Tina, ein Mädchen von 17 - Lise Gast - E-Book

Tina, ein Mädchen von 17 E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Ost-Berlin Ende der 1970er Jahre: Kurz vor Mitternacht und kurz vor dem Grenzübergang verliebt sich die siebzehnjährige Tina in Roderich. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Während den Sommerferien ist Tina alleine mit ihrem jüngeren Bruder Peter zu hause als plötzlich ihr älterer Bruder Arndt mit seinem Freund Dagmart auftaucht, womit das Abenteuer beginnt: Rauschgift, Entführung und Erpressung... und der geliebte Roderich, weit weg... – ein Sommer voller Abenteuer.Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Tina,

Ein Mädchen von 17

Roman für Mädchen

Saga

Tina, ein Mädchen von 17

German

© 1978 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711510100

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Als das Telefon ging, wußte ich sofort, daß es für mich war. Ich weiß das manchmal, jedenfalls, wenn es etwas Wichtiges ist. Und das hier war wichtig.

Es war auf unserer Berlinfahrt. Wir hatten den Abend frei, es war ein Mittwoch, der dritte Tag. Montag sind wir losgefahren. Am Mittwoch durfte dann jeder, der Verwandte oder Bekannte in Berlin hat, zu ihnen. Ich hab’ welche, und ich nahm Gaby und Christiane mit. Zu Onkel Just und Tante Teda.

Vater war am Telefon. Das war übrigens nicht schwer zu erraten; es war ausgemacht, daß ich an diesem Abend dort war. Ich ging also ans Telefon, als Onkel Just mir winkte.

„Tina? Na herrlich, daß ich dich erwische. Seid ihr vergnügt?“

„Ay, ay, Käptn.“

Vaters große Leidenschaft ist Segeln. Er hat nie ein eigenes Boot gehabt, auch als Junge nicht. Damals hatte man andere Sorgen, ich weiß – jetzt aber reicht es auch ewig nicht dazu. Aber er segelt mit Bekannten, wo er nur kann, und wenn man ihm eine Freude machen will, flicht man hie und da Ausdrücke aus der Seemannssprache ein, nennt ihn auch mal Käptn oder so. Ich sagte also: „Ay ay, Käptn“ und merkte, daß er sich freute.

„Du hast es erraten. Es klappt. Es klappt! Kreuzfahrt, Mittelmeer, was sagst du! Und Mau fährt mit! Ich als Berichterstatter fürs Käseblatt Heimatstadt. Das reimt sich, merkst du’s? Also nicht umsonst, sondern auch noch Verdienst dabei.“

„Gratuliere, Käptn.“

Vater ist großartig. Er kann sich freuen wie ein Kind – oder besser: wie viele Kinder sich heutzutage nicht mehr freuen können, weil sie alles kriegen, ehe sie es sich wünschen. Aber Vater kann es. Er ist Journalist, freier Mitarbeiter an einer ganzen Menge Zeitungen, macht auch verschiedenes für den Funk. Mau ist Lehrerin. Mau ist meine Mutter. Das alles muß ich vorausschicken, ich mußte es nachher auch Gaby und Christiane erklären, als wir zum Caritas-Heim zurückfuhren. Onkel Just und Tante Teda wissen das ja. Ich spreche nicht sehr gern über meine Eltern.

Das tun viele aus meiner Klasse nicht. Oder vielmehr, die meisten tun es, aber ablehnend. Sie schimpfen über ihre „Alten“, finden sie entsetzlich und unerträglich und ihre Ansichten überholt. Da ist es mir immer etwas peinlich, wenn ich, ehrlich gesagt, nicht in dieses Horn tuten kann.

Natürlich haben auch Vater und Mau Eigenschaften, die ich nicht leiden kann. Vater mit seiner Mähne – er trug sie übrigens schon, als Mähne noch etwas ganz Seltenes war. Lang und dick und dicht, jedenfalls auffallend. Eltern sollten nie auffallen. Mau sieht gut aus, zugegeben. Sie hat ein ganz junges Gesicht, zart und rund und mit Grübchen, wenn sie lacht. Sie lacht gern und oft. Dazu weiße Haare, wirklich, richtig weiß. Mau ist goldig, jede aus der Klasse sagt das.

Also eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer. Und beide zusammen. Ich gönn’ es ihnen. Dabei wußte ich schon, daß das dicke Ende nachkommen würde. Da war es auch schon.

„Es geht aber nur, wenn du – Tina, du tust uns doch den Gefallen? Wir wollten ja dieses Jahr nicht weg, es kam wirklich überraschend. Ich spring’ ein für einen Kollegen, der nicht kann. Also eine einmalige Gelegenheit. Aber einer muß da sein. Wärst du so lieb? Es handelt sich um Peter.“

Aha. Ich wußte es doch. Einer muß bei Peter bleiben. Peter ist unser Jüngster.

Wir wohnen in der Stadt. In Süddeutschland. Nicht in München, in München würde ich gern wohnen. Etwas nördlicher. Aber doch sehr, sehr viel südlicher als Berlin. Berlin hat auf mich einen sehr starken Eindruck gemacht, aber davon später. Ich will hier nur beleuchten, warum Vater mich anrief.

Wie gesagt, meine Eltern sind in Ordnung. Sie mischen sich nicht ein oder doch nur so weit, wie es erträglich ist; sie fragen nicht: „Wie spät war es gestern abend?“ und lassen uns Parties geben, wenn wir Lust dazu haben. Aber, aber.

Überall sind Abers. Und das größte Aber ist vielleicht, wenn Eltern einen laufen lassen, aber unter der Voraussetzung, daß man dann eben nicht läuft. Die unsichtbare Kandare nenne ich das, seit ich im Reitverein einiges aufgeschnappt habe. Ich reite sehr selten, weil es zu teuer ist, aber zusehen tu ich oft. Man lernt auch vom Zusehen. Das nebenbei.

Wenn die anderen also schimpfen, daß ihre Eltern überhaupt kein Verständnis haben, stehe ich schüchtern abseits und habe ein schlechtes Gewissen. Vater und Mau haben Verständnis. Immer. Aber sie sind da. Auch immer. Vater mit seinen phantastischen Plänen, was werden wird, wenn er seinen großen Barockroman geschrieben hat – „Das große Und“ soll er heißen, ein guter Titel übrigens, und das erste Kapitel ist fertig. Er hat drei Jahre dafür gebraucht und ist stolz und glücklich darüber. Und Mau mit ihrem lustigen Lachen. Vater und Mau verstehen sich wunderbar, sie ergänzen sich, sie haben gleiche Interessen. Wie gleich die sind, das ist schon beinahe unglaublich. Sie haben mir da einen Fall erzählt, ich war noch zu klein damals, um es bewußt mitzuerleben. Da war Mau nach Amerika geflogen, eingeladen von Bekannten, also auch umsonst, eine ganz, ganz große Sache. Vater wäre himmelgern mitgefahren, aber einer mußte dableiben, eben weil wir noch klein waren. Und er blieb, überhaupt nicht sauer oder vorwurfsvoll oder leidend, er gönnte es Mau wirklich. Und stöberte hier irgendwelche Schallplatten auf, Spirituals aus Amerika, ganz tolle Sachen. Davon war er so erfüllt, daß er, als Mau wiederkam, sie gar nicht erzählen ließ, wie es dort gewesen war, sondern sie schon auf dem Flugplatz damit überschüttete. Und – also Zufall kann das nicht gewesen sein, so was ist kein Zufall – Mau hatte genau dieselben Songs in Amerika gehört. Wirklich. Und sich so dafür begeistert, daß sie jeden Tag in die kleine Kirche abseits vom Broadway ging, in die sie ganz zufällig hineingeraten war. Sie hörte sich die Songs an, bis sie sie auswendig konnte – dieselben, die Vater hier auf Schallplatte gekauft hatte.

Ich war mit am Flughafen, um Mau abzuholen. Das alles weiß ich noch sehr genau. Maus Flugzeug hatte Verspätung. War saßen und tranken Kaffee und sahen die Leuchtschriften an, die erschienen – und Vater war furchtbar aufgeregt, weil es immer später wurde. Und dann war das Flugzeug endlich gemeldet, und wir standen und guckten die Reihen entlang, als die Leute vom Zoll kamen, und Mau war immer noch nicht dabei. Vater biß sich in den Daumen und sagte überhaupt nichts mehr (dann weiß ich schon, was los ist), und schließlich sprach ihn ein Herr neben uns an und meinte, es würden noch viele kommen, er wartete ja auch, und wenn was passiert wäre, wüßte man es schon. Und dann stand Mau auf einmal da und fiel Vater um den Hals, und mich hatten sie ganz vergessen, so schrecklich froh waren sie beide.

Das alles ist lange her, und ich wollte es gar nicht erzählen, ich komme immer vom Hundertsten ins Tausendste. Jedenfalls – Vater war am Telefon wieder mal ganz außer sich vor Aufregung, daß das mit der Mittelmeerfahrt klappte, und ich sagte „Ja“ und „Na so was!“ und merkte, wie Onkel Just mich beobachtete, und zuletzt schob er mich weg und wollte auch noch ein paar Worte mit Vater sprechen.

„Deinem Vater hört man aber den Sachsen noch ganz schön an. Wie lange seid ihr denn schon weg von Chemnitz? Heute heißt das ja Karl-Marx-Stadt“, fragte er gleich. Das ärgerte mich.

„Schon ewig. Da gab es mich noch gar nicht. Da war ich noch ein froher Gedanke meiner Vorfahren“, sagte ich patzig. Gaby prustete. Sie fälschte es im letzten Augenblick in ein Niesen um. Onkel Just und Tante Teda sind eben alt, und schließlich waren wir alle drei bei ihnen zu Besuch, da muß man sich schon benehmen.

Wir hatten das auch ausgemacht. Gaby hatte ihre Haare, die sie sonst offen trägt, in einen Pferdeschwanz zusammengefaßt und die Lidschatten weggelassen, und Christiane ist mit ihren schwarzen Augen unter dem kurzen Strubbelkopf so hübsch, mindestens so hübsch wie jemand, der normal aussieht. Normal für alte Leute, meine ich. Heutzutage gibt es ja eigentlich keine Norm. Keiner dreht sich um, wenn man im Sari durch München läuft oder in abgeschnittenen Jeans, die unten ausgefranst sind. Oder im Kleid. Kleid ist jetzt beinahe etwas Ausgefallenes. Gaby hatte eins an.

„Mein Vater ist in Ordnung, auch wenn er sächsisch spricht“, sagte ich dann noch. „Außerdem hört man das am Telefon deutlicher. Es verstärkt sich, weiß der Teufel, wieso. Auch auf Band oder im Radio.“ Bäh, Onkel Just sollte ruhig hören, daß Vater oft im Radio spricht. Im Schulfunk, oder auch sonst vormittags, ich höre es meist nicht, weil ich da in der Schule bin. Vater hat wirklich was los, er kann heutige Probleme richtig anpacken und vermitteln. Er bekommt auch viele Zuschriften.

Überhaupt sind meine Eltern o. k., um es kurz zu sagen. Aber Eltern, die in Ordnung sind, machen eben auch Schwierigkeiten, nur andere.

Ich könnte es mir überlegen, hatte Vater gesagt. Auch ein Beweis, wie er ist. Nicht: „Du mußt.“ Auch kein moralischer Druck. Nur: So und so ist es. Wenn du bleibst, können wir weg. Ich ruf’ nochmal an. Habt ihr es schön? Na wunderbar, grüß Onkel und Tante ...

Ich grüßte sie. Und als sie dann anfingen zu fragen, fing ich an zu antworten. Ja, Vater und Mau würden eine Kreuzfahrt machen, auf dem Mittelmeer. Ja, sie sind dazu eingeladen worden. Ja, diesen Sommer, sobald ich Ferien hab’. Natürlich freute ich mich für sie.

Onkel Just nennt mich „liebes Kind“. Ich kann das nicht ausstehen. Und dann sage ich oft Sachen, die ich sonst nicht sagen würde. Liebes Kind – ekelhaft. Als ob man noch sabberte oder aufs Töpfchen ginge.

Vor allem vor den beiden andern, vor Gaby und Christiane war es mir peinlich. Sie haben vermutlich auch Verwandte, die sie „liebes Kind“ nennen, aber im Augenblick war ich die Blamierte. Deshalb sagte ich mehr, als ich wollte.

Ich sagte, daß ich also die großen Ferien zu Hause bleiben würde. Ja, damit Vater dieser Wunsch in Erfüllung gehen könne. Ich täte das gern, meine Eltern seien prima, auch wenn Vater sächsisch spräche. Ich sagte „spräche“ und nicht „spricht“. Denn richtig sächsisch ist ganz anders, viel schlimmer. Und daß wir eine schöne Wohnung haben, nicht weit vom Schwimmbad, und daß ich jeden Tag schwimmen gehen würde. Mit Peter. Peter ist mein kleiner Bruder. Ich mag ihn sehr gern.

Das alles stimmt und stimmt doch nur bis zu einem gewissen Grade. Manchmal kann ich Peter nicht ausstehen, so gräßlich ist er mir. Er ist elf. Und er ist oft so unverschämt, daß ich ihn in kleine Stücke reißen könnte. Das sagte ich aber nicht. Die beiden – sie haben keine Kinder – können ruhig denken, bei uns klappt alles. Und es klappt auch vieles. Alles natürlich nicht. So zum Beispiel Peters Schule.

Er ist nicht dumm und eigentlich auch nicht faul. Ich verstehe es im Grunde nicht, daß er so nachhängt. Vielleicht hat er gleich zu Beginn im Gymnasium den Anschluß nicht bekommen, und dann war er so deprimiert, daß er meinte, es ginge nie im Leben. Zwei Fünfen in Latein, so ging es los. Außerdem ist er sehr jung rübergekommen, aber das lag wohl daran, daß er in der Volksschule so gut war. Die Prüfungsarbeiten, die alle machten – die ganze Klasse, ohne es zu wissen –, hatte er weit über dem Durchschnitt gut geschrieben. Seine Lehrerin sagte, wenn sie es bei einem verantworten könnte, ihn jetzt schon ins Gymnasium zu schicken, dann bei ihm. Und da ging es gleich mit Fünfen los, und das Probejahr hat er nur mit aller-allergrößter Not geschafft. Jetzt behauptet er, er würde versetzt. Toi, toi, toi, kann ich da nur sagen. Möge es wahr werden.

Vielleicht lag es an der Sache mit der Brille, sagt Mau. Alle wurden vom Schularzt untersucht, und der fand, Peter müßte eine tragen. Da wird einem jetzt so was Komisches in die Augen gespritzt, und die Pupillen weiten sich. Das war gerade in der ersten Woche im Gymnasium, und da sieht man so gut wie nichts. Aber nur daran kann es nicht liegen. Vater hat dann immer Latein mit ihm gelernt und Mau Mathe, aber es reichte, wie gesagt, nur knapp bei unserm so hochbegabten Jüngsten. Und ob er jetzt durchkommt, steht noch dahin.

Ich bin auch im humanistischen Zug, oft hab’ ich’s verflucht, jedenfalls als ich noch jünger war. Jetzt tu ich nur noch so, im Grunde bin ich froh drum. Da kann ich natürlich mit ihm Latein machen. Erste Klasse, von Anfang an alles wiederholen, natürlich kann ich das. Gern mach’ ich es nicht. Ich wollte eigentlich diesen Sommer in ein Lager, Südfrankreich, in Französisch bin ich nicht berühmt, notwendig wäre es zwar nicht, aber eben schön. Bei Onkel und Tante tat ich aber so, als verzichtete ich großmütig und auch sehr bedauernd; sie können mich ruhig für so heldenhaft halten. Außerdem wäre ich gern verreist, das ist wahr. Aber Vater und Mutter zuliebe, nun ja, und Peter brauchte mich eben. Wie man so sagt. Ich sah Christianes Augen rund wie Teller werden, und auch Gaby staunte mich an. Hinterher hab’ ich ihnen erzählt, wie es eigentlich ist. Daß man in einem solchen Lager auch nicht gerade tun kann, was man will. Zu Hause kann ich das, wenn ich mit Peter allein bin. Das vor allem lockte mich.

Für den nächsten Tag war Ostberlin angesetzt. Das war, nächst der Mauer, für uns natürlich das Spannendste. Bei der Mauer haben mich am meisten die Blumen erschüttert, die dort liegen, wo die Menschen, die herüber wollten, erschossen wurden. Ich hab’ dies alles schon gelesen und in Illustrierten gesehen. Das ist aber kein Vergleich, man muß es an Ort und Stelle sehen. Wenn man irgendwo Weltgeschichte oder Tragik oder wirklichen, bitteren Ernst sehen kann, dann hier. Nun sollten wir also nach Ostberlin fahren dürfen.

Dr. Walter, unser Klassenlehrer, hat erst noch alle unsere Ausweise angesehen. Ich fand das übertrieben, aber nachher merkten wir, daß er recht hatte. Ein Beispiel: Eine aus der Klasse hatte in ihrem Ausweis den Rufnamen nicht mit Schreibmaschine, sondern mit Kugelschreiber unterstrichen. Dieses Theater ...

Wir gingen am Bahnhof Friedrichstraße hinüber. Jedem wird der Ausweis abgenommen, und man bekommt eine Nummer. Die wird nachher ausgerufen, und dann geht man an dem Beamten vorbei. Es ist scheußlich, wenn er einem genau ins Gesicht sieht und mit dem Foto vergleicht.

„Lachen Sie mal. Hier auf dem Bild sind Grübchen, die möchte ich gerne sehen.“

Das war bei Gaby. Ich dachte zuerst, der Beamte macht Spaß. Bei Gaby ist es so, daß eigentlich jeder Mann aufmerksam wird. Aber es war kein Spaß, und wir alle hatten weiche Knie und konnten es erst einmal gar nicht genießen, drüben zu sein.

Geld umtauschen und los! Walter nahm uns alle nochmal ins Gebet. Daß wir ja pünktlich zurück wären, spätestens halb zwölf. (Bis zwölf muß die Grenze wieder passiert sein.) Keine Ausnahme. Wir verstanden, was los war, und versprachen es. Dann durften wir gehen, ich wieder mit Gaby und Christiane.

Erst sahen wir an, was jeder gesehen haben muß: die Karl-Marx-Allee, die Kaufhäuser – und dann wollten wir mal probieren, was für Eis es gab, und gingen in ein Lokal.

Ein paar aus der Klasse hatten sich Karten fürs Brecht-Theater besorgt, das war alles vorher ausgemacht. Wir nicht. Ich wollte „unsere Ostfamilie“ besuchen, eine Familie, an die Mau immer Pakete schickt. Sie kennt die Frau von ganz, ganz früher her, ich glaube, sie waren gemeinsam in der Volksschule. Seitdem haben sie sich nicht gesehen, sondern nur voneinander gehört. Die soll ich doch mal besuchen, hat Mau gesagt.

Wir mußten die Straße erst ausfindig machen. Abseits der Prunkallee sieht alles anders aus, die Häuser ziemlich schäbig, der Verputz abbröckelnd. Endlich hatten wir die Nummer gefunden. Ich war angemeldet. Aber mit so einem Empfang hatten wir nicht gerechnet.

Onkel Just und Tante Teda waren auch nett gewesen, als wir kamen. „Also das ist Tina, ja, wie geht es denn, du siehst aber deiner Mutter ähnlich –“ so was muß man ja immer über sich ergehen lassen bei Verwandtenbesuch. Hier aber ...

Wir brachten natürlich allerlei mit. Bananen und Strumpfhosen und Gesichtskrem – alles in einem Netz, damit man es beim Übergang zeigen kann. Ich gab es der Bekannten von Mau gleich im Flur und sagte, sie sollte es schnell weghängen; es war mir sehr peinlich, wie glücklich sie aussah. Eine Banane nahm sie gleich heraus und schälte sie und gab sie ihrem kleinen Jungen. Sie hat spät geheiratet und nur diesen. Er ist blaß und dünn, sieht aber intelligent aus, geht noch nicht zur Schule. Er drückt sich die ganze Zeit an sie und sah uns gleichzeitig schüchtern und interessiert an. Später kam sein Vater, der Mann von Maus Bekannter. Er ist ein richtiger Berliner, sagt ungeniert „icke“ und „na, Puppe“ und so, ist aber goldrichtig. Er kam gleich damit heraus, daß er so tolle Sachen in der Speisekammer gesehen habe, und ob die von mir wären. Und so viel!

„Ach, gar nicht. Ich war siebzehn Jahre nicht in Berlin“, wehrte ich ab. Ich bin siebzehn.

„Na, denn is ooch nich zu ville, wenn man’s umrechnet“, sagte er und lachte. Ich fand das prima.

Wir haben uns gut unterhalten. So vieles, vieles fragten wir, ich glaube, dieser Abend war für uns instruktiver als viele Gegenwartskunde-Stunden. Beide sind berufstätig. Der Kleine geht in den Kindergarten, kommt nun bald in die Schule.

Gaby schenkte der Frau ihren eigenen Lippenstift – es ist einer mit Perlmutt –, und Christiane war todunglücklich, nichts zu haben. Sie versprach, was zu schicken. Sie hält das auch bestimmt.

Es sind ganz einfache Leute, der Mann arbeitet in irgendeiner Fabrik, und sie ist Verkäuferin, sie erzählte davon, in der HO. Aber es sind Menschen, vor denen man pausenlos den Hut ziehen möchte. So jedenfalls war mir zumute, und den beiden andern merkte ich es auch an.

Wir brachen zeitiger auf als nötig, weil wir „Torschlußpanik“ hatten; wir mußten ja rechtzeitig am Übergang sein. Der Mann von Maus Freundin begleitete uns hinunter, um aufzuschließen. Im Treppenhaus war kein Licht. Wir alberten herum, und Christiane, die ja nie vernünftig gehen kann, sondern immer hopst und springt, verfehlte eine Stufe, sauste an uns vorbei und ging mit Krach in die Knie. Wir liefen hin, um sie aufzuheben. Sie hatte sich schon hochgerappelt.

„Schlimm?“ fragte ich.

„Überhaupt nicht. Höchstens dreimal gebrochen“, sagte sie.

„Maln Se den Teufel nich an de Wand, schönet Kind“, sagte unser Begleiter. „Jehts? Na, denn jehts ja.“

Er verabschiedete sich von uns vor der Tür. Wir beide hakten Christiane unter und schoben los. Sie trat rechts etwas vorsichtig auf, aber sie trat auf. An der Straßenecke sahen wir uns noch einmal um. Er stand und winkte, und wir winkten zurück. Dann bogen wir ab.

Nach einer Weile merkte ich, daß es nicht mehr ging, jedenfalls nicht sehr gut. Christiane knickte rechts immer mehr ein, schließlich hielt sie uns an.

„Mal einen Augenblick Pause“, bat sie. „Es tut mordsmäßig weh. Auf das Knie bin ich nämlich früher schon mal geflogen, beim Schilaufen. Und so was trifft man ja immer wieder. Zehn Finger hat man, aber wenn einer eitrig ist, stößt man sich an den. So ist das mit meinem Knie.“ Sie stöhnte, obwohl ich merkte, daß sie versuchte, den Schmerz zu verbeißen.

„Kannst du gar nicht mehr auftreten?“

Sie zuckte die Achseln, setzte den Fuß wieder auf, versuchte, ihn zu belasten, zog ihn zurück.

„Scheibe“, sagte sie. Wir setzten sie auf den Bordstein und uns daneben. Da saßen wir erst mal.

„Ist es noch weit?“ fragte Gaby.

Es war noch weit. Jedenfalls für jemanden, der nicht laufen kann. Ich guckte auf die Uhr, und da wurde mir heiß im Kopf und kalt auf dem Rücken.

Ich glaube nicht, daß ich ein ausgesprochener Angsthase bin. Sicher, jeder hat mal Angst, aber man tut dann eben was dagegen. Man springt vom Fünfmeterbrett, auch wenn man Schmetterlinge im Magen hat, wie die Amerikaner sagen, wenn sie Lampenfieber meinen, und das zweitemal geht’s schon besser. Oder beim Schilaufen muß man sich auch manchmal gewaltig in den Hintern treten, ehe man abfährt – ich jedenfalls. Hier aber, in der Bödickerstraße in Ostberlin, kurz vor zwölf – ja, es war inzwischen ganz hübsch spät geworden –, hier packte mich die nackte Angst. Keine Straßenbahn, keine Taxe, keine Möglichkeit, einen Streifenwagen zu alarmieren – wahrhaftig, wenn ich in meinem nun schon ganz hübsch langen Leben auch noch nie Angst hatte, dann jetzt. Hier muß ich Gaby loben.

„Dann tragen wir sie halt“, sagte sie. „Ich nehm’ sie auf den Rücken. Los, rauf!“

Ich habe Gaby bisher nicht beschrieben. Sie ist nicht das für mich, was man früher „Freundin“ nannte – so eine hab’ ich nicht –, aber wir verstehen uns ganz gut, bis auf die Lidschatten und diesen Blödsinn. Sicher, hübsch aussehen will jede, und der Geschmack ist verschieden. Sie ist etwas kleiner als ich und schlank und blond. Lang herabfallende Haare, jetzt Pferdeschwanz. Durchschnitt eigentlich, keine Sonderklasse. Aber die Männer fliegen auf sie. Jetzt war sie unheimlich vernünftig.

„Komm, heb sie auf meinen Rücken.“

„Du bist bekloppt. Dazu ist sie doch zu schwer –“

„Ach was. Versuchen, los!“

Sie stellte sich vor Christiane, so daß die ihre Arme über Gabys Schultern legen konnte. Dann huckte sie sich mit einem Ruck hoch. Sie schwankte, Christiane versuchte, sich zurechtzurücken, rutschte aber wieder herunter.

„Nochmal, aber jetzt richtig!“ befahl Gaby. Ich half, es ging. Gaby versuchte die ersten Schritte zu machen.

„Menschenskinder, es wäre doch besser, wenn wir beide – zu zweit ist es doch nicht so schwer“, sagte ich und versuchte, Gaby zu stützen.

„Laß. Das stört bloß. Warte –“ schon wieder mußte sie ihre Last runtergleiten lassen, sie holte Atem, drehte sich rum. „Nee, weit kommen wir so nicht.“

„Wir tragen sie zu zweit. Das haben wir doch gelernt“, sagte ich. „Wie war der Griff, mit dem man einen Verletzten trägt?“

„Den weiß ich. So.“

Ich wußte ihn auch wieder. Die Handgelenke werden im Viereck gefaßt, jeder mit der rechten Hand sein linkes, mit der linken das rechte des anderen. Darauf setzt sich der dritte. Aber wir hatten alle drei eine Handtasche, Gaby immerhin eine Schultertasche, die man umhängen kann, aber auch die störte, und wir kamen und kamen nicht zu Rande.

Mir wurde heiß und kalt. Hoffentlich ging meine Uhr vor. Wenn wir jetzt wirklich nicht zur Zeit am Übergang waren, was dann? Himmel, würde Dr. Walter angeben, und zwar mit Recht. Das aber war das wenigste. Was geschah mit uns? Eingesperrt werden? Hierbehalten? Ohne Möglichkeit, uns zu melden? Wie lange? Jede für sich allein?

In diesem Augenblick ertönte ein Geräusch neben uns. Ich erschrak erstmal zu Tode, man wird ja richtig schreckhaft in so einer Situation und denkt sofort an Vopo und Verhaftung und was weiß ich. Es klirrte ein bißchen, und dann war es nur ein junger Mann, der vom Rad sprang. Neben uns auf der Straße. Dunkler Haarschopf, bartlos, Brille. Groß, größer als ich. „Was’n los?“ fragte er.

Seine Stimme war dunkel und – ja, irgendwie anders als andere Stimmen. Das fiel mir als erstes auf. Nicht rauh. Ich mag rauhe Stimmen, diese war anders, dunkel eben.

„Panne“, sagte ich, „Knie angeschlagen. Kann nicht auftreten. Und wir müssen rüber, vor zwölf.“

„Bahnhof Friedrichstraße? Na, da wird’s Zeit“, sagte er. „Los, her mit ihr. Rauf aufs Rad. Ich schieb’ sie. Wir schaffen es noch.“

Er hatte das Rad an den Bordstein geschoben und half Christiane seitlich auf die Längsstange. „Geht’s? Na also. Vorwärts, meine Damen! Ohne Tritt marsch!“

Gaby hatte Christianes Handtasche gegriffen und schwang ihre eigene über die Schulter.

„Hier lang?“ fragte sie, während wir losgingen. Der junge Mann zeigte die Richtung und schob los, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. „Meine geht vor. Ist noch nicht soweit. Wir kommen hin. Gebrochen?“

„Bestimmt nicht. Sie hat noch auftreten können“, sagte ich beschwörend.