinem Cousin das dementsprechend kindisch zu präsentieren. Was ihn danach allerdings erschütterte, war, wie minimal Chay auf seine Scherze und Neckereien einging. Nicht mal ärgerlich wurde er darüber – er reagierte eigentlich gar nicht. Und ungefähr zu jener Zeit begann er, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Diese wuchsen und erreichten ein paar Tage vor seiner Geburtstagsparty ihren Höhepunkt. Ein Streit zwischen seinen Eltern – auch wenn ihm diese Bezeichnung bisher niemals als richtig erschienen war – lockte ihn spätabends aus seinem Zimmer nach unten. Salvatore hatte eigene Pläne für den Ehrentag seines Sohnes, doch Claire widersprach ihm zum ersten Mal, seit Tommaso denken konnte, so vehement, dass die Auseinandersetzung eskalierte. Chay ging dazwischen, was Salvatore natürlich bis aufs Äußerste reizte. Die darauffolgende Schreierei und die Tatsache, dass sein Cousin mit einer Waffe bedroht wurde, führten bei Tommaso zu einer Art Schockstarre, gepaart mit Atemschwierigkeiten. Der daraus resultierende Schwächeanfall, der ihn zu Boden sinken ließ, rettete Chay das Leben. Salvatore zog sich Tommaso zuliebe zurück, eine für den Capo absolut untypische Handlung, die vielleicht zum ersten Mal zeigte, wie viel ihm dann doch an seinem Sohn lag.
Die Party kam, und zur Überraschung aller war der Tag gefüllt mit Spaß, Harmonie und Freude. Sie aßen Kuchen, Tommaso packte seine Geschenke aus, und sie sangen Lieder. Es war wirklich perfekt – zumindest bis zu dem abrupten Ende, weil Chay und seine Freundin die Feier frühzeitig verließen. Amayeta ging es von einer Minute auf die andere furchtbar schlecht, weshalb Chay sie so schnell wie möglich zu einem Arzt bringen musste. Tommaso blieb ein wenig enttäuscht zurück, und obwohl er nicht genau wusste, warum, wuchs in ihm der Gedanke, dass hinter Chays plötzlichem Aufbruch sein Vater steckte. So als hätte er ihn aus dem Weg geschafft. Denn eines war klar! Chay hätte sich ihnen in den Weg gestellt – Salvatores Männern, die etwa dreißig Minuten später auftauchten, Claire und Sybils Protest ignorierend, und Tommaso mitnahmen. Einfach so –, und ihn zu seinem Vater brachten. In dessen neue Villa in Hyde Park.
Irgendwann, bei einem der letzten Besuche Salvatores, hatte er seinem Sohn Bilder seines kürzlich erworbenen Anwesens gezeigt. Trotzdem war Tommaso überrascht, als er aus der Limousine stieg. Das Haus war riesig – eigentlich protzig –, erschien ihm wie ein Palast. Typisch für den Capo und seine Firma. Tommaso kannte den Ausdruck, den seine Männer für seinen Dad verwendeten, auch wenn er nicht genau wusste, was dieses Wort bedeutete.
David Brown, der englische Butler, führte ihn durch einen scheinbar endlosen Säulengang und dann über eine breite Treppe nach oben. Tommasos Hände waren schweißnass und die Aufregung verursachte ihm Übelkeit. Das Ambiente seiner Umgebung entsprach der Idee, den Betrachter bestmöglich einzuschüchtern, und das funktionierte. Er war beeindruckt, bemühte sich jedoch redlich, sich das nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
Im ersten Stock steuerten sie auf eine große Doppeltür zu, und Tommaso spürte seine Angst wachsen. Der Abgang seines Vaters am letzten Wochenende verhieß nichts Gutes. Er erinnerte sich mit einem Mal an sein vor Zorn gerötetes Gesicht, als er das Haus verlassen hatte, und eine dunkle Vorahnung füllte seinen Magen mit Eis.
David hielt an, beugte seine Knie etwas, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu gehen. Viel war dazu nicht notwendig, er war nur einen Kopf kleiner als er. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, Tommaso. Er ist dein Vater. Alles, was er tut, macht er aus dem Glauben heraus, dass es das Beste für dich ist.«
Tommaso nickte, und obgleich es Davids Worten nicht gelang, ihn zu beruhigen, erfüllte ihn doch ein Gefühl der Dankbarkeit für den Versuch. Es stimmte ihn ein wenig positiver, dass es anscheinend zumindest einen MENSCHEN im Umfeld seines Vaters gab.
Der Butler schob ihn an den Schultern in den Raum und schloss hinter ihm die Tür, wo er reglos stehen blieb. Sein Herz hämmerte panisch schnell in seiner Brust – er war allein mit IHM. Vor Furcht zitternd drängte er sich zurück gegen das Holz der Tür und spähte angestrengt in die Schwärze des Zimmers. Die Dunkelheit wurde lediglich vom schwachen Licht einer Stehlampe durchbrochen, doch als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, bemerkte er die Hand seines Vaters, die ihn näher winkte. Salvatore lehnte in seinem hohen Ledersessel hinter dem unwirklich riesig wirkenden Schreibtisch. Sein Gesicht war im Schatten verborgen.
Fast geräuschlos trat Tommaso nach kurzem Zögern auf ihn zu, der dicke rote Teppich schluckte seine Schritte. Bei ihm angelangt, blieb er stehen. Nun konnte er ihn genau sehen. Unglaublich, aber wahr – er lächelte.
»Buon compleanno!«
Tommaso runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, Sir.«
Salvatore schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist italienisch, mein Sohn. Und es bedeutet ›Alles Gute zum Geburtstag‹.«
»Danke, Sir.«
»Hattest du eine schöne Feier?«
»Ja, Sir.«
Schweigen.
Salvatore stand auf und ging auf seinen Sohn zu. Ohne auf sein ängstliches Zurückzucken zu achten, legte er ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn mit in Richtung Fenster. »Komm mit, figlio mio«, murmelte er dabei.
Tommaso blinzelte immer wieder nach oben zu seinem Gesicht und versuchte, seine Stimmung, seine Absicht zu erraten.
»Tommaso. Als mein Sohn ist es dir bestimmt, einmal eine Firma zu übernehmen, die so mächtig ist, wie du dir das nicht einmal im Traum vorstellen könntest. Ich …« Er lächelte überheblich auf ihn hinunter, »… wir … sind sehr reich, mein Junge. Und all das Geld und die Macht gehören irgendwann dir.« Er lachte leise auf. »Als mein Vater nach Amerika kam, verließ er den sicheren Schoß seiner Familie, um hier ganz von vorne anzufangen. Es ist unsere Aufgabe, das, was er geschaffen hat, am Leben zu erhalten. Es ist harte Arbeit, die Firma zu leiten, doch Gott sei Dank habe ich Hilfe dabei. Meine Männer stehen zu hundert Prozent hinter mir. Sie gehorchen mir ebenso vorbehaltlos wie ich, im Gegenzug dafür, für sie sorge. Das Wichtigste in unserem Geschäft ist Kontrolle und absolute Loyalität.«
Interessiert starrte Tommaso seinen Vater an. So lange hatte er noch nie an einem Stück zu ihm gesprochen.
»Es ist nun an der Zeit, dass wir dich auf diese Aufgabe vorbereiten. Deshalb wirst du ab sofort bei mir wohnen und hier von Privatlehrern unterrichtet werden. David wird dir dein Zimmer zeigen.«
»Aber, Sir? Weiß Mum davon, dass wir zu dir ziehen?« Tommaso war verwirrt. Warum hatte sie ihm nichts erzählt?
»DU kommst zu mir, Tommaso. Sonst niemand.« Salvatore ging zum Schreibtisch zurück und drückte auf die dort angebrachte Klingel. Sofort öffnete sich die Tür und der Butler stand darin.
»Und was wird aus Mum, Tante Sybil und Chay?« Jetzt war Tommaso wirklich entsetzt. Er begann, die Gründe für das Verhalten seiner Familie in den letzten Wochen zu erahnen.
Sein Vater starrte ihn nur mit ausdrucksloser Miene an und Tommaso wusste, er würde keine Antwort von ihm bekommen. David stand plötzlich hinter ihm, legte ihm eine Hand auf seine Schulter, und er gehorchte und ging mit ihm.
Um 21:48 Uhr an diesem Abend endeten Tommasos Kindheit und sein bisheriges Leben. Alles, was er bis dahin zu wissen geglaubt hatte, was ihm richtig und real erschienen war, löste sich auf. Verwischte zu einem unwirklichen, trüben Nebel, der ihn einfing und für die nächsten Jahre gefangen halten sollte. Joe erschoss einen Mann, kaum älter als Chay, und Tommaso stand daneben und ließ es zu. Er wusste weder, was der Typ getan hatte, noch wie er hieß, doch instinktiv erkannte er, dass es keinen Unterschied machte, wüsste er es.
Der Mann kniete bebend am Boden, blickte gehetzt und panisch zu Joe auf. Salvatore bevorzugte Blickkontakt bei seinen Exekutionen, Schüsse in den Hinterkopf waren etwas für Feiglinge, meinte er. Jetzt stand er bedrohlich nahe hinter seinem Sohn und seine Hände lagen mit festem Druck auf dessen Schultern.
Tommaso kämpfte gegen seine Angst und das Wissen, dass das, was diesem jungen Mann hier passierte, falsch war, egal welches Verbrechen er vielleicht begangen hatte. Er wollte sich selbst zwingen, den Mund aufzumachen. Ihn aufzumachen und seinem Vater die Ungerechtigkeit entgegen zu schreien. Doch er blieb stumm.
»Loyalität ist das Wichtigste, Tommaso. Wir müssen unseren Männern trauen können. Wenn das nicht der Fall ist …« Salvatore stockte kurz, während Joe ein hartes Lachen ausstieß und seine Waffe entsicherte.
»… dann musst du herausfinden, wo die Schwachstelle liegt und sie entfernen.« Die leise Stimme seines Dads jagte einen Schauer über Tommasos Rücken. Er bemerkte, dass auch Joe ihn neugierig beobachtete, während er weiter den jungen Mann bedrohte. Seine Reaktion schien beiden furchtbar wichtig zu sein. Und da ihn seine Mutter dazu erzogen hatte, seinem Vater stets Respekt zu zollen und, soweit möglich, seinen Wünschen zu entsprechen, bemühte sich Tommaso tapfer, ruhig zu bleiben und nicht zu schreien.
Bis zu dem Moment, als Joe abdrückte, war er sich eigentlich sicher gewesen, dass sein Dad, oder besser gesagt Joe, einen Rückzieher machen würde. Vielleicht hatte er auch gehofft, dass, wenn er den Abzug betätigte, eine Fahne, auf der ›BÄNG‹ geschrieben stand, herauskäme. Doch nichts davon geschah. Der Schuss war laut und der Geschmack der Luft danach war fremd und scharf. Sie brannte gemeinsam mit den ungeweinten Tränen in seinen Augen.
Erschrocken wich er ein Stück zurück und prallte gegen seinen Vater, während er beinahe neugierig auf das kleine Loch in der Stirn des Jungen starrte. Dann plötzlich – es kam ihm vor wie Stunden, obwohl kaum zwei Sekunden vergangen waren – sank der leblose Körper zu Boden. Blut sickerte rund um seinen Kopf in den dicken, hellen Teppich, doch so schockierend der Anblick auch war, gelang es ihm nicht, seine Augen abzuwenden. Das erste Mal in seinem Leben verspürte er die Faszination des Todes und es war ihm ebenso unmöglich, wegzusehen, wie den Leuten, die an einem Verkehrsunfall vorbeikamen.
Nach und nach ging sein Adrenalinspiegel zurück und auch sein Herzschlag normalisierte sich. Er bemerkte nicht, dass er seine schweißnassen Handflächen an seiner Hose trockenrieb, so als würde das Blut des Jungen daran kleben.
Sein Vater klopfte ihm anerkennend auf die Schultern. »Gratuliere, du bist wirklich mein Sohn. Ich weiß, dass du Angst hattest, aber du hast sie nicht gezeigt!«
Das war das erste Kompliment, das er von Salvatore bekommen hatte, dennoch konnte er sich nicht darüber freuen. Zu genau wusste er, was seine Mutter und Tante, was Chay davon gehalten hätten, wenn sie ihn jetzt sehen könnten. Schnell verdrängte er den Gedanken an ihr Entsetzen, ihre Abscheu, denn viel mehr ängstigte ihn sein eigenes Gefühl. Da war kein Bedauern, keine Panik oder Angst geblieben, sogar die Trauer über den Verlust seiner Familie war verschwunden. Er stand einfach da und fühlte nichts, denn das war um ein Vielfaches besser als der Schmerz.
Ein Pochen schreckte Tommaso aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf, und für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Erst langsam kam die Erinnerung, beinahe gleichzeitig mit dem zweiten Klopfen. Er versuchte zu sprechen, doch er scheiterte, weil ein Beatmungsschlauch in seinem Hals steckte. Es klopfte erneut, er wartete schweigend, und schließlich trat der Besucher auch ohne Einladung ein.
Es war ein Cop. Das sah Tommaso sofort. Wieder wunderte er sich, warum er hier war. Anscheinend in einem öffentlichen Krankenhaus, ohne Schutz, ohne Doc.
»Mr. Cosolino. Freut mich, dass es Ihnen besser geht. Ich bin Detective Marcus Spinelli. Ich wurde Ihrem Fall zugeteilt.« Der Blick des Mannes glitt abschätzend über Tommasos vereiste Miene. »Das heißt, wir werden sehr viel miteinander zu tun haben die nächste Zeit, also schlage ich vor, Sie zügeln Ihren Hass auf mich ein bisschen.«
Tommasos beinahe stechend grüne Augen spiegelten allzu deutlich seine Abscheu gegen Polizisten wider, was diesem ein höhnisches Grinsen entlockte. »Versuchen Sie es wenigstens, okay?« Er ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder. »Ich denke, Sie wollen wissen, was hier los ist, Mr. Cosolino – oder darf ich Sie Tommaso nennen?« Aufmerksam musterte der Detective seine Reaktion.
Tommaso verdrehte die Augen.
»Ich deute das als ein Ja. Nun … Mr. Chayton Miller hat Sie vor etwa drei Wochen hierhergebracht. Als klar war, dass Sie überleben werden, hat er mit uns einen Deal ausgehandelt. Doch ich denke, die Einzelheiten sollten Sie wohl eher von ihm hören.« Er plauderte noch einige Minuten weiter, über Rechte und Möglichkeiten, die Tommaso jetzt hatte, aber Tommasos Gehirn hatte sich nach der Erwähnung von Chays Namen ausgeklinkt.
Was sollte das wieder bedeuten? Was zur Hölle war hier los? Und vor allem – wo war er hier?
Als Spinelli schließlich sein Zimmer verließ, blieb Tommaso mit dem Wirrwarr seiner Gedanken zurück. Wut und Zorn beherrschten die ersten Stunden, verwandelten sich aber langsam in Neugier und schlussendlich in Ungeduld. Er konnte es nicht fassen, dass dieser Cop so eine Bombe platzen ließ und Chay dann nicht auftauchte.
Er kam am nächsten Morgen. Wahrscheinlich war er der Meinung, es wäre besser, die Nachricht erst sacken zu lassen. Tommaso hatte die Nacht mit Grübeln verbracht, versucht, Pläne zu schmieden, ohne zu wissen, auf welche Situation er überhaupt reagieren musste.
Was hatte sein Cousin den Cops erzählt? Spinelli hatte von einem Deal gesprochen – aber was war das für eine Vereinbarung? Was steckte für eine Bedingung dahinter?
Chay wusste, wie eng er an seinen Vater, an die Firma, an die Familie gebunden war. Es war undenkbar, sich gegen ihn zu stellen – das musste ihm doch klar sein! Natürlich war ihm im Gegensatz dazu bewusst, wie sehr Chay dieses Leben widerstrebte, das hatte er ihm mehr als einmal gesagt. Nie im Streit, so war er nicht. Manchmal schien er dreißig und nicht sieben Jahre älter als er. Vielleicht lag es an den indianischen Wurzeln, die er in sich trug.
Der nette, freundliche Doktor war bereits früh morgens gekommen, um Tommaso den Schlauch aus dem Hals zu ziehen. Danach war er noch neben seinem Bett stehen geblieben, den Blick erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Was erwartete er – einen Dank, Jubel?
Als Tommaso nicht reagierte, ging er, stieß jedoch in der Tür mit Chay zusammen. Sein Kopf knallte gegen den muskelgestählten Oberkörper, und Tommaso begann automatisch zu grinsen – der Größenunterschied war wirklich zu witzig. Auch der junge Arzt schien überrascht, blickte auf den zwei Meter-Riesen vor ihm und wich schließlich mit einer gemurmelten Entschuldigung zurück. Chay sah nicht minder verwundert auf ihn hinunter und drängte sich endlich an ihm vorbei. Der Weißkittel verschwand aus dem Zimmer, und die Tür fiel mit leisem Klicken ins Schloss.
»Hey, Huck!«, krächzte Tommaso. Trotz drei Tassen Wassers herrschte in seiner Kehle immer noch Dürre.
»Hey, Tom!« Chay trat näher und er sah, dass er etwas, oder besser gesagt, jemanden hinter seinem Rücken versteckte. Derjenige ging ihm bis knapp über die Hüfte und hatte lange schwarze Haare.
»Du darfst mir keine Nutten mitbringen. Verstößt gegen die Vorschrift«, versuchte Tommaso zu scherzen, immer noch heiser.
Chay lachte nicht – kein gutes Zeichen. Seine Stirn war gerunzelt und er schüttelte fast unsichtbar den Kopf. Er wirkte nervös und angespannt.
Unsicher blickte Tommaso zu ihm auf, wartend.
»Tom …« Chay stieß kurz die Luft aus und lächelte dann. »Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist … Sue … meine Tochter.« Er zog das Mädchen zärtlich hinter sich hervor und in seine Arme. Die Kleine schien etwa sieben Jahre alt zu sein, hatte ein süßes herzförmiges Gesicht, und ihre Augen waren unglaublich schön, tiefgründig und grün – ungewöhnlich für eine Squaw. Sie kamen Tommaso irgendwie bekannt vor.
»Warum hast du sie denn so lange vor mir versteckt?« Er runzelte verwirrt die Brauen, entspannte sein Gesicht aber, als ihm ein Gedanke kam. »Ich war wohl kein guter Umgang für eine junge Lady, was?« Langsam kam seine Stimme wieder.
»Das hat mehrere Gründe, wir kommen später dazu«, fertigte Chay ihn kurz ab.
Sue kam lächelnd auf das Bett zu. »Hi, Tom! Mein Dad hat mir so viel von dir erzählt.«
Tommaso konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Ihre Stimme weckte eine vertraute, aber tief verborgene Sehnsucht in ihm. »Hi, Sue! Freut mich, dich kennen zu lernen.«
Mit der Selbstsicherheit einer jungen Dame nahm sie auf dem Stuhl davor Platz. »Hast du Schmerzen?«, erkundigte sie sich ungemein erwachsen klingend, während sie ihn mit besorgtem Blick musterte.
Sein Grinsen wurde breiter. »Nein, die pumpen mich hier so mit Drogen voll, dass ich eigentlich gar nichts mehr spüre.«
Sie kicherte und Chay trat hinter sie und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Auch er lachte leise. Die Situation wirkte so unwirklich, dass Tommaso plötzlich schmerzhaftes Bedauern empfand, denn er fürchtete, jeden Moment aus einem Traum zu erwachen.
Das Lachen verklang. Sue hatte sich zu Chay gewandt, der ihre Hand genommen hatte. »Wartest du bitte draußen bei Grandma? Ich muss etwas mit Tom besprechen«, flüsterte er ihr zu.
Ernsthaft nickend stand die Kleine auf. »Bye, Tom. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«
»Bye, mia piccola, das hoffe ich auch.« Überrascht merkte er, dass er es genauso ernst meinte, wie es klang. Wäre sie eine Frau, würde er plötzlich an Liebe auf den ersten Blick glauben, aber so? Die Verbundenheit, die er zu dem Mädchen fühlte, war schon fast unheimlich.
Als sie gegangen war, setzte sich Chay auf den Stuhl. Es war ihm anzusehen, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.
Tommaso musterte ihn fragend. »Wie hast du mich hierher geschafft?« Die Schnelligkeit, mit der die Frage aus seinem Mund geschossen war, zeigte ihm, wie neugierig er auf die Antwort war.
»Mit dem Auto.« Chay schmunzelte vorsichtig.
»Sehr witzig! Du weißt, was ich meine. Das hier sieht nicht aus wie Salvatores Privatsanatorium, und der Cop hat auch so etwas angedeutet.«
»Tja, dann ohne viel Herumgerede.« Chay lachte unsicher. »Als Mike anrief, um Claire mitzuteilen, dass du im Sterben liegst, hab ich mir bei einem Bekannten ein Toxin besorgt. Das hab ich dir gespritzt.«
Tommaso hob seine Augenbrauen an. »Du hast mich vergiftet? Nett!«
»Ja, sorry, musste sein.« Chay grinste nervös. »Also, diese Substanz hat deine Körperfunktionen wie Atmung und Herzschlag sozusagen auf Sparflamme gestellt. Und Salvatores Doc … Na ja, wir wissen, dass seine Fähigkeiten aufgrund der veralteten Methoden und natürlich auch ein bisschen bedingt durch seine … Vorliebe für Brandy … herabgesetzt sind. Wie auch immer, er hat dann deinen Tod bestätigt.«
»Ach!« War alles, was Tommaso darauf erwidern konnte.
»Deine sogenannte Familie, deine Jungs, hatten es ziemlich eilig, wegzukommen, als es … vorbei war. Ich hatte Salvatore vorher angefleht, im Falle deines Todes, deine Leiche zu deiner Mutter bringen zu dürfen. Er war einverstanden – warum auch immer – vielleicht weil er dachte, es ihr schuldig zu sein. Auf jeden Fall, musste ich dich nur mehr raustragen. War total einfach, eigentlich.«
»Freut mich, dass ich dir keine Schwierigkeiten bereitet habe.« Ironie schien die einzige Möglichkeit zu sein, um dieser surrealen Situation zu begegnen.
»Hier angekommen, hab ich dir das Gegengift gespritzt, und die Ärzte haben begonnen, um dein Leben zu kämpfen. Nach einigen Tagen und einer echt endlosen Nacht, in der wir uns alle sicher waren, dich zu verlieren, ging’s plötzlich bergauf, und kurz darauf warst du über dem Berg.« Er machte eine ausholende Handbewegung über Toms von Schwäche gezeichneten Körper. »Und – voilà – hier liegst du nun. Offiziell tot und doch so lebendig.«
»Offiziell tot …«, wiederholte Tommaso langsam. »Das heißt, mein Vater denkt, ich bin … verstorben?«
»Ja!« Chays Blick war voller Stolz, Tommaso presste die Lippen zusammen und schnaubte ärgerlich, bevor er wieder sprach. »Okay. Ehrlich – ich habe keine Ahnung, was das alles soll, Chay!«
»Du bist frei, Mann. Er denkt, du bist tot. Er wird dich vergessen. Du kannst endlich beginnen zu leben, normal zu leben.« Euphorisch war Chay aufgesprungen, seine Iriden blitzten.
»Wovon frei? Chay, Mann! Du hast meine Familie belogen, du hast mich weggeschleppt wie eine Beute. Ich habe ein Leben, warum sollte ich ein neues beginnen?«
Chays Augen weiteten sich entsetzt. »Das ist nicht dein Ernst. Du willst mir doch nicht erklären, dass du dort nicht raus wolltest? Salvatore ist ein Mörder, brutal und grausam.«
»Das bin ich auch, Chay«, sagte Tommaso leise.
»Nein, er hat dich dazu gemacht. Er hat dich gezwungen – du bist nicht so.«
Tommaso lachte bitter. »Warum sagst du das? Du kennst mich nicht. Wie oft haben wir uns gesehen, die letzten Jahre? Zwei, dreimal im Jahr. Auf ein Essen … oder einen Drink! Ich bitte dich.«
»Was willst du mir damit sagen, Tom? Ich muss dich nicht täglich sehen, um dich zu kennen. Ich sehe deine Seele. Du warst immer wie ein Bruder für mich, und du kannst mir nicht weismachen, dass du das willst, dass es dein Traum ist, dieses Leben zu führen. Das glaube ich dir nicht, Tom.«
»Ich heiße Tommaso, und ich bin kein Kind mehr«, warf er ärgerlich ein und Chay legte die Hände an seine Schläfen.
»Wenn du bei mir warst, warst du immer Tom, und ich werde dich auch weiter so nennen. Ich kenne den Unterschied zwischen Tommaso Salvatore Cosolino und dem Tom, den ich kenne und liebe. Ich weiß, wie du warst, wenn wir uns gesehen haben. Das war kein Irrtum. Ich bin mir sicher, du hast es genossen, wenn wir zusammen waren.«
Tommaso schnaufte wieder. »Klar hab ich das, es waren ein paar Stunden Urlaub vom Geschäft. Jeder genießt die Abwechslung.« Seine Stimme klang wie die eines störrischen Kindes und genauso fühlte er sich auch im Moment. Was fällt ihm eigentlich ein, einfach alles, was mein Leben ausmacht, in Frage zu stellen?, dachte er ärgerlich.
Chay verdrehte die Augen und rieb mit dem Zeigefinger den Rücken seiner Nase. Er schwieg kurz, bevor er mit einem lauten Seufzer die Arme hob. »Okay! Geh zurück! Ich werde den Cop los. Ich hab ihm noch keine Details genannt, nur ein paar Infos über kleine Fische, mit denen ihr zu tun hattet. Es ist also noch nichts passiert. Bleib hier, lass dich gesund pflegen und dann geh zurück.« Er stieß ein heiseres Lachen aus. »Leb dein erfülltes Leben weiter.«
Tommaso lag still und wartete auf das »Aber«. Bei Chay kam nach so einer Ansprache immer ein »Aber«, und er enttäuschte ihn auch diesmal nicht. »Aber vorher hörst du dir meinen Vorschlag an. Du sollst die Optionen kennen, die du hast. Okay?«
Tommaso konnte nicht verhindern, dass er neugierig wurde. Mit einem zarten Lächeln sah er zu ihm hoch. »Mann, ich bin ans Bett gefesselt, ich kann sowieso nicht weglaufen, also schieß los.«
»Da draußen vor der Tür, Tom, da steht deine Mutter. Auch Sybil ist da. Du könntest einfach mit den Cops sprechen – nur ein paar Infos, du musst nicht mal alle in die Pfanne hauen. Der Deal ist nicht auf Details basierend aufgebaut. Ich bin doch kein Idiot – ich hatte nie vor, dich zu etwas zu zwingen.« Chay hatte die Worte hektisch und praktisch ohne zu atmen ausgestoßen, was ihn jetzt nach Luft schnappen ließ.
»Fertig?« Tommaso konnte nicht anders, als zu grinsen.
Chay grinste ebenfalls. »Fast.« Er stieß die Luft aus, bevor er fortfuhr. »Erzähl ihnen so viel du kannst, und danach musst du einfach nur fit werden. Und wenn du wieder auf dem Damm bist, dann geht’s los.«
»Wohin?«
»London. Du weißt, Claires richtige Eltern lebten dort. Sie hatte die letzten Jahre vor ihrem Tod guten Kontakt mit ihnen.«
Tommasos Augenbrauen wanderten wieder hoch. »Ich soll also nach London. Und was genau mach ich da?«
»Du lebst mit uns. Mit deiner Familie, studierst, arbeitest – keine Ahnung. Einfach ein normales Leben führen!«
Er schnaufte. »Ja. Normal für dich, Chay. Für mich klingt das einfach nur langweilig. Ich denke, ich bin nicht geschaffen für so ein Familien-Idyll.« Kurz flammte in ihm das Gefühl des Neides auf, das er gestern auch dem Doktor gegenüber gefühlt hatte. Er verdrängte es.
»Du könntest es versuchen. Für eine Zeit, komm einfach mit. Deiner Mutter zuliebe, mir zuliebe. Ich bitte dich.« Chay lehnte sich in seine Richtung und musterte ihn mit flehenden Augen.
Tommaso stieß ein heiseres Lachen aus. »Und nach einem halben Jahr geh ich zurück – Hi, Dad, bin wieder da. Von unserem Geschäft kann man sich nicht einfach in den Urlaub verabschieden. Wie naiv bist du eigentlich?«
»Dann warst du eben offiziell im Knast, das lässt sich sicher arrangieren.«
»Chay!« Er seufzte.
»Schlaf drüber Mann, wir reden morgen weiter, okay?«
Er nickte. Seine Lider waren wirklich wieder schwer geworden. Außerdem schien das Morphium nachzulassen, der Schmerzpegel war in den letzten Minuten erheblich gestiegen. »Schickst du mir die Schwester mit der nächsten Dröhnung rein, wenn du gehst?«, rief er ihm noch hinterher, Chay grinste und winkte ihm zum Abschied zu.
Während sich die Tür hinter ihm schloss, sah er kurz den ängstlichen Blick seiner Mutter im Türspalt auftauchen, dann war er wieder allein.
In Ermangelung anderer Möglichkeiten verbrachte Tommaso die darauffolgende Woche größtenteils damit, gründlich über Chays Vorschlag nachzudenken. Doch so sehr ihn vielleicht die Aussicht auf ein ruhigeres Leben lockte, so wenig wusste er, ob er das wirklich wollte. Selbst wenn es Chay nicht gefiel, es war seine Familie, die er verlassen sollte. Er hatte die Liebe zu seiner Mutter und Chay nicht vergessen, dennoch gehörte sie zu einer Zeit, an die er sich kaum erinnern konnte. Sein Dad und seine Jungs hingegen waren fest in seinem Leben integriert, hatten ihm die letzten Jahre Halt und Vertrauen geschenkt. Salvatore war keine wirkliche Vaterfigur, aber Tommaso hatte sich an ihn gewöhnt. Mit der Zeit hatte er eine immer bessere Vorstellung bekommen, welcher Einsatz und welche Anstrengungen notwendig waren, um so ein großes Unternehmen zu führen. Und so waren sein Respekt und auch ein bisschen die Bewunderung für seinen Dad stetig gewachsen. Der Mantel der Sicherheit, den Salvatore über seine Leute breitete, war nicht aus leichtem Stoff gewoben. Um die Motten davon abzuhalten, Löcher hinein zu fressen, wandte sein Vater Methoden an, die kaum den Gesetzen entsprachen – keine Frage. Die Art, wie er für ihre Sicherheit sorgte, die Brutalität, mit der er und auch seine Mitarbeiter dabei vorgingen, war selten gerechtfertigt, aber für den Erhalt ihres Standards notwendig. Schwäche war etwas, das sie sich nicht leisten konnten! Tommaso hatte es ebenso gesehen – hatte!
Denn während sein Körper gesundete, begann in seinem Kopf ebenfalls eine Art Heilungsprozess. Der Abstand zur Firma – zu seinem Vater – ließ ihn erkennen, was Chay meinte, was seine Mutter immer so entsetzt hatte. Das wiederum führte dazu, sich selbst gegenüber zuzugeben, dass Salvatores Wege vielleicht doch nicht die waren, die er für den Rest seines Lebens gehen wollte.
Die Pausen zwischen seinen Denkzeiten wurden von Besuchen gefüllt. Seine Mum, Sybil und vor allem Chay und Sue kamen täglich.
Claire befand sich in einem Wirrwarr der Gefühle. Einerseits war sie überglücklich, dass Chays Plan geklappt hatte und sie Tom nun endlich der eisernen Faust seines Vaters entrissen hatten, andererseits war sie schockiert, wie tief sich Salvatores Krallen bereits in Tommasos Fleisch geschlagen hatten. Ihr Sohn war da, lag aber vergraben unter dem Figo von Cosolino Inc. Sie erkannte es, an der Art, wie er sprach, an den ablehnenden Gesten, wenn sie von ihrer gemeinsamen Zukunft schwärmte, und sie bekam Angst, dass ihre Schwester mit ihrer Befürchtung recht gehabt hatte. Dass er vielleicht tatsächlich bereits für sie verloren war und gar nicht zu ihr zurückwollte.
Ihre Hoffnung erlebte neuen Aufwind, als sie in den nächsten Tagen beobachtete, wie er auf Sue reagierte. Er schien wie verzaubert von ihr und die Kleine, die ja keine Ahnung hatte, wer er wirklich war, die ihn nur aus den glühenden Erzählungen von ihr und Chay kannte, war von ihm nicht minder angetan. Sue saß stundenlang an seinem Bett und Tommaso genoss es, wirkte wie ein komplett anderer Mensch, wenn sie bei ihm war. Sie mochte ihn aufrichtig, las ihm geduldig aus ihrem Lieblingsbuch vor. Und er, der sich normalerweise keine zwei Minuten auf etwas anderes als das Geschäft konzentrieren konnte, lauschte ihrer Stimme mit entspannter Miene und einem unglaublich warmen Gefühl rund um sein Herz. Sie brachte dem harten Panzer, den er sich in den letzten Jahren mühsam errichtet hatte, mit jedem Tag tiefere Sprünge bei. Schon nach wenigen Tagen gelang es ihm nicht mehr, zu verbergen, wie sehr er sich freute, wenn ihr kleines Köpfchen in seiner Tür auftauchte. Und er bemerkte außerdem, wie groß die Freude seiner Mutter über diese Tatsache war und gab es auf, seine eigene vor ihr zu verstecken.
Sie und Chay schienen sich ungewöhnlich nah zu stehen, lachten viel mit Sue, aber auch miteinander, doch was ihn noch mehr verwunderte, war, dass seine Tante Sybil ebenfalls stets gut gelaunt war. In der blassen Reflexion seiner Kindheit sah er sie als verschlossene, ewig schlecht aufgelegte Frau. Nun jedoch war sie vollkommen anders, als in seinen Erinnerungen. Fröhlich, fast ausgelassen, und selbst ihre, ihm gegenüber so gewohnte Reserviertheit, verschwand mit jedem Tag mehr. Ihr Verhältnis zu seiner Mutter schien sogar noch inniger als früher und auch die Zuneigung, die Claire Chays Tochter entgegenbrachte, war offensichtlich. Gut, in diesem Punkt verstand Tommaso sie nur zu gut – man musste Sue einfach lieben.
Langsam, aber sicher begann er zu erahnen, was er in den letzten Jahren alles versäumt hatte, und in ihm wuchs das Bedauern darüber, dass er diese Zeit nicht mit ihnen geteilt hatte. Die vier waren eine perfekte kleine Familie, und mit jeder Minute, die er sie beobachtete, wurde der Wunsch klarer, dass er dazu gehören wollte.
Anfangs steckte er wie ein hartes Saatkorn unbehandelt in der dunklen Erde seines bisherigen Lebens. Die endlosen Gespräche mit Chay waren wie Regen, der sich durch den fruchtlosen Boden bis zu der Saat kämpfte, um sie zu nässen und keimen zu lassen. Und Sue war die Sonne, die diese Pflanze schließlich zum Wachsen brachte. Und, zumindest für ihn, völlig unerwartet und doch wie vom Schicksal vorausbestimmt, war sie plötzlich größer, als die Angst davor, die vermeintliche Sicherheit seines bisherigen Lebens aufzugeben.
Den Abend vor seinem Abschied vom Krankenhaus verbrachte er allein in seinem Zimmer. Chay hatte ihm zwei Biere hineingeschmuggelt, die er nun auf dem Stuhl vor dem Fenster genoss, während er in die Dunkelheit hinaus starrte. Der Regen prasselte in großen Tropfen an die Scheiben und verwischte den Blick auf Chicago. Er liebte diese Stadt, sie war seine Heimat. Chays Idee zu folgen, würde bedeuten, dass er sie heute das letzte Mal bei Nacht sah. Er lehnte sich vor, um das Bild in sich aufzusaugen. Er wusste, der Anblick würde ihm fehlen. Und doch war da plötzlich etwas, das er mehr vermissen würde – Sue! Die Kleine hatte ihn berührt, wie es bis jetzt niemandem vor ihr gelungen war. Die Absicht, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und mit ihr und den anderen ein neues zu beginnen, war in seinem Herzen bereits Fakt, nur sein Verstand zögerte noch. Immer konkreter hatte er sich mit dem Gedanken befasst, und die Liste der Nachteile war mit jedem Augenblick kürzer geworden. Er lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück, das regelmäßige Plätschern des Regens machte ihn schläfrig, und nur ein paar Minuten später schloss er die Augen und döste sitzend vor sich hin.