6,99 €
1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
Die Fahrt des Jahrhunderts wird zur Fahrt ins Ungewisse
April 1912: Die majestätische Titanic bricht zu ihrer Jungfernfahrt auf und die ganze Welt verfolgt den historischen Moment. Die junge Anaïs Cidane begibt sich ganz allein auf die Überfahrt nach New York, die einen Neuanfang für sie bedeuten soll. Sie kann ihre Vergangenheit jedoch nicht lange hinter sich lassen, denn an Bord geschieht ein Mord.
Anaïs, die bereits mit der französischen Polizei gearbeitet hat, will den Fall aufklären. Zusammen mit der Stewardess Viona begibt sie sich für ihre Ermittlungen über die Grenzen von Reichtum und Klasse hinaus. Als sie dunklen Verstrickungen auf die Spur kommt, steht plötzlich nicht nur ihre eigene Sicherheit auf dem Spiel, sondern auch das Leben ihrer Mitreisenden.
Inmitten von Intrigen und Leidenschaft wird das Schicksal der Titanic zu einem Wettlauf gegen die Zeit …
Der historische Kriminalroman “Tod auf den Wellen” ist die komplett überarbeitete Neuauflage von “Bis ans Ufer” (erschienen 2020) von Sophie Heinig.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Verlag:
Zeilenfluss
Werinherstr. 3
81541 München
Deutschland
_____________________________
Texte: Sophie Heinig
Cover: Giusy Ame/Magcicalcover.de
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss Verlag
_____________________________
ISBN: 978-3-9671-4425-3
_____________________________
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für J, A und S.
Cherbourg (Nordfrankreich)
10. April 1912, früher Abend
Wolken verschleierten den dämmrigen Himmel, und ein kühler Wind wehte vom Meer her, als die junge Frau über den Steg lief.
Sie war keineswegs die Letzte, ein Chauffeur hatte sie pünktlich in einer Limousine vorgefahren und am Eingang des Hafens abgesetzt. Von dort waren es nur wenige Schritte zu den Booten, die sie auf das große Schiff bringen würden.
Für einen Moment sah sie sich um, als täte es ihr leid, die Küste zu verlassen. Gedankenverloren spielte sie mit dem schmalen Ring an ihrem Finger. Dann seufzte sie und betrachtete das Schiff außerhalb des Hafens. Nach einem kurzen Zögern schirmte sie die Augen mit der Hand ab, obwohl die Sonne sie nicht blendete.
»Mademoiselle?«
Sie schreckte auf. Der Schiffsjunge, der ihr Gepäck von ihrer Limousine abgeholt und auf eines der kleinen Boote gebracht hatte, sah sie respektvoll an.
»Wenn Sie so weit sind, können Sie auf ein Boot gehen. Wir sollten bald ablegen.«
Seine Stimme und sein Auftreten waren jungenhaft, die Kleidung verschlissen und notdürftig geflickt.
»Gib mir nur noch einen Moment.«
Sie schaute wieder auf das Schiff.
Vier gelbe Schornsteine mit dunklen Kappen hatte es, aus den drei vorderen quoll dichter Rauch.
Die Frau seufzte schwer, während sie sich umdrehte und ihren Blick noch einmal über das Hafengebäude und die dahinter liegenden Dächer der Stadt schweifen ließ. Im schummrigen Licht konnte sie sie nur erahnen. Sie müsste nur wieder in die Limousine steigen und sich zurückfahren lassen. Olivier würde das verstehen. Dabei hatte er sich solche Mühe gegeben, diese Reise für sie beide zu organisieren.
Wenn er bloß hier wäre …
Irgendwo abseits der qualmenden Fabriken und verrußten Straßen Cherbourgs stand das prunkvolle Hotel in der Rue de Général, in dem Olivier sie noch vor wenigen Stunden verabschiedet hatte. Die weißen Gardinen hatten im warmen Frühlingswind geweht.
Es waren kaum mehr vier Wochen, bis sie in die prächtige Villa in Quimper zögen. Das waren seine Worte gewesen. Das schaffte sie schon, da war sie sich sicher. Und bis dahin würde sie ihre Reise genießen, wie sie es ihm versprochen hatte.
Mit einem etwas gezwungenen Lächeln strich sie ihr geliebtes weißes Kleid glatt. Es war aus leichten irischen Leinen gefertigt und um das Dekolleté mit goldenen Blüten bestickt. Dann rückte sie den Strohhut zurecht, zog den Reisemantel etwas enger um ihren Körper und wandte sich wieder dem Schiffsjungen zu.
»Ich denke, ich bin so weit.«
Ihr Herz pochte, als er ihr die Hand reichte, um ihr in das schaukelnde Boot zu helfen.
Hafen von Cherbourg, 18.47 Uhr
Liebster Olivier,
Ich fühle mich ein wenig unwohl, dir diesen Brief zu schreiben, obwohl ich noch heute Morgen bei dir war. Als würde uns schon jetzt der Atlantik voneinander trennen. Aber es kommt mir fast so vor, als könnte ich dadurch mit dir reden; nur dass ich deine warme Stimme nicht höre.
Ach, wenn du wüsstest, wie sehr ich dich vermisse. Dabei sind gerade einmal – ich sehe es auf der Uhr - sechseinhalb Stunden vergangen, seitdem du mich verabschiedet hast. »Mein Stern«, hast du mir zugeflüstert, und ich musste die ganze Zeit an unsere erste Begegnung denken, als du sagtest, meine Augen würden wie die Sterne strahlen. Damals fand ich es kitschig, und irgendwie finde ich es immer noch.
Aber was würde ich nicht dafür geben, dass du es in diesem Moment noch einmal in mein Ohr flüsterst. Wenn du doch jetzt hier wärst!
Ich merke schon, dass es diese ganze Rührseligkeit nicht besser macht. Vielleicht war dieser Brief keine gute Idee – es ist lächerlich, oder? Aber es kommt mir vor, als könnte ich dadurch meine Gedanken ordnen, wie jedes Mal, wenn ich mit dir spreche. Dann also zurück zum Wesentlichen, wie Emmanuel immer zu sagen pflegt.
Im Moment sitze ich auf einem der sogenannten Tender, der Versorgungsboote, die uns zu dem Schiff bringen – sie sehen aus wie niedliche, kleine Modelle davon –, und genieße die salzige Luft. Es ist ein harmonischer Ausblick auf den Kanal, obwohl es um mich herum sehr laut ist.
Ich bin schon gespannt auf die Kabine und all die Angebote, die es geben soll: das Restaurant, dieses ›Café Parisienne‹, von dem wir in dem Prospekt gelesen haben, das Türkische Bad, das Schwimmbecken und der Gymnastikraum – und das alles auf einem Schiff!
Es muss noch viel, viel prächtiger sein als das Hotel, in dem wir übernachtet haben. Auch wenn ich es immer noch übertrieben finde, in unserem Alter an so etwas Prestigeträchtigem teilzunehmen – die Jungfernfahrt eines Kreuzers der Olympic-Klasse, ich bitte dich!
Mir hätte eine gemeinsame Fahrt nach unserer Hochzeit besser gefallen, aber im Leben kann man sich eben nichts aussuchen. Und eine Reise mit dir nach Venedig zu unternehmen, wie du vorgeschlagen hast, fände ich fantastisch.
Ja, ich kann es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Kannst du dir vorstellen, dass es nur noch wenige Wochen, ja, nur noch Tage, bis zu unserer Hochzeit sind? Am siebzehnten April landen wir in New York, drei Tage später beginnt die Rückreise – und ehe ich mich versehe, bin ich wieder bei dir.
Und ganz sicher werde ich die Zeit bis dahin auch ohne dich genießen, wie ich es versprochen habe …
Ich muss einen Schlussstrich ziehen, wir scheinen jeden Moment an dem Dampfer anzulegen, und das will ich unbedingt sehen.
Tausend Küsse
Anaïs
Anaïs blieb die Luft weg, als sie sich in dem großen Empfangssalon umblickte.
Mehrere hundert Leute, ihren eleganten Kleidern und Anzügen nach zu urteilen alles Passagiere der ersten Klasse, standen um sie herum versammelt. Ehrfürchtig gedämpfte Gespräche erfüllten den Saal.
Stillschweigend und mit leicht geöffnetem Mund versuchte sie, die Schönheit des Raumes zu erfassen, während sie sich langsam um die eigene Achse drehte. Die hohe Decke, der mit weichem Teppich ausgelegte Fußboden, das glitzernde Licht … Der Salon war gefüllt mit einer Wärme, wie sie keine Heizung erschaffen konnte.
Wenige Meter von ihr entfernt befand sich eine breite Treppe, die von einer gigantischen Glaskuppel überspannt wurde. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt.
Obwohl Anaïs in reichen Verhältnissen aufgewachsen und viel herumgekommen war, konnte sie sich nicht erinnern, jemals einen so atemberaubenden Salon gesehen zu haben.
Doch je länger Anaïs in dem Empfangsraum stand, desto schwindliger wurde ihr. Die gesamte Pracht schien sie zu erdrücken; die Luft war warm und zum Schneiden dick, gefüllt mit dem Duft exquisiter Parfüms aus aller Welt und dem Geruch nach Schweiß.
Unauffällig stützte sie sich an dem Geländer der Treppe ab und stieg langsam hinauf. Währenddessen rief sie sich in Erinnerung, was ihr der freundliche Steward beim Eintreffen an Bord erzählt hatte. Demnach lag der Empfangssalon auf dem D-Deck, einem der sechs Decks der ersten Klasse, während ihr Zimmer auf dem B-Deck lag. Die Treppe unter dem ersten und zweiten Schornstein, auf der sie lief, verband alle Decks miteinander.
Auf dem C-Deck angekommen, lehnte sich Anaïs ein wenig über die glatte Brüstung und betrachtete das Treiben im Salon. Hier oben war die Luft besser und kühler, sodass sie den Ausblick genießen konnte.
Gut tausenddreihundert Passagiere aller Schichten, vornehmlich Engländer und Amerikaner, sollte das Schiff beherbergen, darunter in der ersten Klasse namhafte Geschäftsleute, Bankiers, Millionäre und Präsidenten wichtiger Unternehmen – und sie mittendrin, Anaïs Cidane.
Geistesabwesend befühlte sie die aufgesteckten Haarsträhnen an ihrem Hinterkopf und betrachtete die Leute, von denen sie einige aus den Zeitungen kannte. Inmitten einer kleinen Menge meinte sie den amerikanischen Schriftsteller Jacques Futrelle zu erkennen, der angeregt mit einer Dame mittleren Alters sprach, wohl seiner Frau Lily Peel. Einige Meter weiter stand Elsie Bowerman, eine bekannte britische Frauenrechtsaktivistin, mit einem Glas in der Hand und beobachtete die anderen Gäste konzentriert.
Wäre Olivier hier gewesen, hätte er sie sicher einigen vorgestellt, doch für sie allein war das unmöglich. Wie gerne würde sie sich mit diesen Leuten unterhalten; mit den Schriftstellern und Frauenrechtlerinnen und Bankiers, obwohl sie deren Bücher nicht kannte, sich kaum mit Frauenrechten beschäftigte und das Bankenwesen sie nicht interessierte.
Mit einem Mal kam sie sich auf dem riesigen Schiff, nur wenige Meter über der Menschenmenge, schrecklich allein vor. Verdammt, wenn Olivier doch hier gewesen wäre!
Für einen Moment schloss sie die Augen, holte tief Luft und öffnete sie dann wieder.
Stirnrunzelnd trommelte sie mit ihren Fingerspitzen auf dem polierten Geländer aus Eichenholz. Was war bloß los mit ihr? Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen Mann gebraucht, um sich in einer Gesellschaft wohlzufühlen; das schaffte sie für gewöhnlich allein. Die vergangenen Monate mit Olivier hatten daran nichts geändert.
Da trug man einen silbernen Verlobungsring am Finger und die Gedanken an die bevorstehende Hochzeit im Herzen, und schon wurde man sesshaft und traute sich ohne seinen Verlobten in keine Gesellschaft mehr! Das war ja erbärmlich.
Aber nicht mit ihr!
Anaïs setzte ein Lächeln auf, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg, die Treppe hinauf, in ihr Zimmer. Heute Abend würde sie schon jemanden finden, mit dem sie reden konnte. Unter den Passagieren der ersten Klasse sollten einige spannende Persönlichkeiten weilen. Vielleicht traf sie Edith Rosenbaum wieder, die in Paris ein Modegeschäft führte und nebenbei fantastische Berichte für Women’s Wear Daily schrieb. Vor anderthalb Jahren waren sie sich auf einer Modenschau begegnet, womöglich erinnerte sich Edith noch daran.
Oder sie lernte endlich Dorothy Gibson kennen, die amerikanische Schauspielerin, die mit an Bord war. Oder oder oder …
Fest stand, sie würde einen einmaligen Abend haben.
B-38
Einige Atemzüge lang betrachtete Anaïs die goldene Schrift an der Kabinentür, bevor sie einatmete und sie aufstieß.
Staunend sah sie sich um.
Kabine B-38.
›Kabine‹ war kein Wort für das, was sie vorfand. Aber so groß, wie sie insgeheim nach dem Anblick des prächtigen Salons erwartet hatte, war der Raum auch nicht. Links neben der Tür befand sich ein breites Himmelbett mit dichten Vorhängen. Rechts von ihr gab es zwei bequem wirkende Sessel an einem niedlichen Tischlein mit zwei schlanken Sektgläsern und einer Flasche Dry Monopole 1900 von Heidsieck, einem Champagner erster Güte. Dahinter waren zwei Marmorwaschbecken mit goldenen Hähnen und ein Schrank in die Wand eingelassen.
Zwei mannshohe Spiegel ließen das Zimmer größer wirken. Insgesamt war alles in Burgunder gehalten, von den Polstern der Sessel über die Vorhänge des Bettes bis zu der edlen Tapete. Das dunkle Holz der Möbel und des Wandsockels passte ausgezeichnet dazu und vollendete alles zu einer eleganten Bequemlichkeit, die man kaum in Worte fassen konnte.
»Mademoiselle Cidane?«
Zu Anaïs’ Verblüffung öffnete sich mit einem Mal ein Teil der verzierten Wand, der sich als Tür herausstellte, und eine blasse, junge Frau trat in das Zimmer.
»Bonsoir, Mademoiselle«, begrüßte sie Anaïs und fuhr in schlechtem Französisch fort: »Verzeihen Sie mir, aber ich dachte, Sie wären noch unten bei den anderen Gästen und würden erst in einigen Minuten heraufkommen.«
Die Frau eilte an den Tisch, ließ den Korken der Champagnerflasche knallen und goss die goldsprudelnde Flüssigkeit in eines der Gläser, das sie Anaïs reichte.
»Monsieur Runné geht nicht mit uns auf Reise, wurde mir gesagt. Daher haben wir Ihnen eine Kabine ohne Durchgangstür zugewiesen. Da Sie ohne ein Dienstmädchen reisen, werde ich Ihnen zur Verfügung stehen, sooft Sie mich brauchen.«
Ein sanftes Lispeln durchzog ihre Stimme.
Anaïs nickte und betrachtete die zierliche Frau mit den Sommersprossen auf den hervortretenden Wangenknochen. Sie trug die typische Kleidung einer Stewardess, eine mitternachtsblaue Bluse mit hellen Punkten und eine blütenweiße Schürze über dem ebenfalls blauen Rock.
»Wir können Englisch sprechen, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte Anaïs. »Mein Verlobter hat viele Geschäfte zu erledigen, weshalb er leider nicht hier sein kann.«
Sie seufzte unmerklich, trank einen Schluck Champagner und genoss das Prickeln in ihrem Mund.
»Mein Name ist Viona Parish.« Erleichterung sprach aus ihrer Stimme, als sie ins Englische wechselte. In ihrer Muttersprache hatte sie einen niedlichen südenglischen Akzent.
Anaïs setzte das Glas wieder an die Lippen.
»Sagen Sie«, fuhr Viona schüchtern fort. »Sie kommen mir sehr bekannt vor. Darüber habe ich mir gestern schon Gedanken gemacht, als ich die Kabine vorbereitet habe. Anaïs Cidane … Sie wurden nicht zufällig in der letzten Zeit in den lokalen Zeitungen erwähnt?«
Anaïs lächelte verschmitzt und bedeutete ihr, sich zu setzen. Viona tat, als würde sie es nicht bemerken.
»Doch, aber das war vor mehr als einem Jahr.«
»Richtig, ich erinnere mich wieder.« Viona legte den Kopf etwas schräg. »Die Geschichte hat für viel Aufruhr gesorgt. James Blurr war der Name, nicht wahr? Der Geschäftsmann?«
»Jack, wenn ich mich nicht täusche«, sagte Anaïs, irritiert, dass sie immer noch standen. Doch die Stewardess machte weiterhin keine Anstalten, sich niederzulassen.
»Ja, genau, Jack Blurr. Eine verrückte Geschichte.«
Viona strich sich kopfschüttelnd eine Strähne hinters Ohr, obwohl sich kein einziges Haar aus ihrem strengen, brünetten Dutt gelöst hatte.
Jack Blurr war ein Geschäftsmann aus dem Süden Englands gewesen, den man dort seit Wochen vermisst hatte, bevor er in einem kleinen Kanal im Pas du Calais im Norden Frankreichs wieder aufgetaucht war. Mit einem tiefen Schnitt in der Kehle.
Er hatte keinerlei Verbindungen nach Frankreich gehabt, noch von einer bevorstehenden Reise gesprochen. Tatsächlich hatte ihn ein Mann entführt, die Lösegeldforderungen aber an eine falsche Adresse gesandt und Blurr aus Wut später ermordet. Der Fall hatte selbstverständlich auch in den englischen Lokalzeitungen Wellen geschlagen.
»Es ist schon eine Weile her.« Viona riss sie aus den Gedanken. »Ich habe mich immer gefragt, wie eine Frau dazukommt, hinter Mördern herzujagen.«
»Sie klingen ja, als wäre das mein tägliches Brot.« Anaïs lachte. »Mein Bruder Emmanuel ist ein Commissaire bei der nordfranzösischen Polizei«, sagte sie. »Nach dem Tod meines Vaters hielt er mich für zu alt, um bei einer Pflegefamilie zu wohnen, und zu jung, um sofort zu heiraten. Außerdem wollte er mich in seiner Nähe wissen, er ist sehr … fürsorglich. Also wohnte ich in seiner schrecklichen Junggesellenwohnung. Und als ich es irgendwann dort nicht mehr aushielt, nahm er mich gut zwei Jahre lang mit auf seine Arbeit. Ursprünglich nur, um mich beschäftigt zu wissen und mir das Schreibmaschineschreiben beizubringen. Aber ich konnte ihm das eine oder andere Mal helfen, wenn ein Mörder gesucht wurde. Man kommt dabei unheimlich viel herum. Ich habe in den letzten Jahren in so vielen Regionen gelebt: Pas du Calais, Eure, Sarthe, Côtes du Nord, Oise …«
»Finden Sie das nicht etwas grausam von Ihrem Bruder, Mademoiselle?«, fragte Viona zurückhaltend, beinah mütterlich. »Immerhin sind Sie wohl noch keine zwanzig Jahre und diese ganzen Gewalttaten …«
Anaïs hob das Kinn etwas.
»Er hat mich nicht gezwungen«, sagte sie. »Ich bin gerne mitgekommen. Wir haben eine enge Bindung.«
Die Uhr an der Wand schlug zweimal. Viona zuckte zusammen und sah sich hilfesuchend um.
»Herrje, jetzt habe ich mich verplappert«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich muss weitermachen, bevor die anderen Gäste auf ihre Zimmer kommen. Wir sind ohnehin schon verspätet, weil wir im Hafen von Southampton einige Probleme hatten. Es war nett, Sie kennenzulernen. Wenn Sie noch etwas brauchen, wenden Sie sich an einen der Stewards, die sind überall, oder nutzen Sie den Schalter neben der Tür – der aktiviert eine Klingel in unserem Aufenthaltsraum, dann weiß ich, dass Sie mich rufen. Genießen Sie die Überfahrt. Natürlich, das habe ich ganz vergessen: Im Namen der White Star Line heiße ich Sie herzlich willkommen auf der Titanic.«
* * *
Nachdenklich betrachtete sich Anaïs im Spiegel.
Ihr Blick glitt über die schmale Taille, die geschwungenen Hüften und den ausladenden Busen. Olivier meinte immer, sie habe den perfekten Körperbau. ›Gibson-Girl‹ nannte man das in Amerika und neuerdings auch in Europa.
Abwesend zupfte sie an dem Band aus unechten Blumen in ihrem lockigen, blonden Haar.
Sie blickte oft prüfend in den Spiegel und sah sich doch ungern länger selbst an, denn nach einer Weile wanderte ihr Blick immer zu der Narbe an ihrem Kinn, als würde ihn eine unsichtbare Kraft anziehen. Nicht einmal Olivier hatte sie je die Herkunft dieses Makels verraten, den sie mehr als alles andere an ihrem Körper hasste. Er war wie ein Riss in ihrem Gesicht und in ihrer Seele, dabei war er kaum länger als ihr kleiner Finger und für gewöhnlich kaum zu sehen. Und doch verabscheute sie ihn, weil sie sich selbst verabscheute, kaum dass ihr Blick auf die Narbe fiel.
Seufzend tauchte sie zwei Finger ihrer rechten Hand in ein Töpfchen mit Lippenfarbe und trug sie auf die schmalen Lippen auf.
Für den Abend hatte sie ein leuchtendes Kleid aus blauem Seidenbrokat angezogen, das mit kleinen Glasperlen verziert und an der Taille mit einem Perlengürtel mit drei Quasten an jeder Seite befestigt war. Auf Schmuck verzichtete sie fast komplett, ebenso wie auf einen der übergroßen modischen Hüte, die eine noch so hübsche Frau wie einen gerupften Vogel aussehen ließen.
Kopfschüttelnd wandte Anaïs den Blick von dem mannshohen Spiegel und verließ ihre Kabine. Wem musste sie heute Abend schon gefallen?
Die perlende Klaviermusik, die aus dem Empfangssalon kam, war schon von Weitem zu hören. Der Raum, der mit den Hunderten von Gästen bei ihrer Ankunft nicht besonders klein gewirkt hatte, strahlte jetzt in voller Größe. Dumpfes Gemurmel mischte sich mit den zarten Klängen eines eleganten, schwarzen Flügels. Einige Grüppchen standen auf dem auffällig gemusterten Teppich des Salons, manche Paare saßen auf den vielen Stühlen, die um die niedrigen Tische verteilt waren.
Ein wenig unschlüssig, ob es unhöflich war, sich einfach zu irgendwem zu stellen, beobachtete Anaïs die Menge. Doch dann drehte sich eine schon etwas in die Jahre gekommene Frau mit dunkelblonden Haaren um, erblickte sie und winkte sie mit einem Nicken heran.
»Sie müssen doch wirklich nicht so allein herumstehen«, sagte sie und machte Anaïs Platz, damit sie sich in die kleine Runde stellen konnte, die aus ihr und zwei Männern bestand. »Ich bin Lucy Duff-Gordon.«
»Anaïs Cidane. Ich liebe Ihre Kleider! Freut mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen.«
Lady Lucy Duff-Gordon hatte nach der Trennung von ihrem ersten Mann begonnen, sich den Lebensunterhalt durch das Schneidern von Dessous, Accessoires und unvergleichlichen Kleidern zu verdienen. Damit hatte sie sich nicht nur in Großbritannien einen Namen gemacht, vor einem Jahr hatte sie in Paris ein Modegeschäft für die Haute Couture eröffnet, und auch Anaïs besaß zwei sündhaft teure Stücke aus ihren Kollektionen.
Der ältere der beiden Herren stellte sich als Lucys Ehemann, der schottische Fecht-Olympiasieger und Großgrundbesitzer Cosmo Duff-Gordon, heraus, dem sie den Eintritt in die gehobene Gesellschaft zu verdanken hatte. Eine Weile plauderten sie unverfänglich über die aktuelle Damen- und Herrenmode, Lucys neueste Kreationen und ihre Schwester Elinor Glyn, eine umstrittene Schriftstellerin, die vor einigen Jahren mit ihrem Buch Three Weeks einen Skandal ausgelöst hatte. Anaïs überspielte gekonnt, dass sie zuvor noch nie davon gehört hatte. Lucy ging mit dem Thema offen um, mokierte sich gar über die darin vorkommenden sexuell anzüglichen Szenen und verriet einige Details über His Hour, die Fortsetzung, die in diesem Jahr erscheinen sollte.
Irgendwann zog sich das Paar zurück. Übrig blieben Anaïs und der jüngere der beiden Männer, der sie so interessiert musterte, dass ihr Nacken zu brennen begann. Fast seufzte sie erleichtert auf, als er sich nach dem Kellner umwandte und ihr Sekunden später ein Glas mit Champagner in die Hand drückte.
»Eric Norwood.«
Er lüftete den Zylinder. Als sie seine tiefe, weiche Stimme hörte, bemerkte Anaïs, dass er bis jetzt noch kein Wort geredet hatte.
»Anaïs Cidane.«
»Ein außergewöhnlicher Vorname, Miss Cidane.«
»Er stammt aus dem Hebräischen, von Hannah, der Mutter Marias.«
»Sind Sie so gläubig?«
»Nein, aber ich habe mir den Namen auch nicht selbst gegeben.«
»Trotzdem bemerkenswert. Wollen wir uns setzen?«
Anaïs hob gleichgültig die Schultern. Obwohl ihr sein stechender Blick immer noch unangenehm war, folgte sie ihm zu zwei bequemen Stühlen, auf denen sie sich niederließen.
»Sie kommen aus Frankreich?«, fragte Eric Norwood und musterte sie kurz.
»Ich wurde in Colombes geboren. Heute heißt es Bois-Colombes. Der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, wurde 1896 von Colombes getrennt. Das wird Ihnen nichts sagen … Es liegt in der Region Parisienne.«
Anaïs wusste nicht, warum die Worte so ungeordnet aus ihr herausgestolpert waren. Er war ihr unangenehm, dieser Eric Norwood. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, während sie ihn weiter beobachtete.
Er sah gut aus für seine wohl knapp dreißig Jahre, sicher lagen ihm die Frauen in seiner Heimat zu Füßen. Seine kurzen, dunkelbraunen Haare hatte er mit viel Fett am Kopf befestigt, der Zweifingerbart war tadellos gepflegt. Unter seinem unauffälligen Sakko ließen sich muskulöse Arme erahnen; das Hemd war einen Knopf zu weit offen. Am beeindruckendsten war der durchdringende Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen, um die sich niedliche, kleine Falten bildeten.
Er war ein Frauenschwarm, ein Charmeur, und Anaïs ärgerte sich, dass ihr das so schnell auffiel.
»Und Sie?«, fragte sie, um sich aus den Gedanken zu reißen.
»Ich? Ich wohne zurzeit in Maidstone.«
Anaïs nahm einen Schluck Champagner und wartete, dass er weitersprach.
»Erzählen Sie mir doch etwas über sich, Miss Cidane.« Seine Augen schienen zu funkeln. »Sie sind eine eindrucksvolle junge Dame.«
Vielleicht war es sein Blick oder die Art, wie er sich scheinbar interessiert nach vorn neigte, die Brust herausstreckte, sich selbstvergessen über das Haar strich und den Finger an die schmalen Lippen legte. Mit einem Mal musste Anaïs lachen.
»Sie brauchen sich keine Mühe zu geben, Mr. Norwood.« Sie hielt ihre linke Hand in die Luft. »Ich bin bereits vergeben. Sie brauchen nicht zu versuchen, mich zu verführen, oder was auch immer Sie gerade tun.«
Einen Moment war es unangenehm still, dann stimmte Eric in ihr Lachen ein und ließ sich gegen die Stuhllehne zurückfallen.
Scheinbar wollte er die Chance nutzen, hier die eine oder andere Frau zu betören. Das machte er sicher nicht zum ersten Mal, und in der ersten Klasse der Titanic würde er an reichen und schönen Damen genug Auswahl haben.
Aber immerhin war er hinreichend anständig, seine Niederlage einzusehen.
»Ob Sie es glauben oder nicht, Sie sind die Erste, die mich so schnell abweist«, sagte er grinsend. Er setzte sein Glas an die Lippen, schien einen Moment zu überlegen und schluckte dann. »Ein bemerkenswerter Ring übrigens. Ich hoffe, der, für den Sie ihn tragen, ist es wert. Sie sind noch sehr jung.«
»Ich bin neunzehn Jahre alt. Und sein Name ist Olivier Runné, und er ist es wert.«
Für einen Moment betrachtete sie den zarten Ring mit dem Diamanten und dem Saphir, die sich wie Blätter um ihren schmalen Finger rankten.
»Runné …«, wiederholte Eric, als fragte er sich, woher er den Namen kenne.
»Sein Vater ist ein – wie sagt man – ein Textilmogul. Wir sind seit Kurzem verlobt. Also Olivier und ich. Nicht der Vater.«
»Älter als Sie?«
»Der Vater? Deutlich.«
Eric lachte, wobei der Champagner in seinem Glas gefährlich umherschwappte.
»Mein Verlobter ist achtundzwanzig.« Anaïs glaubte, einen Funken Verwunderung in seinem Blick zu erkennen. »Sie sind doch auch nicht jünger.«
»Dreißig Jahre«, gestand er ohne eine Spur Verlegenheit. »Man sagt mir nach, man würde es mir noch nicht ansehen. Ihr Verlobter … begleitet er Sie?«
Anaïs schüttelte den Kopf. »Er hatte dringende Termine, wollte die Tickets allerdings nicht verfallen lassen. Es war schwer genug, sie zu bekommen. Deshalb fahre ich allein. Was aber kein Grund sein sollte, an meiner Überzeugung hinsichtlich meiner Verlobung zu zweifeln.«
»Keine Sorge, ich halte mich zurück, Miss Cidane«, versprach Eric, und sie ließ sich ebenfalls etwas zurückfallen.
So gelöst war er nett, dieser Eric Norwood, und wenn ihm klar war, dass sie ihm nicht in die Arme springen würde, konnte man sicher gut mit ihm auskommen, entschied Anaïs.
»Und womit verdienen Sie Ihr Geld, Mr. Norwood?«
Sie setzte erneut das Glas an die Lippen, das erstaunlich schnell zur Neige ging.
»Von Beruf her bin ich Historiker. Aber ich finanziere mir mein tägliches Brot mit der Schriftstellerei. Das klingt romantischer.«
»Tatsächlich? Dann passte das Gespräch über Elinor Glyn gerade ja zu Ihrem Metier. Was schreiben Sie? Ich glaube nicht, dass ich jemals etwas von Ihnen gelesen habe. Und ich lese viel.«
Zum ersten Mal schien seine Selbstsicherheit Risse zu bekommen, und er fuhr sich verlegen übers Haar.
»Und was lesen Sie für gewöhnlich, wenn ich fragen darf?«
»So dies und das, französische Schriftsteller und auch internationale«, erwiderte Anaïs. »Klassische Werke, ein wenig Modernes … Ich habe eine Schwäche für deutsche Autoren und Dichter. Rainer Maria Rilke zum Beispiel, kennen Sie ihn?«
Eric schüttelte den Kopf.
»Deutsche Autoren? Recht ungewöhnlich für eine Französin, nicht wahr? Nein, sicher werden Sie meine Werke nicht kennen. Es wundert mich, dass Sie Three Weeks gelesen haben.«
Auf Anaïs’ unterdrücktes Lachen reagierte er mit einem Zwinkern.
»Nun, es fällt etwa in diese Kategorie. Ich schreibe das, was man gemeinhin als Groschenroman bezeichnet. Trivialliteratur. Billig, in hoher Auflage, und wenn man den Rezensenten glauben darf, von niedriger Qualität.«
Er verzog das Gesicht, als hätte er einen unangenehmen Geschmack im Mund.
»Das ist kein nettes Urteil.«
»Ich halte mich nicht für den größten Schriftsteller der Welt.« Eric winkte dem Kellner zu, ihnen noch etwas zu trinken zu bringen. »Das ist mein Traum: gute Bücher, wirklich gute Bücher zu schreiben. Aber meine Art von Literatur wird eben gelesen – und man kann gutes Geld damit machen.«
Einen Moment herrschte betretenes Schweigen.
»Vielleicht kennen Sie meinen Vater«, fuhr Eric dann betont heiter fort. »Er leitet das Verlagshaus Norwood in Esher, wo ich geboren wurde. Dort veröffentliche ich auch meine Bücher. Aber ich bin vor einigen Jahren nach Maidstone gezogen, um unabhängiger zu sein.«
»Sie scheinen ausreichend zu verdienen«, sagte Anaïs. »Sonst könnten Sie sich eine Fahrt in der ersten Klasse der Titanic kaum leisten; die meisten Schriftsteller reisen in der Mittelschicht.«
»Ein umfangreiches Erbe, an dem ich mich schon heute bedienen darf, und eine sichere, von allen belächelte Einnahmequelle«, erwiderte Eric freudlos lächelnd. »Das Schicksal der jungen Generation: der Wunsch nach einer Freiheit, die sie nur mit der Hilfe derer vor ihnen erreichen können. Abhängig von anderen. Sie werden ja auch nur über Ihren Verlobten Geld bekommen, oder?«
Anaïs schnaubte unterdrückt und widerstand dem Drang, die Haare in den Nacken zu werfen.
»Diese Reise finanziert mir zwar mein Verlobter, aber ich lebe bis jetzt mühelos über das Erbe, das mein Vater mir hinterlassen hat.«
Sofort ärgerte sie sich über ihre Worte. Immerhin war ein Erbe genau die Art von Abhängigkeit, von der Eric gesprochen hatte.
»Da haben Sie Glück.«
»Ob es Glück ist, dass ich meinen Vater vor Jahren verloren habe, bezweifle ich …«
Eric hob die Hand.
»Verzeihen Sie mir, das war unhöflich«, sagte er und neigte den Kopf etwas.
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Anaïs trank ihr Glas in einem Zug leer. Sie wünschte sich, sie würden das Thema wechseln. »Ich habe meine Wege gefunden, damit zu leben.«
»Das glaube ich. Sie sind sehr selbstbewusst, scheint es mir«, meinte Eric lächelnd.
»Denken Sie? Ich habe eher das Gefühl, hier auf dem Schiff etwas unsicher zu sein.«
»Unsicher?«, wiederholte er. »Das merkt man Ihnen nicht an.«
»Gut so«, murmelte sie und fasste sich kurz an die Stirn.
Ihr war schwindelig, und sie sprach zu schnell, ohne nachzudenken. Zu viel Champagner und zu wenig Essen. Sie versuchte es zu ignorieren.
»Aber das alles … das riesige Schiff, tonnenschwer, mitten auf dem Wasser … Ich bin noch nie weiter als über den Kanal nach England gefahren. Das hier ist ganz anders. Überwältigend.«
»Ich habe viele Leute gehört, die sich Sorgen machen, dass ein so großes Schiff sinken könnte«, sagte Eric. »Aber es gibt diese Abteilungen im Schiffsrumpf, die man voneinander trennen kann. Sollten wir ein Leck bekommen, werden Trennwände heruntergelassen, und es füllt sich nur eine Abteilung mit Wasser, sodass nichts passiert und wir sicher weiterfahren können. Die Titanic gilt nicht umsonst als beinah unsinkbar.«
»Ja, davon habe ich gehört«, sagte Anaïs.
Sein mitleidiger Tonfall gefiel ihr nicht. Mit einem Mal kam sie sich jünger vor, als sie ohnehin war.
»Vielleicht hilft Ihnen das, was ich von einem der Matrosen in Southampton hörte: Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff zum Sinken bringen!«, fuhr Eric fort.
»Nun, wir wollen ihn besser nicht herausfordern, denn ich fürchte, im Zweifel hätte Gott die stärkeren Argumente.«
»Der Kapitän hat schon vor Jahren in einem Interview erklärt, dass die moderne Schiffsbaukunst seiner Meinung nach die Gefahr von Unglücken überwunden habe.«
»Hoffen wir einfach, dass es so ist«, sagte sie ungehalten. »Ich mache mir keine Sorgen, dass das Schiff untergehen könnte! Ich habe lediglich bemerkt, dass es groß und schwer ist.«
Es ärgerte sie, sich diesem Fremden anvertraut zu haben, der sie jetzt so mitleidig ansah wie ein sorgenvoller Onkel ein kleines Mädchen. Hätte sie bloß geschwiegen!
Eine Weile lang lauschten sie der langsamen Klaviermusik und mieden die Blicke des anderen.
»Der Musiker hat wirklich Talent«, sagte Eric.
Es klang längst nicht so locker, wie es wohl gemeint war. Anaïs presste die Lippen zusammen.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen, Miss Cidane«, fuhr er bestimmter fort.
»Das haben Sie nicht«, log sie.
Wieso hatte sie sich ihm nur so leichtfertig anvertraut?
Seufzend stand Anaïs auf. Der Boden schwankte ein wenig unter ihren Füßen. Definitiv zu viel Champagner.
»Es ist schon spät, ich sollte wohl besser nach oben gehen«, sagte sie und fuhr sich abwesend übers Haar.
Erics Blick glitt zur Uhr am Treppenabsatz. Die Zeit war bestimmt noch nicht so weit fortgeschritten, doch er erwiderte nichts. Stattdessen nahm er ihre linke Hand und führte sie elegant an die Lippen.
»Ich hoffe auf ein Wiedersehen«, sagte er, und sein Verführerlächeln kehrte für einen Moment zurück.
»Dann hoffen Sie schön weiter«, murmelte Anaïs, als sie die Treppe hinaufstieg, aber ein Schmunzeln stahl sich dabei auf ihre Lippen.
Auf dem Ärmelkanal, 23.39 Uhr
Mein geliebter Olivier,
wenn du das alles sehen könntest! Das ganze Schiff ist so wunderschön, beinah wie ein schwimmendes Hotel. Man merkt gar nicht, dass man auf dem Wasser ist. Vorhin hat der Boden etwas geschwankt, aber ich fürchte, das lag daran, dass ich zu viel Champagner auf leeren Magen getrunken hatte. Jetzt, nachdem ich eine Kleinigkeit in dem exzellenten Restaurant gegessen habe, geht es mir schon besser.
Ich bin unheimlich müde, dabei würde ich gerne noch das groß angepriesene Bordorchester hören, das in diesen Minuten im Empfangssalon spielt. Aber ich werde sicher noch die Gelegenheit dazu bekommen, wenn wir morgen erst einmal Queenstown hinter uns gelassen haben und über den Atlantik fahren.
Heute habe ich außerdem einige neue Leute kennengelernt. Einer davon heißt Eric Norwood, er ist ein britischer Schriftsteller und …
3.26 Uhr
Ich muss auf dem Sessel eingeschlafen sein. Der Füllhalter ist auf den Teppich gefallen und hat einen Tintenfleck hinterlassen. Hoffentlich kann das morgen jemand beseitigen, aber jetzt bin ich einfach zu müde.
Gute Nacht
A.
»Und nachdem ich einige Zeit bei einer entfernten, schrecklich strengen Tante verbracht hatte, stand mein Bruder Emmanuel eines Abends vor der Tür und sagte, er wäre gerade in der Gegend gewesen und würde mich abholen, wenn ich wollte«, erzählte Anaïs.
Sie saß in ihrer Kabine, in die sie sich nach dem Frühstück im prachtvollen Speisesaal der ersten Klasse zurückgezogen hatte. Als die Stewardess Viona Parish hereingekommen war, um sich zu erkundigen, ob sie etwas brauche, waren sie ins Gespräch gekommen.
Viona war eine unauffällige, aber aufgeschlossene junge Frau und eine aufmerksame Zuhörerin, sprach selbst jedoch wenig. Sie lehnte an der Wand, weil sie sich geweigert hatte, sich zu setzen.
»Mein Bruder versprach, für mich zu sorgen, und machte seinen Kollegen klar, dass ich von jetzt an mitarbeiten würde. Na ja, zuerst meinte er bloß, dass ich mit ihm reisen könne, aber als ich ihm bei einem Mord den entscheidenden Hinweis liefern konnte …«, fuhr Anaïs fort.
»Und was war das für ein Mord?«
»Ein Mann hatte seinen Sohn so häufig und hart geschlagen, dass der umgekommen war.«
Anaïs spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog, als das Bild des kleinen Jungen mit dem eingeschlagenen, blutigen Schädel vor ihren Augen vorbeizog. Manchmal kehrte es nachts in ihre Albträume zurück, und sie erwachte schweißgebadet. Emmanuel sagte, seinen ersten Toten vergesse man nie. Er hatte ihr nie erzählt, wer das für ihn gewesen war. Doch sie kannte die Nächte, in denen er regungslos am Fenster stand, weil er nicht schlafen konnte.
»Danach hat der Vater ihn in einem Park vergraben«, sagte sie heiser. »Ich kam auf die Idee, eine versteckte Tasche zu untersuchen, die der Sohn gepackt hatte. Darin war ein abgelaufenes Zugticket zu einem kleinen Dorf im Pas du Calais, wo ein ehemaliger Schulkamerad von ihm wohnte, den ich nach einiger Suche finden konnte. Die beiden hatten einen regelmäßigen Briefkontakt, in dem der Tote auch schilderte, wie er von seinem Vater … Wie sich sein Vater … Ich möchte es nicht aussprechen. Er wollte von zu Hause weglaufen und zu seinem Kameraden ziehen. Wochenlang muss er für das Ticket gespart haben. Doch als sein Vater davon erfuhr, erschlug er ihn.«