Töchter des Nordmeeres – Livs Weg - Ines Thorn - E-Book
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Töchter des Nordmeeres – Livs Weg E-Book

Ines Thorn

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Beschreibung

Ein historischer Roman vor eindrücklicher nordischer Kulisse: Zwei grundverschiedene Mädchen ringen darum, ihren Platz im Leben zu finden, in einer Welt, die zwischen naturverbundener Tradition und wissenschaftlicher Moderne steht.  Norwegen, 1893: Auf Veiholmen, im Norden der Inselgruppe Smola, wachsen zwei sehr unterschiedliche junge Frauen heran, die aber untrennbar miteinander verbunden sind. Vor 15 Jahren wurden sie in der gleichen Winternacht als Säuglinge auf verschiedenen Türschwellen im Dorf abgelegt. Keiner weiß, ob Liv und Lucia Schwestern sind oder woher sie kommen. Liv ist die Fortschrittliche, Wissbegierige und Tatenhungrige, die sogar die Aufmerksamkeit des Polarreisenden Fridtjof Nansen erregt, während Lucia nach Häuslichkeit strebt, traditonell leben und heiraten möchte. Als ein junger Fremder in den Ort kommt, werden die Unterschiede zwischen den beiden Frauen spürbar, und ihre zwiespältige Freundschaft wird hart auf die Probe gestellt. 

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Seitenzahl: 436

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Ines Thorn

Töchter des Nordmeeres – Livs Weg

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Raue Landschaft und eine neue Welt

 

Norwegen, 1876. In einer Winternacht werden auf der Insel Smøla zwei Neugeborene ausgesetzt. Eines am Gasthaus, das andere auf der Kirchenschwelle. Keiner weiß, woher die beiden Mädchen stammen. Zwischen ihnen besteht ein untrennbares Band – und dennoch wachsen sie zu unterschiedlichen jungen Frauen heran. Lucia strebt als Ziehtochter des Pfarrers nach Häuslichkeit und möchte vor allem gut heiraten. Liv dagegen ist wissbegierig und von klein auf eine Naturforscherin, am liebsten am Meer oder bei ihren geliebten Raben. Ihr Traum ist es, einmal zu studieren, doch schon ein Schulabschluss ist auf Smøla für Mädchen nicht vorgesehen. Als ein junger Wissenschaftler auf die abgeschiedene Insel kommt, mit dem Liv sofort viel verbindet, gerät sie in einen Zwiespalt zwischen Kopf und Herz. Und die Freundschaft zu Lucia wird auf eine harte Probe gestellt …  

Vita

Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und schreibt seit Langem erfolgreich historische Romane.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Heike Brillmann-Ede

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Shutterstock; Magdalena Russocka/Trevillion Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01556-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Erster Teil

Kapitel 1

Der Same hatte den Sturm vorausgesagt. Und was der Same sagte, das stimmte. Also hatte Fria alle Fenster des Guesthuset mit Decken verhängt und hinter der Tür einen dicken Wollvorhang angebracht. Trotzdem flackerten die Tranlichter auf den Tischen der kleinen Gastwirtschaft. Fria blies sie aus. Nur auf der Theke brannten noch zwei Lichter. Die, die immer abends hier waren, waren bereits nach Hause gegangen: der Bürgermeister Bjarni, der Fischer Chrisander, der Pfarrer Fenris und der Lehrer Arni, der heimlich in Fria verliebt war, was sie natürlich wusste. Und gerade deshalb war sie stets ein wenig barscher zu ihm als zu den anderen, was Arnis Liebe jedoch nur umso heller lodern ließ. Auch die Kinder der Insel, die zum heutigen Luciafest, dem 13. Dezember 1876, die Prozession durch das Dorf hin zur Kirche angeführt hatten, vorndran die Lucia im weißen Kleid und mit einem Kranz aus Kerzen auf dem Kopf, lagen sicher schon in ihren warmen Betten, während der Sturm ein paar junge Birken auf Smøla umknicken ließ.

Die Inselgruppe Smøla lag im Nordmeer, ungefähr auf der Höhe von Trondheim. Die Hauptinsel hieß wie die Inselgruppe, und der Hauptort inmitten der Hauptinsel nannte sich ebenfalls Smøla. Das Guesthuset, die Fischfabrik, die Handelsstation, die Schule, die Kirche und ein Dutzend Fischerhäuser befanden sich etwas ab vom Schuss, direkt am Meer, an dem auch der kleine Hafen lag. Die Leute, die dort lebten, zählten zum Dorf Smøla, doch blieben sie meist für sich, denn sie hatten hier alles, was sie brauchten.

Fria spülte die Gläser, suchte den Verschluss der Aquavitflasche und leerte die Aschenbecher vom Pfeifentabak.

Sie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab, goss sich einen großen Schnaps ein, trank ihn in einem Zug, sagte: «Ahhh!», schüttelte sich und wollte gerade den Aquavit verschließen, als sie von draußen ein Weinen hörte und dazu ein aufgeregtes Krächzen.

Fria zog die Stirn in Falten. Katzen waren das nicht, die schrien anders. Und das war auch kein Fuchs. Wölfe gab es nicht auf der Insel. Wie auch? Sollten sie etwa durch das Nordmeer schwimmen? Plötzlich hörte sie ein Klopfen am Fenster. Sie runzelte die Stirn. Wer sollte das sein? Um diese Uhrzeit hatte sie niemals Gäste. Ein Fremder vielleicht? Wo sollte der herkommen? Das Postschiff vom Festland war vorgestern da gewesen und kam erst in fünf Tagen wieder. Wieder klopfte es, dieses Mal drängender, aufgeregter. Sie schob den Vorhang zur Seite und erblickte einen Raben, der mit dem Schnabel emsig gegen die Scheibe hieb. Na, der konnte was erleben! Das fehlte gerade noch, dass er bei diesem Wetter die Scheibe zerstörte.

Fria zog sich eine dicke Jacke aus Schafswolle an, schob den Türvorhang zur Seite und öffnete die Tür. Draußen heulte der Sturm, riss an Frias Haaren und so heftig an ihrer Jacke, dass sie zurückprallte. Das Meer schleuderte krachende Brecher ans Ufer. Dicke Wolken jagten tief über die Insel, der Schnee trieb waagerecht an Fria vorbei, und es war so klirrend kalt, dass ihr der Atem gefror. Sie blickte zum jetzt leeren Fensterbrett, legte eine Hand hinter das Ohr und lauschte, doch außer dem Sturmgeheul war nichts zu hören. Sie kuschelte sich enger in ihre warme Jacke, als genau zu ihren Füßen erneut ein Krächzen erklang. Sie blickte hinunter und entdeckte ein Bündel, halb in einer Schneewehe versteckt, und daneben den Raben, der sie unverwandt mit seinen schwarzen Augen anstarrte und ein aufgeregtes Quek, quek von sich gab.

Fria bückte sich, griff an dem Raben vorbei und stieß einen Schrei aus. Dann presste sie eine Hand vor den Mund, besann sich rasch, hob das Bündel an ihre Brust unter die warme Jacke und trug es hinein in die Wärme der Gastwirtschaft. Der Rabe flog auf den Dachfirst, doch das bemerkte Fria nicht. Sie schlug die Decke zur Seite und erblickte einen winzigen Säugling mit von der Kälte blauen Lippen, der sie aus großen hellen Augen anblickte. Fria nahm eine der Babyhände in ihre große und stellte fest, dass die kleine Hand nur kalt, aber nicht eisig war. Gott sei Dank, da hatte das Kind wohl nur kurz vor der Tür gelegen. Sie hüllte es wieder in die Decke, hob es vorsichtig hoch und wiegte es hin und her.

«Wer bist du denn?», fragte sie leise. «Wo kommst du her? Wer hat dich vor meine Tür gelegt?»

Als das Kind zu weinen begann, begab sich Fria in die Küche, in der der Same, der als Koch im Huset arbeitete und ein Zimmer im Dachgeschoss bewohnte, gerade die Asche aus dem Küchenofen holte und in einen Blecheimer füllte. Als er Fria und das Bündel hörte, blickte er auf. «Was ist das?»

«Frag später. Schnell, sieh dir die Fußspuren vor der Tür an. Wohin führen sie? Vielleicht triffst du noch jemanden. Dann halte ihn fest und schleife ihn hierher.»

Der Same fragte nicht lange, sondern verschwand, den mit Rentierfell gefütterten Umhang im Laufen über sich werfend.

Fria drückte den Säugling an sich, und ein heißes Gefühl durchströmte sie. Es begann auf der Kopfhaut und endete in ihrem Schoß. Ein Säugling. Winzig, schutzlos, hilflos. Sie betrachtete die kleinen Fingerchen, die hellen Wangen, das seidige Haar, das zum Vorschein kam, als sie dem Kind die Mütze abnahm. Sein Gesichtchen war hochrot, das Kleine schrie aus Leibeskräften, und Fria wollte im Augenblick nichts anderes, als das Kind zu füttern und zu schützen. Sie trug es zurück in die Gaststube, lief hin und her und her und hin und summte dabei ein Lied, das ihr die Mutter früher immer vorgesungen hatte. «Deilig er jorden», sang sie leise. «Wunderschön ist die Erde.» Sie war noch nicht am Ende angekommen, als die Tür aufgerissen wurde und der Same hereinkam. Er schüttelte sich den Schnee von Haaren und Umhang.

«Und? Hast du wen gefunden?»

Der Same verneinte. «Da waren ein paar Fußspuren. Große und kleine. Wie von einem Mann und einer Frau. Sie endeten am Meer.» Dass ein Rabe krächzend und flügelschlagend auf dem Dach hockte, erwähnte er nicht.

«Du meinst, da lag ein Boot?»

«Möglich.»

Fria schüttelte den Kopf. «Bei dem Sturm ist kein Boot draußen. Hast du im Bootshaus nachgesehen? Und im Schuppen? Ob sich da jemand versteckt hält?»

«Da war nichts und niemand. Kein Licht, kein Geräusch, nichts. Nur die Fußspuren bis zum Meer.»

Fria betrachtete ihn misstrauisch. Irgendwie musste der Säugling doch vor ihre Tür gekommen sein. Aber der Same log nicht. Und irgendwie war sie zugleich erleichtert. Wenn da keiner war, dann konnte auch keiner das Kind wieder mitnehmen. Also zuckte sie mit den Schultern und wiegte das Kleine behutsam. Doch das Kind schrie mit hochrotem Kopf, die kleinen Fäustchen fest geballt.

«Was hast du da?», wollte der Same wissen.

«Hörst du das nicht? Einen Säugling habe ich. Gerade geboren und vor unsere Tür gelegt.»

«Warum schreit er so? Was hat er denn?»

«Was soll er schon haben? Einen mächtigen Hunger wird er haben.»

«Wir haben noch etwas Ziegenmilch.»

«Mach sie warm, gib einen Löffel Honig hinein», befahl Fria und wiegte das Kind stärker, als es noch lauter schrie. «Und beeil dich ein bisschen.»

«Wo soll ich die Milch und den Honig denn hineinfüllen? Woraus trinkt so ein kleiner Mensch?» Der Same wirkte beunruhigt.

«Hach, ihr Männer! Gib alles in einen Topf, stell ihn in die heiße Asche. Dann tunken wir den Zipfel eines Tuches in die Honigmilch, und daran nuckelt das Kind.» Fria schüttelte den Kopf. Sie stellte immer wieder fest, dass Männer von den einfachsten Dingen auf der Welt schlichtweg nichts verstanden. Sie konnten Schiffe bauen, die bis zum anderen Ende der Welt segeln, aber sie hatten keine Ahnung, wenn es um andere Menschen ging. Und bei Säuglingen versagten sie ganz und gar.

Während der Topf in der heißen Asche stand, drückte Fria dem Samen das Kind in den Arm. «Halt es fest, stütz das kleine Köpfchen. Ich suche nach einem sauberen Tuch.»

«Kann ich nicht nach dem Tuch …?» Der Same verstummte, als er Frias Blick sah, und hielt das Kind ein Stück von sich wie eine Pfanne mit heißem Bratfett.

Dann saßen sie alle in der Gaststube. Fria hielt den Säugling im Arm und drückte mit der anderen Hand das feuchte Tuch gegen den winzigen Mund. Schon saugte das Kind, und Fria lächelte den Samen an. «Es ist gut, dass es trinkt», erklärte sie. «Dann ist es nämlich nicht krank.»

Der Same und Fria staunten, wie schnell das kleine Menschlein den Topf mit der Honigmilch ausgelutscht hatte. Dann rülpste es laut, schloss die Äuglein und war schon eingeschlafen.

Der Same betrachtete den Säugling hingerissen. «Schau mal, so kleine Fingerchen, so ein winziger Mund. Und die Ohren. Ganz rosa noch, wie bei einem Ferkel.»

«Jaja», erwiderte Fria. «Aber jetzt müssen wir erst einmal überlegen, was wir mit dem Kleinen tun. Es muss ja irgendwo schlafen, und vorher braucht es eine frische Windel.»

«Wo hast du es eigentlich her?», wollte der Same wissen, als fiele ihm erst jetzt ein, wie ungewöhnlich ein Säugling im Huset war.

«Es lag auf der Türschwelle.»

«Auf der Türschwelle?»

«Bist du mein Echo? Jawohl. Auf der Türschwelle.»

«Und wo kommt das Kleine her?»

Fria verdrehte die Augen. «Woher soll ich das wissen? Das solltest du herausfinden. Fest steht nur, dass da draußen ein Sturm tobt und wir heute Nacht nichts machen können. Der Säugling bleibt erst einmal hier.»

Aus dem Bündelchen kamen knatternde Geräusche.

«Ich glaube, da ist auch ein kleines Gewitter in der Windel.» Fria lächelte.

«Was für ein Gewitter?»

Jetzt langte es Fria. «Du bist ein sehr kluger Mann, Same, aber heute …?» Sie schüttelte den Kopf. «Das Kind hat in die Windel gemacht. Wir brauchen also eine neue Windel.»

«So etwas haben wir nicht.»

«Ja, das weiß ich auch. Such mal eine saubere Tischdecke heraus und zerschneide sie.»

Sie legte ihre warme Jacke auf einen Tisch in der Gaststube, bettete das Kind darauf und enthüllte es. Zum Vorschein kamen ein kleiner bestickter Kittel, dazu eine mit Rentierfell gefütterte winzige Hose. Behutsam zog Fria ihm die Sachen aus und lächelte, als es nackt vor ihr lag. Es war ein Mädchen.

«Wer bist du nur?», fragte Fria erneut, und ihr wurde ganz warm ums Herz. Sie war im letzten Sommer vierzig Jahre alt geworden und hatte nie Kinder gehabt. Ihr Mann war kurz nach der Hochzeit auf dem Meer geblieben, und seither war sie allein. Na ja, allein. Was hieß das schon? Der Same war da, er wohnte in einer Kammer unter dem Dach. Jeden Abend kamen die Gäste, und wenn sie tags unterwegs war, um Vorräte für die Wirtschaft einzukaufen, traf sie immer jemanden, mit dem sie ein Schwätzchen halten konnte.

Die Kleine rülpste noch einmal, und Fria strich ihm mit dem Zeigefinger über die zarte Wange. Endlich kam der Same zurück, in der Hand sechs Stoffrechtecke.

«Bleib mal und pass auf», bat Fria. «Ich brauche etwas Wasser und Tran.»

Sie eilte in die Küche, nahm einen Topf vom Kohleherd, schüttete den Inhalt in eine Schüssel, gab kaltes Wasser dazu. Dann holte sie aus ihrem Schlafzimmer das gute Stück Ringelblumenseife, das sie sich letztens aus Trondheim mitgebracht hatte.

Sie wusch das Kindchen, hüllte es in seine neue Windel, zog ihm die kleine Rentierhose und den Kittel wieder an und betrachtete es nachdenklich, während der Same ihr dabei zuschaute.

«Weißt du, wer hier auf der Insel schwanger war?», fragte sie ihn.

«Nein, ich habe keine Frau mit einem großen Bauch gesehen. Und die Leute haben nicht geredet.»

«Im Winter sieht man ja nicht allzu deutlich, was sich unter den dicken Jacken verbirgt, aber wenn eine schwanger gewesen wäre, hätte ich es doch gesehen.»

Das glaubte der Same auch und nickte, ohne die Kleine aus den Augen zu lassen. «Es sieht so aus, als wärst du doch noch Mutter geworden.»

Fria lachte. «Du meinst Eltern. Wir sind Eltern geworden.»

Der Same schrak hoch und starrte Fria entsetzt an, sodass sie in lautes Lachen ausbrach. «Jetzt hast du wohl Angst bekommen, was? Du hast dich schon in meinem Bett gesehen, wie? Haha. Dabei bin ich bloß zehn Jahre älter als du.» Sie strich sich über das lange blonde Haar, das wie ein Kranz um ihren Kopf lag. «Ich bin doch noch recht ansehnlich.» Ihre Stimme klang plötzlich blasser.

«Du bist eine der schönsten Frauen hier auf der Insel», beeilte sich der Same zu sagen. «Wenn du hättest heiraten wollen, hättest du jeden kriegen können.»

Fria war versöhnt, nahm den Säugling hoch und wiegte ihn hin und her. Der Same hatte übertrieben, so viele Verehrer hatte sie nicht. Sie war zu eigensinnig. Das hatte zumindest die Pfarrersfrau Runi vor Jahren zu ihr gesagt, und Fria war damit zufrieden gewesen. Ein eigener Sinn. Das konnte nicht schlecht sein. Außerdem hatte sie Arni, den Lehrer. Der himmelte sie an, seit sie denken konnte. Er brachte ihr manchmal Blumen mit oder eine Zeichnung, die sich rahmen ließ und die sie in ihrem Schlafzimmer an die Wand hängte.

«Erhöre den armen Arni doch endlich», hatte der Same gebeten. «Es ist ja nicht mitanzusehen, wie du ihn am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Außerdem würde es dir guttun, einen Mann zu haben.»

«Wie meinst du das denn?», fuhr Fria ihn an. «Bin ich launisch oder was?»

«Ich meine ja nur. Arni ist ein netter Mann. Ihr passt gut zusammen.»

«Jetzt noch nicht», erwiderte Fria, weil es einfach so schmeichelhaft war, dass sie einen Verehrer hatte. Wie er sie anblickte! Hach, Fria wurde ganz warm, wenn sie daran dachte. Würde sie ihn erhören, würde er bald anders gucken. Und wenn sie ihn außerdem noch heiratete, war der ganze Glanz bald vorbei. Fria war nie scharf darauf gewesen, sich nach dem Tod ihres Mannes wieder zu verheiraten. Sie hatte alles, was sie brauchte, sie konnte sich selbst gut ernähren, das Guesthuset gehörte ihr allein und für die … nun ja … die körperlichen Bedürfnisse, über die schwieg sie sich aus. Doch dass es da jemanden gab, ahnte die ganze Insel. Einzig ein Kind hätte sie gern gehabt. Und jetzt hielt sie eines im Arm und konnte sich gar nicht satt dran sehen.

«Sie braucht einen Namen», fand der Same. «Erst wenn ein Neugeborenes einen Namen hat, ist es ein richtiger Mensch.»

«Wie soll sie denn heißen?»

Der Same zuckte mit den Schultern. «Vielleicht Lucia, weil heute der Luciatag ist?»

Fria schüttelte den Kopf. «Ich denke, wir nennen sie Liv. So hieß meine Großmutter, so ist es Brauch. Liv bedeutet Leben. Und da wir das ihre gerade gerettet haben, wüsste ich keinen besseren Namen.»

«Dann erkennst du sie als deine Tochter an?» Der Same wunderte sich. «So schnell schon?»

«Wer lange zögert, verpasst seine Chance. Ja, und ob.» Als Fria diese Worte aussprach, durchfuhr sie ein heißer Strom. Und sie wusste wieder, wie sehr sie sich immer ein Kind gewünscht hatte. «Und die Fußspuren führten wirklich ans Meer?»

«Ja. Jemand hat angelegt, hat das Boot auf die Steine hochgezogen und ist dann zu uns gekommen.»

«Keine Spuren in der anderen Richtung?»

«Da sind unsere Gäste vorhin entlanggetrampelt, da war nicht viel zu erkennen.»

«Das ist gut», meinte Fria. Plötzlich war sie Mutter geworden, von jetzt auf gleich. Und es fühlte sich richtig an. So, als wäre ein Kind das Einzige auf der Welt, das ihr noch zum Glück gefehlt hatte. Sie würde die Kleine nicht wieder hergeben.

«Und wenn sich die richtigen Eltern noch einmal melden und sie wiederhaben wollen?», durchbrach der Same ihre wunderschönen Gedanken.

«Dann hätten sie sie gar nicht erst ausgesetzt.» Sie gab dem Kindchen einen Kuss auf die Stirn. «Nicht wahr, Liv, du bleibst bei uns. Du gehörst hierher. Wir werden uns alle gut um dich kümmern.»

Da endlich lächelte auch der Same. «Gib sie mir mal, ich möchte sie halten.»

Und er hielt sie schon ein wenig sicherer und wiegte sie und gab ihr ebenfalls einen Kuss auf die Stirn, und somit war besiegelt, dass Liv zu ihnen gehörte.

 

Die Kleine schlief in der hölzernen Wiege, die seit Ewigkeiten zum Guesthuset gehörte. Frias Urgroßmutter hatte darin geschlafen und danach alle, die im Huset geboren worden waren, auch Fria. Der Same hatte ein Schaffell hineingelegt, und Fria hatte eine dicke Decke über das Kind gelegt und die Wiege neben ihr Bett gestellt. Lange hatte sie im Schein eines Talglichtes das Kindlein betrachtet. So lange, dass sie es hätte malen können. Und dann, als das Licht aus war, hatte sie auf seine Geräusche gehört. Ein leises Schmatzen, ein kaum vernehmliches Blubbern, ein kurzes Schniefen. Es war schon weit nach Mitternacht, doch Fria spürte keine Müdigkeit. Im Gegenteil. Sie war hellwach. Und so glücklich wie seit ewigen Zeiten nicht mehr. Sie war jetzt eine Mutter. Und es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass jemand anderes Anspruch auf das Neugeborene anmelden könnte. Es hatte vor ihrer Tür gelegen, das Kind gehörte von nun an ins Guesthuset – zu Fria und dem Samen.

 

Am nächsten Morgen fütterte sie die Kleine wieder mit Ziegenmilch und Honig und legte sie zurück in die Wiege, die sie in die Küche gerückt hatte, weil es dort am wärmsten war. Der Same war besonders zeitig aufgestanden und hatte den Herd angeheizt. Auch das Wasser war schon warm. Er war gerade dabei, einen Weihnachtskuchen zu backen.

«Pass gut auf sie auf», bat Fria. «Und mach keinem die Tür auf.» Sie hatte eine unbeschreibliche Angst davor, dass jemand kam und ihr Liv wegnehmen wollte. «Wenn sie weint, schaukele die Wiege ein bisschen.»

Der Same beugte sich über das schlafende kleine Mädchen, strich ihr mit dem Zeigefinger über die zarte Wange. «Braves Kind», flüsterte er leise. «Wir werden es uns gemütlich machen. Hier in der Küche ist es warm und mollig.»

Fria warf ihm noch einen unentschlossenen Blick zu. «Mach niemandem die Tür auf, hörst du? Und wenn sie weint …»

«Jaja», erwiderte der Same und blickte Fria an. Sie sah anders aus heute Morgen. Irgendwie weicher. Normalerweise konnte Fria jede sich anbahnende Wirtshausschlägerei mit einem Wort und einem herrischen Blick unterbinden. Sie hatte keine Furcht, auch noch den größten Mann beim Kragen zu packen und ihn hinauszuwerfen, wenn er sich nicht benahm. Aber heute lächelte ihr Mund, die Augen leuchteten, und ihre Stimme klang sanft und beinahe zärtlich. «Mach dir keine Sorgen, ich werde gut aufpassen.»

Fria nickte, konnte sich kaum von der Kleinen trennen. «Gib ihr Ziegenmilch mit Honig, wenn sie Hunger hat», erklärte sie noch einmal.

Der Same lächelte. «Geh! Je schneller du fortkommst, umso eher bist du wieder hier.»

 

Fria machte sich auf den Weg zur Handelsstation, die nicht nur dazu diente, die auf Schiffen angebrachte Ware wie Ziegelsteine, Holz oder Viehfutter zu entladen und zu verkaufen, sie diente auch als Lebensmittelgeschäft, und – besonders wichtig – sie war der nächste Ort, an dem man Aquavit und Pfeifentabak kaufen konnte. Und überhaupt alles, was die Leute so brauchten: Fischernetze, Angelhaken, Talglichter, Petroleum, Holz, Wachsjacken, Seile, Messer, Werkzeuge, Schaufeln, Kannen, Töpfe, Seile. Einmal in der Woche legte das Postschiff aus Kristiansund an der Handelsstation an und brachte neben der Post auch alles andere. Und das Postschiff nahm mit, was die Insel und die Küste hergaben. Aus Bjarnis Fabrik wurde der Klippfisch herbeigeschafft und an Land gebracht. Die Frauen verkauften mit Eiderdaunen gefüllte Kissen und Stickereien, und der Fischer Chrisander brachte aus Treibholz geschnitzte Spielsachen zur Handelsstation. Neben dem Hauptgebäude befand sich im rechten Winkel dazu eine große Lagerhalle, in der all das aufgehoben wurde, das nicht mehr in den Laden selbst passte.

Vor der Handelsstation stand eine kleine Gruppe Menschen beieinander und unterhielt sich lebhaft. Fria lächelte. Da würde sie gleich Gelegenheit haben, von ihrer unverhofften Mutterschaft zu berichten. Sie sah die höchst erstaunten Gesichter jetzt schon vor sich! Die würden sich wundern! Fria als Mutter! Sie ging etwas schneller, obwohl es die ganze Nacht über geschneit hatte und sie bis zum Stiefelschaft im Schnee versank. Den Schlitten mit dem Weidenkorb darauf zog sie hinter sich her und näherte sich dem Grüppchen, dessen Mittelpunkt die Pfarrersfrau Runi war.

«Einfach auf der Schwelle hat sie gelegen», hörte Fria sie sagen. «Wir hätten sie um ein Haar nicht bemerkt.»

«Wovon sprichst du da?», wollte Fria wissen. Es konnte nicht sein, dass sich die Kunde von ihrem Fund so schnell verbreitet hatte und dass Runi ihr jetzt die ganze Sensation stahl.

«Stell dir nur vor, gestern Nacht haben wir ein kleines Mädelchen auf der Kirchenschwelle gefunden. Fenris ist noch einmal rüber, um die Sakristei wie jeden Abend abzuschließen, und da lag sie. Einfach so im Schnee. Nur in eine Decke gehüllt.»

Fria lief es eiskalt den Rücken herunter. «Und sie trug einen kleinen bestickten Kittel und eine Hose aus Rentierfell?», fragte sie verblüfft.

Runi hob die Augenbrauen. «Woher weißt du das?»

Fria stellte einen Fuß auf ihren Schlitten und verschränkte die Arme vor der Brust. «Ich weiß es, weil auch auf unserer Schwelle ein kleines Mädchen lag.»

Die Umstehenden machten «Ahh» und «Ohh», und schon stürzten tausend Fragen auf die beiden Frauen ein.

«Lag sie tatsächlich auch bei dir auf der Schwelle?»

«Warum ausgerechnet bei dir? Ist sie gesund?»

«Was hast du mit ihr vor?»

«Wirst du sie weggeben?»

Fria lächelte. «Was ist denn das für eine Frage? Natürlich bleibt sie bei mir!»

«Aber du bist nicht verheiratet», bemerkte Gunhild, die Frau des Lebensmittelhändlers. «Du hast keinen Mann.»

Fria zog die Schultern ein wenig in die Höhe. «Ich habe den Samen, das reicht aus. Von ihm wird sie alles lernen, was sie wissen muss.»

«Trotzdem», überlegte Gunhild laut. «Welche Mutter setzt ihre Kinder bei einem Schneesturm aus?»

Fria fuhr herum. «Eine verzweifelte Mutter. Sie hat sich bestimmt ganz bewusst das Guesthuset ausgesucht. Dort brannte noch Licht. Und schon immer wurden Kinder auf Kirchenstufen gelegt. Sie hat sich gekümmert, so gut sie konnte.» Verwundert stellte sie fest, dass sie die vermeintliche Mutter von Liv verteidigte. Als würde sie sie kennen, als wären sie miteinander verwandt. Sie fühlte sich ihr nahe, obschon sie sie noch nie gesehen hatte und das auch in Zukunft nicht unbedingt sein musste. Aber auf eine geheimnisvolle Art gehörte die fehlende Mutter dazu.

Es dauerte, bis sich die kleine Gruppe auflöste und Fria und Runi allein waren.

«Behaltet ihr sie?», wollte Fria wissen.

Runi nickte. «Wir haben schon unsere vier Jungs. Da fällt ein fünftes Kind nicht weiter ins Gewicht. Außerdem habe ich mir immer ein Mädchen gewünscht. Und du?»

«Ich behalte sie und nehme sie als Tochter an. Gleich nachher gehe ich hinüber zum Bürgermeister und frage, wie ich das anstellen muss. Und dann müssen wir noch einen Termin zur Taufe finden.»

Runi blickte sich um, als suche sie etwas. «Meinst du … denkst du … da … ich weiß nicht. Denkst du, dass das wirklich so einfach geht?»

Fria nickte überzeugt. «Man hat uns ausgewählt. Die Mädchen lagen nicht zufällig dort, wo wir sie gefunden haben.»

«Ja, das hat Fenris auch gesagt.» Wieder blickte Runi sich um, beugte sich dann zu Fria und erklärte: «Der Kittel war mit samischen Motiven bestickt. Ich glaube ja, dass jemand mit dem Boot gekommen ist und die Kinder ausgesetzt hat.»

Fria nickte. «Das hat der Same auch gesagt. Er hat Fußspuren gefunden, die zum Meer führten. Kleinere und größere. Er meint, von einer Frau und von einem Mann.»

«Das passt», fand Runi und nickte.

«Ich habe die Kleine Liv genannt, nach meiner Großmutter. So, wie es üblich ist.»

Runi lächelte. «Und unsere heißt Lucia, weil sie am Luciatag zu uns gekommen ist.»

«Wir müssen uns bald einmal treffen. Vielleicht sehen sich die Mädchen ähnlich.»

«Das machen wir. Wollt ihr heute Nachmittag ins Pfarrhaus kommen?»

Fria sah zum Himmel hinauf. «Es riecht nach neuem Schnee. Wenn das Wetter nicht gar so garstig ist, kommen wir.»

Runi hob die Hand zum Gruß und begab sich auf den Heimweg. Fria betrat die Handelsstation. Sie kaufte Milch, Butter, Melkfett, Walspeck und Tran für die Lampen, ein paar Eier und ein paar Kartoffeln ein. Außerdem kaufte sie fein gesponnene Wolle und weichen Stoff, eine mit Daunenfedern gefüllte Bettdecke und ein wenig Öl. Sie brauchte auch Honig, aber den konnte der Same bei der alten Merette besorgen.

«Was habt ihr an Dingen für einen Säugling da?», wollte sie wissen.

Gunhild brachte eine kleine Flasche mit einem Gummisauger, dazu noch ein paar Windeln und eine gute Salbe, die der Inseldoktor selbst hergestellt hatte und die vor allem die Fischer für ihre rauen Hände benutzten. Fria bestellte noch ein wenig Milchpulver für die nächste Woche, bezahlte und machte sich auf den Heimweg. Sie schritt anders aus heute, das konnten alle sehen. Denn nun war Fria nicht mehr einfach nur die verwitwete Wirtin des Guesthuset, sondern eine Mutter, die die Verantwortung für ein winzig kleines Mädchen übernommen hatte. Stolz betrat sie das Büro des Bürgermeisters, das sich in der Fischfabrik befand, weil es hier unten am Meer kein eigenes Rathaus gab und Bjarni als Fabrikbesitzer nicht stundenlang außer Haus sein konnte.

Fria klopfte an seine Tür, wartete keine Antwort ab, sondern stürzte gleich hinein. Bjarni saß hinter seinem wuchtigen Schreibtisch und studierte die Zeitung der Insel, die der Lehrer Arni herausgab.

«Guten Morgen erst einmal, meine liebe Fria», sagte er, als sich die Wirtin mit einem Schnaufen auf den Stuhl vor dem wuchtigen Schreibtisch fallen ließ.

«Morgen, Bjarni. Was muss ich tun, um ein Kind als meines anerkennen zu lassen?»

«Ich habe gar nicht bemerkt, dass du schwanger warst. Und überhaupt … Haben wir nicht im letzten Frühjahr deinen vierzigsten Geburtstag gefeiert?»

Fria wischte seine Worte mit einer Handbewegung fort. «Ich habe gestern Abend ein kleines Mädchen bekommen. Sie lag auf meiner Schwelle. Liv heißt sie. Und jetzt mach die Papiere fertig.»

«Wie bitte?» Bjarni holte eine Flasche und zwei Gläser, schenkte sie randvoll. Fria nahm das ihre, warf den Kopf in den Nacken, und mit einem Schluck war das Glas leer.

«Erzähl mal.»

«Da gibt es nicht viel zu erzählen. Auf meiner Schwelle lag ein Säugling, ich habe ihn aufgenommen und fertig.»

«Und wem gehört der Säugling?»

«Gehörte, Bjarni. Das weiß ich nicht, aber jetzt gehört er mir.»

«Ein Findelkind also.»

«Gestern Nacht war sie ein Findelkind. Ab heute ist sie meine Tochter. Also, worauf wartest du noch?»

Bjarni seufzte. «So einfach, wie du dir das vorstellst, ist es nicht. Es könnte ja sein, dass die leiblichen Eltern kommen und das Kind wiederhaben wollen.»

«Dann werden sie es nicht kriegen. Wer sein Kind aussetzt, hat das Recht darauf verspielt.»

«Fria! Jetzt höre mir doch erst einmal zu, verflixt. Du musst ein Jahr warten. Wenn sich in der Zeit niemand gemeldet hat, kannst du das Kind als das deinige registrieren lassen.»

«Wer sagt das?»

«Das steht so im Gesetz, das kannst du nicht ändern.»

«Hmm!», machte Fria und erhob sich unzufrieden. «Du behältst meine Angelegenheit im Auge?»

«Sicher. Außerdem wirst du mich bestimmt jeden Abend daran erinnern.» Bei dem Gedanken verzog der Bürgermeister schmerzlich das Gesicht.

«Darauf kannst du wetten.» Die Tür krachte hinter Fria ins Schloss.

 

Am Nachmittag klarte es auf. Die Sonne schien und ließ den Schnee glitzern. Fria zog der Kleinen die dicke pelzgefütterte Hose an und den kleinen Kittel, wickelte sie in eine Decke und trug sie behutsam durch den Schnee bis hin zum Pfarrhaus. Sie lief immer schnell, sie hatte es stets eilig, aber heute schritt sie so behutsam aus, als müsste sie Glas transportieren. Sie klopfte am Pfarrhaus, und Runi öffnete ihr. «Ich habe Kaffee gekocht und ein paar Plätzchen gebacken», erklärte sie und schob Fria in den Hausflur. Fria gab Runi das Mädchen, zog ihren schweren Mantel aus und nahm das Kind sofort wieder an sich.

Sie legte die kleine Liv direkt neben Lucia in die Wiege. Noch waren die Mädchen so klein, dass sie beide hineinpassten. Und dann betrachteten sie die beiden winzigen Gesichtchen und suchten nach Ähnlichkeiten. «Meine Liv hat ganz graue Augen», erzählte Fria.

«Die Lucia ist blauäugig. Und schau doch mal die Nasen an. Lucias blickt nach himmelwärts. Die von Liv ist gerade richtig gebogen.»

«Und die Münder, sieh doch nur! Liv hat eine größere Unterlippe als Lucia.»

Sie vermaßen die Mädchen mit einem Schneidermaßband und stellten fest, dass sie auf den Zentimeter gleich groß waren.

«Ob sie Zwillinge sind?», fragte Runi laut.

Fria wiegte den Kopf hin und her. «Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Zumindest sehen sie aus, als wären sie gleich alt.»

«Ja», bestätigte Runi. «Nicht älter als eine Woche, würde ich sagen.»

«Sie müssen Schwestern sein, weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass zwei Mütter zur selben Zeit ihre gleich alten Kinder auf unserer Insel aussetzen und dann auch noch in den gleichen Sachen», fand Fria, und Runi gab ihr recht.

«Sie sollten als Schwestern aufwachsen. Als Schwestern mit unterschiedlichen Eltern. Wollen wir es so halten?»

«Ja, es sei denn, du gibst mir auch die kleine Lucia.» Fria hatte kaum gewagt, diese Bitte auszusprechen, denn sie hatte in Runis Augen Liebe entdeckt. Liebe zu diesem kleinen mutterlosen Mädchen.

Und schon schnellte Runi herum: «Wie kannst du so etwas fragen? Oder sollte ich lieber fragen, ob du mir nicht auch dein Mädchen gibst? Immerhin bin ich eine Mutter, die schon vier Kinder hat und Bescheid weiß, während du keine Ahnung davon hast, was ein Säugling alles braucht.»

Sie blickten sich an, die beiden Frauen, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Sie waren Löwinnen, obschon sie es noch nicht wussten. Sie waren bereit, ihre Mädchen zu verteidigen, komme, was da wolle.

Runi war die Erste, die sich ein Lächeln auf die Lippen zwang. «Es ist am besten so, wie es ist», fand sie. «Lass uns nur einander versprechen, die Mädchen so oft wie möglich zusammen spielen zu lassen. Sie sollen auch früh erfahren, dass sie Schwestern sind.»

Da lächelte auch Fria erleichtert. «Und wir feiern ihre Geburtstage gemeinsam. Was denkst du? Welchen Tag sollen wir als Geburtstag bestimmen?»

«Den Luciatag», schlug Runi vor. «Denn an diesem Tag sind sie zu uns gekommen, sind wir ihre Mütter geworden.»

Damit war Fria einverstanden.

Kapitel 2

Den ganzen ersten Monat schrie Liv jede Nacht durch. Fria hatte dunkle Ringe unter den Augen, und der Same versalzte das Essen vor lauter Müdigkeit. Sie gingen abwechselnd in der Gaststube auf und ab, sangen, streichelten, reichten Ziegenmilch mit Honig, doch das Kind schrie und schrie.

«Sie hat eine kräftige Stimme», erklärte der Same stolz. «Sie wird sicher einmal eine gute Sängerin.»

«Mir wär es lieb, ihre Stimme bliebe blass und leise», knurrte Fria, doch in diesem Augenblick hörte das Geschrei auf, und Fria säuselte: «Braves Schätzchen, brave Liv.» Sie wiegte das Kind – und sogleich begann es wieder zu schreien.

Von Lucia hörte man, dass sie die meiste Zeit über friedlich schlief. Runi bewegte sich auf sehr dünnem Eis, wenn sie versuchte, Fria gute Ratschläge zu geben.

«Gib ihr den Zipfel eines Taschentuchs, damit sie daran saugen kann», schlug die Pfarrersfrau vor.

Aber Fria schüttelte den Kopf. «Das klappt vielleicht bei deiner Lucia, meine Liv aber ist energisch und eigensinnig. Genau wie ich.»

Runi verschluckte die Bemerkung über leibliche Mutterschaft, die ihr auf der Zunge lag, und sparte sich sodann ihre Ratschläge. Frias Eigensinn war bekannt, nun schien er noch stärker geworden zu sein.

Als die Mädchen ein Jahr alt waren, konnte Liv bereits die ersten Schritte an Frias Hand laufen. Ihr Weg zog sie immer hinunter zum Meer. Und sie juchzte laut, wenn die Wellen ans Ufer schlugen. Als es Sommer wurde, gab der Same ihr einen alten Topf, einen Schöpflöffel und ein zerbrochenes Sieb zum Spielen, und Liv schaufelte Sand und Muscheln, winzige Würmer und glänzende Käfer in ihren Topf.

Ihr erstes Wort war «hav», so heißt das Meer auf Norwegisch. Das zweite Wort lautete «da», und Liv zeigte mit ihrem kleinen Finger hinauf zum Himmel, an dem die Vögel flogen. Und ihr drittes Wort war «ravn», und das kleine Mädchen zeigte stolz auf große schwarze Vögel, zumeist Raben und Krähen.

Als sie dreieinhalb war, lehrte der Same sie das Schwimmen. Fria, die selbst niemals einen Fuß ins Meer setzen würde, hatte Angst um Liv, die sich in jeder freien Minute am Ufer aufhielt. «Sie muss unbedingt schwimmen lernen. Sie hat ohnehin Meerwasser in ihren Adern, scheint mir. Ich komme um vor Angst, wenn sie mir entwischt und allein am Wasser spielt. Sie könnte ertrinken. Also, Same, bring ihr das Schwimmen bei.»

Eines Nachmittags brachen die beiden auf. Der Same erklärte Liv, wie sie die Arme und die Beine bewegen musste. Er hatte ein altes Ruder dabei und befestigte daran ein Seil. Das andere Ende schlang er um Livs Bauch. Die lief furchtlos ins handwarme Wasser, und als es ihr bis zur Brust reichte, stürzte sie sich in die Flut und schwamm, als hätte sie nie etwas anderes getan.

Der Same staunte. «Du bist ja eine Meerjungfrau», rief er ihr zu und hielt sie an dem Seil, obschon er sah, dass sie es nicht brauchte. Nach einer halben Stunde holte er das Kind aus dem Wasser, rubbelte es ab, doch Liv quengelte schon wieder: «Noch mal, noch mal.»

Der Same krempelte sich die Hosen hoch, verzichtete auf seine Schwimmhilfe und ließ Liv allein schwimmen. Sie schwamm wie ein Fisch, und als sie versuchte zu tauchen, lachte der Same.

Zu ihrem fünften Geburtstag bekam Liv eine Lupe. Und von diesem Tag an untersuchte sie alles, was sich bewegte und nicht bewegte. Sie untersuchte einen Tropfen Milch in der Küche. Sie brach ein Stück Brot und betrachtete es unter der Lupe. Sie brachte Würmer und Muscheln und Käfer vom Strand herbei und untersuchte auch sie. Dann zeichnete sie, was sie sah. Es entstanden ungeschickte Bilder, aber man konnte doch erkennen, was sie darstellen sollten.

Einmal stieg sie auf einen Felsen, um zu einem Rabennest zu gelangen. Sie stürzte ab und brach sich ein Bein. Kaum war das Bein verheilt, musste der Same sie von einem Baum retten, auf den sie hinauf-, aber nicht wieder hinabkam. Wieder hatte sie in ein Rabennest schauen wollen.

«Was hast du nur immer mit diesen grässlichen Totenvögeln?», wollte Fria von ihr wissen.

Liv zuckte mit den Schultern. «Sie sind meine Freunde.» Sie sagte das, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.

«Wie kommst du darauf?», forschte Fria weiter, und plötzlich fiel ihr ein, dass ein Rabe an ihr Fenster geklopft hatte, als Liv im Sturm vor ihrer Tür gelegen hatte.

«Ich kann mit ihnen reden.»

Fria stemmte die Hände in die Hüften. «Du kannst mit ihnen reden, ja?»

Liv nickte ernsthaft.

«Und mit den Möwen oder dem Eissturmvogel kannst du das nicht?»

Wieder nickte Liv, verwundert über diese Frage, wo die Antwort doch auf der Hand lag.

«Du sprichst also Norwegisch und Rabisch?»

«Ja.»

Fria drehte sich zum Samen um. «Hast du das gehört?»

Der Same nickte. «Es gibt Menschen, die die Tiere verstehen können», erklärte er mit großem Ernst. «Vielleicht gehört Liv dazu.»

«Und vielleicht kann ich nächste Woche schwimmen wie ein Hering», spottete Fria, schüttelte den Kopf und verließ die Küche.

Mit sechs Jahren kam Liv in die Schule und konnte zwei Wochen später lesen und schreiben.

«Wie hast du das gemacht?», wollte Fria wissen. «Wieso kannst du plötzlich schreiben?»

Wieder zuckte Liv mit den Schultern. «Ich kann auch bis einhundert zählen», erklärte sie und machte es sogleich vor.

Fria schüttelte den Kopf, doch am Abend prahlte sie voller Stolz am Stammtisch mit Livs Erfolgen.

 

Lucia ließ sich mit dem Laufen Zeit, dafür sprach sie besser als Liv. Mit gerade mal einem Jahr konnte sie die vier Jahreszeiten auswendig aufsagen, sechs Monate später das Vaterunser. Sie spielte gern mit Puppen, baute ihnen aus Gras und Stöcken kleine Unterkünfte. Sie liebte Kleider mit Schleifen und Rüschen, während Fria ernsthaft überlegte, ob eine Hose aus dickem Manchesterstoff nicht das Richtige für Liv wäre. Aber kein Mädchen trug Hosen, also verwarf sie den Plan wieder.

Lucia saß in der Schule meist brav an ihrem Pult, aber manchmal, wenn sie etwas ganz genau wusste, redete sie einfach drauflos, ganz gleich, ob sie dran war oder nicht. Sie war eine aufmerksame Schülerin, die sich jedoch nirgends hervortat, während Liv in den Naturwissenschaften glänzte und nur antwortete, wenn sie gefragt wurde. Einmal, die Mädchen waren wohl in der fünften Klasse, brachte Fischfabrikbesitzer Bjarni zwei Dutzend tote Heringe in die Schule. Die Kinder sollten sie ausnehmen und dabei lernen, wie Fische gebaut sind. Gespannt blickten alle auf Arni, ihren Lehrer, der das Tier am After aufschnitt und den Schnitt bis hoch zu den Kiemen führte.

Die Kinder taten es ihm nach. Lucia entgrätete den Fisch, als wollte sie ihn braten, genau wie sie es zu Hause bei Runi gesehen hatte. Liv aber untersuchte jedes Teilchen mit der Lupe, während die restlichen Kinder sich bereits anderen Dingen zuwandten.

Sie waren nicht nur Schwestern, sie waren auch Freundinnen. Alles, was Lucia durch den Kopf ging, erzählte sie Liv. Da waren die Neuigkeiten aus dem Pfarrhaus, die sie aus Runis Gesprächen aufgeschnappt hatte. «Der alte Wilm ist schwer gestorben, hat Runi erzählt. Das liegt wohl daran, dass er so lange nicht mehr in der Kirche gewesen war.»

«Denkst du, Gott hat Zeit zu schauen, wer am Sonntag in die Kirche geht?», zweifelte Liv.

«Gott sieht alles», erklärte Lucia und beschrieb Wilms Beerdigung.

Auch Liv erzählte, was sie erlebte und dachte: «Weißt du eigentlich, dass nachts andere Käfer am Meeressaum sind als am Tag? Und bei Regen andere als bei Sonnenschein? Und im Frühling andere als im Herbst? Aber die Raben wissen immer genau, mit welchen davon sie ihre Jungen füttern können.»

«Nein, weiß ich nicht. Was hat das zu bedeuten?»

«Dass die Natur sich ständig ändert, dass es immer etwas Neues zu entdecken gibt. Weißt du zum Beispiel, wie man junge Raben erkennt und sie von den alten unterscheidet? Die Jungen haben ein mattes Gefieder. Je älter sie werden, umso stärker glänzt es.»

«Aha. Und was machst du mit diesem Wissen?»

Liv zuckte mit den Schultern. «Was machst du mit deinem Wissen über die Beerdigung des alten Wilm?»

«Das interessiert mich, weil ich den alten Wilm kannte.»

«Nun, ich kenne alle Raben auf der Insel. Es sind genau vier Brutpaare und ungefähr ein halbes Dutzend Jungvögel.»

Lucia schüttelte verständnislos den Kopf. «Fehlt nur noch, dass du selbst einen Raben ausbrütest.»

Daran hatte Liv tatsächlich schon gedacht. Sie wollte ein Ei aus dem Nest der Raben stehlen, es in ihr Bett unter das Kopfkissen legen und beobachten, was geschah. Aber dann verwarf sie den Plan, weil Fria dem ganz sicher nicht zugestimmt hätte. Und außerdem wollte sie kein Rabenei stehlen, denn sie ahnte, dass die Raben es bemerken würden.

Kapitel 3

Liv stand mit den Füßen direkt am Wellensaum. Der Westwind peitschte ihr die langen Haare ins Gesicht, das Wasser spritzte hoch auf, bevor die Wellen krachend auf Liv zuschossen. Es roch nach Salz und Meer, nach Tang und Fisch. Der schönste Geruch, den Liv kannte. Über sich sah sie einen Eissturmvogel, der sich waghalsig auf das Wasser stürzte, mit dem Wind flog, als wären sie Gefährten, als gehörten sie zusammen. Der Eissturmvogel war ihr zweitliebster Vogel, obschon sie auch die Dreizehenmöwe, den Papageientaucher, den Basstölpel und die Trottellumme mochte. Aber kein Vogel kam an den Raben heran. Dabei sah er nicht einmal besonders hübsch aus, schwarz und geheimnisvoll wie er war. Raben waren etwas größer als Krähen, und Liv schätzte, dass die größten von ihnen ein Kilogramm wogen. Das Gefieder der Jungen war noch stumpf, erst nach ein paar Jahren begann es, blauschwarz zu glänzen. Einmal hatte sie einen verletzten Raben am Meeressaum gefunden. Sein Flügel war gebrochen. Behutsam hatte sie ihn aufgehoben und eine Kiste mit Moos gefüllt. Sie stellte die Kiste neben das Haus und schaute jeden Tag nach ihm. Der Same brachte Fischabfälle, und Liv hockte stundenlang vor der Kiste und betrachtete den Vogel. Sie wusste, dass er die meiste Zeit seines Lebens in der Luft verbrachte. Sie wusste, wo sein Schlafplatz war, und sie wusste sogar, dass er sich von einem Rabenweibchen gern den Kopf kraulen ließ. Sie blickte in seine dunklen Augen und versuchte, die Rufe der Raben zu imitieren, die glucksenden, gackernden Laute. «Rah arrg grah.» Doch der Vogel reagierte nicht, sondern pickte an dem Fischkopf. Stundenlang saß sie neben dem provisorischen Nest und hielt dem Tier Brotbröckchen hin. Und ihre Geduld trug Früchte. Nach nur sieben Tagen fraß ihr der Rabe aus der Hand. Und einmal, sie hatte sich aus der Küche ein gekochtes Ei stibitzt, da streckte er sich, schnappte ihr das Ei aus der Hand und verspeiste es mit großem Genuss.

«Weißt du, was das Lieblingsessen der Raben ist?», fragte Liv, als sie Lucia das nächste Mal traf. «Hart gekochte Eier.»

«Du spinnst ja», antwortete Lucia. «Raben fressen tote Tiere. Sie hacken ihnen die Augen aus und fressen sie.»

Zwei Tage später machte Livs Rabe, den sie «Kraja» genannt hatte, die ersten Flugversuche mit dem gebrochenen Flügel. Am dritten Tag flog Kraja bis zur nächsten Birke, am vierten Tag unternahm er einen Ausflug über das Meer. So weit, dass Liv nur noch einen schwarzen Punkt am Himmel sehen konnte. Und heute hatte er aufgeregt in seinem Nest gehockt und kollernde Laute von sich gegeben.

«Du bist also wieder gesund», sagte Liv, und Fria, die neben ihr stand, schüttelte den Kopf.

«Du willst fliegen, willst weg von hier.»

Der Rabe senkte den Kopf, als nickte er, dann spannte er die Flügel und erhob sich in die Luft. Liv und Fria blickten ihm nach, dann betrachtete Fria ihre Tochter ungläubig, schüttelte den Kopf und ging zurück ins Haus.

Der Rabe flog dicht über dem Meer, passte seine Höhe den Wellenbergen an. Liv konnte nicht unterscheiden, wo das Meer aufhörte und der Himmel begann, es schien ihr sogar, dass das Meer und der Himmel ineinander übergingen, nicht zu trennen waren. Über ihr jagte der Sturm die dicken grauen Wolken über den Himmel. Spitze Schneeflocken trieben waagerecht an ihr vorüber, stachen in die Wangen, setzten sich aufs Haar. Liv hob den Kopf, öffnete den Mund und schmeckte das Salz in der Luft. Dann breitete sie die Arme aus und schrie etwas, das nicht zu verstehen war, denn der Sturm riss ihr die Worte von den Lippen. Nie war sie glücklicher, nie fühlte sie sich freier als hier in der Natur, in der Nähe der Raben und des Nordmeeres. Sie liebte es, wenn das Meer still und wie eine silberne Tafelplatte vor ihr lag. Sie liebte die kleinen Wellen mit den Schaumkrönchen, die zu ihren Füßen flüsterten. Und sie liebte den Sturm. Ja, den liebte sie am meisten. Da war das Meer so gewaltig, so furchterregend, so kraftvoll, dass sie glaubte, seine Kraft würde auf sie übergehen, wenn sie nur standhielt.

Neben ihr tauchte der Schein einer Laterne auf. Der Same war gekommen, um sie zu holen. Aber erst stellte er sich neben Liv, blickte auf das brodelnde, tobende Meer, bog sich im Wind, lachte und schien so eins mit der See und dem Wind, als wäre er im Sturm geboren. Dann legte er Liv einen Arm um die Schulter, strich ihr über die nassen Wangen. «Komm ins Haus. Dein Rabe hat sich längst seinen Schlafplatz gesucht», sagte er. «Du bist nass und kalt, du wirst uns noch krank.»

Langsam, als könnten sie sich nicht von den Naturkräften trennen, liefen sie auf das Guesthuset zu. Auf der Schwelle schüttelten sie sich wie Hunde, strichen das Wasser von den Wachsjacken. Dann betraten sie die Schankstube, die aus einer hölzernen Theke mit einer polierten Messinghaltestange bestand und aus sechs Tischen. Fünf davon waren von je vier Stühlen umstanden, der Stammtisch aber war größer, hier fanden acht Personen Platz. Der Boden bestand aus dicken Dielenbrettern, und an der Wand, ebenfalls mit Holz vertäfelt, hingen ein paar gestickte Bilder. Sie hingen da, seit Liv denken konnte, und waren schon ein wenig vergilbt.

«Seestern, da bist du ja!», rief Bjarni, der Bürgermeister und reichste Bewohner der Inselgruppe Smøla und der einzige, der in einem Haus mit Ziegeldach wohnte. Sein breites Gesicht war gerötet, Nase und Ohren leuchteten, das dunkle Haar lag wie ein Luciakranz auf seinem Kopf. Er trug einen Anzug. Auch das als Einziger auf den Inseln. Schließlich war er nicht nur Bürgermeister, sondern auch Besitzer der Fischfabrik. Die Weste spannte über seinem Bauch, die goldene Kette der Taschenuhr war zum Zerreißen gespannt.

«Na, was macht dein Rabe heute?»

«Er ist wieder gesund», berichtete Liv. «Er ist zu seinem Schlafplatz in der alten Buche geflogen. Aber zuvor hat er eine Runde über dem Meer gedreht, er hat mit dem Sturm getanzt.»

Bjarni lächelte sie an. «Du und deine Raben. So etwas hab ich auch noch nicht erlebt.»

«Hast du wieder Zeitungen für mich?», fragte Liv, zog die Wachsjacke aus und blies in ihre eiskalten Hände.

«Aber ja, mein Seestern. Frisch aus Christiania.»

Er legte ein kleines Bündel auf den Tisch, und Liv strich behutsam mit der Hand darüber. «Ich werde sie gleich lesen.»

Dann begrüßte sie die anderen Männer, die allesamt ihre Freunde waren und beinahe jeden Abend im Guesthuset ihren Aquavit tranken. Da war Fenris, der Pfarrer, den sie als ihren Onkel ansah, denn er war der Vater ihrer Schwester Lucia. Dass sie Schwestern waren, das war nicht in Stein gemeißelt, aber Lucia und Liv waren in derselben Nacht gefunden worden, hatten ähnliche Kleidung getragen, und deshalb sah man sie als Geschwister an. Womöglich waren sie sogar Zwillinge, das behauptete Runi zumindest. Aber Liv glaubte das nicht. Sie waren einfach zu verschieden. Während sie groß und schlank war, mit dünnem rötlich braunem Haar und grauen Augen, war Lucia klein und gedrungen mit einem dicken hellblonden Zopf und blauen Augen. Auch im Wesen waren sie verschieden, aber sie verstanden sich gut, sie waren nicht nur Schwestern, sondern Freundinnen und saßen in der Schule nebeneinander. Liv lernte leicht und begeisterte sich sogar für Mathematik, während Lucia wundervolle Handarbeiten fertigen konnte.

«Hast du mir wieder ein Rätsel mitgebracht?», wollte Liv von Fenris wissen.

«Aber ja. Pass auf: Kannst du die Zahlenreihe fortsetzen? 1, 2, 6, 24 … Wie heißt die nächste Zahl?»

Liv hob die Augenbrauen und tippte sich mit einem Finger gegen das Kinn, dann lächelte sie: «Das ist einfach. 120 kommt nach der 24.»

Chrisander, der Fischer, der ebenfalls zur Abendrunde gehörte, riss erstaunt die Augen auf. «Wie hast du das rausgekriegt? Ich rätsele schon seit einer halben Stunde daran herum.»

«1×2=2, 1×2×3=6, 1×2×3×4=24, 1×2×3×4×5=120.»

Fria kam aus der Küche in die Gaststube. «Habt ihr es schon wieder mit den Rätseln?», murrte sie. «Ihr bringt mir das Mädchen nur auf dumme Gedanken. Ist so schon nicht einfach mit ihr. Anstatt wie andere Mädchen Kuchen essen, verschlingt sie ihre Bücher, wenn sie nicht gerade den Raben nachjagt. Mein Gott, wo soll das nur enden?»

Liv und der Same wechselten einen Blick, und der Same kniff kurz ein Auge zu, während Liv lächelte. Sie hörten diese Worte mindestens dreimal am Tag. Und sie wussten auch, wie es weiterging.

«Dass du mir nur nicht schlau tust, das ziemt sich nicht für ein Mädchen. Willst doch mal einen Mann bekommen. Hach!» Der letzte Seufzer kam aus der Tiefe ihrer Brust. «Jetzt iss erst mal was.» Fria eilte zurück in die Küche und kam mit einem dampfenden Teller und einem Stück Brot zurück. Liv dankte, dann widmete sie sich ihren dicken Bohnen mit großem Appetit, brach das Brot in kleine Bröckchen und steckte diese in ihre Rocktasche.

«Fräulein, was habe ich gesagt?» Fria baute sich neben ihr auf. «Also?»

«Ich soll mein Brot essen und es nicht für die Raben aufheben», wiederholte Liv den Spruch wie an jedem Abend.

«Und was machst du stattdessen?»

Liv zuckte mit den Schultern, blickte Fria von unten her an und wagte ein winziges Lächeln.

«Dieses Kind bringt mich noch an den Rand des Wahnsinns», erklärte Fria daraufhin, und ebenfalls wie an jedem Abend ging sie in die Küche und kam mit einem neuen Stück Brot zurück. «Das isst du jetzt», befahl sie und schmierte dick Butter darauf.

Und Liv aß das Brot, ehe sie sich den Zeitungen zuwandte. Doch schon wieder störte Fria sie auf. «Es gibt noch genug abzuwaschen in der Küche. Wer isst, muss entweder arbeiten oder bezahlen.»

Auch diesen Satz hörte Liv jeden Tag, aber sie stimmte Fria zu. Also erhob sie sich, spülte das Geschirr, schrubbte Töpfe und Pfannen und seifte die Arbeitsplatte ordentlich ein. Dann trocknete sie das Geschirr ab und stellte es sorgfältig in den Schrank zurück.

«Darf ich jetzt?», fragte sie.

Fria, die inzwischen mit dem Samen bei Bjarni, Fenris und Chrisander am Stammtisch saß, nickte.

Während Liv die Zeitungen zum Nachbartisch trug, hörte sie die Männer und Fria reden. Es ging um den Lehrer Arni, der heute nicht kommen konnte, weil er nach Trondheim gefahren war. Bjarni hatte ihn geschickt.

«Ich denke, auf dem Amt gibt es da keine Probleme», erklärte Bjarni. «Der Bürgermeister von Trondheim und ich, wir kennen uns schon seit Ewigkeiten.»

«Der Bürgermeister entscheidet aber nicht, ob Arni auf Smøla Unterricht bis zum Examen artium geben darf. Wenigstens die Prüfungen müssen wohl auf dem Festland abgehalten werden. Und so viele Jugendliche, die für die höhere Bildung infrage kommen, gibt es hier auch nicht», gab Fenris zu bedenken.

«Eine Handvoll sind es schon», beharrte Bjarni. «Es heißt immer, die Insulaner in Norwegen wären ungebildet und verstockt. Wird Zeit, dass sich das ändert. Meine beiden Söhne sind jedenfalls dabei. Und Fenris, du schickst deine Jungs doch bestimmt auch? Oder?»

«Das ist der Plan, ja.»

«Ich möchte auch dabei sein», rief Liv dazwischen. «Ich möchte auch dieses Examen machen.»

Chrisander lachte los, während Fria den Kopf schüttelte und einen weiteren tiefen Seufzer ausstieß. «Das fehlte mir gerade noch. Du hast eh schon mehr Dinge im Kopf als die anderen Mädchen. Das kann später keine Frau brauchen.»

Bjarni jedoch, der stets eifrig bemüht war, den Ruf der Insulaner aufzubessern, fragte: «Warum eigentlich nicht? In Christiania gibt es eigene Schulen für kluge Mädchen. Und unser kleiner Seestern ist klug.»

Die Männer starrten allesamt zu ihr hinüber. Liv schluckte und wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. «Ich würde gern dieses Examen machen», wiederholte sie leise.

«Wozu? Wozu in aller Herrgotts Namen?» Fria warf die Hände in die Luft. «Kannst du mir das vielleicht mal erklären?»

Auch Chrisander blickte verwundert zu Liv und dann in die Runde. «Was soll sie denn mit einem solchen Examen? Hier auf der Insel?»

«Sie könnte Lehrerin werden. Arni ist ja auch nicht mehr der Jüngste», stellte der Bürgermeister fest.

Der Same sagte nichts, aber er lächelte. Er war Livs bester Freund. Ihm fühlte sie sich nahe, von ihm fühlte sie sich verstanden.

«Ich möchte studieren», erklärte sie mutig.

«Hat man so was schon gehört?» Wieder warf Fria die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf. «Willst am Ende noch Ärztin werden, was? Da würde keiner hingehen. Eine Frau als Ärztin! Nicht mal an ihre Schafe würden sie dich lassen.» Sie war wirklich verzweifelt. «Und wer führt dann das Guesthuset, wenn ich einmal nicht mehr bin?»

Auch diese Frage bewegte Fria. «Wer soll dir zeigen, wie man eine Soße macht, wenn ich einmal nicht mehr bin?