Tochter des Marschlands - Virginia Hartman - E-Book
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Tochter des Marschlands E-Book

Virginia Hartman

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Beschreibung

Was geschah in jenem schicksalhaften Sommer auf dem Wasser?

Loni Mae Murrow liebt ihr geordnetes Leben in Washington, D.C., wo sie ihr Talent zum Beruf gemacht hat: Für ein Naturkundemuseum fertigt sie naturgetreue Zeichnungen von Vögeln an. Als ihre Mutter Ruth erkrankt, folgt sie nur widerwillig der Bitte ihres Bruders, in die Kleinstadt ihrer Kindheit im Marschland Floridas zu kommen. Denn inmitten der unberührten Landschaft lauern die Erinnerungen an Ruths Gefühlskälte und an den tragischen Tod ihres Vaters Boyd als Loni zwölf Jahre alt war. Dann findet sie einen Hinweis, der Boyds Bootsunfall in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und nach dem, was Familie, Liebe und Heimat für sie bedeuten.

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Seitenzahl: 575

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DASBUCH

Mein Vater schenkte mir die Vögel, und er schenkte mir das Marschland. Irgendwann gab er es auf, mir seine Angeltricks beibringen zu wollen. Er erkannte, was mir an diesem Ort gefiel. »Teichhuhn«, sagte er, wenn sich etwas Violettes im Schilf bewegte, oder »Eisfischer«, wenn eine kleine Rakete übers Wasser schoss. Einmal sagte er in demselben Tonfall: »Sumpfmädchen.« Ich drehte mich blitzschnell zu ihm um, um auch einen Blick auf dieses Mädchen zu erhaschen. »Das bist du, Loni Mae.« Er neigte den Kopf zur Seite und lachte. »Oder nein. Ich habe einen besseren Namen für dich: Marschkönigin.«

Eines Tages kommt Boyd Murrow nicht vom Fischen zurück. Kurz darauf wird er tot aus dem Wasser gezogen. Die offizielle Erklärung: ein Unfall. Zwanzig Jahre später lebt Loni in Washington, D.C., und hat die wilde Natur mit ihren Unwägbarkeiten gegen einen Museumsjob an der renommierten Smithsonian Institution eingetauscht. Doch die Erinnerungen an ihren Vater suchen sie immer noch heim. Dann meldet sich ihr Bruder, den sie nur selten spricht, und teilt ihr mit, dass ihre eigensinnige, demenzkranke Mutter Ruth im Krankenhaus liegt. Zurück in der Heimat findet Loni eine Nachricht: »Ruth, es gibt Dinge, die ich dir über Boyds Tod sagen muss«. Durch ihre Nachforschungen kommt Loni ihrer Familie näher – und bringt sich selbst in große Gefahr.

DIEAUTORIN

Virginia Hartman unterrichtet Creative Writing an der George Washington University in Washington, D.C. Ihre Erzählungen, in denen das Verhältnis des Menschen zur Natur eine tragende Rolle spielt, wurden für diverse Preise nominiert. »Tochter des Marschlands« ist ihr erster Roman.

Virginia Hartman

TOCHTER DES MARSCHLANDS

Roman

Aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THEMARSHQUEEN bei Gallery Books/Simon & Schuster, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Virginia Hartman

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarker Str. 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Raschig

Umschlaggestaltung: Gettyimages (Enrique Díaz / 7cero)

und Shutterstock.com

(Piotr Zajac, Oscity, Kent Weakley, Daniel Bruce Lacy)

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29579-0V002

www.heyne.de

Für meine Kinder

und in Erinnerung an RJ und Alex

Ich wurde an deinem Ufer geboren, Fluss, Mein Blut fließt in deinem Strom, Und du mäanderst für immer Auf dem Grund meines Traums.

Henry David Thoreau

Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, das einzige Bleibende, der einzige Sinn.

Thornton Wilder

1

Wenn ich ein anderer Mensch wäre, dann gelänge es mir vielleicht, nur nach vorne zu schauen und niemals zurück. Dann würde ich nicht versuchen wollen zu begreifen, welche düsteren Ereignisse mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin. Doch es gibt immer wieder Phasen, in denen Dunkelheit über mich hereinbricht, schleichend wie die Dämmerung am Ende eines Tages, und jedes Mal ausgelöst durch ein Gefühl der Reue. Ich hätte mitgehen sollen, warum bin ich nicht, wäre ich doch nur. Ich lasse den Tag Revue passieren, an dem mein Vater uns für immer verließ. Die Sonne schien prallorange durch die Lebenseiche, und er tigerte am Fuße der Verandastufen auf und ab, während ich, die Zwölfjährige, oben stand und zu ihm herunterblickte, auf dem Arm meinen wenige Monate alten Bruder Philip. Ich verzog das Gesicht, als ich eine Strähne meines dunkelbraunen Haares sanft aus seiner teigigen kleinen Hand löste.

Daddy stand auf der untersten Stufe, kniff die Augen ein bisschen zusammen und sah zu mir hoch. »Schau mal, Schatz. Miss Joleen von nebenan kann deiner Mom mit dem Baby helfen. Wie sieht’s aus, Loni Mae? Begleitest du mich?«

Mein Vater war seit Monaten nicht mehr beim Fischen gewesen. Seine Unruhe war mit jedem Tag gewachsen, er versetzte den Möbelstücken einen Tritt und knallte die Fliegengittertür zu. Im Haus lag ein Sirren in der Luft wie vor einem aufziehenden Sturm.

An jenem Tag sagte meine Mutter: »Geh schon, Boyd! Du läufst herum wie ein eingesperrtes Tier.«

Ich hätte nahezu alles dafür gegeben, mit ihm fischen zu gehen, das Marschland genau zu studieren, wie sonst auch, jedes Lebewesen, das mir unter die Augen kam, zu zeichnen und den Geräuschen dort zu lauschen. Aber wie hätte ich das machen sollen? Ich musste hierbleiben. Seitdem Philip da war, gab es so viel für mich zu tun. Ich kümmerte mich um ihn, während meine Mutter telefonierte, sich ausruhte oder den Haushalt machte. Ich wusste, wie ich ihn dazu bringen konnte, dass er dieses glucksende Schluckauf-Lachen von sich gab. Ich passte nach der Schule auf ihn auf, an den Wochenenden und auch jetzt während der Sommerferien. Meine Mutter schüttelte nicht länger den Kopf über mich hoffnungslosen Fall, noch verdrehte sie die Augen gen Himmel.

Daddy zog ohne mich los, und der Kies knirschte unter seinen Stiefeln. Er holte die Angelrute und die restliche Ausrüstung aus der Garage. Ich nahm das Ende meines Zopfs in den Mund und formte es zu einer dünnen Spitze, während er ans Ende des Stegs ging. Seine khakifarbene Weste war mit Bleigewichten und Ködern vollgestopft, die Angelkiste hing an seinem linken Arm. Er drehte sich um und schaute kurz zu mir zurück, legte den Kopf schief, sodass sein Gesicht das Licht einfing. Ich hob meine Hand, um zu winken, aber ein Sonnenstrahl blendete ihn und er sah mich nicht. Dann drehte er sich schwungvoll zu seinem Flachboot um, stieg ein, und weg war er.

Vielleicht hatte er in der Anglerhütte übernachtet, dachten wir, in dieser verwitterten kleinen Blockhütte mit zwei Zimmern, die über das schlammige Ufer hinausragte, vielleicht war er auch gleich nach seiner »Sumpffreizeit«, wie er es nannte, auf Patrouille gegangen. Jedenfalls hing am Montagmorgen die Uniform seines Arbeitgebers, der Fischerei- und Jagdaufsicht des Staates Florida, noch immer frisch gebügelt zu Hause im Schrank und wartete auf ihn.

Gegen drei Uhr nachmittags kam der Boss meines Vaters vorbei. Captain Chappelle machte in der khakifarbenen Uniform ordentlich Eindruck, und seine Stiefel knallten bei jedem Schritt laut auf die Stufen der Veranda vor dem Haus. Meine Mutter eilte bereits aus der Tür, bevor er oben angekommen war.

»Hallo, Ruth. Bin nur vorbeigekommen, um nachzusehen, ob Boyd krank ist oder so.«

Meine Mutter drehte sich zu mir um. »Na los, Loni. Drinnen ist noch der Abwasch zu erledigen.« Zwei steile Falten zwischen ihren Augenbrauen verrieten mir, ihr lieber nicht zu widersprechen.

Von der Küche aus konnte ich nicht verstehen, worüber sie sprachen, obwohl ich mir große Mühe gab, einzelne Worte auszumachen in dem Gemurmel, das aus dem Wintergarten kam. Ich trocknete den letzten Teller ab und hörte, wie Captain Chappelles Pick-up in der Einfahrt den Kies aufwirbelte.

In dieser Nacht wurde es kühl, Sweatshirt-Wetter, und trotzdem kam Daddy nicht nach Hause. Lange nachdem ich ins Bett gegangen war, hörte ich Stimmen und legte mich am oberen Treppenabsatz auf die Lauer.

»Ich hätte es kommen sehen müssen, Ruth.« Eine Männerstimme – die von Captain Chappelle. Die quadratischen Fensterscheiben des Wintergartens waren jetzt sicher tiefschwarz, das Marschland dahinter unsichtbar. Die Umrisse des Treppengeländers glänzten im Licht der unten eingeschalteten Lampen, und Captain Chappelles Stimme klang irgendwie leblos. »Boyd war in letzter Zeit nicht mehr er selbst. Ich hätte nur nie gedacht, dass er losgeht und …«

»Nein«, sagte meine Mutter.

»Hat er sich zu Hause seltsam verhalten? War er depressiv? Denn in den letzten paar Wochen …«

»Nein«, wiederholte sie, diesmal lauter.

Captain Chappelles Stimme wurde zu einem leisen Murmeln, aber einige Worte drangen dennoch zu mir empor.

Ertrunken … absichtlich … beschwert …

Meine Mutter wiederholte immer wieder: »Nein.«

»Wir regeln das, Ruth. Bootsunfälle passieren jeden Tag.«

»Nicht meinem Boyd.«

Im Bestattungsinstitut trat ich von dem lackierten Holzsarg zurück und hörte zu.

Was für ein schrecklicher Unfall.

Wie schade.

Das kann jedem passieren, da draußen in einem Boot.

Man weiß einfach nie, wann man dran ist.

Also war es doch ein Unfall. Jene anderen Worte, die über die Treppe zu mir hinaufgeklettert waren, gehörten zu einem bösen Traum.

Nach der Beerdigung fuhren meine Mutter und ich mit Philip nach Hause, ohne Daddy auch nur ein Mal zu erwähnen. Indem wir seinen Namen nicht aussprachen, versuchten wir die Wahrheit zu verdrängen, nämlich dass er niemals zurückkehren würde.

2

Ein Körper von knapp siebzig Kilo, der aus einer Höhe von etwas mehr als einem halben Meter in tiefes Wasser stürzt, wird, wenn er mit zusätzlichen sieben bis zehn Kilo an, sagen wir mal, Bleigewichten beschwert ist, mit einer Geschwindigkeit von etwa dreißig Zentimetern pro Sekunde sinken. Wenn die Person es bereut, die Gewichte eingesteckt zu haben, wird sie vielleicht um sich schlagen und kämpfen, wenn nicht, dann wird sie sich ohne Gegenwehr sinken lassen, bis Dunkelheit und Kälte die Oberhand gewinnen, bis sie ihren Atem nicht mehr anhalten kann, bis ihr Gewicht, die Dunkelheit und die Distanz zur Oberfläche jeden Gedanken des Bedauerns sinnlos machen. An diesem Punkt wird die Sinkgeschwindigkeit irrelevant, und kleine Fische beginnen sich zu nähern und zu knabbern.

In dem gläsernen Becken vor mir befindet sich eine winzige Taucherfigur, aus der Luft herausblubbert, kleine Fische schwimmen um sie herum, und das alles sorgt dafür, dass ich dem National Aquarium ganz bestimmt nie wieder einen Besuch abstatten werde, egal wie nah es an meiner Arbeitsstelle liegt. Mein Blick wandert von dem Taucher zu jemandem hinter mir, einer dunkelhaarigen jungen Frau, die sich in der Scheibe spiegelt. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Ich schaue wieder nach vorn und sehe, dass es mein eigenes Spiegelbild ist, mein erwachsenes Ich, für eine Sekunde nicht zu erkennen für das kleine Mädchen, dessen Ängste die Angewohnheit haben, von der Erwachsenen Besitz zu ergreifen.

Wer hätte gedacht, dass diese sieben oder acht auf Augenhöhe in die Wand eingelassenen Becken in einer Lobby des Commerce Building mich so verunsichern können? Egal wie sehr sie mich darum bitten, die Ichthyologen werden sich eine andere Zeichnerin für ihre Fische suchen müssen. Ich bleibe den Vögeln treu, von jetzt an bis in die gottverdammte Ewigkeit.

Ich lege die zwei Blocks zum Museum of Natural History in flottem Tempo zurück, unbeeindruckt von einem kräftigen Kerl in dunklem Anzug, der versucht, sich mir in den Weg zu stellen, und mir ein »Hey, Schatz, wozu die Eile?« entgegenraunt. Endlich betrete ich meine Zufluchtsstätte mit dem glanzvollen Foyer. Das Museum für Naturgeschichte ist Teil der Smithsonian Institution, eines weltberühmten Museen- und Forschungsverbunds in Washington, D.C. Die öffentlich zugänglichen Räume des Museums zählen nicht zu meinen Lieblingsorten, dort herrscht zu viel Trubel wegen der vielen Touristen, Schulklassen und hungrigen Horden. Ihre Neugierde ist liebenswert – sie sind die wahren Naturkunde-Enthusiasten. Ringsum spiegeln sich im Marmor die architektonischen Details und wertvollen Objekte. Wenn ich aber einen meiner neblig-grauen Tage habe, dann kommt mir beim Betreten des Gebäudes nur der Tod in den Sinn: all die Präparate, Tausende von Kadavern aller Spezies, ausgestopft oder auf andere Weise dem Vergessen entrissen, damit wir über sie Bescheid wissen, und dennoch – alle tot. Die Vögel, die ich zeichne und male – alle tot. An solchen Tagen überlebe ich, indem ich mir vorstelle wie jeder einzelne aufgespießte Schmetterling losflattert, jedes einzelne ausgestopfte Beuteltier aufwacht, jedes einzelne konservierte Pflanzenexemplar erblüht und den Marmorboden wie einen Wald im Zeitraffer bedeckt, und wie jeder einzelne Vogel zum Leben erwacht, zur Kuppel aufsteigt und davonfliegt. An den Tagen, an denen der Nebel aufzieht und von mir Besitz ergreift, sind diese Visionen meine einzige Rettung.

Die beständigere, zuverlässigere Erlösung liegt natürlich in meiner Arbeit. Ich kann mich zum Beispiel stundenlang darin vertiefen, einen Eistaucher zu zeichnen, mit seinem tiefschwarzen Kopf, der weißen Bänderung am Hals und der Verflechtung von Punkten und gebrochenen Rechtecken, die sich über die Flügel ziehen. Mit der gebührenden Präzision gelingt es mir, die tote Haut eines Vogels lebensecht nachzubilden.

Vom Foyer aus gelange ich in die düsteren hinteren Gänge und steige zu meinem Atelier hinauf, einem lichtdurchfluteten Büro mit einem alten Metallschreibtisch, den ich in eine Ecke neben meinen Zeichentisch geschoben habe. In schmalen Wandregalen liegt nach Gewicht sortiertes Zeichenpapier neben weichen Bleistiften, die nach den unterschiedlichen Härtegraden der Minen geordnet sind. Ich habe die dunklen Fläschchen von Rapid Draw neben eine wahnsinnig umfangreiche Ansammlung von Schreibfedern aufgereiht und direkt im Anschluss daran meine Farbtuben in der Farbfolge eines Regenbogens – ROGGBIV – angeordnet, mit allen Abstufungen dazwischen.

Ich sitze am Zeichentisch und überblicke von dort die National Mall, diese weitläufige gradlinige Parkfläche, die von Museen und Denkmälern flankiert wird. Neun Jahre hat es gedauert, bis ich ein Büro mit Blick auf diese Amerikanischen Ulmen, deren erste, zarte Knospen im März sprießen werden, und auf das Smithsonian Castle – die sogenannte Burg – bekommen habe. Doch ich musste nur einen einzigen Tag in diesem Museum arbeiten, um mir ganz sicher zu sein, dass ich hier mein Zuhause gefunden hatte. Gestern war mein sechsunddreißigster Geburtstag, und meine Kollegen und Kolleginnen haben für mich gesungen und darauf bestanden, dass ich die Kerzen auf einem kleinen Kuchen ausblase. Sie wissen nicht, dass ich jetzt in das Alter komme, in dem mein Vater gestorben ist. Er wurde nur siebenunddreißig Jahre alt.

Ich greife nach einem Pinsel. Auf dem schräg gestellten Zeichentisch liegt heute ein halb fertiger Vanellus chilensis, ein Bronzekiebitz, dessen schwarzer Schopf vom Kopf absteht. Ich verfeinere den Bronzeglanz auf den oberen Flügeln und fülle das Grau, Schwarz und Weiß des Gesichts aus. Für den Schnabel benötige ich Größe 0, also wähle ich einen von den noch sauberen, trockenen Pinseln aus, die mit ihren perfekt ausgerichteten Borsten und Haaren einsatzbereit vor mir liegen.

Ich bearbeite gerade die Spitze des Schnabels, als das Telefon klingelt. Ich lege den Pinsel beiseite.

»Loni, ich bin’s, Phil.«

Für eine Millisekunde denke ich, dass mein Bruder sich an meinen Geburtstag erinnert hat.

Dann komme ich wieder zur Besinnung. »Phil, ist etwas passiert?«

»Mom ist hingefallen. Du musst herkommen.« Er hält inne. »Und … du solltest einen längeren Aufenthalt einplanen.« Sie habe sich bei dem Sturz das Handgelenk gebrochen, erzählt er mir, aber das sei nicht das Hauptproblem. »Sie verhält sich schon länger seltsam, Loni. Ihr Gedächtnis …«

»Ach was, in diesem Alter vergisst man Dinge«, unterbreche ich ihn. Bei meinem Besuch im letzten Jahr war ihre Unbeherrschtheit mir gegenüber tatsächlich auffällig, aber ich habe das nur als graduelle Verschlechterung ihres normalen Verhaltens empfunden.

»Tammy glaubt, dass es so was wie eine frühe Form ist.«

Meine Mutter ist erst zweiundsechzig, und Phils Frau Tammy ist keine Allgemeinärztin oder Neurologin. Ich will nicht, dass meine Schwägerin irgendwelche Diagnosen stellt. »Na gut. Ich werde sehen, ob ich ein paar Tage freibekommen kann.«

»Nein, hör zu, Loni. Nimm dir bitte mehr Zeit. Es ist wirklich wichtig. Und wir brauchen dich hier.«

Er bittet so selten um etwas. Gerade ist aber nicht der ideale Zeitpunkt, um bei der Arbeit zu fehlen. Die neue Verwaltung hat einen Kader von Nichtnaturwissenschaftlern in Stellung gebracht – fast alle kaum älter als fünfundzwanzig mit einem Abschluss in BWL –, um den Effizienzquotienten des Smithsonian zu überprüfen. Ich würde sie als frische, unverbrauchte Gesichter bezeichnen, wenn sie nicht so herrisch und schlecht gelaunt auftreten und ihre Unerfahrenheit mit einer eisernen Autorität kaschieren würden, die man ihnen verliehen hat, damit sie unsere Chefs herumkommandieren. Angesichts ihrer jugendlichen Frische könnte ich sogar nachsichtig sein, wenn sie nicht so fest entschlossen wären, gute Leute loszuwerden.

Hugh Adamson ist das jüngste Exemplar dieser Gruppe von Sparkommissaren und für die Ornithologen zuständig. Letzten Montag versammelte er die Belegschaft, um ihr die Begriffe gesundschrumpfen und konsolidieren um die Ohren zu hauen. »Wir werden Frühpensionierungen fördern«, sagte er. »Wir werden diejenigen, die kündigen, nicht ersetzen, und wir werden alle Verstöße gegen die Urlaubsregelungen strengstens ahnden.«

Unsere Kleiderordnung im Büro ist ziemlich locker, aber Hugh trägt jeden Tag einen Anzug. Diese Kostümierung scheint neu für ihn zu sein, die Hose spannt an den Oberschenkeln, das perfekt gestärkte Hemd schnürt seinen Hals ein. »Gesundschrumpfen durch Fluktuation«, sagte er und zwängte einen Zeigefinger zwischen Kragen und Haut, »da ist nichts Unmoralisches dran.«

Ich warf rasch einen Blick auf meinen Chef Theo, dessen alterndes, schnauzbärtiges Gesicht völlig unbeweglich blieb. Bundesangestellte lassen sich besonders schwer vertreiben, aber wie es aussieht, werden diese neuen Bürokraten einen Weg finden. Was Hugh und seine Kollegen nicht verstehen, ist, dass strenge Blicke in unserer Branche niemanden motivieren. Die gesamte Smithsonian Institution lebt vom offenen Austausch und dem kreativen Miteinander, beides Voraussetzungen für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse. Den Leuten hier bedeutet ihre Arbeit alles. Aber diese jungen Männer – und es sind durchweg junge, weiße Männer – sind blind für alles außerhalb ihrer eigenen Agenda. Und die lautet im Moment: Konformität. Dass ich für längere Zeit nach Nordflorida reisen muss, wird nicht in ihr Konzept passen.

Ich gehe den Flur hinunter, um mir bei der Botanik-Bibliothekarin Delores Constantine Rat zu holen, die seit vierzig Jahren am Smithsonian arbeitet. Sie ist das institutionelle Gedächtnis dieses Ortes und mein Vorbild in Sachen langes Überleben am Arbeitsplatz. Außerdem ist sie so stachelig wie Benediktenkraut.

Der Flur, der zur Botanik führt, ist gesäumt mit Schränken voller getrockneter Pflanzen, ausgebreitet auf säurefreiem Papier. Heute stelle ich mir diese Schränke als einen vertikalen Garten vor, der übervoll ist mit Orchideen und Epiphyten und in dem es nach Regenwald riecht.

Ich betrete die Bibliothek. »Delores?«

»Hier hinten.«

Sie steht auf einem klapprigen Hocker zwischen vollgestopften Bücherregalen. Auf Augenhöhe trifft der Saum ihres malvenfarbenen Rocks auf ein Paar altersfleckige Schienbeine. Sie wuchtet zwei große Bände über ihren Kopf und auf ein weit oben gelegenes Regalbrett.

»Delores, kann ich dir helfen? Ich finde, das sieht ganz schön gefährlich aus.«

Sie starrt mich durch eine Katzenaugen-Bifokalbrille an. »Was willst du, Loni?« Sie schiebt die Bücher an ihren Platz und steigt vom Hocker herab.

Ich erzähle ihr von dem Anruf meines Bruders und dem, was ich über den derzeitigen Zustand meiner Mutter weiß.

Sie gibt kein »Ach, Kindchen, das tut mir leid« von sich.

Stattdessen führt sie mich zu ihrem Schreibtisch und schiebt einen Stapel Bücher beiseite. Ohne sich zu setzen, klickt sie auf die Maus. »Siehst du das hier?« Sie zeigt auf den Bildschirm. »Das ist das FMLA-Formular. Arbeitsplatzgeschützter Urlaub aus familiären Gründen.« Sie steht auf, holt ein Blatt aus dem Drucker und hält es mir mit einer blau geäderten Hand hin. »Du füllst das aus, beantragst acht Wochen Urlaub und kümmerst dich um deine Mutter.«

»Acht Wochen? Das geht auf keinen Fall.«

Sie stemmt ihre Hand in die Hüfte. »Du musst nicht alles aufbrauchen. Verdammt, laut Gesetz kriegst du sogar zwölf, wenn du sie willst. Aber bei all den Anzugträgern, die hier herumlaufen, belässt du es am besten bei acht.«

»Zwei Wochen in meiner Heimatstadt wären schon mehr, als ich ertrage«, sage ich.

»Ehre deine Mutter, Loni.« Delores hat selbst eine Tochter, aber das ist ein wunder Punkt. Sie reden selten miteinander. Bei einem der wenigen Male, als das Thema zur Sprache kam, zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Sie mag die Art und Weise nicht, wie ich ihr Ratschläge erteile. Liebe beruht eben nicht immer auf Gegenseitigkeit.« Und dann ging sie wieder ihrer Arbeit nach.

Delores legt einen Stapel Bücher auf einen Wagen. »Beantrage acht, und wenn du nur zwei brauchst, kommst du früher zurück, und dann denkt jeder, du würdest nur für deine Arbeit leben.« Sie setzt ein gekünsteltes Lächeln auf, ihre Augen wirken hinter den Brillengläsern riesig. Als Pflanzenmensch ist Delores auf den ersten Blick nicht die geeignetste Karriereberaterin für eine Vogelkünstlerin. Delores verschwendet im Allgemeinen keinen Gedanken an Vögel. Sie ist dafür bekannt, dass sie sich an die Stirn tippt und sagt: »Ich habe hier oben nur begrenzt Platz, Kindchen. Da geht’s nur um Botanik, tagaus, tagein.« Aber sie weiß besser als jeder andere, wie der Laden hier läuft.

»Füll das Formular aus und geh damit zur Personalabteilung.« Damit gibt sie mir genau den Rat, den ich brauche.

Kurz bevor ich durch die Tür verschwinde, nimmt sie einen weiteren Stapel Bücher in die Hand und meint: »Drei Dinge solltest du beachten: Erstens zahlt dir das Smithsonian während des Sonderurlaubs kein Gehalt.«

»Aber …«

»Zweitens: Informier dich über Partnerschaftsprogramme. Ich glaube, in Tallahassee gibt es ein Museum, das deine Hilfe gebrauchen könnte. Sie bezahlen dich direkt, sodass du deinen Urlaubsstatus behalten kannst.«

»Partnerschaftsprogramme?«

Dolores geht zurück in Richtung Bücherregale. »Erkundige dich.«

Ich nicke. »Was ist das Dritte?«

»Überschreite die beantragte Dauer nicht um eine Minute. Hier herrscht die Französische Revolution, und sie ölen gerade die Guillotine.«

Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch, fülle das Formular aus, das Delores mir in die Hand gedrückt hat, und suche auf der Smithsonian-Website nach »Partnerschaftsprogramme«. Dann rufe ich Estelle an, meine treueste Freundin aus Florida, die immer ans Telefon geht, wenn ich mich melde.

»Estelle«, sage ich, »hat dein Museum ein Partnerschaftsprogramm mit meinem?«

»Hallo, Loni. Ja, mir geht’s gut, danke, und dir?«

Normalerweise ist sie es, die direkt auf den Punkt kommt. Und jetzt, dieses eine Mal, wenn es darauf ankommt, will sie Small Talk machen. Ich kann mir genau vorstellen, wo sie ist, an ihrem Kuratorinnen-Schreibtisch im Tallahassee Museum of History & Natural Science, und ich kann mir sogar ungefähr vorstellen, was sie trägt – einen umwerfenden Anzug, ein frisch gebügeltes weißes Hemd und raffinierten Schmuck, die langen roten Locken hinters Ohr geschoben, um besser telefonieren zu können.

»Estelle«, insistiere ich. »Bitte, sag es mir einfach.«

»Ja, haben wir. Meine beste Freundin arbeitet am Smithsonian – natürlich habe ich mich längst für eine Partnerschaft eingesetzt. Der Vorstand hat es vor sechs Monaten genehmigt, und ich glaube, ich habe es dir gegenüber erwähnt.«

»Stimmt. Wusst ich’s doch!«

»Du klingst ein bisschen aufgeregt, Loni.«

»Ja. Vielleicht hast du ja Verwendung für eine Vogelzeichnerin auf Wanderschaft.«

»Du kommst nach Hause?«

»Nur für kurze Zeit.«

»Juhu! Und in der Tat …«

»Du musst dich nicht sofort festlegen«, unterbreche ich sie. »Ist schon schön zu wissen, dass die Möglichkeit besteht.«

Ich brauche drei Tage, bis die Formulare abgestempelt und genehmigt sind und ich meinen eigenen Chef, Theo, besänftigt habe. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, um die Papiere zu unterschreiben, dann lässt er den Stift fallen und fährt sich mit der Hand vom ergrauten Schnurrbart hinab übers Kinn.

Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Theo, ich habe vor, schnell zurückzukommen. Höchstens zwei Wochen.«

»Aha«, sagt er.

»Für das Projekt zur Waldfragmentierung bin ich wieder zurück.« Dieses Programm wurde jahrelang vorbereitet und erfordert eine sorgfältige Dokumentation der Vogelbestände und unzählige Illustrationen. »Ich verspreche es dir.«

Ich verstaue meine Malutensilien in einer winzigen Angelkiste, meine Lieblingsstifte, einen Federkiel und ein paar Federn, einen Cutter, meinen Arkansas-Stein zum Schärfen und mehr verbeulte Farbtuben, als ich jemals benutzen werde. Ich packe mein Skizzenbuch und ein paar andere Kleinigkeiten in eine große Stofftasche und lösche dann das Licht im Büro.

Meine Illustratoren-Kollegin Ginger kommt aus der Botanik auf mich zugerannt, ihr langer Körper wogt hin und her, und ihre ungebändigten krausen Haare umrahmen ihren Kopf wie federartiges Fenchelgrün. »Loni, wenn du weg bist, wer verteidigt mich dann gegen die Käfermenschen?«

Als Abteilungen bringen wir uns untereinander nicht besonders viel Respekt entgegen. Die Geologen sind die Gesteinsmenschen, und Delores und Ginger sind die Pflanzenmenschen. Wir in der Ornithologie sind die Vogelmenschen, die Ichthyologen sind die Fischmenschen, die Entomologen sind die Insektenmenschen, die Paläologen sind die Knochenmenschen und die aus der Anthropologie heißen einfach Anthros, denn sonst müssten wir sie Menschenmenschen nennen. Ginger ist eine Pflanzenkunde-Künstlerin, aber sie verbringt viel Zeit damit, in meinem Büro herumzulungern und zu prokrastinieren. Normalerweise tröstet sie mich entweder über mein letztes gescheitertes Date hinweg, sagt mir, dass ich schön bin und meine Zeit mit Idioten verschwende, beneidet mich um mein langes, glattes Haar, das bei der Luftfeuchtigkeit in D. C. nicht so kräuselt wie ihres, oder beschwert sich über die Insektenmenschen, die sie immer wieder um Gefallen in Form von Illustrationen bitten.

»Acht ganze Wochen!«, sagt sie.

»So lange bleibe ich nicht.« Ich hieve meine Angelkiste mit den Malutensilien hoch. »Und ich arbeite dort während meines Aufenthalts.« Nach unserem Gespräch rief Estelle mich zurück, um mir mitzuteilen, dass sie im Naturkundemuseum mit ein bisschen Überredungskunst die nötige Finanzierung für ein paar wichtige Illustrationen von Vögeln aus Florida organisiert habe.

Theo kommt aus seinem Büro am Ende des Flurs. In dem Oberlicht sieht er noch rundlicher aus als sonst, und er glättet seinen grau melierten Schnurrbart. Theo ist mein Mentor seit meiner ersten Smithsonian-Expedition, als unser Wissenschaftlerteam in einem schlammigen peruanischen Nebelwald auf der Suche nach dem Gallito de las rocas (Rupicola peruvianus) war, einem orangefarbenen Vogel mit einem bogenförmigen Federkamm. Ich stapfte bereits endlos lang hinter ihm her, meine Energie war fast aufgebraucht, mir blieben noch zwei Schluck Wasser, und da war nichts anderes, worauf ich mich konzentrieren konnte, als seine Körpermitte, die sich über die tarnfarbengrüne Khakihose wölbte, und ich wunderte mich, wie so ein pummeliger Kerl, der zwanzig Jahre älter war als ich, so viel mehr Ausdauer haben konnte. Dann hielt er kurz inne, hob den rechten Zeigefinger und deutete auf den mandarinenfarbenen Vogel, wegen dem wir hergekommen waren. Ohne Theo wäre ich direkt an ihm vorbeigelatscht.

Er bemüht sich, pragmatisch zu klingen. »Du hast diese FMLA-Formulare ausgefüllt?«

»Ja, Chef.«

»Und du hast das offizielle Schreiben der Personalabteilung erhalten?«

Ich nicke.

»Irgendwelche letzten Worte?«, fragt er.

»Lass nicht zu, dass sie meinen Job streichen.«

»Komm einfach rechtzeitig zurück, Loni. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

»Verstanden.« Ich gebe ihm einen Klaps auf den Arm, das Äußerste an körperlichen Zuneigungsbekundungen, die nach den Richtlinien für Bundesangestellte erlaubt sind, und bahne mir den Weg durch die Tür in den nächsten Flur.

Wenn da mal nicht unser Mann Hugh Adamson auf mich wartet. Er trägt einen leuchtend roten Schlips, der sich an der Stelle, wo sich die goldene Krawattennadel befindet, wölbt. »Ms. Murrow, auf ein Wort?«

Ich war noch nie eine Expertin darin, meine Gefühle zu verbergen, und ich befürchte, dass ich in Hughs Sitzungen nicht so stoisch geblieben bin wie Theo. Weil ich entweder die eine oder andere irritierende Frage gestellt habe oder mein Gesicht mich verraten hat, betrachtet mich Hugh mit besonderer Verachtung.

Er blickt wichtigtuerisch auf ein Klemmbrett. »Ms. Murrow, wie ich sehe, haben Sie acht Wochen arbeitsplatzgeschützten Urlaub aus familiären Gründen beantragt. Da heute der 15. März ist, ist Ihr Rückkehrdatum der 10. Mai. Bitte beachten Sie, dass der 10. Mai der 10. Mai ist, und wenn Sie am 11. Mai zur Arbeit erscheinen statt am Vortag – dem 10. Mai –, werden Sie leider entlassen.«

Ich schenke ihm ein falsches Lächeln, schließe die Augen und presse die Lippen zusammen, damit ich kein falsches Wort darüber verliere, wie oft er »10. Mai« gesagt hat, oder darüber, dass er Leute, die älter sind als er, wie verdammte Idioten behandelt.

Vielleicht ahnt er, was mir durch den Kopf geht, denn er senkt seine ansonsten vorpubertäre Stimme und sagt: »Glauben Sie, ich tu’s nicht?«

»Wie bitte?«

»Ich sehe genau, wie Sie mich in den Sitzungen anglotzen, als wäre ich ein kleiner Scheißer, der nicht weiß, was er tut.«

»Hugh, ich glaube nicht, dass ich …«

»Nun, Sie kommen besser am 10. Mai zurück, denn am 11. Mai werden wir Sie achtkantig rausschmeißen und Ihnen zum Abschied zuwinken.«

Ich nicke und gehe an unserem jungen Despoten vorbei. Um mein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen, begebe ich mich in den Gang mit den Vogelbälgen. Bälge sind keine ausgestopften Vögel, sie sind alles andere als niedlich. Dennoch tröstet es mich, die breiten, flachen Schubladen zu öffnen und sie dort liegen zu sehen, auch wenn sie an den Füßen zusammengebunden sind und es ihnen an der Lebendigkeit mangelt, die in jedem halbwegs brauchbaren Bestimmungsbuch vermittelt wird. Ornithologen sind sowohl Bewahrer als auch Mörder, die lernen, wie man das Innenleben eines Vogels aushöhlt und die Federn dranlässt. Aber ein Balg kann, wenn er richtig präpariert ist, bis ins nächste Jahrhundert und darüber hinaus als Referenz dienen. Wie diese Schublade voller Kardinäle: Jungvögel, Männchen, Weibchen, Präparate mit Wintergefieder, Sommergefieder und alle Unterarten innerhalb der Arten.

Ich schließe die Schublade und wandere weiter durch die Gänge, sauge das fluoreszierende Halbdunkel und den Konservierungsgeruch in mich auf, der unsere Gehirne langsam verätzt und uns alle zu unbezahlten Überstunden und einem merkwürdigen Widerwillen gegen das Verlassen des Museums verleitet. Die lärmenden Museumsbesucher sehen dieses Labyrinth hinter den glänzenden Vitrinen und den beleuchteten Dioramen nie – sie müssen nichts von den entwässerten Stängeln der Botanik oder den zerlegten Menschen der Anthros wissen, die in beschrifteten Behältern aufbewahrt werden: »Schädel«, »Oberschenkelknochen«, »Schienbeine« und »Wadenbeine«. In unserer Abteilung stapeln wir tote Vögel bis unter die Decke, aber wenigstens zerlegen wir sie nicht in ihre einzelnen Bestandteile.

Ich bin schon fast bei den Gesteinsmenschen angekommen, als ich gegen eine Tür aus Sicherheitsglas stoße, die zur Hauptrotunde führt, in der ein präparierter Elefant mitten in der Bewegung des Wasserholens eingefroren ist. Ich drehe mich einmal im Kreis, lasse meinen wehmütigen Blick über den Balkon zur Kuppel schweifen und schicke ein Stoßgebet an die Natur, sie möge mich gesund und heil zurückbringen, und zwar lange vor dem 10. Mai.

3

17. März

Gestern noch, am St. Patrick’s Day, stolperten grün gekleidete Betrunkene von Kneipe zu Kneipe als ich den Frühling in Washington hinter mir ließ. Judasbäume und Hartriegel säumten die Bürgersteige und würden bald erste Knospen bilden, kleinere Bäume präsentierten bereits ihre rosafarbenen Blüten.

Die Zartheit des Frühlings lasse ich für ein heißes, mit Feuchte vollgesogenes Grün hinter mir. Mit eingeschaltetem Tempomat fahre ich Richtung Süden durch Virginia und die Carolinas, Georgia und weiter zu der Stelle, an der Floridas nordwestlichster Zipfel eine Biegung wie ein Pfannenstiel macht, »Florida Panhandle« genannt, und wo die Strände der Badeorte in eine Küstenlinie mit dichten Mangroven und schmalen Wasserwegen übergehen. Etwas landeinwärts vom Golf befindet sich mein Heimatort Tenetkee.

Ich fahre in die Stadt, und ein Tröpfchen des altbekannten Wunsches, woanders zu sein, sickert in mein Herz. Ich kurble die Fenster herunter. Die feuchte Luft ist schwer, der Wind riecht nach Regen. Ich halte an einer von nur sechs Ampeln in Tenetkee und krame im Becherhalter nach einem Scrunchie, um die Haare aus meinem klebrigen Nacken zu kriegen. An der dritten Ampel fahre ich auf den Parkplatz des St. Agnes Home, das wir als Kinder allerdings den »Geezer Palace« nannten, den Palast für alte Knacker. Ich wünschte meiner Mutter zuliebe, es wäre wirklich ein Palast. Das Gebäude hat eine viktorianische Fassade in der fröhlichen Farbe von Lebkuchen, mit einer Betonrampe hoch zu den Glasschiebetüren.

Ich sitze im Auto auf dem Parkplatz und beobachte, wie sich die automatischen Türen öffnen, sobald jemand in ihre Nähe kommt, und sich wieder schließen, nachdem die Person hindurchgegangen ist. Ich betrachte mich im Rückspiegel, richte mir noch einmal die Haare und tupfe etwas Make-up auf meine Sommersprossen. Ich trage nur selten Make-up, aber ich möchte nicht, dass meine Mutter mich in ihrer typischen Art dazu ermahnt, doch ein bisschen was »aus mir zu machen«. Es hilft nicht viel – das Make-up klumpt umgehend zu beigefarbenen Schweißperlen zusammen, die ich mit einem Taschentuch abwische. Wenigstens sehen meine Augen gut aus – das Weiße hebt sich deutlich von der grünen Iris ab. Ich hätte angesichts der stundenlangen Fahrt eher auf blutunterlaufen getippt.

Ich bleibe noch ein paar Minuten sitzen und starre auf die Außenseite des Gebäudes. Weil Mom sich das Handgelenk gebrochen hatte, wurde sie wegen der Physio- und Ergotherapie vorübergehend im St. Agnes aufgenommen. Phil deutete am Telefon die Möglichkeit eines dauerhaften Umzugs an. Ich war skeptisch, aber er schilderte mir ein Ausmaß an Chaos im Haus, das ich meiner anspruchsvollen Mutter kaum zugetraut hätte: offene Verpackungen mit Lebensmitteln im Wäscheschrank und schmutzige Kleidung in den vollgestopften Schubladen der Kommode, eingeschaltete Herdplatten, mitternächtliche Streifzüge durch die Vorgärten der Nachbarn und ein unerschütterliches Beharren darauf, weiterhin Auto zu fahren, selbst nach mehreren kostspieligen Unfällen. Letztes Jahr, als ich für ein paar Tage hier war, war davon noch nichts zu merken. Wie auch immer, Phil und ich werden sicher eine Lösung finden, während Moms Handgelenk heilt und sie sich im Geezer Palace erholt.

Als ich in ihr Zimmer komme, sitzt sie in einem Vinylstuhl, ihr eingegipster Arm in einer Schlinge.

Sie legt sofort los, ganz die alternde Debütantin mit einer Stimme, die irgendwie nach zu vielen Mint Juleps klingt. »Also gut, es reicht, Loni, bring mich nach Hause.«

Kein Hallo, mein Schatz, es ist lange her, wie schön, dich zu sehen. Keine Küsse oder Tränen.

»Hallo, Mom! Lange nicht mehr gesehen!«

»Schweif nicht ab, verflixt noch mal, du bist hier, um mich nach Hause zu bringen, also beeil dich.«

Phils Frau Tammy, eine Stylistin, hat das Haar meiner Mutter zu zwei steif aufgesprühten, suppendosengroßen Locken gestylt, die einen Zentimeter über ihrem Mittelscheitel aufsteigen, wobei die grauen Spitzen nach unten eingedreht sind und ihre Schläfen berühren. Ohne es zu wollen, hat meine Schwägerin meiner Mutter das Aussehen der borealen Eule, Aegolius funereus, auch Raufußkauz genannt, verpasst. Wenn ihre Frisuren, wie Tammy behauptet, maßgeschneidert sind auf die Persönlichkeit ihrer Kundin, was genau sagt dann diese Kreation aus? Weisheit? Schlaflosigkeit? Jagdinstinkt?

Meine Mutter steht auf. »Ich habe meine Handtasche, gehen wir.«

Ich suche den Raum nach einer möglichen Ablenkung ab. »Hey, sieh mal! Tammy hat dein Hochzeitsfoto aufgehängt.«

»Ja«, erwidert meine Mutter, »und wenn ich Daddy erzähle, wie du mich hier eingekerkert hast, wird er dir den Hintern versohlen.«

Es verschlägt mir für eine Sekunde den Atem, weil sie von Daddy spricht, und das im Präsens. Sie wirft nicht nur die Jahre durcheinander, sie missachtet auch noch die ungeschriebene Familienregel: Niemand spricht über Daddy. Und »den Hintern versohlen«? Das wären seine Worte, nicht ihre.

Sie öffnet die Badezimmertür mit ihrem gesunden Arm. »Ich mache mir die Haare, und dann gehen wir.« Sie zieht die Tür fester hinter sich zu als nötig.

Ihr offener Koffer auf dem Bett sieht aus, als ob jemand darin herumgerührt hätte. Sie hat alles hineingeschmissen, offensichtlich um nach Hause zu gehen, aber ich fange an, alles wieder auszupacken, hänge eine Bluse in den spartanischen Kleiderschrank, falte und lege die anderen Sachen zurück in die Schubladen der Kommode. Ich will den leeren Koffer gerade schließen und unters Bett schieben, als mir in der Seitentasche ein Stück rosa Papier auffällt, das ich herausziehe.

Liebe Ruth,

Es gibt einige Dinge, die ich dir über Boyds Tod sagen muss.

Boyd, unser Vater, der nicht im Himmel ist. Ich blicke hastig nach unten, auf die Unterschrift. Henrietta. Ich lese die erste Zeile noch einmal, dann überfliege ich den in schöner Schnörkelschrift geschriebenen Text.

Es kursierten so viele Gerüchte … Damals war es mir unmöglich, mit dir darüber zu reden …

Meine Mutter öffnet die Badezimmertür, und ich stopfe den Brief in die Gesäßtasche meiner Jeans und kicke ihren Koffer mit dem Fuß unters Bett.

»Kein einziges Wattestäbchen im ganzen Haus!«, empört sie sich.

»Hey, ich hole dir welche.« Ich bin aus der Tür, bevor sie mit ihrem »Ich will nach Hause« weitermachen kann. Der Drugstore von Tenetkee ist nur drei Häuserblocks vom Geezer Palace entfernt – anderthalb Häuserblocks, wenn ich quer durch den Park abkürze –, und auf dem Weg dorthin kann ich den Brief in Ruhe lesen. Die Glastüren gleiten auf, und ich trete in die Hitze, wobei ich fast mit einem sehr großen, rüstigen älteren Mann zusammenstoße.

»Aber hallo, Loni Mae.«

Ich bin auf Augenhöhe mit einem Brustkorb in einer Uniform der Fischerei- und Jagdaufsicht, und mein Herz schlägt Purzelbäume, bevor mein Blick zum Gesicht hochwandert. Er ist ein oder zwei Jahre älter als meine Mutter, aber sein Haar ist immer noch dunkel, und er wirkt jung für sein Alter. Ein strahlendes breites Lächeln erhellt sein Gesicht.

»Captain Chappelle!« Ich reiche ihm die Hand und umarme ihn. »Wahnsinn. Entschuldigung. Ich bin ganz überrumpelt. Niemand hat mich mehr ›Loni Mae‹ genannt, seit … Sie wissen schon, seit mein Vater …«

»O ja, und wie gut ich das weiß.« Er hält inne. »Boyds Tod wird mich nie kalt lassen, egal wie viele Jahre vergehen.«

Dads Name in aller Öffentlichkeit ausgesprochen zu hören klingt wie ein gellendes Geräusch in meinen Ohren. Bisher bin ich auf meinen kurzen Reisen nach Tenetkee nur selten auf die alten Freunde meines Vaters gestoßen.

»Wo willst du hin?«, fragt er. »Ich möchte deiner Mom eine Besuch abstatten, aber ich begleite dich ein Stück.« Chappelle geht mit mir die Betonrampe hinunter. »Wie ich höre, lebst du jetzt oben im Norden.«

Ich gebe die Kurzfassung über Washington und das Smithsonian zum Besten und schaue zu dem ehemaligen Boss meines Vaters auf, der sich immer noch gerade hält und robust wirkt. Ich habe einmal aufgeschnappt, wie Daddy sagte: »Diesem Mann würde ich mein Leben anvertrauen.«

»Hast du Kinder?«, fragt er.

Die Sonne steht hinter ihm, und ich muss die Augen zusammenkneifen. »Wie bitte?«

»Du weißt schon, Söhne und Töchter?«

»O nein, Sir.«

»Verheiratet?«

»Nein, Sir. Noch nicht.«

»Und dir gefällt dieses Washington, was?«

»Ja, Sir.« Ja, Sir. Nein, Sir. Ich rede wie ein Kind, und der leicht näselnde Florida-Tonfall schleicht sich in meine Südstaatenaussprache ein.

»Das mit deiner Mom ist jammerschade«, sagt er. »Was mich angeht, habe ich einfach beschlossen, dass das Alter mich nicht zu packen kriegt.«

»Sieht so aus, als hätte das geklappt.«

»Ich bin jeden Tag im Fitnessstudio und kämpfe dagegen an!« Er lächelt sein charismatisches Lächeln.

Die Unterhaltung gerät ins Stocken, bis mir einfällt, was meine Mutter sagen würde. Frag ihn etwas Persönliches. »Äh … wie geht es Ihren Kindern?«

»Ach.« Er weicht meinem Blick aus. »Weißt du, ich höre nicht allzu viel von Shari. Sie ist oben in Alabama. Und Stevie, na ja …« Er schluckt. »Stevie kam ums Leben, weißt du … ein Autounfall … im Januar …« Er hält inne und presst die Lippen aufeinander.

Scheiße, natürlich habe ich davon gehört – ein Frontalzusammenstoß, Stevie frisch aus der Entziehungskur, sein Auto auf der falschen Seite des Highways. »Oh, nein. Das tut mir so leid.«

Chappelle holt tief Luft und versucht, sich zu sammeln, seine Stimme klingt heiser. »Also bin ich jetzt allein im Haus. Nach der Arbeit werde ich so viele Gewichte stemmen, wie mein Körper aushält, und dann bis zum Einbruch der Nacht im Garten arbeiten.« Sein Gesicht hellt sich ein wenig auf. »Hey, warum kommst du nicht mal bei mir vorbei? Deine Mom hat Pflanzen immer gemocht, nicht wahr? Und du weißt ja, wo ich wohne.«

»Ja, Sir, das weiß ich.« Und weiter geht’s. Loni, das Kind, spricht mit einem Erwachsenen. Das ist alles, was von mir in Florida übrig bleibt.

»Dann komm doch mal vorbei, hörst du? Montags ist gut. Ich habe jetzt montags frei – Gleitzeit, weißt du.« Er zeigt mit dem Finger auf mich. »Also, wann kommst du?«

»Äh, Montag?«

»Braves Mädchen.«

Wir erreichen den Drugstore, und er schaut auf die Uhr. »Ich gehe dann mal zurück zu deiner Mom. Wenn ich bei deiner Rückkehr schon wieder weg bin, sehen wir uns am Montag, ja?« Er zieht von dannen wie ein Boot, in dessen Kielwasser ich allein zurückbleibe.

Ich öffne die Glastür des Tenetkee Drugstores, auf der ein verblasster Aufkleber prangt: ein von Eiszapfen umgebener Pinguin. »Hier drinnen ist es COOL«, steht da, ein Relikt aus einer Zeit, in der Klimaanlagen noch ein seltenes Wunder waren. Ich finde die Wattestäbchen für meine Mutter, bezahle und verlasse den Laden. Ich stehe wieder in der unerbittlichen Sonne und umklammere die Wattestäbchen so fest, dass sich die Plastikverpackung verformt. Ich hasse es, nach Hause zu kommen. Egal wie kurz der Besuch ist, dieser Ort konfrontiert mich immer mit meinem Vater.

Die Main Street ist leer, weil es verdammt noch mal viel zu heiß ist, um draußen zu sein. Ich gehe an Elbert Perkins’ Real Estate vorbei, die Lamellenvorhänge sind zugezogen. Dann an Velma’s Dress Shop, wo rissiges gelbes Zellophan das Schaufenster auskleidet und das trägerlose schwarz-weiße Abschlussballkleid dahinter in Sepia taucht.

Ich hätte es kommen sehen müssen, Ruth, sagte der junge Captain Chappelle zu meiner Mutter in jener überraschend kühlen Nacht, als ich zwölf war. Hat er sich zu Hause seltsam verhalten? War er depressiv? Weil in jeder Tasche Bleigewichte steckten …

Ich drehe Velma’s den Rücken zu.

Auf der anderen Seite der Main Street suggerieren die pseudo-georgischen Säulen des mächtigen Rathauses eine Pracht, die dem kleinen Tenetkee nie zuteilwurde. Und schräg gegenüber, allen Bemühungen um eine architektonische Einheit zum Trotz, befindet sich das Steuerberatungsbüro meines Bruders mit einer glänzenden Fassade aus Rauchglas und Metallverkleidung, wobei der zur Schau getragene Wohlstand meiner Vermutung nach eher von den Anwälten stammt, mit denen er sich das Gebäude teilt. Ich gehe auf den Eingang zu. Phils früher Erfolg ist sicherlich auf das Urvertrauen des unstrittig geliebten Kindes zurückzuführen. Er ist erst vierundzwanzig und hat sich bereits den Kiwanis angeschlossen, sich bei den Stadtvätern einen Namen gemacht und mit dem Golfspielen begonnen, alles Dinge, die notwendig sind, um ein Maximum an Klienten in dieser Stadt und darüber hinaus zu gewinnen. Phil hat das, was andere Leute Charme nennen, und der ist nicht unbedingt geheuchelt. Doch ich kenne ihn besser als die anderen. Am liebsten würde ich an der glänzenden viereckigen Türklinke seines schicken Gebäudes ziehen und hineinrufen: »Kümmere dich verdammt noch mal allein darum! Ich habe diese Stadt aus einem bestimmten Grund verlassen!« Aber dann würden Phils Partner und die Anwälte auf der anderen Seite des Flurs alle aufblicken und murmeln: Schrullige Schwester. Nouveau-Yankee. Hält sich wohl für eine große Nummer. Also überquere ich stattdessen die Straße.

Ein Hauch von Röstzwiebeln umhüllt mich, als ich am F&P- Diner vorbeikomme, dessen Initialen Kinder seit Generationen zu spitzfindigen Witzen inspiriert haben. Wie mir der kichernde Junge hinter mir in der zehnten Klasse Englisch schließlich erklärte: »F&P, verstehst du das nicht? Das steht für das, was ihre Zwiebeln mit deinem Arschloch anstellen.«

»Wie ekelhaft!«, kreischte ich und wandte mich wieder meiner Lektüre zu, gerade rechtzeitig, um von Mrs. Abbott »ins Visier« genommen zu werden. Sie war neu in der Stadt und trug einen Hüfthalter, der ihr Strickkleid in eine dreistöckige Torte unterteilte. Wir lasen gerade Der Winter unseres Missvergnügens. Steinbeck versetzte Mrs. Abbott in Verzückung. Sie stellte uns Fragen zum Schluss des Buches, und ich hob die Hand. »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Was hat er an diesem Ort gemacht – gab es da einen Hafenkai? Und warum hat er Rasierklingen dabei?«

Mrs. Abbott, die sich bereits darüber ärgerte, dass ich während des Unterrichts geredet hatte, beugte sich mit ihrem schwabbeligen Gesicht zu mir herunter. »Er wird Selbstmord begehen.«

»Aber das tut er nicht!« Ich blätterte die Seiten um. »Hier steht’s! Auf Seite 560 … Er denkt … ›Ich musste zurück.‹« Ich blickte triumphierend zu Mrs. Abbott auf, mein Gesicht glühte. »Sie irren sich also. Er geht nach Hause, zurück zu seinen Kindern.«

»Junge Dame, steh auf.« Mrs. Abbotts Augen verengten sich. »In diesem Ton sprichst du nicht mit mir. Bitte verlasse den Raum.« Was bedeutete: Geh ins Büro des Schulleiters und erdulde dein jämmerliches Schicksal.

An der Tür drehte ich mich um und warf einen Blick auf Estelle, die aus Mitleid auf ihrer Zahnspange herumknirschte. Mrs. Abbott schob mich vor sich her wie ein preisgekröntes Kalb, und mit ihr im Schlepptau ging ich über die tristen schwarz-weißen Fliesen in Richtung des Ortes, den wir »Die Jammer-Kammer« getauft hatten.

Ich saß mit klopfendem Herzen auf dem Flur, während Mrs. Abbott sich mit dem Schulleiter beriet. Als sie aus dem Zimmer kam, rechnete ich mit einer langatmigen Rüge des Schulleiters, Nachsitzen als Bestrafung und einem weiteren Vortrag von Mrs. Abbott. Stattdessen drückte sie mit ihren kleinen, pummeligen Händen unbeholfen meine beiden Arme. »Es tut mir leid, Loni. Es tut mir ja so leid.«

Und während ich an jenem Tag den Flur entlangging und meinen Spind zuschlug, während ich mein ungenießbares Mittagessen aß, da dämmerte es mir, dass andere Menschen etwas wussten, was ich nicht wusste. Bis dahin hatte ich mich selbst dazu gebracht, die Worte zu vergessen, die an dem Nachmittag, an dem mein Vater nicht nach Hause kam, die Treppe hinaufgeklettert waren. Absichtlich … beschwert … deprimiert … Danach sprachen alle von »dem Unfall«, was bedeutete, dass die Worte von Captain Chappelle nicht das gemeint hatten, was ich dachte. Er hatte wohl unabsichtlich gesagt. Aber als Zehntklässlerin, vier Jahre nach dem Vorfall, durchschaute ich alles ganz klar. Niemand sonst in der Stadt hatte sich etwas vorgemacht. Mrs. Abbotts dämliches Quetschen meiner Oberarme verriet mir, dass sie, der Schulleiter und jeder halbwüchsige Teenager mit fettigen Haaren, der auf dem Flur an mir vorbeirannte, über meinen Vater dasselbe dachten wie über diesen Steinbeck-Typen mit den Rasierklingen. Nur dass der Steinbeck-Typ nach Hause kam.

Unsere Kirche lehrt uns, dass man direkt in die Hölle wandert, wenn man Selbstmord begeht, und die Lebensversicherung ist auch futsch. Aber wir wurden ausgezahlt. Und was ist mit dem Himmel? Hat der heilige Petrus das Formular mit der Aufschrift »Unfalltod« gesehen?

Ich bin zurück im Geezer Palace und halte meiner Mutter die Wattestäbchen vor die Nase.

»Loni, ich bin froh, dich zu sehen. Hör mal, meine Nase ist verstopft.« Sie atmet übertrieben tief ein. Keinen Blick für die Wattestäbchen. »Hörst du das? Das kommt von dem Schleim. Wenn du und Daddy das nächste Mal in der Marsch seid, sag ihm, er soll mir ein paar Wachsmyrtenblätter mitbringen. Ich will keinen ganzen Baum, nur eine Handvoll. Ich muss die Dämpfe einatmen.«

Hat sie plötzlich telepathische Fähigkeiten? Ich denke an ihn, also muss sie auch an ihn denken? Für sie verbringt er gerade mal wieder seine Freizeit im Sumpf. Also bin ich für sie zehn oder elf Jahre alt?

Ich zerre uns beide in die Realität zurück. »Mom, ich bring dir deine Wattestäbchen.« Und was ist mit unserer Regel? Erwähne Daddy nicht. Sie sollte die Regeln befolgen.

Meine Mutter sagt: »Es geht doch nichts über Wachsmyrte, wenn man verschnupft ist.«

Das volkstümliche Weise-Frau-Ding ist nicht nur geschauspielert – sie hat tatsächlich von Dads Mutter, Oma Mae, gelernt, wie man mit Kräutern heilt. Aber es war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Mit sechzehn Jahren debütierte meine Mutter in Tallahassee mit weißen Handschuhen, im Abendkleid und einem Tanz mit ihrem Daddy im Cotillion Club. Ihre Eltern waren beide Professoren an der Florida State University – ihr Vater für Zoologie und ihre Mutter für Klassische Philologie –, und sie bereiteten Ruth auf eine Karriere als Konzertpianistin vor. All das hörte auf, als sie meinen Vater heiratete.

Großmutter Lorna beendete einen Kurs mit dem Titel »Philosophische Annäherungen an das antike Griechenland« und fuhr etwa eine Stunde zu uns nach Tenetkee, um Sätze von sich zu geben wie: »Ruth, nur weil du Boyd geheiratet hast, musst du nicht so werden wie er.«

Aber meine Mutter passte sich an ihre ländliche Umgebung an und schnappte von ihrer Schwiegermutter mehr über Kräuter und Gartenarbeit auf dem Land auf, als sie von ihrer eigenen Mutter jemals über die Rosenzucht gelernt hatte.

Und jetzt, in ihrem winzigen Zimmer im St. Agnes, sagt sie also: »Du fragst deinen Daddy nach der Wachsmyrte, ja?« Sie lehnt sich in dem Vinylstuhl zurück. »Er kommt mich überhaupt nicht mehr besuchen.«

Ja, mich kommt er auch nicht mehr besuchen, ein Glück, den sind wir los! Aber ich nehme den Gedanken schnell wieder zurück. Es war kein Glück, ihn los zu sein, es war ein dummer, unnötiger Abschied, der uns den Boden unter den Füßen weggerissen hat.

»Mom, ich muss gehen. Morgen komme ich wieder.« Ich küsse sie auf die Wange, die sich weich und kühl anfühlt. Es geht ihr eindeutig nicht gut, sonst würde sie so etwas nicht zulassen.

Panik macht sich auf ihrem Gesicht breit. »Du meinst, ich soll hier schlafen?«

Ein Teil von mir möchte sie schnell aus diesem Zimmer von der Größe einer Pantryküche entführen und zurück in das Haus im Marschland bringen, zu der Schlafzimmer-Veranda, dem verglasten Anbau und der frei stehenden Garage, in der es nach Mulch und Tontöpfen riecht.

»Ja«, erwidere ich. »Du schläfst hier. Nur bis dein Handgelenk geheilt ist.« Möglicherweise eine Lüge. Ich wende mich zum Gehen.

»Was guckt da aus deiner Tasche?«, fragt sie.

Ich greife nach hinten an meine Gesäßtasche. Der Brief. Ich hatte nicht mehr daran gedacht, ihn zu lesen. »Ach ja … meine … äh … Einkaufsliste.« Lüge Nummer zwei. »Bis morgen!«

Und nun, nachdem die Schiebetüren hinter mir zugleiten, ziehe ich den Brief aus meiner Tasche heraus und falte das rosa Papier auseinander.

Liebe Ruth,

Es gibt einige Dinge, die ich dir über Boyds Tod sagen muss. Es kursierten so viele Gerüchte, und ich vermute, sie haben dich sehr verletzt. Damals war es mir unmöglich, mit dir darüber zu reden, aber jetzt ist es an der Zeit. Wenn es dir nichts ausmacht, komme ich in ein oder zwei Tagen vorbei, damit wir reden können.

Viele Grüße, Henrietta

Henrietta. Ich versuche, diesem Namen ein Gesicht zuzuordnen, aber es gelingt mir nicht.

Ich falte den Zettel wieder zusammen und gehe die Rampe hinunter auf den Parkplatz. Ein Mann mit schütterem weißem Haar und ungleich langen grauen Stoppeln kommt auf mich zu. Er bewegt sich schneller, als sein Alter es vermuten ließe. Sollte er nicht im Gebäude sein?

Er ruft meinen Nachnamen. »Hey! Murrow!« Plötzlich steht er direkt vor mir. »Pass lieber auf, sonst treibst du wie dein Daddy mit dem Gesicht nach unten im Sumpf.«

Ich schnappe nach Luft.

Der Mann fletscht die Zähne wie ein Tier. »Verschwinde aus der Stadt, Mädchen.«

Ein junger Mann in einem lila Krankenhauskittel kommt um die Ecke des Gebäudes und schnippt gerade eine Zigarettenkippe weg. »Hey, Nelson!«, ruft er laut. »Sie dürfen das Gelände nicht betreten! Wie oft müssen wir Ihnen das noch sagen? Runter vom Grundstück!«

Der alte, ausgemergelte Mann macht einen Satz von mir weg und eilt über den Parkplatz Richtung Straße, doch dann dreht er sich noch mal zu mir um, und sein Blick aus den wässrigen Augen bleibt an mir hängen.

Kenne ich diesen Mann?

Er klettert in einen verbeulten blauen Pick-up, fährt mit quietschenden Reifen los – und weg ist er.

4

Ich biege in die Kiesauffahrt vor dem mir so vertrauten weißen zweistöckigen Haus und trage meinen kleinen Koffer hinauf in mein altes Schlafzimmer. Oben an der Treppe stolpere ich über einen umgefallenen Bleistifthalter, eine alte Lederschachtel und eine Schneekugel aus dem Weeki-Wachee-Themenpark, dann schlängle ich mich zwischen vollen und halbvollen Kartons hindurch. Phil und Tammy haben bereits begonnen, das Haus meiner Mutter auszuräumen. Und wer hat ihnen diesen Auftrag erteilt? In Moms Zimmer herrscht ein ähnliches Durcheinander. Ich glätte die Falten des cremefarbenen Chenille-Überwurfs, der schon vor dem Tod meines Vaters hier gelegen hat.

Meine Bluse klebt an meinem Rücken. Kein Lüftchen weht durch die Fenster ins Haus, nur hartes Sonnenlicht, das die Wände und den Boden kontrastarm und unfertig aussehen lässt, obwohl jede Oberfläche gestrichen, tapeziert oder lackiert ist, und zwar bis in den letzten Winkel.

Tammy hat Bücherkisten mit der Aufschrift »WEGWERFEN« vor der Klimaanlage gestapelt. Die Bücher gehören zu den wenigen Dingen in diesem Haus, an denen ich hänge. Was auch immer sie und Phil vorhaben, ich werde nicht zulassen, dass sie die Bücher weggeben.

Ich hebe einen der schweren Kartons hoch, um an die Klimaanlage heranzukommen, aber dann habe ich eine Idee. Ich trage den Karton die Treppe hinunter, durch die Fliegengittertür und über die kleine Treppe vor dem Haus nach unten, bis zum Kofferraum meines Autos. Ich habe keinen Plan, außer: erst mal alles behalten. Bei meiner Rettungsaktion gehe ich achtmal die Treppe rauf und runter. Der neunte Karton hat keinen Deckel. Er ist randvoll mit Taschenbuchkrimis und Büchern über wahre Verbrechen. Ich hieve ihn auf die Rückbank meines Autos. Ist das, was ich hier gerade mache, völliger Quatsch? In fast jedem dieser Bücher steckt ein Lesezeichen. Meine Mutter sagte immer zu meinem Vater: »Warum liest du nichts Gescheites?«, woraufhin er sie lediglich ausdruckslos anstarrte und zu seinem Krimi zurückkehrte. Ich bin überrascht, dass sie die Dinger alle aufbewahrt hat.

Ganz oben liegt jedoch ein Vogelbuch mit dem Stempel Professor Thaddeus (Tad) Hodgkins, Department of Zoology, Florida State University. Ich nehme es in die Hand. Neben den Illustrationen stehen in Opa Tads flüssiger Handschrift Datum und Ort der Sichtung, Wetterbedingungen und Notizen zum Verhalten des Vogels. Unbezahlbare Randbemerkungen.

Doch es war nicht Opa Tad, der mir alles über Vögel beigebracht hat, sondern mein Vater. Dennoch male ich mir gerne das erste Gespräch aus zwischen dem kahl werdenden, konservativen Professor in Tweed und dem Jungen vom Lande, der seiner Tochter den Hof machen wollte. Anfangs ist der Umgang der beiden miteinander bestimmt hölzern und förmlich, und Opa Tad stellt Fragen wie »Um wie viel Uhr bringen Sie sie wieder nach Hause?« und »Sie rasen doch nicht etwa, oder?«, bis sie irgendwie auf das Thema Vögel kommen. Der Gesichtsausdruck des älteren Mannes verändert sich. Er legt den Kopf schief, um zuzuhören, und sagt: »Ich weiß, ich weiß, und der Helmspecht …«, und dann gibt es kein Halten mehr, wobei die Sprache des jüngeren Mannes immer noch etwas provinzieller ist, als es dem Professor für seine Tochter lieb wäre, aber »Der Junge kennt sich wahrlich aus mit Vögeln!«, ruft Opa Tad aus und blickt begeistert zu seiner Frau hinüber, die als Antwort lediglich missbilligend die Stirn runzelt. Beide Männer haben nun ein breites Grinsen im Gesicht, und meine Großmutter Lorna ist angewidert – von beiden.

Ich gehe wieder nach oben und bringe den bisher schwersten Karton hinunter. Als ich sein Gewicht verlagere, um die Fliegengittertür zu öffnen, rutscht mir der Karton vom Oberschenkel, und sein Inhalt verteilt sich auf dem Boden. Ich bücke mich und lege ein Buch nach dem anderen wieder hinein. Ein kleiner Spiralblock taucht plötzlich zwischen den Büchern auf, die aufgeschlagene Seite ist vollgeschrieben, und ich sehe ihn mir genauer an. Der Wind frischt auf, und ich lege meine Hand auf die Seite, damit sie nicht verweht wird. Ich bin halb in der Tür und halb draußen, und knie, während ich lese, doch irgendwann setze ich mich richtig auf den Boden, nehme den Block in die Hand und lehne mich mit dem Rücken gegen den Türrahmen.

Wieder Schlafprobleme. Im Kopf kreisen die Gedanken um »was wäre, wenn dies« und »was wäre, wenn das« und bringen mich zur Verzweiflung.

Und Boyds Schlange von einem Vater ist heute aufgetaucht, um sich Geld zu leihen, aber am Ende hat er nur wieder sein Gift verspritzt, das Einzige, was er bei seinen seltenen Auftritten hier fertigbringt. Ich will nicht mehr an ihn denken und an die Wirkung, die er auf Boyd hat.

Der Arzt sagt, Schlaflosigkeit sei eine Folge der Schwangerschaft, am besten liege ich auf der linken Seite, ein Kissen unter dem Bauch, ein anderes zwischen den Knien. Immer noch Schlagseite. Unmöglich, Körper oder Geist auszuruhen. Würde jetzt gerne auf Zehenspitzen die Treppe hinunterschleichen, um eine Nocturne zu spielen, aber dann wacht Boyd vielleicht auf. Oder zwischen meinen Kräutern sitzen, Bergamotte und Lavendel, aber die Fliegengittertür wird quietschen. Mit meinen Händen in der Erde könnte ich …

Das Geräusch von Autorädern auf Kies lässt mich aufblicken. Phil und Tammy. Ich werfe das Notizbuch zurück in den Karton, stehe auf, hebe ihn hoch und lasse die Fliegengittertür zufallen. Phil stellt den Motor ab, als ich den Deckel meines Kofferraums schließe. Benimm dich und sei nett. Ich winke ihnen übertrieben freundlich zu.

Phil entfaltet seinen hoch aufgeschossenen Körper vom Fahrersitz – ein khakifarbener Flamingo. Wie ist es möglich, dass er derselbe kleine Junge im Hydrantenformat ist, der früher in diesem Hof gespielt und sein Lieblingsspielzeug, einen hölzernen Abakus, mit sich herumgeschleppt hat? Tammy klettert auf der Beifahrerseite aus dem Auto und nimmt mich ins Visier – wie ein Eckschwanzsperber seine Beute. Ich gehe auf die beiden zu.

»Hey!«, rufe ich, eine Begrüßung, die ich in Washington nie benutze.

»Hey«, antwortet Tammy und lässt mich nicht aus den Augen. In ihrem Spandex-Kleid besteht sie nur aus scharfen Kanten, bis auf einen kleinen Schmerbauch und ihren strähnigen blonden Pony, der – als wäre er aus Beton – auf Höhe ihrer Augenbrauen nach innen eingedreht ist.

Phil kommt mir jedes Mal, wenn ich ihn sehe, größer und schlaksiger vor. Er hat das hellbraune Haar unseres Vaters geerbt, aber seine Koteletten sind kurz und scharf gehalten, sein Haar ist oben gestuft, ein moderner Männerschnitt, der eindeutig von Tammy gepflegt wird. Er beugt sich vor, um mir pro forma einen Kuss auf die Wange zu geben.

Ich werfe einen Blick in Richtung Haus. »Ihr habt schon angefangen zu packen, was?«

»Ja«, antwortet Tammy, die hinter uns hergeht.

»Du bereitest ihren Umzug vor?«, frage ich meinen Bruder.

Das darauf folgende eisige Schweigen wird von meiner Schwägerin gebrochen. »Sag es ihr, Phil.«

»Ich habe Mieter gefunden.«

»Oha!« Das war’s dann wohl mit Nettsein. »Haben wir das besprochen?«

Tammy sagt: »Also, Phil hat eine Bestandsaufnahme gemacht …«

»Eine Bestandsaufnahme?« Ich sehe meinen Bruder an.

»… damit wir uns wie zivilisierte Menschen hinsetzen«, fährt Tammy fort, »und entscheiden können, wer was bekommt.«

Ich drehe mich ruckartig zu ihr um. »Du bist unglaublich!«

Ihre Augen weiten sich, und sie sieht zu Phil. Er hebt seine Handflächen in ihre Richtung, und sie dreht ab und klappert in Richtung Haus, wobei ihre spitzen Absätze auf der Kiesauffahrt um Standfestigkeit kämpfen.

Phil sitzt halb auf der Motorhaube seines Autos. Er hat sich schon immer übermäßig selbstsicher verhalten. Sein kantiges Kinn und seine tief liegenden Augen machten aus ihm einen »guten Fang« für Leute wie Tammy. Aber für mich ist und bleibt er ein blasses, mageres Kind, das mit dem Kleingeld in seiner Tasche klimpert. Ich kenne jeden nervösen Tick von ihm, das hektische Wippen der Beine unter dem Tisch, das Klopfen mit den Fingern, diese ganze überschüssige Energie, die an den Extremitäten austritt. Meine Mutter hat ihn immer »den Schlagzeuger« genannt. Und obwohl ich zwölf Jahre älter bin, scheint er sich selbst zum Entscheidungsträger ernannt zu haben.

»Du hast das Haus vermietet? Ohne mich zu fragen?«

»Loni, du warst nicht hier.«  

»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte! Du hast mir gesagt, ich solle mir mehr Zeit nehmen als sonst, was ich auch getan habe, und das war schwierig genug! Aber in der Zwischenzeit hast du einen Haufen Entscheidungen ohne mich getroffen.«

Er stößt sich von der Motorhaube des Wagens ab. »Hör zu, Elbert Perkins ist mit einem attraktiven Angebot für das Haus an mich herangetreten. Diese Leute wollten eigentlich kaufen, nicht mieten. Ich habe sie zu einem kurzfristigen Mietvertrag überredet. Ich meine, warum sollte man Grundeigentum brachliegen lassen?«

»Grundeigentum? Phil, das ist das Haus unserer Familie. Das Haus unserer Mutter.«

»Loni, sie kann nicht mehr allein leben.«

Ich lasse das auf mich wirken.

»Und du weißt, wie viel das St. Agnes kostet?«, schiebt er hinterher.

Der kleine Buchhalter unserer Familie. Ich war immer zu nachsichtig mit ihm, denn als Baby den Vater zu verlieren ist etwas, wovon man sich nie erholt. Aber dieses Mal werde ich nicht nachgeben. Auch nicht, wenn er mich so charmant angrinst und mir den Arm um die Schulter legt.

»Komm schon, Schwesterherz, alles wird gut.«

Woher nimmt er seinen mich auf die Palme bringenden Optimismus? Der rosa Brief glüht in meiner Tasche, und eine Hälfte von mir möchte ihm davon erzählen. Aber wir folgen dieser Regel: Sprich nicht über Daddy. Mein Bruder bugsiert mich Richtung Haus und das darin herrschende massive Chaos.

5

Gott sei Dank, sie sind endlich weg. Als die Dämmerung über das Marschland hereinbricht, sehe ich mich draußen um. Der löchrige Steg hat noch ein paar Bretter mehr verloren, und einige neue Häuser beeinträchtigen unseren früher einmal freien Blick auf das Sauergras und den Wasserlauf. Der Kräutergarten meiner Mutter ist an vielen Stellen immer noch eine Augenweide. Die Winter sind hier so mild, dass der Garten das ganze Jahr über gedeiht. Ihr Basilikum ist ein großer Strauch, und der Rosmarin wäre ein Baum, wenn sie ihn nicht ständig zurückschneiden würde. Sie scheint den Garten in Schuss gehalten zu haben, ganz anders als das Haus.

Ich lehne meinen Kopf zurück und suche die Stelle in der Lebenseiche, an der zwei dicke Äste auf den Stamm treffen. Das war früher mein Ort zum Nachdenken. Meine Mutter war besorgt, dass ich herunterfallen könnte, aber Daddy sagte: »Lass sie in Ruhe, Ruth. Dieses Nest gehört Loni Mae.«