2,99 €
Ausgerechnet an ihrem 21. Geburtstag geraten Allison Browns recht biedere Zukunftspläne heftig ins Wanken. Ein unerwartetes Testament macht sie zur Miteigentümerin eines Nachtclubs am Stadtrand von London: des Home of Hearts. Mutig beschließt sie, das Erbe anzunehmen, und betritt wenig später eine Welt, die sie nach anfänglicher Skepsis mehr und mehr verzaubert. Allison wird begeisterter Teil der kunterbunten Familie, fernab ihrer prüden, monotonen Vergangenheit. Aber noch etwas anderes erwartet sie in London. Die Liebe. Und die ist gar nicht so romantisch, wie sie in unzähligen Büchern beschrieben wird. Oder doch? (Band 1 der Trilogie Home of Hearts).
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Home of Hearts – Band 1
© November 2019/ Charlene Vienne
www.facebook.com/Charlene.Vienne.Autorin/
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.
Umschlaggestaltung:
Charlene Vienne/ Bilder: pixabay.com
Bildmaterial Buchlayout
pixabay.com
Erst Lektorat/ Korrektorat
Karin Struckmann, Anke Neuhäußer / Andreas März
Lektorat/ Korrektorat
Elke Preininger
Erschienen im Selbstverlag
Karin Pils
Lichtensterngasse 3–21/5/9
1120 Wien
Dieser Roman wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, lektoriert und korrigiert. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer. Das Buch enthält explizit beschriebene Sexszenen und ist daher für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.
2. Auflage
Für meine Mama,
weil du mir die Liebe zum Lesen geschenkt hast
Ausgerechnet an ihrem 21. Geburtstag geraten Allison Browns recht biedere Zukunftspläne heftig ins Wanken. Ein unerwartetes Testament macht sie zur Miteigentümerin eines Nachtclubs am Stadtrand von London: des Home of Hearts.
Mutig beschließt sie, das Erbe anzunehmen, und betritt wenig später eine Welt, die sie nach anfänglicher Skepsis mehr und mehr verzaubert. Allison wird begeisterter Teil der kunterbunten Familie, fernab ihrer prüden, monotonen Vergangenheit. Aber noch etwas anderes erwartet sie in London. Die Liebe. Und die ist gar nicht so romantisch, wie sie in unzähligen Büchern beschrieben wird. Oder doch?
(Band 1 der Trilogie Home of Hearts).
Eine grell blitzende Zickzacklinie teilte die rabenschwarze Nacht in zwei Teile. Ohrenbetäubender Donner folgte, kaum dass das Licht des Blitzes verblasste, und ließ Dunkelheit zurück. Kein Mond stand am Himmel, selbst er schien vor dem Unwetter geflohen.
Der Schein der pinkfarbenen Neonröhre über dem Eingang des Clubs spiegelte sich im schmalen Rinnsal, das an der Kante des Gehsteiges die abschüssige Straße hinunterfloss. Das Regenwasser schoss durch die Dachrinne des Hauses und stürzte rauschend hinunter. Etwa einen Meter unter der Dachkante quälten sich dicke Tropfen durch eine undichte Stelle. Sie trafen mit regelmäßiger Trägheit auf die Oberfläche der tiefen Pfütze darunter, und zerstörten das beinahe perfekte Spiegelbild einer Frau, die mit nervösem Blick an der Ecke stand.
Sie war schlank, erst beim genaueren Hinsehen erkannte man, dass sie ihre Größe ihren hochhackigen Stiefeln verdankte. Schwarzer Lack bis zur Mitte ihrer schmalen Oberschenkel, darüber knappe Shorts. Ihr Bauch, der aufgrund ihrer offenen Jacke zwischen dem hautengen Top und dem Gürtel zum Vorschein kam, war bei Weitem weniger fest als noch vor einigen Jahren. Zum Glück herrschte Dunkelheit, die den zarten Rissen in ihrer Haut ein gnädiges Versteck bot. Etwas tiefer lag eine besser versteckte, dafür mit schmerzhaften Erinnerungen verbundene Narbe. Eine fast verblasste Spur ihrer Vergangenheit – neun Monate, an die sie nicht mehr denken wollte oder es auch nur konnte! Die dunklen Haare hingen, strähnig und nass vom Regen, bis zur Mitte des Rückens, und ihre Hände spielten mit dem Reißverschluss ihrer kurzen Lederjacke. Unruhig huschte ihr Blick über die nähere Umgebung, dann zu ihrem Handgelenk, um die Uhrzeit zu erkennen.
Zwei Uhr morgens.
Sie seufzte. Es war kalt, auch wenn die Temperaturen nicht annähernd so tief waren, wie man es für Januar gewöhnt war.
Es war eine Schnapsidee gewesen – noch einmal so wie früher, noch einmal zurück auf die Straße … Val und Sam sahen ihr zu. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihr die beiden Freundinnen in der Dunkelheit des Eingangs. Kurz ärgerte sie sich darüber, auf diese blöde Pokerrunde eingegangen zu sein. Doch wann hatte sie Val schon mal einen Wunsch abschlagen können? Ihrer Vertrauten, die schon so lange mit Herz und Seele an ihrer Seite stand. Und Sam war ohnehin wie immer auf Vals Seite gewesen.
Sie lachte leise und strich sich mit den Fingern die feuchten Haare hinters Ohr.
Der nächste Blitz zog seine Bahn über den Himmel, erleuchtete für eine Sekunde ihr Gesicht. Sie hatte versucht, ihre Unsicherheit und ihr Alter unter reichlich Make-up zu verstecken. Es war ihr nicht restlos gelungen, sie sah ein bisschen billig aus, und sie wusste es.
Ein weiterer Seufzer, ein erneuter Blick auf die Uhr.
Endlich! Zwei Scheinwerfer, die langsam die Straße hinaufkrochen. Die Bindfäden des Regens tanzten in den Lichtkegeln, sie straffte ihren Körper und schob kokett ihr Becken über ihrem angewinkelten Bein in Pose. Eine Bewegung, so vergessen und doch so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie diese gar nicht wahrnahm. Ihre Lippen formten ein aufreizendes Lächeln, als das Auto die Fahrt noch mehr verlangsamte und gegenüber des Lokals anhielt.
Nun ging sie los, überquerte die Straße mit übertrieben hüftschwingendem Gang. Die Scheibe des Beifahrerfensters glitt mit leisem Surren ein Stück nach unten. Sie beugte sich hinab, darauf achtend, dass ihre Armbeugen ihre Brüste höher schoben, sie praller und fester aussehen ließen.
»Hi, Süßer! Suchst du ein Abenteuer?«, säuselte sie mit gekonnt sinnlich gefärbter Stimme, ihre Zunge leckte über ihre Lippen, langsam, aufreizend.
Der Mann im Auto war jung – überraschend jung. Soweit sie erkennen konnte, trug er biedere Kleidung, auf seiner Nase saß eine Nickelbrille. Ein schüchternes Grinsen erschien auf dem pickeligen Gesicht, was jedoch in keiner Weise half, die Unsicherheit in den ängstlichen Augen zu verbergen.
Eine Jungfrau, dachte sie belustigt, und beschloss plötzlich, Spaß in Ernst zu verwandeln. Was machte es schon, ein letztes Mal für Geld Liebe zu schenken? Dieser Junge, obwohl kaum älter als Leo oder Ben, verdiente es, von einem Profi in die Welt der Lust eingeführt zu werden.
Sie lachte leise, als er nickte, nervös blinzelnd, wenn auch die Vorfreude deutlich in seine Miene geschrieben stand.
Ihre Hand lag bereits auf dem Türgriff, als das Geräusch von quietschenden Reifen sie aufschreckte. Irritiert blickte sie nach links und erstarrte im grellen Licht von zwei Scheinwerfern, die im rasenden Tempo auf sie zukamen.
»Was zum Teufel …«, hörte sie Vals Stimme, gleichzeitig: »Carmen! Pass auf!« Das kam aus Sams Mund.
Im Augenwinkel bemerkte Carmen die Bewegungen ihrer Freundinnen in der Tür des Clubs, einen Augenblick später war sie in gleißendes Licht gehüllt. Obwohl es ihr vorkam, als wären Minuten vergangen, hatte all das nur einen Wimpernschlag gedauert. Es blieb keine Zeit für eine Reaktion, das Auto war bereits da. Sie starrte durch die schmerzende Helligkeit mitten hinein in das panische Gesicht des Fahrers, der erst jetzt zu erkennen schien, dass er längst die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. Ein letzter Versuch zu bremsen misslang – das Heck brach aus.
Den Bruchteil einer Sekunde später wurde Carmens Körper durch die Luft geschleudert, und Valerie begann zu schreien. Unter dem Gekreische des weichenden Blechs wurde das Fahrzeug des Freiers auf den Gehsteig geschoben und schlussendlich gegen die Hausmauer gepresst. Das Leben des Jungen erlosch, noch ehe er mitbekam, was ihm passierte, und auch der Fahrer des Unglückswagens überlebte ihn nur um wenige Augenblicke.
Carmen hingegen lag etwa drei Meter entfernt auf dem nassen Asphalt. Langsam kamen die beiden Wracks zur Ruhe, und der Lärm von aufeinanderreibendem Metall verstummte. Vals Schreie hallten weiter durch die Nacht. Sam weinte.
Nach der ersten Schocksekunde bewegte sich Val wie in Trance auf Carmen zu und sank laut schluchzend neben ihrer verletzten Freundin zu Boden. Bebend angelte sie nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Carmen. Ich bin hier. Hörst du mich?«
Carmen blinzelte. »Hol Leo … Ben … bitte«, wisperte sie unter Schmerzen. Val küsste ihren Handrücken erneut und wandte sich dann in Richtung Bareingang. Sam stand nicht mehr dort – wahrscheinlich war er bereits unterwegs, um die anderen zu alarmieren.
»Sie werden gleich hier sein, Schätzchen«, versprach Val weinend, und Carmen presste die Augen zu. Ihr Atem kämpfte sich in abgehackten Stößen aus ihrer Brust.
Aufgeschreckt von dem dröhnenden Radau verließen Gäste das Lokal. Ihre neugierigen Blicke wanderten umher. Im grellen Licht des nächsten Blitzes traten sie näher, auch die ersten Nachbarn eilten nun aus den umliegenden Häusern. Trotz der Nachtkühle trugen sie Schlafanzüge, Morgenmäntel und Pantoffel, ein Mann kam sogar mit nacktem Oberkörper. Er war der Einzige, der nicht ein paar Meter vor der Unglücksstelle anhielt, was ihm Bewunderung beim Rest der Schaulustigen einbrachte, die nur gespannt und grausam gefesselt auf das Geschehen starrten. Wenn auch ein wenig zaghaft, setzte er einen Fuß vor den anderen, während er auf den unförmigen Körper auf dem Asphalt und die daneben kniende Person zuging. Zustimmungsheischend in die Runde sehend kratzte er sich nervös in der rechten Achselhöhle. Eine Frau tippelte mit wippenden Lockenwicklern hinter ihm her. Ihr Blick glitt über die gaffende Zuschauerreihe und dann auf das Objekt der allgemeinen Neugier. Bei Carmen angekommen, blieben beide abrupt stehen. Der Mann nahm die Hand unter dem Arm hervor und fixierte mit offenem Mund die Gestalt zu seinen Füßen.
Carmens Augen starrten hinauf in den verregneten Himmel. Das fahle Licht der Straßenlaterne machte ihre schweren Verletzungen deutlich. Ihre Atmung ging flach und stockend. Das Rot ihres verwischten Lippenstiftes mischte sich mit dem Rot ihres Blutes, das aus einer klaffenden Kopfwunde quoll. Ihre Beine waren seltsam verdreht, ihr linker Arm lag unter ihrem zitternden Körper vergraben, und ihre spärliche Kleidung hing in Fetzen.
Heiß brannte sich ihr Atem durch ihre Lungen. Angst kam in ihr auf. Was, wenn Leo nicht mehr rechtzeitig käme? Und Ben? Verzweifelt versuchte sie, mit ihren Lippen noch einmal ihre Namen zu formen, doch alles, was herauskam, war ein schmerzhaftes Stöhnen.
»Gleich, Liebes!« Val schluchzte auf, im gleichen Moment hörte sie endlich hektische Schritte näher kommen.
»Wo ist sie?« Leos Stimme in Panik.
Val wich ein Stück zur Seite, gab die Sicht auf Carmens geschundenen Körper frei.
Ihre Lider waren wieder offen. »Leo«, brachte sie flüsternd hervor, und er beugte sich über sie, um ihre Wange zu küssen.
»Ich bin hier, Carmen.«
»Kannst du mich nicht mal jetzt Mum nennen?« Unglaublich, auf ihren Lippen lag ein Lächeln, und er lächelte automatisch auch.
»Ich hab dich lieb, Mum.« Sein Handrücken berührte ihr Gesicht, sofort spürte er die Nässe ihres Blutes.
»Leo!« Ihre Stimme ging beinahe unter in dem Gemurmel der neugierigen Gaffer, die sie umsäumten. Das Tropfen des Regens, Vals Weinen, sensationslüsternes Wispern rund um sie, doch Leo hörte nur das dröhnend laute Klopfen in seiner Brust. »Was brauchst du?«
»Wenn ich es nicht schaffe, wird Allison kommen.«
Er wusste, wer Allison war. Sein Lächeln wurde breiter und gleichzeitig trauriger.
»Wenn Allison kommt, nimm sie auf, wie ich sie aufgenommen hätte. Ich muss wissen, dass wenigstens ihr beide euch gefunden habt.«
»Das mach ich, Mum.«
»Ich helfe ihm dabei, Carmen.« Val schluchzte auf, ihre Hand hatte sie fest an ihre Brust gedrückt, unter der ihr Herz hektisch pochte.
»Und Ben. Sag ihm …« Blut quoll aus Carmens Mund, während sie die Worte herauszwang. »Ich liebe euch.« Sie brach ab, ein flacher Atemzug, danach Stille.
Leo atmete scharf ein, sah auf und begegnete Bens traurigem Blick. Er sah das Spiegelbild seines eigenen Schocks im Gesicht des Freundes und senkte den Kopf, als seine Tränen zu fließen begannen.
Irgendwo in der Nähe heulte eine Sirene, sie schwoll an, verklang dann aber wieder oder wurde nur von einem plötzlich einsetzenden Donnerschlag übertönt. Der nächste Blitz teilte den Himmel. Kaum war sein grelles Leuchten erloschen, wurde die Welt in blau flackerndes Licht getaucht, als der erste Polizeiwagen hielt.
Ein Uniformierter trat an die kleine Gruppe heran. Seine Augen scannten routiniert die beiden zerstörten Autowracks und anschließend den Körper am Boden. Die Frau auf der Straße lag reglos da, der Blick starr.
Der Polizist sah von ihr auf Leo, der mittlerweile von Ben im Arm gehalten wurde, weiter auf Valerie, die laut schluchzend auf Carmens Brust lag, und schlussendlich in die Gesichter der Umherstehenden. Sie wandten sich ab, einer nach dem anderen. Wie von einer heimlichen Abstimmung getrieben, hatten sie plötzlich Wichtigeres zu tun und kehrten zurück in ihre Häuser.
Das hier war eindeutig vorbei.
Gott sei Dank ist der Kaffee stark, dachte Allison Brown. Sie betrachtete die langweiligen und gleichzeitig gelangweilten Mienen ihrer Gäste, während sie darauf wartete, dass die Wirkung des Koffeins einsetzte, denn anders würde es schwierig werden, wach zu bleiben.
Das riesige Esszimmer war voller Menschen, die eigentlich nicht hier sein wollten, das spürte sie deutlich. Sie hatten aus den verschiedensten Gründen hierher gefunden. Ein paar aus Pflichterfüllung der Familie gegenüber, einige aus Gier – sie wussten, es wäre unklug, die reiche Verwandtschaft zu verprellen – und andere, weil sie aus Einsamkeit überall hingehen würden, nur um nicht allein zu sein.
Allison seufzte. Ihr Kostüm, ein teures Designerstück, das außer Eleganz keine guten Eigenschaften zu besitzen schien, war alles andere als bequem. Außerdem spürte sie leichte Kopfschmerzen. Wie immer hatte sie sich dem Wunsch ihrer Mutter gefügt und ihre blonden langen Haare in einer strengen Hochsteckfrisur gebändigt. Als würde sich hier irgendjemand außer ihrer Mum um ihr Aussehen scheren. Keiner war wirklich ihretwegen gekommen, so wie sich niemand dieser Gesellschaft je für sie interessiert hatte. Sie lauschte dem Stimmengewirr, das sie umspielte, und ließ dabei den Blick durch den Raum schweifen. Ihre Eltern saßen am Kopf des Tisches. Ein Paar, so unterschiedlich und durch die Jahre doch so einander angepasst. Eveline Brown sah immer noch gut aus. Sie war groß, fast genauso groß wie Adam, doch auch ohne diesen Umstand hatte sie etwas an sich, das jedem das Gefühl verschaffte, sie würde ihn überragen.
Allison seufzte. Alles hier strahlte Überlegenheit aus, so wie auch ihr Elternhaus, das einem Herrenhaus nachempfunden war, wenn auch natürlich im kleineren Maßstab. Ihre Mutter hatte sich auf einer Reise in ihrer Jugend in das Original verliebt und es sofort auf die Liste für ihre Aussteuer gesetzt. Also hatte ihr Vater es bauen lassen und es ihr pünktlich zu ihrer Hochzeit übergeben. Trotzdem erzählte sie gern, dass es im 18. Jahrhundert für einen Duke soundso errichtet worden sei.
Der Salon galt als Herzstück des Hauses. Ihre Mutter hatte Monate damit zugebracht, die idealen Möbel hierfür auszuwählen, die richtigen Farben für die Wände, die passenden Dielen für den Fußboden. Alles kühl und glatt, wie sie selbst. Keine Frage, das Zimmer wirkte vollkommen, doch genau diese Perfektion machte es Allison unmöglich, in diesem Raum ein Gefühl der Behaglichkeit zu empfinden. Er schüchterte sie einfach nur ein.
Ihr Blick streifte den sechs Meter langen Esstisch aus spiegelblank poliertem Mahagoniholz. »Vergiss nicht den Untersetzer!« Diesen Satz hatte sie wohl tausendmal von ihrer Mutter gehört. Sie verdreht innerlich die Augen.
Das mittig auf dem Tisch stehende, kunstvoll arrangierte Blumengesteck stach ihr ins Auge. Es wirkte deplatziert, wie der erfolglose Versuch, dem Ganzen ein wenig Wärme einzuhauchen. Als Nächstes nahm sie die lächerlich biederen Tischdeckchen unter die Lupe. Ihre Mum bestand darauf, sie zu benutzen. Bei jeder Mahlzeit, sei es auch nur ein kleiner Imbiss. Das war unter anderem der Grund, warum ihr Vater Snacks gern in seinem Arbeitszimmer einnahm. Auf jedem der Spitzen-Sets lag eine blank polierte Silbergabel, millimetergenau ausgerichtet neben dem Kuchenteller, darauf eine zum Schwan gefaltete Serviette.
Der Rest der Möbel war selbstverständlich aus dem gleichen Holz gefertigt wie der Tisch. Sogar der Fußboden wies denselben Farbton auf. Kurzum, alles vereinigte sich zu einer Harmonie aus Langeweile und Perfektionismus.
Deshalb zog Allison es vor, sich auf die anwesende Verwandtschaft zu konzentrieren. Vielleicht gab es da etwas Unterhaltsames zu entdecken? Wirklich. Tante Betsy stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Sie hatte sichtlich Mühe, auf den schmalen Biedermeierstühlen eine bequeme Sitzposition zu finden, denn ihr Arsch quoll auf beiden Seiten der Rückenlehne hervor. Auch Onkel Albert kämpfte um mehr Komfort für seinen Hintern. Gequält in die Runde lächelnd, mit unauffälligen rechts und links ausladenden Bewegungen.
Amüsiert ließ Allison den Blick weiterwandern und erfasste die zittrige Hand ihres Onkels Bernie. Mit ausgestrecktem Zeigefinger verlangte er nach dem dritten Nachschlag Torte. Tante Maud schnitt sorgfältig ein Stück ab, wodurch sie, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt, die rosa »Einundzwanzig« trennte, die mittig auf der weißen Glasur saß. Die nun isolierte Eins glitt langsam über die Oberfläche, während Maud das Stück vorsichtig auf der Tortenschaufel in Richtung Teller balancierte.
Ein kurzes hektisches Klopfen an der Tür ließ Maud so stark zusammenzucken, dass das Tortenstück zu schwanken begann, schließlich kippte und fiel. Es landete teils auf dem Porzellan, teils auf dem blütenweißen Tischtuch – und die Eins in Tante Mauds Kaffeetasse. Plötzliches Schweigen legte sich über die versammelte Gesellschaft.
Allisons Mutter starrte fassungslos auf das Chaos, weiter auf Mauds schuldbewusst gesenktes Haupt, dann stieß sie ein »Herein« zwischen den Zähnen hervor.
Maddie, das Hausmädchen, erschien in der Tür, den Kopf ängstlich gesenkt. In ihren Händen drehte sie ein Kuvert. Sie räusperte sich leise, bevor sie mit demütiger Stimme sagte: »Mrs. Brown, es wurde eben ein Brief für Miss Allison abgegeben.« Während sie auf die Erwiderung ihrer Chefin wartete, blieb ihr Blick zu Boden gerichtet.
Allison setzte sich neugierig auf. Wer konnte ihr noch schreiben? Jeder, der ihr üblicherweise Glückwünsche überbrachte, saß hier im Raum – auch wenn diese Aufmerksamkeit den unterschiedlichsten Gründen geschuldet war.
Eveline Brown stand mit steifen Bewegungen auf. Das Sonnenlicht verfing sich in ihrem vollen blonden Haar und brachte es zum Leuchten. Adam, ihr Mann, sah von Maddie zu ihr, weiter auf seine Tochter und wieder zurück.
»Von wem?«, fragte Eveline knapp. Ihr schlanker Körper straffte sich unter ihrem eleganten, dunkelblauen Wollkostüm. Trotz ihrer Überraschung fand Allison die Zeit, sich über das Verhalten ihrer Mutter zu ärgern. Auch wenn es nur allzu typisch für sie war.
Maddie hielt den Umschlag dicht an ihre vor Anstrengung zusammengezogenen Augen. »Dr. Richard Hedderson. Notar und Rechtsanwalt«, las sie mit stockender Stimme, und plötzlich stand auch Adam Brown. Sein Gesicht war vor Anspannung verzerrt und sein Kehlkopf sprang auf und ab.
Allisons Mundwinkel zuckten. Der Kontrast des Anblicks ihrer stocksteifen Mutter und ihres vor Aufregung vibrierenden Vaters erheiterte sie ungemein.
»Wieso bekommt sie Post von einem Rechtsanwalt?«, stieß Eveline hervor. Sie starrte ihren Mann an, als sei er die personifizierte Brieftaube, welche die ungewöhnliche Nachricht in ihr Haus gebracht hatte.
Adam schien in seinem schwarzen Anzug zu versinken. Er fuhr sich mit der Hand durch das graue, bereits deutlich gelichtete Haar. »Ich weiß es nicht, jedoch würde ich vorschlagen, das nicht vor der versammelten Familie zu diskutieren«, zischte er ihr zu.
Eveline nickte, schmiss ihre Serviette auf den Tisch und warf Allison einen auffordernden Blick zu.
»Wir gehen in mein Büro«, bestimmte Adam kurzerhand, worauf seine Frau eine Entschuldigung in Richtung der aufmerksam lauschenden Verwandtschaft murmelte, auf Maddie zuschoss und ihr den Brief aus der Hand riss. Gleich darauf eilte sie, ihrem Mann voraus, aus dem Zimmer.
»Entschuldigt uns bitte«, bat Allison mit einem verwirrten Blick in die Runde. Es schien angebracht, den beiden so rasch wie möglich zu folgen. Das tat sie, mit eiligen Schritten, wobei sie das Tempo immer mehr anziehen musste, umso näher sie dem Büro ihres Vaters kamen.
Kaum hatten sie das Arbeitszimmer betreten, wies eine Geste Adams sie an, auf der kleinen Ledercouch am Fenster Platz zu nehmen. Also ließ sie sich darauf nieder. Ein zartes Gefühl der Unsicherheit, ein vager Hauch von Angst keimte in ihr auf, befeuchtete ihre Handflächen und beschleunigte ihren Puls.
Voller Ungeduld rissen ihre Eltern den Brief auf und begannen beide, den Inhalt zu überfliegen, wobei sich ihre Köpfe asynchron bewegten. Ein lustiger Anblick. Dieses heitere Empfinden blieb freilich alleinig Allison vorbehalten. Genau schien nur ihr klar zu sein, wie dreist das Verhalten ihrer Eltern eigentlich war. Doch so war es eben im Hause Brown. Man nahm hin und schwieg.
Adams Augenbrauen bildeten eine Einheit, tiefe Falten teilten seine Stirn, und Eveline kaute so stark an ihrer Unterlippe, dass sich darauf ein kleiner roter Blutstropfen formte.
Nach unendlichen drei Minuten blickten beide schließlich zu Allison auf. Es wirkte, als würden sie ihre Tochter plötzlich in einem völlig anderen Licht sehen. Das machte sie nervös. Ihre Finger spielten an dem Revers ihres winterweißen Blazers.
»Allison!«, begann Eveline mit angespannter Stimme. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, was Allisons Nervosität noch erhöhte.
»Wir haben lange überlegt, wann wir dir sagen sollen, was ich dir nun mitteilen muss. Doch es schien irgendwie nie der richtige Moment zu sein.«
»Mir was sagen?« Allison fixierte ihre Mutter ungläubig, fassungslos angesichts der Wendung, die dieser Tag plötzlich zu nehmen schien. Sie spürte, da raste irgendetwas auf sie zu, etwas, das die Kraft besaß, ihre Welt aus den Angeln zu heben.
»Dieses Schreiben hat uns die Entscheidung abgenommen«, fuhr Eveline fort, als hätte Allison gar nichts gesagt. Danach holte sie tief Luft, blickte zu ihrem Mann, der sich sofort gehorsam neben sie stellte, den Blick allerdings auf seine Schuhspitzen gerichtet.
»Das hier ist eine Einladung an dich«, erklärte Eveline mit seltsam steifer Stimme. So als wäre sie eine Nachrichtensprecherin, darum bemüht, möglichst neutral zu klingen. »Also vielmehr eine Vorladung.« Sie hüstelte leise. Adams Finger begannen an den Knöpfen seines Jacketts zu spielen.
»Eine Vorladung wofür?«, fragte Allison und stand auf.
Ihre Mutter fuhr fort, mit monotoner Stimme zu sprechen. »Für eine Testamentseröffnung, bei der du als Pflichterbe anwesend sein musst.«
Diese Information machte Allisons Verwirrung komplett. Das passte doch alles nicht zusammen. Wer würde ihr etwas vermachen? Sämtliche Mitglieder ihrer Familie saßen nebenan oder standen ihr gegenüber. »Wessen Testament?«, stellte sie daher die naheliegende Frage, worauf ihre Mutter wie aus der Pistole geschossen antwortete:
»Carmen Spencer.«
Allison zuckte ratlos mit den Schultern. »Wer ist das?«
Adam seufzte laut und senkte den Blick noch tiefer. Nun lag sein Kinn fast auf der Brust, während Eveline sich streckte und einiges an Arroganz in ihre Kopfhaltung legte. »Deine Mutter«, erklärte sie kurz und knapp.
Augenblicklich wich die Kraft aus Allisons Beinen, ihre Knie gaben nach und sie plumpste wenig elegant zurück auf das Sofa. In ihren Ohren rauschte es, und vor ihren Augen tanzten bunte Punkte. Sie schloss die Lider, blinzelte dreimal, und schließlich half es. Im Mosaik von tausenden Farben setzte sich Stück für Stück das Bild ihrer Eltern wieder zusammen. Gebannt starrten sie zu ihr hinüber. »Was?«, war das Einzige, das sie hervorbrachte.
»Du bist adoptiert, Allison«, fuhr Eveline kühl fort. Sie schien nicht zu bemerken, dass ihr vorhergehender Satz bereits wie eine Bombe eingeschlagen war. »Du bist adoptiert.« Ein weiteres Mal hörte Allison den Satz und erneut stob das mühsam geflickte Bildnis ihrer Eltern auseinander und zerbarst in hunderte von Farbpunkten.
Sie krallte sich im Stoff des Sofas fest, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, zu fallen, immer tiefer, in ein Nichts aus Unsicherheit und Einsamkeit. Ihre Atmung tönte laut durch den Raum, während sie versuchte, irgendwie genug Sauerstoff zu bekommen. Es klang wie das Japsen eines Asthmakranken. Während sie noch versuchte, den Boden unter den Füßen zurückzugewinnen, hörte sie wie durch Watte die unsichere Stimme ihres Vaters:
»Carmen … ähm … deine Mutter ist vor ein paar Tagen ums Leben gekommen. Deshalb musst du zu diesem Notar … Wenn du möchtest … kann dich unser Anwalt … ähm … begleiten«, schaltete sich nun auch Adam ein. Sein Gestotter drang besser zu Allison durch als Evelines eintönige Leier.
Sie hob den Blick und starrte gehetzt zu ihm hoch. »Warum brauche ich einen Anwalt?«, flüsterte sie.
Er schüttelte hektisch den Kopf. »Du brauchst keinen Anwalt. Ich dachte nur, es wäre angenehmer, wenn du nicht allein dorthin fährst.«
»Allein? Warum kommt ihr denn nicht mit?« Allison musterte ihn verwirrt.
Adam ließ sein Jackett los, stattdessen traktierte er nun den Knopf am Hemdsärmel. »Ich denke, das wäre unpassend.«
»Warum?«
»Weil sie deine Mutter war. Wir haben mit ihr nichts zu tun«, fuhr ihre Mutter dazwischen.
»Nein, ihr habt ihr nur das Kind abgenommen …«, stieß Allison mit einer großen Portion Ironie gewürzt hervor.
Ihr Vater zuckte zusammen, während Eveline sie nur wütend anfunkelte. »Wir haben dich von der Straße geholt, du undankbares Gör. Deine Mutter war eine Nutte, die dich für ein paar Hunderter verkauft hätte«, stieß sie hervor.
Allison wich vor ihrer zornigen Stimme zurück – so hatte sie ihre Mutter noch nie sprechen hören. Oder besser gesagt, die Frau, die gar nicht ihre Mutter war!
»Eveline, bitte«, brachte sich Adam erneut in das Gespräch ein. Rote Nervenflecken blühten auf seinem glänzenden Gesicht.
»Was heißt, sie war eine Nutte?«, rief Allison und sprang auf ihre Füße.
»Das war nicht metaphorisch gemeint. Sie war eine Hure. Weißt du, was das ist? Sie hat für Sex Geld genommen.« Eveline brüllte nun, und Adams Blick fuhr zur Tür und wieder zu ihr zurück.
Allison schnappte nach Luft. Sie konnte nicht fassen, in welche Richtung dieses Gespräch sich entwickelte. »Was ist denn los mit dir, Mum?«, stammelte sie hilflos. »Warum schreist du mich wegen Dingen an, die eine Frau gemacht hat, die mir völlig unbekannt ist?«
»Ich habe gewusst, dass das irgendwann kommt.« Eveline sprach jetzt zu ihrem Mann, nicht mehr zu Allison. »Ich habe dich gewarnt und hatte wie immer recht.«
Tränen der Wut glitzerten in ihren Augenwinkeln. Adam sah schuldbewusst und ängstlich zu ihr hinüber. »Eveline …«, begann er, doch sie stoppte ihn unwirsch und wandte sich zur Tür.
»Sag den anderen, dass ich Migräne habe«, zischte sie und verschwand durch die Tür.
Einen Moment herrschte Stille, nur das Echo der zuknallenden Tür schien in einem zarten Hall noch durch den Raum zu schweben. Schließlich räusperte sich Adam. »Geh nach oben«, sagte er leise, drückte Allison den Brief in die Hand und verließ ebenfalls das Zimmer.
Allison stand wie erstarrt und fixierte die geschlossene Tür. Gedämpft klang die Entschuldigung ihres Vaters durch das Holz, dazwischen das Gemurmel der Verwandten. Sie würden gehen – so viel war klar. Man kam, wenn die Browns einluden, und man ging, wenn man dazu aufgefordert wurde. Ihre Zähne malträtierten ihre Unterlippe mit zarten Bissen. Schritt für Schritt nahm ihr Gehirn wieder seine Arbeit auf, und die Rädchen im Inneren setzten mühsam aber bereitwillig ihre Drehungen fort, zeigten ihr die Möglichkeiten und Optionen auf, die jetzt vor ihr lagen.
Nach oben gehen – so wie ihr Vater es verlangt hatte. Oder …?
Langsam drehte sie sich um und ging mit gesenktem Kopf zur hinteren Tür und hinaus in den Garten.
Es regnete und es war kalt. Der Winter hatte nach den letzten milden Tagen noch einmal zugeschlagen. Doch das war ihr egal. Mit dem Brief in der Hand lief sie einfach weiter. Nach einigen Metern mischten sich ihre Tränen mit den Regentropfen, und sie merkte, dass das seltsame, einem Heulen gleichende Geräusch nicht nur vom Wind kam, sondern auch von ihr.
*
Allison konnte sich nicht erinnern, bewusst entschieden zu haben, zu dem Termin zu fahren. Trotzdem jagte sie nach ein paar Minuten in ihr Zimmer und dort zu ihrem Kleiderschrank.
Während sie einige Sachen in eine kleine Reisetasche packte, dachte sie an Andy. Sie würde sofort zu ihrem Freund fahren und ihn bitten, sie zu begleiten. Auch über diese Entscheidung hatte sie nicht ausdrücklich nachgedacht. Doch sie spürte, dass sie bei diesem Ausflug keinen Anwalt an ihrer Seite haben wollte. Sie brauchte einen Menschen, dem sie vertraute, jemanden, der ihr die Sicherheit und die Geborgenheit geben konnte, die sie benötigte, um das zu überstehen.
Unten im Haus war es still geworden. Die Verwandtschaft war schon vor Stunden gegangen. Ihr Vater hatte sie mehr oder minder höflich hinauskomplimentiert, nur um sich danach in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Den Aufenthaltsort ihrer Mutter kannte Allison nicht genau. Aber sie tippte darauf, dass diese sich in ihrem Schlafzimmer verbarrikadiert hatte. Mit einem Kühlbeutel auf dem Kopf und ein bis zwei Beruhigungstabletten im Magen.
Allison schloss die Tasche, schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und aus dem Haus. Nach dem Streitgespräch vom Nachmittag hatte sie keine Lust, die Eltern persönlich über ihre Abreise zu informieren. Nicht, solange die Angelegenheit ungeklärt war. Erst galt es, diesen Termin hinter sich zu bringen. Bei ihrer Rückkehr bliebe immer noch genügend Zeit, alles ausführlich zu diskutieren. Wenigstens würde dann Klarheit herrschen, worüber überhaupt geredet werden musste.
Da war eine unverwandte Wut in ihrem Bauch. Sie wusste nicht, ob die überzogene Reaktion von Eveline oder die Passivität ihres Vaters sie mehr gekränkt hatten. Trotzdem behielten ihre guten Manieren die Oberhand. Also hinterließ sie ihrem Vater eine kurze Notiz, auf der sie vermerkte, wohin sie verschwunden war. Schließlich hatte auch für ihn vorhin der Grundsatz: »Weniger ist mehr« gegolten.
Ein paar Schritte weg vom Haus hielt sie inne und sah über den weitläufigen Garten auf den kleinen Teich, der das Grundstück abschloss. Einige Enten schwammen in trägen Kreisen, und ein Schwan streckte seinen Hals in ihre Richtung. Sein Schnabel hob und senkte sich zweimal – wie ein Gruß zum Abschied. Automatisch hob sie ihre Hand, winkte zurück, erst dann ging sie zu ihrem Auto. Es war ein hellblauer VW Beetle, das Geschenk zum letzten Geburtstag.
Kaum, dass sie hinter dem Steuer saß, drehte sie den Schlüssel einmal, schaltete in den Leerlauf und ließ den Wagen, ohne den Motor zu starten, losrollen. Einen besorgten Blick Richtung Haus werfend, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass die abschüssige Ausfahrt genügen würde, um außer Hörweite zu gelangen. Ob nun mit Hilfe von oben oder Glück, sie schaffte es bis zur ersten Biegung, bevor das Auto langsamer wurde.
Ein weiteres Mal sah sie ängstlich in den Rückspiegel, befand aber schlussendlich den Abstand als groß genug. Also drehte sie den Schlüssel erneut, während ihr Fuß das Kupplungspedal nach unten drückte und ihre zitternde rechte Hand in den zweiten Gang schaltete. Der Motor erwachte stotternd zum Leben, und sofort brüllte es ihr aus dem Radio entgegen.
»Verdammt!«, stieß sie erschrocken hervor, griff hektisch zum Regler und stellte die Lautstärke leiser. Noch einmal sah sie zurück, doch das Haus war bereits nicht mehr zu sehen. Ein zittriger Seufzer kroch über ihre Lippen; sie wandte ihr Gesicht wieder nach vorn, schaltete die Scheinwerfer an und folgte den Lichtkegeln über den schmalen Schotterweg bis zur Hauptstraße.
Konzentriert lenkte sie ihren kleinen VW durch die Nacht. Nach ein paar Meilen überfiel sie jedoch derart heftige Müdigkeit, dass sie das Fenster öffnen musste. Die kalte Nachtluft half, trotzdem drückte sie auf den Radioknöpfen herum, um irgendeine aufmunternde Musik zu finden. Ein schnulziger Song ertönte und entlockte ihr einen Seufzer. Sie versuchte, sich Andys Gesicht vorzustellen, wenn sie gleich überraschend bei ihm auftauchen würde.
Allisons streng katholische Erziehung hatte ihre Einstellung zu Sex geprägt. Jemandem zu begegnen, der dies akzeptierte, war kein Leichtes gewesen. Umso mehr schätzte sie Andy. Sie war ihm unendlich dankbar dafür, sie dabei zu unterstützen, die Werte ihres Elternhauses zu wahren. Und obwohl sie die eine oder andere Situation auf eine harte Probe gestellt hatte, fand sie, im Gegensatz zu ihren Freundinnen, nichts dabei, damit bis zur Hochzeitsnacht zu warten.
Anfangs hatte sie befürchtet, ihn mit ihren Ansichten zu verschrecken. Doch er schien unerschütterlich, nahm ihre Bedenken ohne Murren hin und akzeptierte ihre Grenzen. Natürlich war klar, dass es ihm nicht immer leichtfiel. Ab und zu konnte sie ihm die schwindende Beherrschung direkt an der Nasenspitze ansehen. Zum Beispiel wenn sie nach endloser Schmuserei aufhörten, bevor noch irgendetwas passierte. Trotzdem kam nie ein Wort der Ungeduld über seine Lippen. Dafür schenkte sie ihm ihr Herz und war überzeugt, dass spätestens in einem halben Jahr der Heiratsantrag erfolgen würde. Unzählige Male hatte sie schon davon geträumt. Von ihrer perfekten Hochzeit und der perfekten Hochzeitsnacht danach. Er war ihr Held, ihr geduldiger Held, und sie liebte ihn mit der Intensität eines stets einsamen Mädchens, das endlich jemand wahr- und vor allem ernst nahm.
Als sie zehn Minuten später vor Andys Haus hielt, war sie sich bezüglich der Fahrt zu dieser Testamentseröffnung nicht mehr ganz so sicher wie noch eine halbe Stunde zuvor. Wahrscheinlich war es am besten, Andy nach seiner Meinung zu fragen. Befand er die Idee für gut, würden sie gemeinsam fahren, wenn nicht, dann nicht.
Sie kletterte aus dem Wagen und ging langsam Richtung Haustür. Seit drei Monaten lebte Andy nun ohne seine Eltern hier. Sie waren aus beruflichen Gründen 300 Meilen weit weggezogen. Wie sie ihn um diese Freiheit beneidete!Bei ihr zu Hause herrschte natürlich absolute Unwissenheit über die Tatsache, dass Andy allein wohnte. Eveline hätte sie nicht einmal mehr in seine Nähe gelassen, wäre auch nur ein leiser Verdacht diesbezüglich aufgekommen.
Automatisch musste sie grinsen. Nach den heutigen Erlebnissen bekam sie eine ungefähre Ahnung, wem sie die Erziehung zu extremer Keuschheit zu verdanken hatte. Kein Wunder, dass ihre Mutter Angst um ihre Tugend hatte, wenn ihre leibliche Mutter wirklich eine Nutte gewesen war. Eveline glaubte unbeirrbar an die zehn Gebote. Ihr zuliebe hatte Allison versucht, ebenso daran zu festzuhalten. Was ihr natürlich von Jahr zu Jahr schwerer fiel. Zumindest teilweise.
Schwierig wurde es zum Beispiel beim Thema Lügen. Ihr war klar, dass Lügen zu den Todsünden gehörte. Trotzdem: Die Sicherheit, dass Andy und sie sich sonst an die Regeln hielten, verleitete sie in diesem Fall dazu, darüber hinwegzusehen. Schließlich war das »nicht über etwas zu sprechen« nicht vergleichbar mit Lügen. Und sie taten ja nichts Verbotenes, wenn sie hier allein waren. Also, auf jeden Fall nichts Schlimmes.
Auf der Suche nach dem Hausschlüssel, den Andy ihr vor einigen Wochen gegeben hatte, irrte ihre Hand in ihrer Tasche umher. Mit Vorfreude in den Augen drehte sie ihn lautlos im Schloss und versuchte ebenso leise zu sein, als sie das Haus betrat.
Das Erste, was sie wahrnahm, war ein süßlich-schwerer Duft. Er schlich sich in ihre Nase und weckte eine Assoziation von blonden Locken und aufreizenden, vollen Lippen.
Sofort beschlich sie ein eigentümliches Gefühl – es war ein sanfter Druck in der Brust, Trockenheit in der Kehle, dumpfes Brummen in den Ohren. Ein Gefühl, das ihr sagte, umkehren wäre eine gute Idee – weil der Rückzug sie davor bewahren könnte, Dinge zu erfahren, die sie nicht wissen wollte. Trotzdem schlüpfte sie aus ihren Schuhen, stellte ihre Tasche ab und schlich die Treppe nach oben.
Leise Musik drang aus seinem Schlafzimmer, Musik, die sie nicht kannte. Musik von der Art, die Andy nie freiwillig eingelegt hätte. Das komische Gefühl wuchs zu einem eisigen, schweren Stein in ihrem Magen, und sie hielt inne.
Kichern – sie war sicher, ein Kichern zu gehört zu haben.
Andy kicherte?
Ungläubig schüttelte sie den Kopf und machte einen weiteren Schritt zur Tür, bevor sie erneut stehen blieb. Das war nicht Andys Stimme, davon war sie plötzlich überzeugt – sie gehörte einer Frau.
Geh einfach wieder! Fahr nach Hause! Allison kannte dieleise Stimme in ihrem Hinterkopf. Sie war immer da, um sie vor Katastrophen zu bewahren, hatte sie oft vor Enttäuschungen geschützt. Diese Stimme hatte sie weghören lassen, als Rick, ihr erster fester Freund, sie eines Abends anrief, um ihre Verabredung abzusagen. Sie hatte ihr auch geholfen, die Hintergrundgeräusche auszublenden, die ihr vielleicht gezeigt hätten, wo er wirklich war und was er tatsächlich trieb.
Doch diesmal wollte sie nicht auf diese Stimme hören. Allison fühlte sich stark genug, um zu sehen, was hinter der angelehnten Schlafzimmertür vorging.Entschlossen machte sie die letzten beiden Schritte und öffnete sie.
Wo kommt das rote Licht her?, lautete ihr erster Gedanke. Ihr Blick fiel auf den rosa Schal, der über der Nachttischlampe hing und für kuscheliges Ambiente sorgte. Erst danach sah sie zum Bett, vor dem Andy am Boden kniete. Sie starrte auf seinen flachen, behaarten Arsch, den er ihr, bedingt durch die leicht gebückte Haltung, entgegenstreckte, und musste ein nervöses Kichern unterdrücken. Sein Kopf bewegte sich in eindeutiger Bewegung zwischen zwei weit gespreizten schlanken Beinen, und das Seufzen, das den Raum erfüllte, ließ sie vermuten, dass er seine Sache gut machte.
Die Frau, die er beglückte, lag auf der rechten Seite des Bettes, ihre blonden Locken ungefähr dort, wo sich die Matratzen trafen. Allison konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das musste auch nicht sein. Natürlich kannte sie die Person. Es war Marlene, Andys Exfreundin. Oft genug hatte Allison sie gesehen und oft genug hatte sie sich bei ihm über seinen ungezwungenen Umgang mit ihr beschwert. Er hatte ihre Eifersucht beiseitegewischt, genauso wie jetzt anscheinend auch die Gedanken an Allison, während er sie hinterging.
Marlene kam mit lautem Gestöhne zu ihrem Höhepunkt, und wieder hörte Allison das Kichern, das sie vorhin für ein Frauenlachen gehalten hatte. Sie hatte sich geirrt, es kam doch von Andy. Er hob seinen Kopf und kroch über den Bettrand zwischen Marlenes Beine. Sein Hintern senkte sich und ein lautes Keuchen erklang.
Allison stand immer noch erstarrt in der Tür. Unbemerkt von dem glücklichen Paar. Erst als ein erneutes Stöhnen ertönte, dieses Mal der synchrone Laut von männlicher und weiblicher Lust, wich sie lautlos zurück und weiter hinaus aus dem Zimmer. Auf dem Weg die Treppe nach unten lauschte sie, ohne es zu wollen, dem Liebesspiel der beiden. Dabei begann sie, ihn zu hassen.
An dem kleinen Board neben der Haustür hielt sie an und suchte ihr eigenes Bild in dem Spiegel, der darüber hing. Sie fixierte ihre grünen Augen, die verdächtig glitzerten. Ihre blonden Haare klebten an den Schläfen. Angeekelt merkte sie, dass auch ihr restlicher Körper schweißgebadet war, nahm den säuerlichen Geruch wahr, der von ihr ausging. Schwere Traurigkeit ließ ihren Blick nach unten sinken, in ihrer Hand lag immer noch der Schlüssel. Sie legte ihn auf das Board und ging durch die Tür nach draußen. Diesmal, ohne leise zu sein. Dafür gab es keine Notwendigkeit mehr.
*
Fünf Minuten später saß sie wieder in ihrem Auto. Ihre Augen konzentrierten sich auf den schmalen Strich, zu dem die ohnehin enge Landstraße durch die hohe Geschwindigkeit geworden war. Sie waren voller Tränen, die nach und nach die Talfahrt über ihre Wangen antraten. Zuerst ließ sie ihnen freien Lauf, doch die befreiende Wirkung, die Weinen sonst zur Folge hatte, trat nicht ein.
Ein lautloses »Scheiße« zischend, wischte sie mit dem Handrücken die Nässe vom Gesicht. Na gut, dann muss ich das eben allein durchziehen, dachte sie störrisch.
Ihre Hand tastete auf dem Beifahrersitz nach ihrer Handtasche und griff ins Leere. Verdammt – sie hatte sie in Andys Haus stehen lassen! Sofort lenkte sie das Auto auf den Seitenstreifen und trat auf die Bremse. Ihr Handy war in der Tasche, genau wie ihre Geldbörse. Gleichzeitig verzweifelt und von ihrer eigenen Schusseligkeit genervt, lehnte sie ihre Stirn an das Lenkrad und stöhnte leise. Dann fiel ihr ein, dass sie zum Glück ihren Ausweis, ihre Kreditkarte und ein bisschen Bargeld in der Reisetasche untergebracht hatte.
Erleichtert beschloss sie, nicht umzukehren. Spätestens morgen Abend würde sie zurück sein. Da war es immer noch früh genug, um die Tasche zu holen. Schon jetzt schauderte sie nur bei dem Gedanken daran, Andy wieder gegenübertreten zu müssen. Plötzlich kam ihr dieser Trip in die Stadt wie ein Glückstreffer vor, verschaffte er ihr doch eine wunderbare Ausrede, dieses Wiedersehen um ein oder zwei Tage zu verschieben.
Erfüllt von einer plötzlichen Euphorie fuhr sie zurück auf die Straße, und nach ein paar hundert Metern lachte sie leise, dann versuchte sie, sich Andys Gesicht vorzustellen, wenn er ihren Schlüssel und ihre Tasche finden würde, lachte lauter und trat noch etwas stärker auf das Gaspedal.
Das Auto wurde schneller. Die Bäume, die den Straßenrand säumten, flogen wie bunte Nebelschwaden vorbei, während die Landschaft im Licht des sinkenden Mondes langsam Gestalt annahm.
Allisons Gedanken schweiften ab. Was würde es bedeuten, wenn diese Carmen wirklich ihre biologische Mutter gewesen war? Die tausend Gelegenheiten kamen ihr in den Sinn, in denen sie an ihre Grenzen gestoßen war. Im ewigen Bemühen, die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen. Unzählige, für sie damals unerklärliche Blicke, die ihr ihre Mutter zugeworfen hatte, wenn sie wieder mal nicht ordnungsgemäß funktioniert hatte. In Anbetracht dessen, was sie heute erfahren hatte, zeichnete das alles plötzlich ein neues Bild. Die Andeutungen und spitzen Worte ergaben auf einmal einen Sinn. Es erklärte vieles.
Die ganze Fahrt über ging sie in Gedanken die letzten Jahre durch. Immer wieder blitzte die Erkenntnis auf, dass die Zeichen so vage gar nicht gewesen waren. Dass sich eine deutliche Spur durch ihre Vergangenheit zog, die nur deshalb im Verborgenen geblieben war, weil Allison sie einfach nicht hatte sehen wollen.
Die endlosen Diskussionen mit ihrer Mutter bezüglich ihrer Kleidung, ihres Haarschnitts, dem Wunsch, sich zu schminken. Eveline hatte ihre Weiblichkeit unterdrücken wollen, davon war Allison nun überzeugt. Sie hatte versucht, die ihrer Meinung nach unausweichliche Resonanz der Erbmasse in ihr im Keim zu ersticken. Die Gene, die von der Hure, die ihre leibliche Mutter gewesen war, in ihr gepflanzt worden waren.
Und die entsetzten Blicke ihres Vaters! Zum Beispiel, als sie damals das erste Mal mit Rick nach Hause gekommen war. Oder Eves beinahe unwirklich überzogenes und ablehnendes Verhalten ihm und später auch Andy gegenüber.
Kaum hatte sich Andy wieder in ihre Gedanken geschlichen, brach sie das Nachdenken ab, dafür hatte sie nun wirklich keinen Nerv und keine Kraft. Um sich abzulenken, drehte sie die Musik lauter. Unter den Klängen eines schrillen Popsongs leerte sich endlich ihr Kopf, und das Einzige, das blieb, war der Text des Liedes, den sie unbewusst laut mitsang.
Um drei Uhr früh musste Allison an einer Raststelle halten, weil ihr bereits dreimal kurz die Augen zugefallen waren. Sie legte eine kleine Schlafpause von drei Stunden ein und setzte gegen sechs ihren Weg fort. Immer noch unausgeschlafen, aber nun zumindest nicht mehr akut müde.
Je näher sie London kam, desto mehr entwickelte sich ihre leichte Nervosität zu einer ausgewachsenen Panik. Sie war schon öfter in der Hauptstadt gewesen. Einmal zum Beispiel, um sich mit ihrer Mutter »Les Miserables« anzusehen. Leider hatten sie das Theater ziemlich bald wieder verlassen. Die Szene mit den Huren am Hafen dürfte ihrer Mutter wohl sauer aufgestoßen haben. Und nun wusste Allison ja den Grund. Einen Ausflug mit der Schule hatte sie ebenfalls mal hierher gemacht. Der Besuch der Queens Gallery und das Bestaunen der Wachablöse vor dem Buckinghampalast gehörte schließlich zur Grundbildung jedes englischen Schülers.
Nur hatten diese Hauptstadt-Visiten sich leider ausschließlich auf das Zentrum beschränkt. Ihr heutiges Ziel lag im Süden der Stadt. Dementsprechend angespannt ließ sie sich von ihrem Navigationsgerät durch die fremden Straßen lotsen. Noch immer hatte sie keine Ahnung, was genau sie bei diesem Rechtsanwalt erwartete. Sie hatte lediglich die Adresse und den Namen. Für einen Moment wünschte sie, doch das Angebot ihres Dads angenommen zu haben. Vielleicht wäre es gut gewesen, zumindest irgendjemand bei sich zu haben. Und sei es nur ein bezahlter Rechtsverdreher. Seufzend beschloss sie, nicht länger darüber nachzudenken. Laut der Restzeit, die das Navi angab, würde sie in ein paar Minuten am Ziel sein. Die Gegend hier war weitläufig, mit vielen Grünflächen und den typischen Einfamilienhäusern, wo eines dem anderen wie ein Ei glich. Kurz befürchtete sie schon, aus Versehen die Stadtgrenze passiert zu haben, als sie die blecherne Frauenstimme plötzlich mit leiernder, undeutlicher Sprache anwies, nach rechts in eine schmale Gasse einzubiegen.
Die nächsten Meter legte sie im Schneckentempo zurück. Es war, als wäre sie gerade durch ein Wurmloch gefahren. Die Häuser, die entlang dieser engen Straße standen, waren allesamt baufällig, standen eng aneinander, und so viel Grün sie die vergangenen zehn Minuten gesehen hatte, so wenig Natur war hier zu finden. Das hier war ein typisches Arbeiterviertel. Nicht, dass sie solche Gegenden wirklich kannte. Aber sie hatte mal Bilder gesehen, im Zuge der Berichterstattung über die Mines Strikes – der Bergarbeiterkrise 1984/1985.
»Fahren Sie weiter geradeaus. Sie erreichen Ihr Fahrziel in einhundert Metern«, tönte es aus dem Lautsprecher, also begann Allison, nach einem Parkplatz Ausschau zu halten. Ihr suchender Blick wurde von einer kleinen Gruppe Männer aufgefangen, die mit finsteren Mienen zu ihr hinüberstarrten. Jeder von ihnen hielt eine Flasche Bier in seiner Hand.
»Sie haben Ihr Fahrziel erreicht«, erzählte ihr die Dame aus dem Navigationsgerät gleich darauf. Allison stöhnte leise auf, als ihr klar wurde, dass die Parklücke vor der Männergruppe der einzige freie Platz weit und breit war. Nach einem tiefen Seufzer hielt sie auf den Parkplatz zu, und wie in einer schlechten Komödie, benötigte sie fünf Anläufe, bis sie, allerdings immer noch etwas schief und beträchtlich weit vom Bordstein entfernt, zum Stehen kam.
Das hämische Grinsen auf den Gesichtern ihrer Zuschauer entging ihr nicht, und so nutzte sie die nächste Minute, um sich ein wenig zu fassen, bis sie schließlich den Mut fand, wenn auch zögerlich, aus dem Wagen zu steigen. Die immer noch schadenfroh gaffenden Männer ignorierend ging sie, mit auf den Zettel mit der Adresse gerichtetem Blick, die Straße hinunter.
Ihr Ziel entpuppte sich als besonders schäbig aussehendes Haus, mit abgeblätterter Farbe und tiefen Rissen in der Mauer. Einen resignierten Seufzer ausstoßend las sie die verblichenen Schilder rechts neben der mit dicken, gusseisernen Gittern abgesicherten Tür. Manche waren mit Messing beschlagen, manche aus Holz oder Plastik. Einige bestanden sogar nur aus schlampig abgerissenen Zetteln, deren Schrift bereits so verblasst war, dass sie praktisch unleserlich waren. Über all dem prangte ein marmoriertes Schild mit schwarz glänzenden Buchstaben. Es wirkte fehl am Platz.
Dr. Richard Hedderson. Notar und Rechtsanwalt, stand da, und darunter mit weißem Lackstift ergänzt: Penthouse – E5. Allison verglich noch einmal den Namen mit dem auf ihrer Vorladung. Es passte. Ein letzter Blick auf die Männer, die immer noch neugierig zu ihr hinübersahen, dann betätigte sie entschlossen den abgenutzten Knopf neben E5.
Nichts geschah.
Sie drückte erneut und nach etwa einer Minute noch mal. Ihre Nervosität schwoll an, trieb ihr den Schweiß aus den Poren, und sie hatte gerade beschlossen, wieder zu gehen, als hinter ihr Schritte erklangen, die sich eindeutig auf sie zubewegten. Nervös begann sie an ihren Fingernägeln zu spielen, die Schritte hörten auf, gleich darauf wanderte ein Schatten von links auf sie zu, und sie riskierte einen Blick.
Ein junger Mann stand nun schräg hinter ihr. Er war groß, hatte dunkle, leicht gelockte, schulterlange Haare, trug Jeans und eine schwarze Lederjacke, was Allison sofort Gefahr suggerierte, obwohl seine braunen Augen vollkommen harmlos und freundlich zu ihr hinübersahen. Mit einem kleinen Lächeln, das in seinem Mundwinkel hing, musterte er ihr Chanel-Kostüm und ihr sorgfältig frisiertes Haar, was Allison plötzlich bewusst machte, wie fehl am Platz ihr Erscheinungsbild hier wirken musste. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte er, als sie keine Anstalten zeigte, zur Seite zu rücken.
»Bitte?« Sie starrte verständnislos in sein Gesicht, bis ihr plötzlich klar wurde, dass er nur zu den Klingeln wollte. »Oh. Bitte sehr.« Hastig wich sie zurück und er legte einen Zeigefinger auf den Knopf, den sie ebenfalls gedrückt hatte.
»Da hab ich auch gerade geläutet. Es macht niemand auf«, wisperte sie nervös.
»Aha«, sagte er nur und betätigte eine weitere Taste.
Metallisches Rauschen erklang und kurz darauf eine verzerrte Stimme. »Ja?«
Ein Räuspern war zu hören, dann beugte er sich an Allison vorbei, bis sein Mund beinahe die Gegensprechanlage berührte. »Ich bin’s, Leo. Mach auf, Richies Klingel funktioniert mal wieder nicht.«
Schon summte es, worauf der junge Mann grinsend danach griff und die Tür aufzog. »Nach Ihnen«, sagte er mit freundlicher Stimme.
Allison bedankte sich und trat ein.
Der Flur war so düster und eng, dass sie zurückschreckte. Unsicher ging sie auf den Aufzug zu, doch ein leises Lachen stoppte sie. »Ähm. Der funktioniert auch nicht«, erklärte der Fremde amüsiert, was Allison ebenfalls zum Schmunzeln brachte.
»War eigentlich zu erwarten«, murmelte sie. Er zwinkerte ihr zu und deutete auf eine versteckte Treppe im dunklen Hintergrund. »Hier geht’s lang.«
Allison zögerte erst, was jedoch keiner Furcht geschuldet war. Im Gegenteil. Entgegen allen Ratschlägen ihrer Mutter verspürte sie keinerlei Bedürfnis, bei diesem Mann Vorsicht walten zu lassen. Es kam ihr seltsam vor, aber sie vertraute ihm. Warum auch immer. Also ging sie langsam in die angewiesene Richtung und begann, die schmalen Stufen nach oben zu steigen.
Er folgte ihr, sie hörte seine Schritte. Sofort war sie krampfhaft darum bemüht, zu verhindern, dass ihr enger knielanger Rock höherrutschte und ihm somit einen allzu großzügigen Ausblick auf ihre Beine schenkte. Ob sie damit erfolgreich war oder nicht, wusste sie nicht, spürte nur, dass er sie musterte, widerstand aber dem Zwang, sich umzudrehen. »Sind Sie ein Klient von Mr. Hedderson?«, fragte sie stattdessen.
Sein Lachen hallte im Treppenhaus wider. »Zwangsweise ja, aber eigentlich ist er so etwas wie ein Freund meiner Familie. Und Sie?«
»Auch zwangsweise«, erwiderte sie, bereits etwas außer Atem. Sie waren inzwischen im dritten Stock angelangt, und abgesehen davon, dass ihr die engen Kurven des Aufganges Schwindel verursachten, raubte die verkrampfte Gangart ihr mit jeder Treppe mehr die Puste. »Ich habe einen Brief mit einer Vorladung erhalten.«
Die Schritte hinter ihr verstummten abrupt, und sie blieb ebenfalls stehen, um sich verwundert umzudrehen. Der junge Mann stand ein paar Meter unter ihr und blinzelte überrascht zu ihr hinauf. »Sind Sie etwa Allison Brown?«, fragte er leise.
Als sie nickte, verschloss sich sein Gesicht erst, bevor er auf ihre Höhe aufrückte und ihr mit einem schüchternen Lächeln die Hand entgegenstreckte. »Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte er.
Allison stockte. Seine Stimme war belegt und freudig erregt. »Mein Name ist Leonard Spencer. Aber bitte, sag Leo zu mir.«
Als sie ihn nur verständnislos anstarrte, räusperte er sich, packte ihre Hand und drückte sie sacht. »Ich bin dein Bruder. Vielmehr Halbbruder.«
Die Erwiderung des Händedrucks war kraftlos, irgendwie schien die Luft rund um sie an Dichte zu verlieren. Ihr Kopf war gefüllt mit einem seltsamen Gefühl der Leichtigkeit. Leos Hand glitt aus der ihren, und sie tastete suchend über die Wand neben ihr, um irgendeinen Halt zu finden. Sein fragender Blick tanzte vor ihr auf und ab, und ihr wurde bewusst, dass sie schwankte.
Schnell streckte Leo auch die zweite Hand aus und packte sie an ihren Oberarmen. »Alles okay?«, fragte er besorgt.
Allison nickte automatisch, ohne den Blick von seinem erschrockenen Gesicht zu lösen.
»Komm!« Er drängte sich neben sie und zog sie sanft mit sich mit, weiter die Treppe hinauf. »Es ist besser, wir gehen erst mal rein und du setzt dich hin.«
*
Ein paar Minuten später saß Allison auf einem unbequemen Plastikstuhl. Die abgescheuerte Sitzfläche war so glatt, dass sie ihre Füße fest gegen den Tisch vor ihr stemmen musste, um nicht hinunterzurutschen. Ihre Hände hielten eine Tasse umklammert. Der Kaffee darin war stark und scheußlich. Trotzdem nippte sie dankbar daran, während sie versuchte, die anderen Leute im Raum nicht anzusehen – weder die Vorzimmerdame Mary Kate, deren mit falschen Wimpern umrahmte Augen unter dem dick aufgetragenen Lidschatten müde zu ihr starrten, noch den Anwalt, ein untersetzter, winziger Mann mit Glatze und dicker Brille, und auch nicht den unglaublich gut aussehenden Mann, der sich vor einigen Minuten als ihr Bruder vorgestellt hatte.
Irgendwann aber war der Becher leer und ihr wurde klar, dass sie es nicht länger herauszögern konnte. Dass sie entweder zur Tür hinauslaufen und nach Hause fahren oder sprechen musste. Also räusperte sie sich zweimal und sah auf. Ihr Blick schweifte abschätzend über die drei Personen im Raum und entschied sich schließlich für Leos freundliche tiefbraune Augen. »Sind wir eigentlich sicher, dass ich wirklich die bin, die Sie alle erwarten?«, begann sie leise, und Mr. Hedderson reichte ihr zwei reichlich mitgenommen wirkende Dokumente.
Das eine war ihre Geburtsurkunde. Sie las ihren Namen, nur dass hier nun Spencer stand, statt Brown, und unter der Rubrik »Mutter« Carmen Spencer. Das zweite war der Adoptionsbeleg, unterschrieben von dieser Carmen und ihrem Vater – sie erkannte seine Unterschrift.
Sie seufzte. »Und sie ist tot? Carmen, meine ich.«
Leo nickte, sein Blick wurde traurig und verzweifelt.
»Das tut mir leid«, wisperte sie.
Er schaute zu Boden, nickte wieder und sah sie dann an. Seine Augen schimmerten feucht, urplötzlich wurde Allison von einem warmen Gefühl überschwemmt, verspürte den Wunsch, aufzustehen und ihn zu umarmen, doch Mary Kate war schneller. Sie legte ihre Arme um ihn und zog ihn an ihre Brust. »Schon okay, Junge«, sagte sie im übertrieben mitfühlenden Ton. »Weine nur. Lass es raus.«
Allison war überzeugt, dass Leo diese Geste nur über sich ergehen ließ, weil er Mary Kate nicht kränken wollte. Die ganze Situation erinnerte sie ein bisschen an einen Verwandtschaftsbesuch bei ihr zu Hause. Auch sie war stets gezwungen gewesen, die Freundlichkeiten ihrer Tanten und Onkel zu ertragen – ob nun ehrlich gemeint oder nicht. Allerdings waren Umarmungen dabei nie vorgekommen. Solche engen Kontakte gab es nicht im Hause Brown.
Um dem Gedanken an ihr Elternhaus zu entkommen, stand sie auf. »Warum bin ich also hier?«, fragte sie an Mr. Hedderson gewandt, der sofort mit ernster Miene nach einem weiteren Stück Papier griff.
»Carmen war keine wohlhabende Frau, aber sie hatte ein gut gehendes Lokal. Und hier drin steht …« Er klopfte erklärend auf das dreiseitige Testament, das auf seinem Tisch lag, »… dass Sie und Leo es zu gleichen Teilen erben sollen. Das bisschen Geld, das da ist, wird euch helfen, über die ersten Monate zu kommen, solange, bis ihr euch überlegt habt, ob ihr es weiterführen wollt oder nicht.«
Allison runzelte die Stirn, als Leo lautstark schnaubte. »Ich führe das Geschäft praktisch seit zwei Jahren. Warum sollte ich also nicht weitermachen wollen?«
Hedderson winkte ab. »Du weißt, was ich meine. Es hing viel von Carmen ab. Das Geschäft lief nur so glatt, weil sie immer noch offiziell die Chefin war. Sei nicht sauer, Leo. Aber es wird nicht einfach sein, das alles allein weiterzuführen. Auch wenn du vielleicht Hilfe von Miss Brown bekommst.«
»Selbst wenn das alles für mich nicht vollkommen neu und ich bereit wäre, dass Ganze hier zu akzeptieren: Ich hab keine Ahnung von Restaurants«, warf Allison ein und blickte erstaunt von einem zum anderen, als die drei zu lachen begannen.
»Was?«, schnauzte sie Leo an, der sich sofort bemühte, wenn auch äußerst verkrampft, wieder ernst zu werden.
»Entschuldigung«, sagte er endlich, immer noch glucksend. »Vielleicht ist es besser, wenn ich dir das Home erst einmal zeige, bevor wir weitersprechen. Was hältst du davon?«
»Welches Home?«, zischte Allison.
Bemüht, wieder zum Ernst der Lage zurückzufinden, setzte Leo eine neutrale Miene auf. »Das Homeof Hearts ist das Lokal, das nun zur Hälfte dir gehört, Allison.«
Ihr Erstaunen war offensichtlich, also zwickte er sie liebevoll in ihre Wange. »Komm einfach mit, liebe Schwester«, sagte er freundlich und zog sie mit sich hinaus.
*
Als sie aus dem Haus traten, steuerte Allison auf ihren Wagen zu, doch Leo lenkte sie daran vorbei weiter die Straße hinunter.
»Es ist nur einen kurzen Spaziergang von hier entfernt, wir können zu Fuß gehen«, bemerkte er mit einem Seitenblick auf ihre skeptische Miene.
»Hast du immer bei Carmen gelebt?«, fragte Allison nach ein paar Schritten in Schweigen.
Leo seufzte leise. »Nein. Ich war die ersten Jahre in einem Kinderheim. Sie hat mich erst geholt, als sie einen …« Er zögerte kurz, suchte nach den richtigen Worten. »… einen festen Job gefunden hatte.«
»Hat es mich da schon gegeben?«
Er lächelte. »Ich bin nur vier Jahre älter als du, Allison.«
»Wusstest du, dass es mich gibt?«
Nach kurzem Zögern nickte er. »Ja, aber erst seit ein paar Jahren. Sie hat es mir erzählt, als ich achtzehn wurde.«
»Stimmt es, dass sie eine Prostituierte war?« Allison blieb abrupt stehen, als ihr bewusst wurde, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte.
Wieder erfolgte ein kurzer Moment der Zurückhaltung, dann antwortete er leise und stockend. »Ja. Aber als ich zehn wurde und sie mich zu sich geholt hat, war es damit vorbei.«
Allison ging schweigend weiter, und Leo räusperte sich schließlich. »Woher weißt du das eigentlich?«
»Meine Eltern … also, meine Adoptiveltern haben mir das erzählt. Gestern, kurz nachdem sie mich informiert hatten, dass ich adoptiert bin.«
»Nett!« Leo schnaufte. »Müssen richtig sensible Typen sein.«
Allison gluckste. »Ja. Sie sind wirklich unglaublich mitfühlend.« Gleich darauf kicherte sie los, und Leo sah erst erstaunt zu ihr hinüber, lachte endlich aber mit.
»Du musst mich übrigens für einen Idioten halten«, erklärte er, als sie sich wieder etwas beruhigt hatten.
»Warum?«, erwiderte sie erstaunt.
»Weil ich nicht gleich gecheckt habe, wer du bist. Ich meine vorhin, als wir uns vor dem Haus getroffen haben. Aber irgendwie war ich auf dunkle Locken eingestellt gewesen«, fuhr er verlegen lächelnd fort.
»Sie waren dunkel, als ich ein Kind war.« Sie deutete auf ihre hochgesteckten Haare. »Und wenn ich sie nicht ausföhne, sind sie lockig.«
»Carmens Erbe«, erwiderte er und schüttelte demonstrativ seine eigenen Locken.
»Also haben wir ja schon etwas gemeinsam«, erwiderte sie lächelnd.
Leo schmunzelte. »Ja. Das und …« Er blieb plötzlich stehen. »Das!«
Allison hielt ebenfalls an. Sie standen vor einem niedrigen Gebäude mit schwarz verhangenen Scheiben. Die Hausmauer war in grellem Rot gestrichen; allerdings blätterte die Farbe an mehreren Stellen in großen Flecken von der Fassade. Über der breiten Tür, mit goldenen Beschlägen, war eine Leuchtröhre kunstvoll zu einem verwackelten Schriftzug geschwungen, den Allison mit einiger Anstrengung als Homeof Hearts entziffern konnte.
Ihre krausgezogene Stirn und ihr fragender Blick erheiterten Leo ungemein. »Das sieht nicht aus wie ein Restaurant«, brummte sie.
Er zog seine Schultern hoch und grinste verschämt. »Deshalb dachte ich, es ist besser, es dir zu zeigen als zu beschreiben.«
Einladend öffnete er für sie die Tür. Nach kurzem Zögern trat Allison ein, stoppte aber nach zwei Schritten wieder.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich an das düstere Licht im Inneren gewöhnt hatte. Sie standen in einem kleinen Vorraum, der eigentlich nur aus einer Garderobe und einer winzigen Koje bestand, die sich unmittelbar neben der kleinen Tür befand, durch die es weiterging. Hinter der niedrigen Theke stand eine ungefähr zwei Meter große Gestalt. Männliche Gesichtszüge paarten sich mit einem auffallend femininen Körper. Er/sie nickte Leo zu und sah dann auf Allison hinunter, die mit leicht geöffnetem Mund zurückstarrte.
»Val, das ist Allison. Sie ist Carmens Tochter, ich hab euch erzählt, dass sie wahrscheinlich bald mal hier vorbeischauen wird. Allison, das ist Valerie Buchon, unsere Quoten-Queen.« Leo deutete zwischen Allison und dem Hünen hin und her.
»Hi«, grüßte Allison schüchtern.
Der Riese grinste breit, stürzte mit einem Satz aus seinem Verschlag, und bevor Allison reagieren konnte, war sie von starken Armen umschlungen. »Es ist so schön, dich endlich kennenzulernen.« Die Stimme war seltsam hoch und nicht minder feminin als das Aussehen, und die Rührung darin war deutlich zu hören. Ob es nun von der Natur so vorbestimmt war oder nicht – diese Val betrachtete sich selbst eindeutig als Frau.
Allison verkrampfte sich und sah hilfesuchend zu Leo.
»Hey!« Leo zog Val sanft von Allison weg. »Nicht ganz so stürmisch, bitte. Vergiss nicht, sie wusste bis gestern nicht einmal, dass es Carmen gab. Und uns, wenn du verstehst, was ich meine.«
Val wischte sich schluchzend die Tränen aus dem Gesicht. Danach trugen die Augen schwarze Spuren und die Wangen helle Streifen, was Allison peinlich bewusst machte, dass er/sie augenscheinlich Make-up trug. Unverhohlen neugierig begann sie, die Person nun eindringlich zu mustern.
Val trug eine eng anliegende, schwarze Lederhose, und das, was Allison in der düsteren Atmosphäre anfänglich für ein Hemd gehalten hatte, stellte sich als Bluse heraus, schwarz mit sanft glitzernden Seidenfäden durchzogen. Als Val mit elegantem Schwung ihre Haare über die Schulter zurückwarf, klaffte die Bluse auf und gab die Sicht auf zwei deutlich gerundete Hügel frei, festgehalten von einem schwarzen Spitzen-BH. Im Spalt dazwischen glitzerte eine goldene Kette mit Schutzengel.
Leo war ihre Musterung nicht entgangen. Er schmunzelte und drängte Val Richtung Garderobe zurück. »Mach alles fertig, und dann mach dich frisch. Heute Abend nach der Show können wir darüber reden, okay?!«
Val nickte und warf einen letzten zärtlichen Blick auf Allison. »Es tut mir leid«, wisperte er/sie, wieder mit dieser seltsamen Kleinmädchenstimme. »Aber ich habe Carmen so geliebt. Und sie hätte dich so gern kennengelernt. Es ist so schön, dass du nun endlich den Weg zu uns gefunden hast.« Sie seufzte theatralisch. »Auch wenn es natürlich für Carmen zu spät ist.«
»Ja, Val. Komm jetzt bitte. Lass sie in Ruhe!« Leo schob Allison ungeduldig weiter zur Tür.