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Das Mittelalter in aller Pracht und Gefährlichkeit: „Die Stadt der Lügen“, Band 2 der historischen Saga von Stefan Nowicki, als eBook bei dotbooks. Wer kaum noch Hoffnung hat, muss größten Mut beweisen … Unter der friedlichen Oberfläche Hamels beginnt es im Jahre 1284 zu brodeln: Lorenz, der Sohn des Steinmetzen, und die anderen jungen Leute wollen sich nicht länger den starren Regeln ihrer Eltern beugen und hoffen auf ein neues, freies Leben. In dieser aufgeheizten Stimmung kommen zwei Männer in die Stadt: Notger, der im Auftrag seines Grafen nach Siedlern für Ländereien im Osten sucht, und der Mönch Odo, der einen Kreuzzug ins Heilige Land führen will. Wer wird sich ihnen gegen den Willen der Stadtältesten anschließen? Lorenz hat indes aber ein noch viel drängenderes Problem: Er muss um das Leben seiner Geliebten Uta fürchten – und schmiedet einen kühnen Plan, um die schöne Rattenfängerin zu schützen. Bewegend, dramatisch und spannend: Bestsellerautor Stefan Nowicki begeistert in seiner Trilogie „Tochter des Gauklers“ mit einer ganz neuen Interpretation des Rattenfänger-Mythos – voller sympathischer Protagonisten, überraschender Wendungen und dem Wissen um die Abgründe der menschlichen Seele. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Tochter des Gauklers: Die Stadt der Lügen“ von Stefan Nowicki. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 299
Über dieses Buch:
Wer kaum noch Hoffnung hat, muss größten Mut beweisen … Unter der friedlichen Oberfläche Hamels beginnt es im Jahre 1284 zu brodeln: Lorenz, der Sohn des Steinmetzen, und die anderen jungen Leute wollen sich nicht länger den starren Regeln ihrer Eltern beugen und hoffen auf ein neues, freies Leben. In dieser aufgeheizten Stimmung kommen zwei Männer in die Stadt: Notger, der im Auftrag seines Grafen nach Siedlern für Ländereien im Osten sucht, und der Mönch Odo, der einen Kreuzzug ins Heilige Land führen will. Wer wird sich ihnen gegen den Willen der Stadtältesten anschließen? Lorenz hat indes aber ein noch viel drängenderes Problem: Er muss um das Leben seiner Geliebten Uta fürchten – und schmiedet einen kühnen Plan, um die schöne Rattenfängerin zu schützen.
Bewegend, dramatisch und spannend: Bestsellerautor Stefan Nowicki begeistert in seiner Trilogie „Tochter des Gauklers“ mit einer ganz neuen Interpretation des Rattenfänger-Mythos – voller sympathischer Protagonisten, überraschender Wendungen und dem Wissen um die Abgründe der menschlichen Seele.
Über den Autor:
Stefan Nowicki, geboren 1963, studierte Germanistik, Politik, Kunstgeschichte, Philosophie und Theologie. Er arbeitet unter anderem als freier Kulturjournalist für verschiedene Zeitungen und lebt in der Nähe von Augsburg.
Der Autor im Internet: www.stefannowicki.de
Stefan Nowicki freut sich darüber, über Facebook in Kontakt mit seinen Lesern zu treten: www.facebook.com/stefannowicki.w.u.t
Stefan Nowicki veröffentlichte bei dotbooks bereits den Bestseller »Die Kreuzfahrerin«, in dem er die abenteuerliche Lebensgeschichte der jungen Deutschen Ursula erzählt, und »Der Sohn der Kreuzfahrerin«, in dem er sich Ursulas Sohn Shakib widmet, sowie die Trilogie »Tochter des Gauklers« mit den Einzelromanen »Die Tore von Hameln«, »Die Stadt der Lügen« und »Die Stunde der Hoffnung«.
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Originalausgabe Juli 2018
Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
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Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Jules Kitano, blue pencil und Sk_Advance studio
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-95824-454-2
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Stefan Nowicki
TOCHTER DES GAUKLERS: Die Stadt der Lügen
Roman
dotbooks.
Im Jahr 1284 na Christi gebort tho Hameln wordenUthgevort hundert und dreißig Kinder dasülvest gebornDurch einen Piper under den Köppen verlorn.
Innschrift am Hamelner Hochzeithaus, 1610
Anno Domini 1284
Sie waren noch vor Sonnenaufgang losgeritten, und auch wenn Ewalt und Sander, seine langjährigen Begleiter, bereit waren, mit ihm in eine neue Zukunft zu ziehen, so waren sie doch vom frühen Aufbruch wenig begeistert und ritten schweigend hinter Notger her. Das störte ihn wenig, denn er hing in letzter Zeit ohnehin lieber seinen Gedanken nach – an ein eigenes Haus, eine Frau und was noch dazugehörte.
Die Luft war kühl und feucht. Anfangs hingen noch milchige Schwaden über den Feldern, wurden von der aufsteigenden Sonne allerdings rasch aufgelöst. Alles deutete darauf hin, dass dies ein guter Tag werden würde.
Vielleicht ist es genau das. Ein Schmunzeln formte sich bei dem Gedanken auf Notgers Lippen. Bei schlechtem Wetter, angesichts eines bevorstehenden Kampfs oder im Bewusstsein einer Bedrohung hätten sie vor sich hin geflucht oder die Stimmung durch grobe Scherze zu überdecken versucht. Nun ließen die Sonne, der gut ausgebaute Weg, ihr vielversprechendes Vorhaben ihn und seine hartgesottenen Waffenbrüder hingegen schweigen. Sie blieben sogar stumm, als vor ihnen der Fluss wie ein silbernes Band unter der Sonne glitzerte und die Mauern der Stadt auftauchten. Nur die Pferde schnaubten kurz, als ihre Reiter sie nachdrücklich vorantrieben.
Als sie durch das Osttor in die Stadt vordrangen, wurden sie mit einem Mal gesprächig.
»Puh, Stadtluft!« Sander rümpfte die Nase.
»Das ist der Duft der Freiheit.« Notger lachte und trieb ein paar Schweine, die im Unrat auf der Gasse nach Fressbarem wühlten, mit dem Pferd zur Seite.
»Sehr frei, so eingeschlossen von Mauern.«
»Ja, und den Hintern des Nachbarn im Gesicht!« Auch Ewalt lachte und deutete auf das nackte Gesäß eines Mannes, der sich, auf dem Fensterstock sitzend, gerade aus der oberen Etage zwischen zwei Häusern heraus erleichterte.
Alle drei lachten dreckig auf und trieben die Pferde weiter durch die Leute. Die machten Platz und schauten nur kurz auf. Einzig die an den Sätteln befestigten Trommeln erregten ein wenig Aufsehen. Notger hatte sich bewusst gegen sein Rittergewand entschieden und schlichte wollene Beinlinge sowie eine mit einem Pelzkragen verzierte Lederweste über dem Hemd angezogen. Das Stückchen Fell um den Nacken reichte schon aus, um ihn von den Gemeinen abzuheben. Darüber hinaus war da ja auch noch sein Schwert.
Er überlegte, wie er beim Rat der Stadt auftreten würde, und war in Gedanken ansonsten schon Monate voraus. Nervös tastete er nach dem Schriftstück, das er in der Weste bei sich trug. Er war voller Tatendrang. Darüber hinaus bedurfte es all seiner Aufmerksamkeit, sich hoch zu Ross den Weg zwischen Menschen und unter Planen und Vorbauten hindurch zu bahnen.
Wenig später erreichten sie den Marktplatz und banden ihre Pferde vorm Rathaus an.
»Wartet hier und tränkt die Pferde. Ich melde uns beim Rat.« Notger ließ den Blick über den Platz schweifen. Einige Stände und Zelte kündigten den bevorstehenden Markttag an. »Wie es aussieht, kommen wir zur rechten Zeit.« Noch während er die Stufen zur Tür hinaufschritt, sprach er den dort stehenden Wächter an: »Sind die Herren vom Rat im Haus?«
»Ja, wen soll ich melden?«
»Notger, den Gefolgsmann des Grafen von Spiegelberg. Heinrich Gruelhot kennt mich.«
»Warte hier!« Der Posten ließ ihn stehen und verschwand im Haus.
Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte Notger den Marktplatz gut überblicken. Es war einiges Volk unterwegs, zwischen den Ständen herrschte reges Treiben. Ewalt und Sander waren mit den Pferden beschäftigt.
Menschen gab es hier genug, aber würde es ihm auch gelingen, sie für sein Vorhaben zu begeistern? Was er zu bieten hatte, war für viele sicher eine Hoffnung auf ein besseres Leben, aber der Weg und die Mühsal bis dahin schreckten doch die meisten ab. Rund um die Burg des Grafen und in den nächsten Dörfern hatte er diese Erfahrung bereits gemacht, und bisher wollten ihn gerade mal einige wenige Männer begleiten.
»Komm!« Der Büttel erschien wieder in der Tür. »Der Rat hat Zeit für dich.«
Notger folgte dem Mann ins Haus. Er musste schmunzeln. Die reichen Kaufleute und Handwerksmeister der Stadt gaben sich große Mühe, Fürsten und Edle nachzuahmen. Ihre Macht und der besondere Status der Städte bestärkte sie in der Meinung, sie seien ihnen ebenbürtig, doch nicht einmal beim Grafen selbst wurde ein Besucher auf so umständliche Weise empfangen. Sie durchquerten die Vorhalle, in der sich bereits allerlei Volk versammelt hatte. Wohl Bittsteller und welche, die auf Rechtsprechung hofften, mutmaßte Notger. Als der Büttel ihn hindurchführte, erntete er misstrauische, neidvolle, aber auch feindselige Blicke. Der Wachmann öffnete die Tür zum Ratssaal, klopfte mit seinem Spieß auf den Boden und rief: »Notger, Gefolgsmann des Grafen von Spiegelberg!« Dann ließ er ihn eintreten, schloss hinter ihm die Tür und begab sich wieder auf seinen Posten.
Am Ende des Saals war ein großer Tisch aufgebaut. Dort saßen fünf Mitglieder des Rats, in ihrer Mitte Heinrich Gruelhot. Auf der rechten Seite, nahe den Fenstern, arbeiteten an Stehpulten zwei Schreiber, und ihnen gegenüber an der Wand standen, bewaffnet mit Schwert und Spieß, zwei weitere Stadtbüttel. Eine vierköpfige Gruppe, die er an ihrer Kleidung als Kaufleute erkannte, stand in der Nähe und unterhielt sich. Bei seinem Eintreten schauten sie nur kurz auf.
»Notger!« Heinrich Gruelhot erhob sich, kam um den Tisch herum und eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Seine Füße steckten in neumodischen, spitz zulaufenden Lederschuhen. Die Beine wirkten in den eng anliegenden Beinkleidern sehr dünn unter dem massigen Körper. Über seinem Hemd trug er eine mit Stickereien verzierte Weste. Der Bauch wurde von einem breiten, mit silbernen Nieten und allerlei Zierrat versehenen Gürtel geschmückt. Darüber trug er eine Jacke in der gleichen Farbe, geschnitten, wie es gerade in Mode war, reich verziert und an den Säumen mit dunklen Fellstreifen besetzt. Zwischen wohlgepflegtem Bart und Kopfbedeckung blitzten die Augen des Bürgermeisters freundlich. Er ließ die Arme sinken und reichte Notger die Hand. Der schlug ein und erwiderte den festen Händedruck lächelnd.
»Heinrich, ich grüße dich. Wie geht es dir?«
»Ach, was soll ich dir mein Leid klagen? Eigentlich geht es mir gut, es könnte kaum besser sein, aber wir haben Gerichtstage, und mir kommt es vor, als läge jeder in dieser Stadt mit irgendjemandem im Streit. Die letzte Ernte war nicht schlecht, wir sind gut über den Winter gekommen, nicht zuletzt, da wir endlich der Rattenplage Herr geworden sind, und doch sind alle hier unzufrieden, kaum einer, der nicht klagt. Die Stadt platzt aus den Nähten, und täglich kommen aus allen Himmelsrichtungen Tagelöhner, Bauern und Unglückliche, die von unserer Stadt gehört haben und nun hoffen, hier ihr Glück zu machen. Die Alten streiten mit den Nachbarn um das Regenwasser und den Unrat, die Jungen um ihr Erbe oder darum, ein eigenes Heim zu erlangen. Nur haben wir keinen Platz. Der Bischof von Minden, die Braunschweiger Herren und auch dein Graf haben uns den Auftrag erteilt, unsere Mühlenstadt herauszuputzen. Größere, repräsentative Häuser sollen wir errichten. Am Stift wird gebaut, und zu allem Überfluss machen die Zünfte der Handwerker immer wieder Ärger. Im Winter hat es zweimal gebrannt. Da können wir nun neu bauen, aber diejenigen, die dort gewohnt haben, wissen nicht, wohin, und leben in Zelten oder in irgendwelchen Kellern und feuchten Löchern. Alles Volk ist unzufrieden, und ich soll es richten. Aber genug geklagt, was bringt dich her?«
»Nun, mir scheint, ich kann dir vielleicht helfen. Der Graf hat mich für Treue und Dienste mit Land versehen, welches ich besiedeln soll. Nun möchte ich hier Leute anwerben, die mit mir in den Osten ziehen. Vielleicht finden sich unter den Streithähnen und Unzufriedenen ja welche, denen ein Stück eigenes Land gefallen würde.«
Er zog das vom Grafen ausgestellte Pergament aus der Weste und hielt es dem Bürgermeister hin. Der faltete es auf und schritt näher zum Fenster, um es zu studieren. Einige der Ratsherren hatten bei Notgers Worten interessiert die Köpfe gehoben. Nun warteten sie ab, was Heinrich Gruelhot wohl sagen würde. Er nickte schweigend und kratzte sich am Hinterkopf, als würde ihn das Fellfutter seiner Mütze jucken. Schließlich faltete er das Dokument wieder zusammen.
»Weil wir einander freundschaftlich verbunden sind und weil der Graf unser Schutzherr ist, will ich dir das Werben gewähren. Wie viele Leute brauchst du?«
»Ich weiß nicht genau, vielleicht drei oder vier Dutzend Männer mit ihrem Anhang. Hauptsächlich Bauern und Landarbeiter. Ein paar Handwerksburschen wären sicher auch von Nutzen.«
»Ich glaube nicht, dass aus den Zünften jemand in den Bauernstand wechseln will, doch sicher gibt es unter den Handlangern und Tagelöhnern welche, die sich auf das ein oder andere verstehen und denen du eine bessere Zukunft versprechen kannst«, meldete sich einer der Ratsherren zu Wort.
Heinrich Gruelhot drehte sich zu ihm um und fragte laut in den Raum hinein: »Seid ihr alle einverstanden, dass Notger Bürger unserer Stadt für eine Siedlung im Osten anwirbt?«
»Nun, wie gesagt.« Der Müller sah sich dazu berufen, für alle zu sprechen. »Wahrscheinlich haben eh nur solche Interesse, die keinen Stand und kein Gewerbe haben, von daher wären sie für die Stadt kein Verlust, da von ihnen kaum Steuern zu erwarten sind. Und den frei werdenden Platz brauchen wir. Schon jetzt hausen viele in Kellern und Schuppen. Also, solange du uns nicht alle Handlanger und Tagelöhner abspenstig machst … wir benötigen doch einige Hände auf den Bauplätzen.«
Die anderen nickten zustimmend.
»Gut!« Heinrich Gruelhot drehte sich wieder zu Notger um. »Dann ist es beschlossen. Du hast Glück, der Zeitpunkt ist günstig. Das Osterfest steht bevor, es sind Gerichts- und Markttage, da treibt sich alles Volk auf dem Markt und in den Gassen herum. Versuch dein Glück.« Er reichte ihm das Schreiben zurück. »Wir müssen nun weiter Gericht halten, aber ich denke, wir werden uns später noch in der Schenke sehen, oder?«
»Ja, sicher.« Notger lächelte und reichte Heinrich erneut die Hand. »Ich werde gleich meine Freunde losschicken, um das Volk zusammenzutrommeln. Noch ist der Marktplatz einigermaßen frei, und ich störe das Treiben nicht.«
»Ja, mach das. Und komm später vorbei, und wir gehen zusammen zum Wirt.«
»Gut.« Notger wandte sich den anderen zu. »Gott zum Gruß und Dank euch Herren.«
Man nickte ihm zu. »Viel Glück!«, rief sogar einer. Zufrieden schritt Notger zum Saal hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Von drinnen war die Stimme eines der Herren zu hören: »Die Nächsten!«
Im kühlen Zwielicht des Flurs hätte der Ritter gerne kurz durchgeatmet, doch vor der geschlossenen Tür erhob sich sogleich ein Gedränge und Gezanke zwischen den Wartenden, und ihrem Unmut wollte er sich auf keinen Fall aussetzen. Wieder war er seinem Ziel ein wenig nähergekommen. Bald würde sich herausstellen, ob es hier in der Stadt genügend Leute gab, die sich mit ihm auf das Abenteuer einer neuen Siedlung einließen.
Auf der obersten Stufe vor dem Haus blieb er blinzelnd stehen. Die Sonne blendete ihn. Er hielt sich die Hand an die Stirn, und die Augen gewöhnten sich rasch wieder an den hellen Frühlingstag. Sander und Ewalt sahen ihm erwartungsvoll entgegen.
»Auf die Pferde, Freunde. Reitet durch die breiteren Gassen und schlagt die Trommeln, wir wollen mal schauen, wie viele Stadtleute wir aus ihren Nestern locken können!«
Beide grinsten und banden sogleich ihre Tiere los. Ewalt saß als Erster im Sattel, sah sich um und entschied sich für eine Richtung. »Sander, ich nehme die Gasse, die dort zur großen Kirche führt, und mache dann einen Bogen entlang der Stadtmauer auf der rechten Seite. Nimm du den Weg, den wir gekommen sind, und komme dann links davon wieder zurück. Das dürfte ausreichen, dass uns alle hören.« Und als wollte er dies beweisen, schlug er kräftig auf die Trommel vor sich, sodass sein Pferd nervös zu tänzeln begann. Notger lachte, und Sander, nun auch aufgestiegen, nahm den Schlegel in die Hand und fiel in den Takt des Gefährten ein.
Auf dem Markt hoben sogleich alle die Köpfe und sahen in ihre Richtung. Die Reiter machten sich auf in entgegengesetzte Richtungen, ohne das Trommeln zu unterbrechen. Notger setzte sich neben seinem Pferd auf den Rand der Tränke und lauschte den Trommeln, deren Schläge weithin zu hören waren. Am freien Platz vor dem Rathaus und beim Brunnen versammelten sich bereits die ersten Neugierigen. Er wartete, bis die Trommeln sich wieder näherten, dann schritt er hinüber zum Brunnen. Die Stufen des Rathauses waren seiner Meinung nach dem Bürgermeister vorbehalten und die Treppe vor dem Portal der Marktkirche den Priestern und Mönchen. Die Mauer des Brunnens würde ausreichen.
Der Knall des zerberstenden Tonkrugs riss Uta aus dem Schlaf. Neben der gemauerten Feuerstelle stand wankend ihr Vater, das Gesicht rot vor Zorn, dennoch blickte er mit so etwas wie kindlichem Staunen auf den Henkel des Gefäßes, den er noch in der Hand hielt.
»Vater, was …?« Weiter kam sie nicht.
Der Zorn gewann die Oberhand. Die Stimme der Tochter riss ihn aus seiner Verwunderung, er schmiss den Überrest des Krugs wutentbrannt in ihre Richtung und verfehlte sie nur knapp.
»Was hast du mit dem Bier gemacht?«, geiferte er.
»Nichts habe ich gemacht. Du hast es in der Nacht ausgetrunken, als du von der Schenke kamst.« Sie sprang auf, bereit, weiteren Wurfgeschossen oder gar Schlägen auszuweichen, und blinzelte durch das spärliche Morgenlicht, das durch ein paar Ritzen in ihre einfache Hütte drang, gefasst auf das, was als Nächstes kommen würde. Vage sah sie seine Umrisse. Er stand da, nach wie vor schwankend, eine Hand abgestützt an der Mauer der Feuerstelle. Seine Schultern sanken resignierend herab.
»Dann gehst du jetzt sofort und holst was!« In seinem Lallen lag etwas Gebieterisches, aber Uta spürte, dass ihm die Kraft und der Wille fehlten, den Streit fortzuführen.
»Wie stellst du dir das vor? Du hast den Krug zerschlagen, und um diese Zeit sind die Schenken noch geschlossen.«
»Das ist mir gleich. Hier!« Er nestelte im Beutel an seinem Gürtel herum, kramte zwei Münzen hervor und knallte sie mit flacher Hand auf die Platte des Tisches an seiner Seite. »Geh! Besorg einen vollen Krug.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich zurück. Mit schweren Schritten schlurfte er an ihr vorbei und ließ sich ins Heu fallen. »Los! Oder muss ich dir erst Beine machen?«, grunzte er.
Noch während Uta sich ihr Kleid überzog, signalisierte sein lautes Schnarchen, dass er das Bewusstsein verloren und in den tiefen Schlaf des Berauschten geglitten war.
Uta scherte sich nicht weiter um ihn und ließ das Geld auf dem Tisch liegen. Bevor sie die Hütte verließ, stieß sie einen kurzen, leisen Pfiff aus. Sogleich raschelte es im Heu, und dort, wo sie zuvor gelegen hatte, tauchte Engelsflaum auf, ihre gezähmte Albinoratte. Das Weiß ihres Fells hob sich deutlich von der dunklen Umgebung ab. Der Großvater hatte ihr das Handwerk des Rattenfangens beigebracht, und eines Tages, als sie ein Nest aushob, hatte sie das außergewöhnliche Tier gefunden, es behalten, gezähmt und dressiert. Mit ihm führte sie auf den Märkten kleine Kunststücke vor und trug etwas zu ihrem Unterhalt bei. Sie hob die Ratte auf, setzte sie sich auf die Schulter und schob sich an der Kuhhaut, die den Eingang der Hütte verschloss, vorbei ins Freie.
Die Hütte war nicht viel mehr als ein einfacher Verschlag, dereinst der Unterstand, in dem die Steinmetze übers Jahr am Schmiedefeuer ihre Werkzeuge richteten und schärften, und entsprechend hergerichtet worden, dass sie als Bleibe über den Winter taugte. So stand Uta nun auf dem Platz zwischen Rohlingen und bereits behauenen Mühlsteinen. Die frische Morgenluft war so völlig anders als der von Rauch und den Ausdünstungen des trunkenen Vaters geschwängerte Brodem da drinnen. Die Sonne stand bereits über den Dächern und versprach einen ersten schönen Frühlingstag. Rasch hockte sie sich hinter den nahen Misthaufen und erleichterte sich.
Dass sie den Winter über ein eigenes Dach über dem Kopf gehabt hatten, ein eigenes Feuer, das sie wärmte, und ausreichend Speis und Trank, kam ihr immer noch wie ein großes Wunder vor.
Im Spätsommer des vergangenen Jahres waren sie in diese Stadt gekommen, und seither hatte sich so viel verändert.
Ihr Vater, Buntin der Gaukler, und sie waren Teil einer Gruppe von Spielleuten gewesen, die von Frühling bis Herbst durch die Lande zogen, von Markt zu Markt, von Stadt zu Stadt, und dort das Volk mit allerlei Possen, Kunststücken und Musik unterhielten. Als sie angekommen waren, wimmelte es in der ganzen Stadt von Ratten. Und Uta hatte gleich gesehen, dass sie hier mit ihrem Wissen und Können gut verdienen konnte. So hatte sie ihren Vater, der viel lieber weitergezogen wäre, überredet zu bleiben. Sie hatte auch für ihn eine Anstellung in einer Schenke besorgt, hatte einen Handel mit dem Rat der Stadt geschlossen und diese Bleibe gefunden. Die anderen Fahrenden waren weitergezogen, und Uta hatte zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Ähnliches wie ein Zuhause gehabt.
Aber ihr waren noch ganz andere Dinge widerfahren, die sie so nie erwartet hätte. Sie hatte Lorenz kennengelernt, den Sohn des Steinmetzen, auf dessen Hof sie nun schon fast ein halbes Jahr wohnen durften. Er war ihre erste große Liebe und gab ihr eine Geborgenheit, die sie, wenn überhaupt, nur bei ihren schon lange verstorbenen Großeltern und in ihren Träumen erfahren hatte. Sie war noch kein Jahr alt gewesen, als ihre Mutter verschwand. Weder der Vater noch seine Eltern hatten ihr je gesagt, was geschehen war. Sie wuchs in der Obhut der Alten auf. Der Vater lehnte sie ab, gab ihr keinen Namen, sondern nannte sie schlicht in der Sprache der Alten »Duhtar«, Tochter. Erst als die Großeltern starben, nahm er sich seiner Tochter an, aber wirkliche Nähe ließ er nie zu.
Nun aber gab es Lorenz, in seinen Armen fühlte sie sich geborgen, spürte Nähe, Wärme und auch Lust. Bei ihm vergaß sie alles um sich herum und empfand Glück, Freude und Hoffnung. Wenn er nicht in ihrer Nähe war, so war er doch allgegenwärtig, sie spürte ihn in ihrem Herzen, dachte an ihn und sehnte sich unendlich nach ihm.
Lorenz fühlte wie sie, aber sie waren eben doch nicht allein in der Welt. Neben dem scheinbar unüberwindbaren Standesunterschied zwischen einem Handwerker der Stadt und einer Fahrenden gab es Willin, den alten Steinmetz. Er hatte Pläne für seinen Erstgeborenen. Lorenz sollte Viktoria, die Tochter des reichsten Müllers der Stadt, heiraten. Die Verbindung würde den Stand beider Familien festigen und versprach Wohlstand und Macht für die Zukunft. Lorenz bedeuteten weder sein Stand noch Geld und Macht etwas, er wollte am liebsten heraus aus der Enge der Stadt, wäre gerne in der Welt herumgekommen, um die bedeutenden Bauwerke und Baustellen anderer Städte und Klöster kennenzulernen. Er wollte nicht sein Lebtag lang Mühlsteine behauen, und Viktoria konnte er wegen ihres schlechten Charakters nicht leiden.
Uta hob das Gesicht zum Himmel, blickte in das klare helle Blau des Morgens, ungetrübt von Wolken, und sie wusste, dass der Winter nun vorbei war.
Das Haus des Steinmetzen lag im älteren Teil der Stadt. Uta trat hinaus auf die Gasse und lenkte ihre Schritte an der Marktkirche vorbei in die Bäckerstraße. Bevor sie vollends in den herrlichen Duft von frisch gebackenem Brot eintauchte, bog sie ab in die Gasse, die man Fischerpforte nannte und die sie hinunter zum Fluss führte, wo auch die große Mühle von Viktorias Vater stand. Dort hatte Hug, ein Waisenknabe, mit dem Uta gemeinsam auf Rattenjagd ging, seine Kammer. Er war ihr mit seiner Schleuder und seinem Hund eine große Hilfe, und gemeinsam war es ihnen gelungen, die Stadt beinahe gänzlich von der Rattenplage zu befreien.
Die Leute vor ihren Hütten und Entgegenkommende nickten ihr zu. »Gott zum Gruß!«, rief eine Frau, die einen Korb flocht. Es war eng in den Gassen, denn jeder verrichtete sein Tagwerk draußen vor dem Haus.
»Uta, grüß dich! Na, heute schon ein paar Ratten erledigt?«, sprach sie ein Bursche an, der zwei Schweine vor sich her durch die Leute trieb.
»Nein, heute noch nicht. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend«, antwortete sie gut gelaunt.
Es gab in der ganzen Stadt kein Haus, keine Scheune, keinen Schuppen oder Lager, in dem sie nicht gewesen war und das sie nicht gemeinsam mit Hug von Ratten gesäubert hatte. Noch nie waren die Verluste an Vorräten und Saatgut so gering gewesen wie in diesem Winter. Selbst jetzt, in den Frühjahrsmonaten, wo Schmalhans immer Küchenmeister gewesen war, hatten, abgesehen von den Ärmsten, alle in der Stadt Brei zu essen, und dementsprechend freundlich verhielten sich die meisten der Rattenfängerin gegenüber.
»Uta! Uta, warte!«
Sie drehte sich um und sah einen jungen Kerl, der ihr hinterhergelaufen kam. Sie hatte ihn schon oft gesehen, wusste aber nicht, wie er hieß. Er kam heran und hielt einen aus Draht geflochtenen Korb hoch. Es sprudelte aus ihm heraus: »Schau, Uta, was ich gemacht habe. Es ist eine Falle, so wie deine, doch ich habe die Klappe hier und den Mechanismus, der sie zuschnappen lässt, verändert. Und ich habe schon zwei Ratten damit gefangen.«
Uta lächelte. Zuerst wich sie allerdings einen Schritt zurück. Von ihrem Gegenüber ging der süßliche Geruch von Verwesung aus. Sogleich fiel ihr ein, woher sie ihn kannte. Er gehörte zur Werkstatt des Gerbers. Sie musterte interessiert den Käfig, den er ihr präsentierte. Es war nicht die erste Kopie ihrer Fallen, die sie zu Gesicht bekam. Es gab immer welche, die sie nachbauten, und ab und an war ihr auch schon ein Käfig gestohlen worden.
Sie begutachtete nun diesen und nickte. »Ja, gut. Ich wünsche dir viel Erfolg damit«, sagte sie, ohne sich verstellen zu müssen. Längst konnte sie gleichmütig auf Nachahmer und Konkurrenz reagieren. Sie wusste, dass die Falle allein dem Burschen nicht viel nützen würde. Ratten waren sehr schlau. Uta konnte nicht sagen, wie sie es anstellten, aber sie war sich sicher, dass die Ratten in der Lage waren, einander vor Gefahren zu warnen und sich über solche Dinge wie Fallen auszutauschen. Auch ihre eigenen Käfige – obwohl sie sie nie lange allein ließ und sehr darauf bedacht war, dass keine Ratte einen darin gefangenen Artgenossen je zu Gesicht bekam – waren inzwischen meist leer. Aber es konnte nicht schaden, wenn die Städter in ihren Häusern Fallen aufstellten und nicht immer nur jene Ratten erschlugen, die sie zu Gesicht bekamen. Viel wichtiger war es, die Nester zu finden und das Übel von der Wurzel her zu bekämpfen.
»Wo gehst du hin?«, wollte der Kerl nun wissen.
»Zur Mühle.«
»Wenn du zu Hug willst, den wirst du dort nicht finden. Auch ihm habe ich meine Falle gezeigt, er war auf dem Weg Richtung Osttor. Seinen Hund hatte er auch dabei.«
»Dann werde ich ihn wohl besser dort suchen. Ich danke dir. Ja, und nochmals viel Glück mit deiner Falle.«
»Das wird ein guter Tag. Ich stelle sie gleich wieder auf«, antwortete der Bursche und ging seiner Wege.
Uta überlegte kurz. Dort, wo Hug angeblich war, wollte sie heute auch noch hin. Da konnte sie auch gleich jetzt gehen. In der Nähe des Tors lag der Hof von Lisels Familie.
Sie ging zurück, überquerte die Bäckergasse und den Marktplatz am Rathaus vorbei und folgte dem breiten Weg in Richtung Tor. Vor sich sah sie die Sonne über den Dächern der Häuser aufgehen. Ihre Strahlen wärmten bereits.
Als sie in die Stadt gekommen waren, hatten hier die Hütten gestanden wie verängstigte Schafe, die von einem Wolf umkreist wurden. Nun klafften zwischen ihnen große Lücken. Im Winter hatten die Sehnsucht nach Wärme und wahrscheinlich unbeachtete Herdfeuer zweimal zu Bränden geführt. Die ganze Stadt war in Aufruhr gewesen, und nur mit großer Mühe war es gelungen, dem Feuer Einhalt zu gebieten. Nun klafften Baugruben zwischen den Behausungen, die den Flammen nicht zum Opfer gefallen waren. Es war schon seltsam, dass es hintereinander nur an dieser einen Stelle gebrannt hatte und dass die meisten eingerissenen Häuser auf Grund gestanden hatten, der Müller Gallus gehörte. Es hieß, der Herzog zu Braunschweig selbst hätte verfügt, die Stadt, die unter seinem Schutz stand, möge ihr ärmliches Aussehen abstreifen und stattliche Häuser mit Steinmauern errichten. Neider munkelten, Gallus verkaufe die Grundstücke mit großem Gewinn neu, und die Steinmetze hätten nun ein lukratives Zusatzgeschäft. Kaum jemand freute sich über die neuen Häuser, und nur wenige hatten einen Nutzen davon. Die meisten fristeten ihr Dasein weiter so wie die Familie ihrer besten Freundin.
Lisel hatte sie am ersten Tag ihrer Ankunft in der Stadt kennengelernt. Die Tochter eines armen Bauern war ihr binnen kürzester Zeit ans Herz gewachsen. Schon bald waren sie wie Schwestern gewesen, und es verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht trafen. Dann, im Herbst des vergangenen Jahres, war Lisel plötzlich eines Abends verschwunden und am nächsten Tag von den Fischern tot aus dem Fluss gezogen worden. Das war ein großes Unglück, und noch immer lag Uta dieser Verlust schwer auf dem Herzen. Seitdem hatte sie sich um Lisels Familie gekümmert. Es gab viele Mäuler zu stopfen, und auch wenn die Ratten ihnen in diesem Winter nicht mehr das meiste wegfraßen, fehlte es an allen Ecken und Enden. Uta besorgte Essen und Stoff für Kleidung. Ihr Erfolg beim Bekämpfen der Rattenplage und die vielen Leute, die sie kennengelernt hatte, halfen ihr dabei. Auch den Bürgermeister selbst hatte sie darauf angesprochen, und der gutmütige Heinrich Gruelhot hörte ihr zu und gab ihr den ein oder anderen wertvollen Hinweis. Lisels Geschwister freuten sich jedes Mal, wenn sie kam. Sie waren ganz wild darauf, Engelsflaum zu streicheln und auf dem Tisch ihrer Hütte das ein oder andere Kunststück vorgeführt zu bekommen. Einzig der Älteste, Jupp, und Lisels Vater blieben ihr gegenüber zurückhaltend. Sie hatten so wie Uta selbst die Vermutung, dass Lisels Unfall irgendetwas mit ihr oder der Rattenjagd zu tun hatte. Sie gaben ihr nicht die Schuld und nahmen ihr die große Trauer ab, aber ein Stückchen Misstrauen blieb. Vielleicht erinnerte sie die beiden auch einfach nur an den Verlust, denn Lisel hatte nicht nur dieselbe Haarfarbe und Größe wie sie gehabt, auch sonst waren sie einander sehr ähnlich gewesen.
Bei der Bauernfamilie fühlte sich Uta ihren Träumen und Wünschen nahe. Das gemeinsame Leben von Eltern und Geschwistern, das Miteinander auf so engem Raum, waren ihr fremd – und genau deswegen faszinierend. Sie hatte nie eine Familie gehabt. Das Leben in der Gruppe der Fahrenden spielte sich zwar auch in einer Gemeinschaft ab, war aber geprägt vom ständigen Kommen und Gehen und natürlich vom Herumziehen. Uta war das schon lange leid.
Buntin war da ganz anders. Sein ganzes Wesen war unstet, er musste ständig in Bewegung sein, hasste es, zu lange an einem Ort zu verweilen. Hier in der Stadt lebte er bereits viel zu lange und tröstete sich mit Bier und Wein.
Nun, da der Winter vorüber war, wurde seine Laune mit jedem Tag schlimmer. Er war unausstehlich, und immer häufiger kam er aus der Schenke, vom vielen Trinken nicht mehr Herr seiner selbst. Hätte Uta ihn nicht überzeugt, auf die Ankunft von Fahrenden zum nächsten Markttag zu warten, um sich ihnen dann anzuschließen, wäre er längst aufgebrochen. Sie hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich belog sie ihn die ganze Zeit. Sie wollte nicht mehr weiterziehen, und dennoch stellte sie ihm immer wieder einen baldigen Aufbruch in Aussicht. Sie hatte Angst davor, ihm ihre Entscheidung mitzuteilen, und scheute den Konflikt. Schon bevor sie die Stadt erreicht hatten, war sie des Umherziehens überdrüssig gewesen, aber nun – ihr Herz schlug bei dem Gedanken schneller – gab es einen noch viel schwerwiegenderen Grund zu bleiben: Lorenz.
Ihre Verbindung war dem Vater nicht verborgen geblieben und ebenso Anlass für Streit. Buntin wurde nicht müde, sie an ihren Stand zu erinnern und dass sie als Fahrende niemals in der Stadt anerkannt werden würde, geschweige denn eine dauerhafte Verbindung mit einem Bürger eingehen könne. Obwohl er Lorenz als tüchtigen und vor allem ehrlichen Kerl kennengelernt hatte, war er davon überzeugt, dass seine Tochter für den Städter nur eine Tändelei ohne Zukunft war.
Lorenz erging es da nicht viel besser: Sein Vater hatte konkrete Pläne für die Zukunft seines Erstgeborenen und die Familie. Lorenz sollte längst mit Viktoria, der Müllerstochter, verheiratet sein. Seine Weigerung und erst recht die Verbindung zu Uta sorgten im Haushalt des Steinmetzen für großen Ärger, ständige Streitereien und Versuche, Lorenz zu kontrollieren und zu überwachen. Willin hätte seinen Sohn am liebsten an die Kette gelegt oder eingesperrt. Auf jeden Fall deckte er ihn mit so viel Arbeit ein, dass er kaum Zeit fand, Uta zu treffen. Schon zwei Tage hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Unablässig musste sie an ihn denken und fragte sich, was er wohl gerade tat.
Ein kurzes Kläffen ganz in der Nähe ließ sie herumfahren, gerade noch rechtzeitig, um den Sprung des Hundes abzufangen. »Fang«, rief sie, »nicht so stürmisch!« Mit beiden Händen griff sie in sein braunes Fell, kraulte ihm den Hals und verhinderte, dass er erneut an ihr hochsprang. »Fang, du großer Jäger, wo ist denn dein Herr? Heute schon eine Ratte gefangen?«
»Uta, sei gegrüßt.«
»Hug, ich habe dich gesucht. Nun hat Fang mich gefunden. Wart ihr heute schon auf der Jagd?«
»Wir haben es zumindest versucht. Es wird aber immer schwerer. Zurzeit gibt es nicht allzu viele Ratten. Fang konnte nur eine einzige aufstöbern, und ein Nest haben wir schon seit ein paar Tagen nicht mehr ausgehoben.«
»Ich wollte nach Lisels Familie schauen. Willst du mitkommen? Wir könnten anschließend bei den Speichern und an den Mühlen unser Glück versuchen. Die Sonne steht schon hoch.«
Hug wollte gerade etwas erwidern, da erklangen die regelmäßigen Schläge einer Trommel. Kurz darauf setzte eine weitere ein, und nicht nur Uta und Hug schauten in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
»Was ist das?«
»Trommeln. Da möchte jemand etwas verkünden.« Hug überlegte kurz. »Es sind Gerichtstage, und der Markt steht auch bevor. Aber vielleicht ist auch etwas passiert. Komm, wir gehen zum Platz und finden es heraus.«
»Uta, Hug, grüßt euch. Wisst ihr, was es gibt?«
»Grüß dich, Maria.«
Lisels Mutter war mit den kleineren Kindern im Schlepptau und dem Säugling auf dem Arm offenbar auch dem Klang der Trommel gefolgt.
»Nein«, gab Hug Auskunft. »Aber wir wollten gerade losgehen und auf dem Platz abwarten, was verkündet wird. Kommt ihr mit?«
»Nein, Gret wird mir auf Dauer zu schwer, und außerdem habe ich den Kessel über dem Feuer. Ich wollte nur kurz schauen, ob jemand schon etwas weiß. Wenn ihr Zeit habt, könnt ihr ja vorbeikommen und uns davon berichten. Aber die Nachrichten gelangen in kürzester Zeit auch so zu uns.«
»Geht es allen gut?« Uta war zu Maria getreten und streichelte Gret die Wange. Die Kleine strahlte sie kurz an und versteckte dann ihr Gesicht im Stoff an Mutters Schulter.
»Ja, genauso gut wie vor zwei Tagen, als du mich das fragtest. Es geht uns allen gut. Wir haben zu essen und reichlich Arbeit. Die Felder müssen bestellt und die Handarbeiten des Winters für den Markt fertig gemacht werden. Und stell dir vor, heute Morgen lag schon wieder eine Münze auf unserer Türschwelle. Das bist ja hoffentlich nicht du, die uns da heimlich immer wieder ein Almosen gibt?«
»Nein, glaub mir. Was ich euch gebe, gebe ich offen und gerne. Ich brauche es nicht heimlich zu tun.«
»Ich wüsste nur zu gerne, wer es da gut mit uns meint. Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand anders solche Geschenke bekommt.«
»Ich denke, die meisten reden nicht über so etwas, weil sie sich schämen oder weil sie den Neid anderer fürchten. Ihr solltet es nicht herumerzählen. Nutzt das Geld und dankt Gott, dass jemand euch Gutes tut.«
Eine der Trommeln wurde jetzt stetig lauter. Fang begann zu kläffen, und Hug hatte alle Hände voll zu tun, den Hund zu bändigen, als der Trommler auf seinem Pferd an ihnen vorbeizog. Eine Menge Leute folgten ihm, und so verabschiedeten sie sich von Maria und den Kindern und schlossen sich dem Zug zum Marktplatz an. Vor dem Rathaus und der Kirche angekommen, hatte Uta zunächst keine Augen für den Mann, der auf dem Rand des Brunnens stand, sondern musterte all die Leute, die den Trommeln gefolgt waren, und es dauerte nicht lange, da entdeckte sie den, den sie so sehnsüchtig gesucht hatte. Gar nicht weit von ihr entfernt stand Lorenz. Auch er schaute sich um, und als ihre Blicke sich trafen, erhellte ein Lächeln seine Züge. Uta wurde ganz warm, und sie drängte sich sofort durch die dicht beieinanderstehenden Leute zu ihm. Am liebsten wäre sie ihm auf der Stelle um den Hals gefallen, aber sie wusste, dass es hier zu viele Augen gab, die sie argwöhnisch beobachteten. So stellte sie sich dicht neben den Geliebten und berührte heimlich ganz zart seine Hand. Er ergriff die ihre und drückte sie kurz. Für beide verlor einen Moment lang alles Drumherum an Bedeutung.
Hug war ihr gefolgt. »Lorenz, ich grüße dich. Wir haben uns lange nicht gesehen. Wo treibst du dich herum?«