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Die liebliche Weinstraßenlandschaft als Schauplatz eines brutalen Verbrechens. Clara Christmann, Dozentin für Psychiatrie an einer Pflegeschule, ist erschüttert, als in ihrer unmittelbaren Umgebung eine junge Frau grausam ermordet wird. Hauptverdächtige ist ausgerechnet Claras Freundin Maike, deren Mann mit dem Opfer ein Verhältnis hatte. Clara setzt alles daran, die Unschuld ihrer Freundin zu beweisen. Dabei stößt sie nicht nur auf erbitterten Widerstand des ermittelnden Kommissars, sondern auch auf ein dunkles Geheimnis, das um jeden Preis im Verborgenen bleiben soll.
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Seitenzahl: 426
Tina Susanna Martin wurde in der Pfalz geboren, verbrachte ihre Grundschulzeit in Spanien und studierte Medizin in Berlin, Heidelberg und Mannheim. Nach einem Fernstudium an der Schule des Schreibens veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman. Heute lebt sie wieder in der Pfalz und ist als ärztliche Psychotherapeutin tätig.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/nailiaschwarz
Umschlaggestaltung: Conny Laue, Editorial Design & Artdirection, Bochum, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Julia Lorenzer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-099-0
Originalausgabe
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Prolog
Es war vollbracht.
Das Notwendige war getan.
Sie würde kein weiteres Unheil in die Welt bringen. Die Welt würde es nicht danken, aber darauf kam es nicht an.
Entscheidend war das Gleichgewicht. Jetzt, wo es wiederhergestellt war, konnten Ruhe und Frieden einkehren.
Die Betrachtung des Werkes nahm Zeit in Anspruch. Es sollte eine angemessene Würdigung erfahren.
Der nackte Körper zierte den fein gemaserten Parkettboden.
Das einstmals schöne Gesicht war aufgedunsen und entstellt.
Die blasse Haut an Brüsten, Bauch und Oberschenkeln war von dunkelroten Linien durchzogen.
Weiß wie Schnee, rot wie Blut. Das Schwarz war mit der Seele ausgelöscht worden.
Schade, dass nach dem Tod nichts mehr kam. Für sie wäre die Hölle die passende Option gewesen.
Die Ermittler würden rätseln. Gab es ein sexuelles Motiv? Drohten weitere Morde? War ein Serienkiller unterwegs? Hatte das Muster etwas zu bedeuten? Warum lag eine Übertötung vor?
Schon bald würden sie der Spur folgen, die für sie gelegt worden war.
Freitag, 4.Mai
Der begrünte Innenhof des Krankenhauses der Barmherzigen Schwestern in Bad Dürkheim lag träge in der Sonne. Kein Lüftchen ging, und es herrschte vollkommene Stille.
Clara Christmann, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Dozentin an der Krankenpflegeschule, sehnte sich danach, auf dem frisch gemähten Rasen zu liegen und nichts zu tun. Außer zu träumen. Ab und zu käme ein Schmetterling vorbei, den würde sie freundlich grüßen und ihm ein glückliches Schmetterlingsleben wünschen.
Lautes Schimpfen riss sie jäh aus ihrem meditativen Zustand.
»Du blöde Bitch, lass mich in Ruhe!«
Zwei streitende Mädchen überholten sie, ohne sie zu beachten.
Clara seufzte und bereute zum wiederholten Male, dass sie keine pädagogische Ausbildung hatte.
Sie betrat auf hochhackigen Sandaletten das Gebäude der Krankenpflegeschule und wartete geduldig auf den Fahrstuhl.
Ein Schüler, der an ihr vorbeilief, konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Keine Lust auf sportliche Betätigung?«
Wie Clara sehr wohl wusste, war dies eine Anspielung auf ihre Figur, die man wohlwollend als üppig-weiblich und weniger wohlwollend als mollig bezeichnen konnte.
Clara, die an derartige Übergriffe gewöhnt war, betrat elegant den gerade angekommenen Aufzug, hielt die Hand vor die Lichtschranke und lächelte dem Jungen zu. »Darf ich Sie einladen, mit mir zu fahren?«
Verlegen wandte er sich ab, und der Lift setzte sich in Bewegung. Clara versuchte, sich zu sammeln.
Eine Horde Halbwüchsiger wartete auf sie. Wie immer in diesen Momenten fragte sie sich, warum sie sich das antat. Natürlich kannte sie die Antwort. Sie brauchte Abwechslung, und sie brauchte Herausforderungen. So war sie immer schon gewesen, auch wenn das manchen der ihr Nahestehenden, allen voran ihrem Lebensgefährten, Probleme bereitete.
Im Klassenraum angekommen, bemühte sich Clara, für Ruhe zu sorgen. Sie scheuchte die jungen Leute, die am Fenster standen und verbotenerweise rauchten, zurück an ihre Plätze. Andere rief sie vom Flur herein. Um die Unterhaltungen der verschiedenen Gruppen zu beenden, nahm sie vorne am Lehrerpult Platz, holte das Lehrbuch »Psychiatrie und Psychosomatik für Pflegeberufe« aus ihrer Tasche und ließ es geräuschvoll auf den Tisch niedersausen.
»Heute beginnen wir mit einem neuen Krankheitsbild, das ich zum Einstieg in einem kleinen Rollenspiel vorstellen möchte.«
In den hinteren Reihen wurde heftig gekichert. »Ui, Frau Doktor in einem Rollenspiel!«
Clara ärgerte sich, weil sie das nicht vorausgesehen hatte. Bemüht, ihren ruhigen Tonfall beizubehalten, fuhr sie fort: »Sie wissen genau, was ich meine.«
Das Gelächter schwoll an.
Clara sprach lauter, um durchzudringen. »Ich brauche zwei Schüler, die die Rolle der Pflegekraft beziehungsweise die des Patienten übernehmen. Wer meldet sich freiwillig?«
Eine Hand ging hoch. Clara lächelte die Schülerin mit der sandfarbenen Punkfrisur an. »Kati, sehr schön, kommen Sie bitte nach vorne.«
Kati Souleau blieb jedoch sitzen. »Ich wollte nur etwas anmerken. Es ist unzumutbar, dass Sie jedes Mal die männliche Form benutzen. Schüler, Arzt, Patient. Das ist eine Diskriminierung der Frauen.«
Clara stöhnte innerlich und dachte, dass sie schon feministisch eingestellt gewesen war, als diese kleine Ratte noch in die Windeln gemacht hatte. Laut sagte sie: »Sie haben vollkommen recht. Bitte weisen Sie mich darauf hin, sollte mir dieser Fehler häufiger unterlaufen.«
Die Klasse war jetzt außer Rand und Band. Clara vermutete, dass sie als Lehrperson völlig falsch reagiert hatte. Leider hatte sie keine pädagogisch geschulten Fachleute im Bekanntenkreis, die sie hätte fragen können.
Ich tue das hier freiwillig, dachte sie. Ich kann jederzeit aufhören. Also mache ich weiter, solange es eben geht. Die Auszubildenden sind volljährig, sie haben selbst in der Hand, was sie aus dem Unterricht mitnehmen.
Diese Gedanken halfen ihr. Sie straffte sich und wandte sich wieder an die Klasse.
In diesem Moment meldete sich das Mädchen, das neben Kati saß. »Ich möchte gerne die Pflegekraft spielen.«
»Lizzie, wunderbar.«
»Dann bin ich die Patientin.« Das war Kati.
Clara war schon in den ersten Stunden aufgefallen, dass die jungen Frauen unzertrennlich waren. Sie trugen Freundschaftsketten mit jeweils einem halben Herzen. Clara fragte sich, ob sie mehr als nur beste Freundinnen waren. Elisabeth Schwinn, genannt Lizzie, flirtete mit den jungen Männern aus der Klasse, aber mit Kati schien sie geradezu symbiotisch verbunden zu sein. Oft sah man die beiden eng umschlungen ins Gespräch vertieft. Manchmal taten sie sich mit einem Pärchen zusammen, das im Unterricht hinter ihnen saß. Julia Liebelt war eine dem heutigen Schönheitsideal entsprechende schlanke Blondine und Pablo Teuber-Escalera ein umwerfend attraktiver Latino. Clara war überzeugt, noch nie einen so schönen Mann gesehen zu haben. Zu der Gruppe gehörte außerdem Tim Süderlein, der Klassenclown, der auch jetzt Faxen machte und ein Notizbuch aufschlug, während er mit der entrückten Miene eines Psychoanalytikers so tat, als würde er seinem Nachbarn zuhören.
Die Mädchen kamen nach vorne. Clara erteilte den anderen die Aufgabe, ihre Kenntnisse über Schizophrenie aus den letzten Stunden schriftlich zusammenzufassen, und begab sich mit den beiden in einen kleinen Nebenraum.
»Es geht um das Krankheitsbild der Depression. Kati, Sie sind die Patientin. Wissen Sie etwas über Depressionen?«
Lustlos leierte Kati herunter: »Miese Stimmung, kein Bock auf gar nichts, nicht mehr leben wollen, Scheißgefühl.«
Clara stutzte einen Moment, nickte dann aber. »Das trifft es sehr gut. Hinzu kommen Schlafstörungen, mangelnder Appetit, sozialer Rückzug. Trauen Sie sich zu, das darzustellen?«
»Hm«, machte Kati und riss das Nagelbett ihres linken Zeigefingers auf. Das austretende Blut wischte sie mit dem Daumen wieder weg.
Clara wandte sich an Katis Freundin: »Lizzie, stellen Sie sich vor, eine neu aufgenommene Patientin gibt an, es gehe ihr nicht so gut in letzter Zeit. Sie spüren, wie bedrückt die Frau ist. Was könnten Sie fragen?«
Elisabeth Schwinn überlegte. »Na ja, ich könnte sie fragen, wann das angefangen hat.«
Clara nickte. »Ausgezeichnet. Was noch?«
»Ich könnte nach den Symptomen fragen, die Sie genannt haben, also nach dem Schlaf und dem Appetit.«
»Sehr gut. Diese Fragen stellen Sie ihr. Außerdem könnten Sie nachfragen, was das genau bedeutet, wenn sie sagt, es gehe ihr nicht gut. Sie sollten auch fragen, ob sie frühere Interessen noch ausübt und ob sie ihre Freundschaften noch pflegt. Und, ganz wichtig: Achten Sie auf Äußerungen, die auf Lebensmüdigkeit hindeuten. Sollten Sie einen Verdacht in diese Richtung haben, ziehen Sie sofort jemanden vom ärztlichen oder psychologischen Team hinzu.«
Der Rest des Unterrichts verlief problemlos. Die Mädchen spielten ihre Rollen gut, die Klasse arbeitete anschließend in Kleingruppen, von denen alle die richtige Diagnose stellten. Im Anschluss entwickelte sich ein lebhaftes Gruppengespräch.
Clara beendete den Unterricht mit dem Hinweis, dass es in der nächsten Stunde um die Gesprächsführung und die konkrete Tagesplanung mit depressiven Menschen in der Klinik gehen werde.
Zufrieden packte sie ihre Sachen zusammen. Nur noch drei Sitzungen in ihrer Praxis, dann lag das Wochenende vor ihr. Als sie den Aufzug betrat, schlüpfte Lizzie mit hinein. Es war spürbar, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Clara sah sie aufmunternd an.
»Kati darf nicht wissen, dass ich mit Ihnen rede.«
»In Ordnung.«
»Ich mache mir Sorgen. Kati hat alle diese depressiven Symptome. Und ich glaube, sie ritzt sich.« Erschrocken über ihre eigenen Worte, schaute Lizzie auf.
Clara schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Sie kann jederzeit zu mir kommen. Ich werde mein diesbezügliches Angebot an die Klasse in der nächsten Stunde wiederholen. Dann können Sie sie ermutigen, es wahrzunehmen. Falls sie das ablehnt, gebe ich Ihnen ein paar Adressen, die Sie an Kati weiterleiten können.«
Lizzie schüttelte den Kopf. »Da geht sie sowieso nicht hin. Aber danke.«
Kaum hatte sich die Fahrstuhltür geöffnet, war die junge Frau auch schon weg.
***
Der Mannheimer Maimarkt verzeichnete bei wolkenlosem Himmel und Temperaturen über dreißig Grad Besucherrekorde.
Für Maike Neuendorf war das Beobachten des Reitturniers unter glühender Sonne ein echtes Opfer. Sie liebte Pflanzen, engagierte sich für den Umweltschutz und wanderte oder joggte gern in der freien Natur. Zu haarigen Tieren jeglicher Art hatte sie jedoch ein gänzlich unromantisches Verhältnis. Sie aß kein Fleisch, aus gesundheitlichen Gründen und auch, weil sie das Schlachten und Quälen von Tieren grundsätzlich ablehnte. Auch das Springen mit Pferden über mannshohe Hindernisse hielt sie für vollkommen abwegig. Aber sie verspürte keine Sympathie für die Tiere.
Sie verstand ihre zahlreichen tierlieben Freundinnen nicht, die Hunde, Katzen und Pferde vergötterten und unbeschwert Rinder, Schweine und Hühner verzehrten.
Maike verfolgte das Turnier nur bruchstückhaft. Sie war überwiegend damit beschäftigt, den Kopf ihrer achtjährigen Tochter Sophie regelmäßig mit Wasser aus der Flasche zu benetzen, um einem Hitzschlag vorzubeugen.
Sie ärgerte sich über ihren Mann, der sich wieder einmal erfolgreich abgesetzt hatte.
Sophie bestand darauf, als Nächstes die Tierschau zu besuchen. Maike schauderte, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzugehen.
In den Zelten staute sich die Luft und mischte sich mit den Ausdünstungen von Fell, Schweiß und Exkrementen.
Maike spürte das Wasser in Bächen an ihrem Rücken hinunterlaufen. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Ärgerlich über die Reaktion ihres Körpers, versuchte sie, die Anzeichen zu ignorieren. Wofür trainierte sie schließlich diszipliniert und achtete, seit sie erwachsen war, auf gesunde Ernährung?
Sicher nicht, um sich zu fühlen wie eine alternde Frau in den Wechseljahren.
Der Gedanke erschreckte sie. Konnte es sein, dass dies die ersten Vorboten waren?
Von wegen Vorboten, lästerte eine Stimme in ihr. Du bist schon mittendrin!
Sie wurde in der Menge von feuchten Leibern weitergeschoben. Verzweifelt bemühte sie sich, dem Druck standzuhalten.
Sophie betrachtete fasziniert eine Mutterziege, die ganz ruhig dastand, während ihre Kleinen aufgeregt um sie herumsprangen und sich immer wieder unter ihren Bauch drängten, um an ihren Zitzen zu saugen.
Maike konnte ihre Unruhe kaum unterdrücken.
»Wie süüüß!«, hörte sie Kinderstimmen rufen. Sophie starrte mit offenem Mund auf die Tiere. Sie war der Welt außerhalb des Geheges entrückt.
Als Maike ihre Tochter so glücklich sah, überkam sie eine Welle der Zärtlichkeit. Die Opfer waren im Vergleich gering.
Eine Berührung an der Schulter riss sie aus ihren Gedanken.
Frank war endlich aufgetaucht. Maikes Mann hatte sich von hinten genähert und schien ihr etwas mitteilen zu wollen. In dem Lärm der vielen Menschen verstand sie jedoch nichts. »Was sagst du?«
Er wiederholte es, aber sie begriff immer noch nicht.
Schließlich beugte er sich zu ihr hinunter und sprach direkt in ihr Ohr.
»Ich gehe.«
»Was soll das heißen?«
»Ich bin verabredet.«
Maike stöhnte. »Mit ihr?«
»Sie wartet am Ausgang auf mich.« Frank legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. »Hör zu, es ist vorbei. Ich werde mit ihr zusammenleben.«
Was er sonst noch sagte, hörte Maike nicht mehr. Ein Dröhnen in ihrem Kopf schaltete alles andere aus. Verzweifelt suchte sie nach einem Halt.
Clara, dachte sie. Ich muss mit Clara reden.
***
Elisabeth Schwinn fuhr an diesem Freitagabend zum ersten Mal seit langer Zeit in den Odenwald. Der Unterricht war zu Ende, die Woche lag hinter ihr.
Es ehrte sie, dass ihr Freund ihr seinen Wagen überlassen hatte. Der Motor schnurrte wie eine zufriedene Katze.
Es kribbelte im Bauch.
Vor der nächsten engen Kurve nahm sie das Gas weg und hörte – gar nichts mehr. Der Wagen glitt geschmeidig in die folgende Gerade, sie spürte ihn kaum, er reagierte sensibel wie ein perfekt zugerittenes Rassepferd, das eins war mit seiner Reiterin. Sie hatte immer noch ordentlich Tempo. Lizzie war hier aufgewachsen, sie kannte jede Straße mit ihren jeweiligen Tücken, die Kreuze am Straßenrand, aber die Gefahr erhöhte den Puls, ihr Herz pochte, sie lebte.
Jetzt.
Lizzie lächelte. Der magische Augenblick, in dem sie den Wald hinter sich ließ und direkt ins Licht fuhr, gerade hinein in das leuchtend daliegende Tal, golden schimmernde Felder mit friedlich grasenden Kühen durchquerend, angefüllt mit Heimweh.
Hier stand die Zeit still. Hier war sie zu Hause.
Gewesen.
Lizzie parkte den Porsche Panamera auf dem Schotterplatz unterhalb der Ställe und ging zu Fuß weiter. Draußen war niemand zu sehen, aber Lizzie wusste, wo sie suchen musste. Sie betrat den Kuhstall, nahm den scharfen Geruch der Tiere und ihrer Ausscheidungen wahr, rutschte mit ihren Sandalen auf dem Gang beinahe aus und sah, nachdem ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, den missbilligenden Blick ihrer Mutter auf sich gerichtet.
»Elisabeth.«
»Hallo, Mama. Du solltest nicht so viel arbeiten.«
»Du bist ja nie hier.«
Dieser Satz implizierte alles: Warum nimmst du mir die Last nicht ab? Hättest du nicht Landwirtschaft studieren können? Du hast alle unsere Hoffnungen zerstört. Mein Vater hat dich immer gefördert, er hat keine Kosten gescheut, dich auf jedes Turnier geschickt, damit du dir einen Namen machst.
»Ich habe jemanden kennengelernt.«
»Ist er verheiratet?«
Lizzie schluckte.
Die Mutter wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Ich möchte ihn mitbringen.«
»Du weißt, wie dein Großvater darüber denkt.«
Der Großvater, an dem niemand vorbeikam.
Wortlos ging Lizzie hinaus. Schmerzhaft spürte sie die Liebe zu ihrer Mutter, die damals, in ihrer schlimmsten Zeit, als Einzige bedingungslos hinter ihr gestanden hatte. Diese Liebe konnte nicht fließen, weil die Mutter sich nie von ihrem eigenen Vater, Lizzies Großvater, gelöst hatte. Sie war ihm, dem Patriarchen, der alle und alles beherrschte, hörig.
Lizzie war seine talentierteste Schülerin gewesen, die er sich zu seiner Nachfolgerin herangezogen hatte. Bis sie schwach geworden war. Seitdem existierte sie für ihn nicht mehr.
Auf dem Weg zum Auto hörte sie ein Wiehern von der Koppel. Mathis, ihr Liebling. Lizzies Schwester Amelie warf ihm gerade ein Halfter über. Vermutlich wollte sie ihn trainieren.
»Ich liebe dich auch, Mathis«, flüsterte Lizzie. Sie hob die Hand zum Gruß, und Amy winkte zurück.
Als sie wieder im Wagen saß und den schwachen Duft der Lederjacke wahrnahm, die ihr Geliebter stets beim Fahren trug, fühlte sie sich stärker. Sie fasste einen Entschluss.
Morgen kommen wir, ob es euch passt oder nicht.
***
Das Haus im Finkenpfad, einem der ältesten Stadtteile Bad Dürkheims, war in der für die Pfalz typischen Haus-und Hof-Bauweise errichtet worden. Clara hatte es gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Thomas Rapp vor dreieinhalb Jahren günstig erstanden. Alt, dunkel, mit kleinen Zimmern, war es genau das, was sie sich gerade noch leisten konnten.
Die Lage hatte den Ausschlag gegeben. Beim Spaziergang mit dem Hund sahen sie nach wenigen Schritten die Limburg, die Ruine des ehemaligen Hausklosters der Salier, vor sich liegen. Von dort wanderte der Blick weiter zum Kriemhildenstuhl, einem ehemaligen römischen Steinbruch mit eindrucksvoll schroffen Felsabbrüchen. Sowohl die Innenstadt als auch die Krankenpflegeschule und die psychosomatische Klinik, in der Thomas als Co-Therapeut arbeitete, waren zu Fuß erreichbar. Ihre psychotherapeutische Praxis hatte Clara von Ludwigshafen nach Grethen, einen Stadtteil von Bad Dürkheim, verlegt.
Claras künstlerische Neigung und Thomas’ handwerkliches Geschick hatten aus dem alten Gebäude im Finkenpfad ein echtes Heim gemacht. Claras impressionistisch anmutende, in freundlichen, hellen Farben gehaltene Bilder schmückten die Wände. Thomas hatte die schweren braunen Holzdecken weiß gestrichen, wodurch die Räume größer wirkten. Die beiden Mauern, die den Innenhof begrenzten, hatte er vom Putz befreit, sodass die ursprüngliche Sandsteinfassade zum Vorschein kam und dem Hof ein romantisches Flair verlieh. Töpfe mit Begonien, Fuchsien, Tränenden Herzen und selbst gezüchteten Tomaten setzten fröhliche Farbtupfer.
Hier saßen Clara, Thomas und ihre vierjährige Tochter Elena gemütlich zusammen. Elena hatte sich zum Abendessen Gazpacho gewünscht, eine kalte Tomatensuppe, welche Clara nach dem traditionellen Rezept ihrer spanischen Mutter mit Unmengen Olivenöl und mindestens fünf Zehen Knoblauch zubereitete. Als Clara ihrer damals dreijährigen Tochter zum ersten Mal einen Löffel Gazpacho zum Probieren gegeben und diese sofort »Mehr, mehr!« gerufen hatte, waren Thomas Zweifel an Elenas Geschmackssinn gekommen. »Sie hat eben spanische Gene«, war Claras augenzwinkernder Kommentar gewesen.
Wie jeden Freitagabend hatten Clara und Thomas eine Flasche Sekt geöffnet, um das Wochenende zu feiern. Clara hatte dieses Ritual begonnen, nachdem sie eine eigene Praxis übernommen hatte. Vorbei die mörderischen Dienste in der Klinik, vorbei auch die Facharztweiterbildung mit den endlosen Fortbildungen, Selbsterfahrungen, Supervisionen und Repetitorien. Zum ersten Mal seit ihrer Studienzeit war Clara in den Genuss eines vollkommen freien Wochenendes gekommen, und das feierte sie bis heute.
Für Elena war ein Planschbecken aufgebaut worden, und als das Kind vom Tisch aufstand und in das kühle Wasser tauchte, dachte Clara mit Wehmut, dass ihre Tochter eigentlich schon zu groß dafür war.
Elli, die kleine schwarz-weiße Terrier-Hündin, sprang dem Kind hinterher. Elena juchzte und spritzte den Hund nass. Elli stürzte davon und verkroch sich unter dem Tisch. Kurz darauf rannte sie erneut zum Becken, und das Spiel begann von vorn.
Wenn Clara gefragt wurde, wie sie ihre Tochter nur Elena nennen konnte, wo sie doch schon einen Hund namens Elli besaß, dann bekam ihr Blick etwas Entrücktes, und sie antwortete: »Ich wusste schon immer, dass sie Elena heißt.«
Ob sie sich diesen Satz im Laufe der Zeit aus praktischen Gründen zurechtgelegt hatte oder ob Clara dank übersinnlicher Fähigkeiten mit der Seele ihrer Tochter in Verbindung getreten war, lange bevor diese in ihrer jetzigen Gestalt geboren wurde, das war der Phantasie und Weltanschauung ihres jeweiligen Gegenübers anheimgestellt.
Thomas betrachtete seine Gefährtin mit Wohlwollen. Er liebte ihre runde Weiblichkeit, ihren Hang zur Nostalgie, ihre Vorliebe für aus der Mode gekommene Begriffe und ihr südländisches Temperament. Im Gegensatz zu ihm, der stets sein Pokerface beibehielt und nie ohne Grund lachte, zeigte Clara offen ihre Emotionen.
Die Freude am Genuss teilten sie. Auch Thomas schätzte gutes Essen und guten Wein. Auch er war eher kräftig gebaut. Seine dunkelblonden Haare, die er früher zu einem Zopf zurückgebunden hatte, waren vor einem knappen Jahr zu einer Kurzhaarfrisur gestutzt worden. Damit hatte er mit Ende vierzig sein Rocker-Image äußerlich für immer hinter sich gelassen. Zeitgleich hatte er die Konzertgitarre in die Ecke gestellt und spielte nun E-Gitarre in einer Band. So konnte er sich zumindest musikalisch austoben.
Er unterbrach Claras Beobachtung von Kind und Hund, indem er sie fragte, wie ihr Tag gewesen sei.
»Der Unterricht war anstrengend. Als hätte ich einen Haufen Backfische und Halbstarke vor mir sitzen. Viele sind echt clever und haben gute Ideen, aber sie haben alle Pfeffer im Hintern.«
»Vielleicht solltest du ein wenig kürzertreten.«
»Ich denke darüber nach.«
Thomas prostete ihr zu. »Auf uns, querida.«
»Auf uns, mi amor.« Clara beugte sich vor und küsste ihn.
»Wollt ihr heiraten, oder was?«, klang Elenas fröhliche Stimme aus dem Becken.
Thomas schüttelte den Kopf. »Wo sie das nur herhat?«
»Aus dem Kindergarten.« Clara grinste zu ihrer Tochter hinüber. »Du bist eine herzallerliebste, naseweise Plaudertasche!«
»Plaudertasche, Plaudertasche«, sang Elena.
Clara und Thomas sahen sich an, während sie genussvoll an dem trockenen katalanischen Sekt nippten.
Sie fühlten beide das Gleiche.
So, wie es war, war es gut. So sollte es bleiben.
Das Klingeln des Telefons beendete diesen Augenblick des Einverständnisses.
Thomas schob seinen Stuhl zurück.
»Bleib sitzen«, sagte Clara und drückte seinen Arm. Es bereitete ihr geradezu körperliches Unwohlsein, sich zu lösen und ins Haus zu gehen, um das Gespräch anzunehmen.
»Christmann, hallo?«
Unterdrücktes Schluchzen antwortete ihr.
»Maike, bist du das?«
»Frank hat mich verlassen«, schniefte die Freundin. »Ich kann hier nicht bleiben, ich brauche Abstand. Sophie habe ich für das Wochenende zu ihren Großeltern gebracht, die Tage darauf kann sie erst mal bei Frank sein, bis ich weiß, wie es weitergeht. Ich bin vollkommen durcheinander.«
Clara überschlug im Geiste die Alkoholmenge, die sie bis jetzt zu sich genommen hatte, und entschied: »Sag mir, wo du bist, ich hole dich.«
Dann stand sie stumm mit dem Hörer in der Hand da. Sie wehrte sich mit aller Kraft gegen den Verlust ihres Glaubens an die immerwährende Liebe.
Als Clara knapp zwei Stunden später mit Maike nach Hause kam, lag Elena bereits im Bett, und Thomas hatte sich wohlweislich in seinen Proberaum im Keller zurückgezogen. Gedämpft klangen die Akkorde von »Stairway to Heaven« in den Flur.
»Wir gehen ins Wohnzimmer, da können wir ungestört reden.«
Maike folgte Claras Aufforderung und setzte sich auf das Sofa. Die schöne alte Chaiselongue aus Claras alter Wohnung hatte weichen müssen, damit Elena sich ungestört austoben konnte, ohne ein wertvolles Möbelstück zu zerstören. Allerdings hatte Clara es nicht übers Herz gebracht, sie wegzugeben, und sie deshalb in ihr ohnehin schon überfülltes Arbeitszimmer gequetscht.
Bewaffnet mit einer Flasche Spätburgunder aus Wachenheim, kam Clara aus der Küche und gesellte sich zu Maike. Die beiden waren schon allerbeste Freundinnen gewesen, als es den Ausdruck noch gar nicht gab. Maike hatte vor vielen Jahren Claras geplatzte Verlobung in allen Stadien miterlebt und ihr tröstend zur Seite gestanden. Clara war Maikes Trauzeugin gewesen, als diese ihren Frank geheiratet hatte. Bald darauf hatten Maike und Frank ihren Sohn Stefan bekommen. Clara war Stefans Babysitter gewesen, bis sie für einige Jahre aus der Gegend weggezogen war. Sophie, die zwölf Jahre jünger war als ihr Bruder, war Claras Patenkind.
Maike leerte das erste Glas in einem Zug, während Clara nur nippte und den Wein genussvoll im Mund auskostete. Früher hatte sie ausschließlich schwere, erdige spanische Weine getrunken. Seitdem sie in der Pfalz lebte, wusste sie einen trockenen Spätburgunder oder eine Cuvée zu schätzen.
»Dieses Schwein«, presste Maike schließlich hervor. Sie hielt Clara ihr Glas hin, und diese schenkte nach.
»Schwülstiges italienisches Parfum, fliederfarbene Hemden, nachts stundenlanges Kichern am Telefon … es ist widerlich. Die Kinder interessieren ihn auch nicht mehr. Sophie ist so ernst geworden. Und Stefan zieht sich total zurück.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich habe mich geschämt.«
Clara schüttelte den Kopf. »Frank sollte sich schämen, nicht du. Ich wäre doch für dich da gewesen.«
»Weiß ich.« Maike trank einen großen Schluck. »Hast du eine Zigarette für mich?«
Clara hatte vor Jahren aufgehört, regelmäßig zu rauchen. Inzwischen rauchte sie gelegentlich im Innenhof oder auf dem Balkon, wenn Elena nicht in der Nähe war. Sie stieg auf einen Stuhl und holte eine Packung Zigaretten hinter den Büchern im obersten Fach des Regals hervor.
»Aber nur draußen.«
Eine Weile rauchten die Freundinnen schweigend im Hof und betrachteten die langsam einsetzende Abenddämmerung.
»Und dann bin auch noch ich an allem schuld«, führte Maike ihre Klage fort. »Ist das zu fassen? Er liebt eine Zwanzigjährige, und ich bin schuld.«
»Das machen Männer immer so«, sagte Clara. »Ein klassischer Abwehrmechanismus. Sie vermeiden damit das Gefühl der Scham. Wie man sieht, funktioniert es.«
»Danke, deine professionelle Distanz hilft mir ungemein«, giftete Maike.
Clara legte ihr eine Hand auf den Arm und schob sie sanft zurück ins Haus.
»Gib mir einen Cognac.«
»Bist du sicher?«
Als sie Maikes Blick bemerkte, stand Clara seufzend auf und holte eine Flasche aus dem Wandschrank. Kurz ging ihr durch den Kopf, wie teuer das Zeug war, aber dann holte sie zwei Gläser und füllte beide großzügig.
»Wie lange geht diese Liaison schon?«
»Keine Ahnung, ich will es gar nicht wissen. Rückblickend schätze ich, etwa ein halbes Jahr. Aber jetzt …« Maike begann, leise zu schluchzen. »Jetzt will er mit dieser Tussi zusammenziehen! Er hat es mir auf dem Maimarkt eröffnet. In der Tierschau. Bei den Ziegen.«
Clara verschluckte sich fast an ihrem Cognac.
»Kannst du dir das vorstellen? Er schmeißt mich einfach raus!«
Das konnte Clara sich in der Tat nur schwer vorstellen.
Maike hatte ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet, denn sie fuhr fort: »Natürlich hat er das nicht so gesagt. Ich kann auch bleiben, wenn ich will, dann muss ich ihn eben auszahlen, dann nimmt er sich mit der Tussi eine neue Wohnung, alles kein Problem. Dieses Schwein!«, wiederholte sie. »Er weiß genau, dass ich das niemals kann. Bis das Haus verkauft ist, das dauert, und inzwischen hat er seine süße Schwesternschülerin wahrscheinlich schon geschwängert.« Sie versank in trübsinniges Schweigen.
Bei dem Wort »Schwesternschülerin« überkam Clara ein ungutes Gefühl. Sie nippte an ihrem Glas. »Wie heißt die Frau eigentlich?«
»Sie heißt Elisabeth Schwinn. Frank nennt sie Lizzie.«
Clara atmete aus.
»Kennst du sie?«, fragte Maike.
»Sie ist meine Schülerin.«
Schweigend saßen sie beieinander und tranken.
Nach einer Weile stellte Maike fest: »Du magst sie.«
Clara sah sie fragend an.
»Du magst alle deine Schäfchen. Klientinnen, Schüler, Elenas Spielgefährtinnen, herrenlose Tiere, unterdrückte Mädchen in fernen Ländern. Sie alle passen in dein großes Herz, und du siehst prinzipiell nur das Gute in ihnen.«
»Tut mir leid«, sagte Clara aus dem Gefühl heraus, ihre Freundin zu verraten.
»Das muss es nicht«, erwiderte diese. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Kannst du mich trotzdem verstehen?«
»Ich verstehe dich sehr gut.« Clara umfasste Maikes Hand mit ihrer. »Dass du Lizzie hasst, ist ganz natürlich. Ich sehe allerdings eher das Opfer in ihr.«
»Opfer? Also dieses Opferdasein stelle ich mir ziemlich angenehm vor. Ein reicher Mann, eine wohlerzogene achtjährige Tochter als Beigabe, und, schwups, hat sie eine nette kleine Familie, ohne jemals etwas dafür getan zu haben.« Maike nahm einen Schluck direkt aus der Cognacflasche. »Glaub mir, diese Lolita ist mit allen Wassern gewaschen.«
»Genug für heute.« Resolut brachte Clara die Flasche außerhalb von Maikes Reichweite.
»Was soll nur aus mir werden?« Jetzt kam die Phase des heulenden Elends.
Clara legte den Arm um die Freundin und führte sie zur Treppe. Maike riss sich los, taumelte und griff erneut nach der Cognacflasche.
»Schluss jetzt!« Claras Geduld war erschöpft.
»Heute Nacht saufe ich mich zu Tode. Das ist eine schöne Art zu sterben.«
»Sie führt nicht zum Ziel. Du musst dich vorher übergeben.«
Maike kicherte. »Übergeben? Jeder normale Mensch sagt kotzen.«
»Ich hole dir die Gästematratze und stelle dir einen Eimer daneben. Wage es nicht, meinen Flokati zu besudeln.«
Maike kicherte wieder, ließ sich aber widerstandslos in Claras Arbeitszimmer schieben. Als sie schließlich zugedeckt auf der Matratze lag, fasste sie nach Claras Hand. Mit dem Blick eines verloren gegangenen Kindes sagte sie: »Wo soll ich denn nur hin?«
»Du bleibst hier. So lange, bis du eine wunderschöne Wohnung gefunden hast. Am nächsten Samstag holen wir Sophie, sie kann bei Elena schlafen.«
Als Maike dank der zugeführten Alkoholmenge endlich eindöste, zog sich Clara zurück. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett fallen, schob sich zwei Kissen unter den Kopf und suchte Trost bei Jane Austen. Zuletzt hatte sie die Stelle gelesen, wo Edward Ferrars sich Elinor Dashwood erklärt. Hier schlug sie nun das Buch auf, in der Gewissheit, dass sie in der weiteren Handlung die Hoffnung finden würde, die sie jetzt gerade so dringend brauchte.
Sonntag, 6.Mai
In Bad Dürkheim hatten die Eiscafés Hochkonjunktur.
Kati Souleau und Elisabeth Schwinn saßen vor einem Café am Römerplatz in der prallen Sonne.
»Sie sind jung, Sie verkraften das«, hatte eine ältere Dame gesagt, als die beiden Mädchen sich gerade den letzten Schattenplatz sichern wollten.
»Wenn wir zu viel verkraften müssen, werden wir vorzeitig alt«, hatte Kati gekontert und sich seelenruhig hingesetzt.
Lizzie hatte sich entschuldigt und die Freundin weggezogen.
»Deine Vorliebe für alte Menschen nimmt langsam erschreckende Formen an«, murrte Kati.
Lizzie warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Seine Frau wohnt jetzt bei Dr. Christmann. Nächsten Samstag holen sie Sophie.«
»Da ist es ja gut, dass du zu unserer Frau Doktor eine besondere Affinität hast.«
Lizzie erschrak. Konnte es sein, dass Kati sie beobachtet hatte, wie sie am Freitag mit Frau Christmann in den Aufzug gestiegen war?
»Wie lief es denn gestern? Hat der alte Herr deiner Familie gefallen? Falls du ihn wieder loswerden möchtest, kannst du ihn ja mit deiner Mutter verkuppeln. Ich wette, die kleine Sophie hat ihr Herz im Sturm erobert.«
»Es reicht«, presste Lizzie hervor. »Du bist nur eifersüchtig.«
»Eifersüchtig?« Kati lachte aus vollem Hals. »Der war gut.« Sie griff nach Lizzies Hand. »Schmeckt der Eiskaffee?«
»Hm«, machte Lizzie und ließ ihre Hand liegen.
»Also, wie war es denn nun?«
»Beschissen. Ich will nicht darüber reden.«
Lizzie hatte sich mit Sophie zu den Pferden geflüchtet, während Frank und der Großvater sich gegenseitig beschimpft hatten. Als Lizzie und Sophie von ihrem Ausritt zurückgekommen waren, hatte Frank am Auto gewartet, nachdem der Großvater ihm Hausverbot erteilt und mit der Polizei gedroht hatte.
»Hey, krieg dich wieder ein.« Kati beugte sich vor und küsste Lizzie auf den Mund. »Du weißt doch, wie lieb ich dich hab.«
Unter Aufbietung aller Willenskraft widerstand Lizzie der Annäherung. »Ich mag es nicht, wenn du so bist.«
Kati fauchte wie eine Katze. »Die böse, böse Kati, pffch, schau her, da fährt sie die Krallen aus!«
Lizzie sah sie ruhig an. Dann rief sie den Kellner und bezahlte.
»Du brauchst Hilfe«, sagte sie zum Abschied.
Samstag, 12.Mai
Es hätte ein gemütlicher Ausflug werden können. Die Rheinebene lag bei angenehmen fünfundzwanzig Grad in der Sonne. Auf der A650 hatten sie freie Fahrt gehabt, und trotz der erneuten einseitigen Sperrung der B44 – die letzte war vor sechs Wochen aufgehoben worden – kamen sie gut über die Kurt-Schumacher-Brücke.
Im Auto herrschte eine ungewohnte Stille. Elena, die sonst fröhlich auf dem Rücksitz sang, war bei einem Kindergeburtstag. Zwischen Clara und Thomas, denen die Gesprächsthemen normalerweise nie ausgingen, hatte sich in der kurzen Zeit, die Maike bei ihnen wohnte, eine massive Spannung aufgebaut.
Thomas hatte kein Wort gesprochen, seitdem sie in Bad Dürkheim losgefahren waren. Claras Versuche, ein paar Sätze über Banalitäten auszutauschen, hatte er mit einem Aufdrehen des CD-Players beantwortet.
»La Cigarra«, die Kraft des Protests, die tief berührende, klangvolle Stimme von Mercedes Sosa. Clara verehrte sie. Sie mochte die Lieder, die Thomas früher auf der Gitarre gespielt hatte, während sie leise dazu gesungen hatte.
Im Augenblick zerrte diese Musik jedoch unerträglich an ihren Nerven. Auch weil es sie schmerzte, dass Thomas inzwischen nur noch auf der E-Gitarre für die Band spielte.
Entschlossen warf sie die CD aus und schaltete das Radio ab.
»Thomas, was bewegt dich? Sprich mit mir!«
»Ich weiß nicht, was wir hier sollen«, entgegnete er barsch. »Kann Maike ihre Tochter nicht selbst abholen?«
»Du weißt, wie elend sie sich fühlt. Die Konfrontation mit Frank würde sie überfordern.«
»Frank ist doch kein Monster«, brummte Thomas genervt.
»Darüber lässt sich streiten. Außerdem kann es wohl nicht so schwer sein, jemandem zu helfen, der in Not ist.«
»Stimmt. Man sollte dem armen Frank tatsächlich die Begegnung mit seiner Frau ersparen.«
»Stehst du etwa auf seiner Seite?«
Thomas wich einer Antwort aus. »Wie lange gedenkt Maike eigentlich bei uns zu wohnen?«
»Bis sie eine schöne Wohnung für sich und Sophie gefunden hat.«
»Vielleicht möchte Sophie bei ihrem Vater leben.« Wenn Thomas schlecht gelaunt war, verspürte er einen unwiderstehlichen Drang zu provozieren.
»Ein achtjähriges Mädchen gehört zu seiner Mutter«, entgegnete Clara scharf.
»Wir leben im 21. Jahrhundert, auch wenn du das nicht wahrhaben willst. Die Rechte der Väter wurden gestärkt.«
»Welche Rechte denn noch? Ihr entsorgt eure Frauen pünktlich zum Klimakterium, tauscht sie gegen Frischfleisch ein und braucht dank der neuen Scheidungsgesetze nichts mehr zu zahlen. Ihr seid nicht besser als diese türkischen Machos, die ihre Frauen verhüllt und mit schweren Einkäufen beladen fünf Meter hinter sich herlaufen lassen.« Clara atmete tief durch. »Und vor allem geht es hier um die Rechte und das Wohl des Kindes.«
»Erstens bist du rassistisch. Zweitens verwendest du das falsche Personalpronomen. Du beziehst dich auf die dritte Person Singular, sprichst aber in der zweiten Person Plural.«
»Wag es nicht, so mit mir zu reden!«, fauchte Clara.
Thomas setzte seine Argumentation ungerührt fort. »Soviel ich weiß, habe ich dich weder entsorgt noch gegen Frischfleisch ausgetauscht.«
»Aber zu mir bekannt hast du dich auch nicht.«
Thomas verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder. Ich dachte, wir hätten dieses Thema geklärt.«
»Wir haben gar nichts geklärt. Du beharrst auf deiner Sichtweise. Wenn du mich liebst, warum kannst du es nicht vor aller Welt zeigen? Meinen Herzenswunsch erfüllen und unsere Liebe feiern, mit einem ganz besonderen Tag, den wir nie vergessen?«
»Weißes Kleid, Kirche und eine von Schimmeln gezogene Kutsche? Im Ernst?« Thomas schüttelte den Kopf. »Du passt wirklich nicht in unsere Zeit.«
»Da ist dir etwas entgangen. Hochzeiten sind groß in Mode.«
»Um zum Thema zurückzukehren«, sagte Thomas entnervt, »in unserer Zeit hat man erkannt, dass Kinder in Kindergärten und Schulen verstärkt weiblichen Einflüssen ausgesetzt sind. Da brauchen sie zum Ausgleich besonders die Väter.«
»In Ordnung, ich ziehe aus, dann kannst du Elena mit viel männlicher Energie großziehen.«
»Wir sind da.«
»Ich bleibe im Auto. Ich kann Frank jetzt nicht ertragen.«
»Du übertreibst«, sagte Thomas. Er erwartete, dass Clara jetzt endgültig explodierte.
Stattdessen fragte sie leise: »Möchtest du mit ihm tauschen?«
Er wusste, dass es falsch war, doch wenn er in dieser Stimmung war, konnte er nicht anders. »Welcher Mann wollte das nicht?« Er stieg aus und schlug heftig die Wagentür zu.
Als sie Thomas kurz darauf mit Sophie aus dem Haus kommen sah, zog sich Claras Magen schmerzhaft zusammen. Wie würde das Mädchen die Trennung seiner Eltern verkraften? Noch dazu, da die Eltern hoffnungslos zerstritten waren?
Ihre Befürchtungen bestätigten sich. Clara wollte Sophie drücken, die sich ihr aber entzog. Ein »Hallo, Clara« war alles, was das Kind sagte.
Auf der Fahrt gab sich Clara Mühe, aber Sophie blieb still. Erst als Clara die, wie sie fand, blöde Frage stellte, was sie in der letzten Zeit denn so gemacht habe, wurde die Kleine lebendig. Aufgeregt erzählte sie von einem Ausflug in den Odenwald am vorigen Wochenende.
»Lizzie ist mit mir im Gelände geritten. Sie sagt, ich habe einen sehr guten Sitz. Die Fjordpferde sind so schön, die haben diese helle Farbe und eine schwarze Linie auf dem Rücken. Im Odenwald sieht man sie ganz oft. Lizzie hat Finya genommen, ich hatte Ole. Der ist mein Lieblingspferd. Er ist im Trab ganz weich. Wir sind sogar galoppiert! Ich bin bisher immer nur in der Reithalle galoppiert, noch nie im Gelände. Aber Lizzie sagt, die Pferde sind total zuverlässig. Die bringt nichts aus der Ruhe. Das muss so sein, weil ja auch Anfänger auf ihnen reiten. Also, die Pferde tun mir schon leid, wenn jemand nicht reiten kann und ihnen im Rücken wehtut … Am liebsten würde ich Ole kaufen, dann würde nur noch ich auf ihm reiten, aber dann müsste ich noch ein zweites Pferd haben. Lizzie sagt, Pferde sollen nicht alleine gehalten werden, sie sind Herdentiere. Sie brauchen andere Pferde, so wie wir andere Menschen brauchen. Lizzie ist sogar auf Turnieren geritten! Sie ist richtig bekannt. Aber sie behandelt ihre Pferde trotzdem gut. Sie sagt, man darf von einem Pferd nur so viel verlangen, wie es kann.«
So ging es weiter, bis sie Bad Dürkheim erreichten.
Clara war das Herz schwer. Sie litt noch unter dem Streit mit Thomas. Sie spürte Sophies Zerrissenheit. Und sie fühlte Maikes Schmerz, den das Schwärmen ihrer Tochter für Lizzie noch verstärken würde.
Beim Aussteigen drückte Thomas ihr einen Umschlag in die Hand.
»Was ist das?«
»Eine Einladung«, antwortete er knapp.
»Mein Papa und Lizzie feiern ihre Geburtstage zusammen, aber da kommen nur Erwachsene, deshalb bin ich nicht dabei, mit mir feiern sie extra«, verkündete Sophie.
Clara zwang sich zu einem Lächeln. Sie legte Sophie den Arm um die Schulter. »Wollen wir mal schauen, was deine Mama macht?«
»Mama!«, rief Sophie nach oben und hüpfte Richtung Haus.
Hinter ihrem Rücken gab Clara die Einladung an Thomas zurück. »Da kannst du ohne mich hingehen«, flüsterte sie.
Thomas warf ihr einen undefinierbaren Blick zu und steckte den Umschlag ein.
Samstag, 19.Mai
Eine Woche später bereitete Clara mit Elena das Abendessen zu, nachdem Thomas zu der Feier bei Frank Neuendorf aufgebrochen war. Elena stand am Kindertisch, der in der Küche für sie aufgestellt worden war, und rührte eifrig in einer riesigen Salatschüssel herum.
»Das genügt«, sagte Clara, »jetzt fehlt nur noch der Schnittlauch.« Sie kippte frisch gehackten Schnittlauch von einem Brettchen in die Salatsoße, und Elena fing wieder an zu rühren. Clara beugte sich zu ihr hinunter und küsste das Kind auf den Kopf.
»Lass das, Mama, ich muss mich konzieren.«
Clara staunte wieder einmal darüber, wie klar ihre Tochter sie spiegelte. Elena klang wie Clara, wenn diese bei der Schreibtischarbeit nicht gestört werden wollte. »Natürlich«, sagte sie, »du musst dich konzentrieren, damit die Soße richtig lecker wird. Das machst du prima. Jetzt darfst du den Salat dazugeben.«
Elena füllte die gewaschenen Salatblätter in die Schüssel, wobei etliche ihr Ziel verfehlten. Während sie mit zwei Löffeln hantierte, um Salat und Soße zu mischen, sammelte ihre Mutter die danebengefallenen Blätter auf und wusch sie ein weiteres Mal.
»Brünnlein«, forderte Elena.
Clara gab den Einsatz, und sie stimmten gemeinsam das Lied an, wobei sie den Text gestisch untermalten: »Wenn alle Brünnlein fließen« – sie zeichneten Wellen in die Luft – »so muss man tri-in-ken« – sie hoben je ein imaginäres Glas an die Lippen. Bei »rufen« bildeten sie einen Trichter, und bei »winken« war die Sache klar. Das »ju, ja« jubelte Elena mit Wonne in die Welt hinaus. Als der letzte Ton verklungen war, klatschte sie begeistert in die Hände.
»Darf ich dich jetzt küssen?«, fragte Clara.
»Ja!« Elena streckte ihre Ärmchen aus und erlaubte ihrer Mutter, sie hochzuheben und zu knuddeln.
»Die Nachspeise stelle ich raus, damit sie nachher nicht ganz so kalt ist.« Clara holte den Milchreis aus dem Kühlschrank und verfeinerte ihn mit Zimt. Dann öffnete sie die Klappe des Backofens. Die Calabacínes al horno, überbackene Zucchini, waren gut gebräunt. »Ich glaube, wir sind fertig. Du kannst Maike und Sophie holen.«
Elena rannte los. Ohne sie wirkte die Küche plötzlich leer. In der Stille wurden Claras Gedanken laut. Warum schmerzte es sie so, dass Thomas auf die Feier gegangen war? Zweifelte sie an ihm? Was genau war es, das sich zwischen Thomas und sie geschoben hatte? War ihre Beziehung weniger sicher, als sie geglaubt hatte? »Welcher Mann wollte das nicht.« Sie ahnte, dass er sie damit provozieren wollte, dennoch ließ dieser Satz sie nicht los.
Elena kam mit Sophie zurück.
»Na, was hast du gemacht?«, wollte Clara von Sophie wissen. »Hast du gelesen?« Genau wie ihr Bruder Stefan war Sophie eine Leseratte.
»Ich habe für die Schule gelernt. In einer Woche schreibe ich eine Klassenarbeit in Deutsch.«
»Brauchst du Hilfe?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Mama hat mir versprochen, Diktat mit mir zu üben.«
»Prima, dann bist du ja versorgt. Aber denk dran, Schule ist nicht alles. Du kannst gerne mal eine Freundin mit hierherbringen.«
»Ja, danke.«
Clara umarmte sie kurz. »So, ich habe Hunger. Wo ist denn deine Mama?«
Sophie zuckte die Achseln. »Ich dachte, sie ist bei euch.«
Clara rief laut nach Maike. Als keine Antwort kam, ging sie nach oben, während die Mädchen im Hof nachsahen.
Von Maike keine Spur.
Claras Gedanken wanderten zu der Feier, und eine ungute Ahnung beschlich sie.
***
Von außen hätte man Stefan Neuendorf für einen meditierenden Yogi halten können. Er saß auf dem einzigen Stuhl in seinem Studentenzimmer und hatte seine Haltung seit einer halben Stunde nicht verändert.
In Wirklichkeit brodelte es in ihm.
Heute fand die große Feier statt. Sein Vater hatte ihn allen Ernstes dazu eingeladen. Der glaubte wirklich, er könne neue heile Familie spielen. Eine Spielfigur war ausgetauscht worden, sonst blieb alles beim Alten.
Stefan wusste nicht, wohin mit seiner Wut. Er würde es ihnen zeigen. Er wusste nur noch nicht, wie. Er grübelte, machte Pläne, verwarf sie wieder.
Als es an der Wohnungstür klingelte, fuhr er zusammen. Widerwillig stand er auf, um zu öffnen.
Sylvie, seine beste Freundin seit der Schulzeit, drückte sich an ihm vorbei ins Innere.
»Was soll das?«, blaffte er. »Du weißt, dass ich keine Zeit habe.«
»Verdammt, Stefan, was ist los mit dir?«
»Lass mich in Ruhe!«
»Das höre ich schon seit Tagen. So geht es nicht weiter! Ich weiß, es ist schlimm, wenn Eltern sich trennen, aber …«
»Du hast doch keine Ahnung!«
»Dann erklär es mir, damit ich dich verstehen kann.«
»Was ist das, Grundkurs Psychologie für Lehramtskandidaten? Wie bringe ich verstockte Schüler zum Reden?«
»Hör auf, dich zu bemitleiden. Tu was! Sieh zu, dass du dein Leben auf die Reihe bringst! Wann warst du zum letzten Mal an der Uni?«
»Such dir einen anderen, den du bemuttern kannst!«
Sylvie erstarrte.
Stefan musterte sie schonungslos. »Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, nimm den Rat eines guten Freundes an und such dir lieber einen, der es dir ordentlich besorgt. Ich bin dann mal weg. Du kannst die Tür einfach ins Schloss fallen lassen.«
Er nahm seine Brieftasche und das Handy vom Tisch, ging hinaus und schlug den Weg zur nächsten Kneipe ein.
Tu was.
Ja, meine Liebe, ich werde etwas tun.
Sein Plan nahm Gestalt an.
***
Pünktlich um halb acht stand Thomas am Neckarufer in Neuostheim vor dem Haus der Neuendorfs. Er zögerte zu klingeln. Alles war ihm so vertraut. Wie oft war er mit Clara hier gewesen, sie hatten gefeiert, über Gott und die Welt philosophiert und Spaß gehabt. Sie waren von hier aus zu Familienausflügen mit Sophie und Elena und anfangs auch mit Stefan gestartet. Manchmal hatten sie übernachtet. Eine wunderbare Nacht fiel ihm ein. Elena hatte bei Sophie im Kinderzimmer geschlafen, Clara und er hatten das Gästezimmer für sich gehabt und sich, leicht beduselt von einigen Gläsern Wein, endlos geliebt, aufgeregt und unersättlich wie in den ersten Wochen ihrer jungen Beziehung.
Jetzt hatten sie sich in nur zwei Wochen erschreckend weit voneinander entfernt. Thomas seufzte. Er fühlte sich schuldig, und gleichzeitig spürte er eine irrationale Wut.
Plötzlich ging die Tür auf. Ein junges Mädchen in Hotpants und Stiefeln stand strahlend vor ihm. Ohne es zu wollen, dachte Thomas an seine Mutter, die das »nuttig« genannt hätte. Nun ja, seine Mutter war definitiv kein Maßstab.
»Hi, ich bin Lizzie. Du musst Tommy sein.«
Sprachlos überreichte er der jungen Frau den mitgebrachten Blumenstrauß. Blumen für die Dame. Er kam sich lächerlich vor.
Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Strauß schnurstracks in die Mülltonne gewandert wäre. Aber Lizzie bedankte sich artig und führte Thomas ins Haus.
»Frank«, rief sie quer durch die Wohnung, »Tommy ist da!«
»Thomas, alter Junge!« Frank klopfte ihm jovial auf die Schulter.
Thomas war erleichtert, seinen Namen wiederzuhaben. Für einen Augenblick konnte er Clara verstehen. Was um Himmels willen hatte Frank bewogen, seine Familie aufzugeben für dieses Kind, das gerade mal Anfang zwanzig sein mochte, »Hi« sagte und im Sommer Stiefel trug?
Dennoch war er überzeugt, dass Männer zusammenhalten mussten. Frank war seit sechs Jahren ein wirklich guter Freund. Obwohl er Karriere gemacht und vor zwei Jahren eine Stelle als Chefarzt im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern angenommen hatte, ließ er Thomas gegenüber nie einen Standesdünkel erkennen.
Franks Lächeln wirkte verkrampft. »Wo hast du Clara gelassen?«
»Sie lässt sich entschuldigen. Ich soll Grüße sagen und …«
»Schon gut.« Frank winkte ab. »Du brauchst nichts zu erklären. Komm, ich stelle dich vor.«
Thomas folgte ihm ins Wohnzimmer. Er bewunderte das Frauenporträt eines Pfälzer Künstlers, dessen Bilder Clara liebte. Das Porträt drückte eine verhaltene Wildheit aus, die den Beobachter nicht mehr losließ.
Frank stellte Thomas einen Studienkollegen und ein befreundetes Paar vor. Ein weiteres Ehepaar kannte er bereits von früheren Begegnungen.
»Die anderen sind draußen.« Frank lotste Thomas auf die Terrasse, von wo lebhaftes Stimmengewirr hereindrang. Eine Gruppe junger Leute stand dort zusammen. Sie stellten ihr Gespräch ein und sahen den älteren Männern neugierig entgegen.
»Mein Freund Thomas«, erklärte Frank schlicht. Dann zog er ihn zu einem jungen Mädchen. »Amelie, meine Schwägerin.«
Thomas zuckte bei dieser Bezeichnung zusammen. Lizzies Schwester gab Thomas mit schüchternem Lächeln die Hand. »Sie können Amy sagen.«
»Und das ist Jan, er gehört sozusagen auch zur Familie«, fuhr Frank unbeirrt fort.
Der junge Mann, der ein Glas Sekt in der Hand hielt, nickte freundlich. Amy errötete. Thomas registrierte, dass sie Jan schmachtend ansah, der allerdings deutlich älter war als sie. Vielleicht lag der Hang zu reiferen Männern in der Familie.
Aus der Gruppe löste sich ein südländisch wirkender, außergewöhnlich attraktiver junger Mann. »Ich bin Pablo«, sagte er, streckte Thomas die Hand entgegen und schaute ihm forschend ins Gesicht.
Ein schlaksiger Typ tänzelte in der Art eines mittelalterlichen Gauklers heran. »Tim.« Er verbeugte sich tief.
»Und ich bin Ina«, sagte eine Frau um die dreißig mit offenem Lächeln und Schalk in den Augen, während sie Tim sanft beiseiteschob. Sie war Thomas auf Anhieb sympathisch.
»Unsere fähigste Krankenschwester«, erklärte Frank.
In diesem Moment kam Lizzie und schmiegte sich an Frank. Die beiden küssten sich innig. Thomas wusste nicht, wo er hinschauen sollte.
»Tja, der hat wohl einiges nachzuholen«, kommentierte ein junges Mädchen mit abstehender sandfarbener Mähne.
Es erntete einen missbilligenden Blick von Ina. Lizzie jedoch löste sich von Frank und legte dem Wildfang eine Hand auf die Schulter. »Meine beste Freundin Kati«, erklärte sie. »Und Jans Schwester.« Sie grinste zu Amy hinüber, die wieder knallrot wurde.
Thomas hatte sich von seiner Verblüffung noch nicht erholt, als Kati ihn schon fragte: »Wo haben Sie Ihre Frau gelassen?«
Jetzt erst dämmerte ihm, dass er Claras Psychiatriekurs aus der Krankenpflegeschule vor sich hatte, mit Ausnahme von Ina und Jan. Instinktiv machte er einen Schritt zurück, um sich von Kati zu entfernen.
Ein spitzer Schrei erklang. Thomas drehte sich um und schaute in die wütend funkelnden Augen einer blonden Model-Schönheit, die er bei seiner abrupten Bewegung offenbar übersehen hatte. Rasch entschuldigte er sich.
»Plumper geht’s wohl nicht«, fauchte die Blondine.
»Julia, reiß dich zusammen.« Das kam von Pablo.
»Es steht nun mal nicht jede auf alte Männer.«
»Halt den Mund«, knurrte Lizzie.
»Bitch«, sagte Kati und grinste.
»Schluss jetzt«, mahnte Ina, aber niemand hörte auf sie.
Thomas beschloss, schleunigst die Flucht zu ergreifen.
Frank machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem er ihn am Arm packte und zum Büfett führte.
Während Thomas zwischen Lachskanapees und Gemüsespießen nach etwas Handfestem suchte, hörte er hinter sich lautes Klirren.
»Oh Gott, das wollte ich nicht. Es tut mir ja so leid!« Die Model-Schönheit redete flehend auf Frank ein. Lizzie stürmte an Thomas vorbei und starrte fassungslos auf die Scherben der Porzellanfigur einer berühmten Marke. Thomas fiel nicht ein, wie sie hieß, irgendetwas mit einem Insekt. Er fand die Figuren kitschig, wusste aber, dass sie teuer waren.
»Die hat Frank mir geschenkt. Das hast du mit Absicht gemacht!«
Thomas kam sich vor, als würde er Elena vom Kindergarten abholen, da hatte er schon Ähnliches erlebt. Jetzt war es wirklich Zeit zu verschwinden.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Lizzie tupfte sich die Augen trocken und ging, um zu öffnen.
Einen Augenblick später brach das Chaos erst richtig los. Ein Kreischen in beängstigend hoher Tonlage durchdrang das Haus.
Mit Entsetzen erkannte Thomas die völlig verzerrte Stimme von Maike. Gleichzeitig erklangen Hilferufe.
Frank stürzte in den Flur. Thomas folgte ihm. Das Bild, das sich ihnen bot, war bizarr.
Maike, die hoch disziplinierte, gesundheitsbewusste, erfolgreiche Kinderärztin verhielt sich wie das Mitglied einer Straßengang, und genauso sah sie auch aus. Die Haare hingen strähnig herab, die Bluse war ihr aus der Hose gerutscht und klebte verschwitzt an der straffen Bauchmuskulatur, die Wangen waren ungesund gerötet. Sie hatte Lizzie am Arm gepackt, schlug ihr mit der freien Hand ins Gesicht und schrie unablässig: »Du Schlampe! Verschwinde aus meinem Haus! Du hast hier nichts verloren! Raus!«
Frank hatte die beiden erreicht, drosch blind auf seine Noch-Ehefrau ein und ließ erst von ihr ab, als Thomas resolut dazwischenging.
Während Thomas sich um Maike kümmerte, wandte Frank sich Lizzie zu, murmelte Koseworte und drängte sie, ins Krankenhaus zu gehen.
Lizzie versuchte, ihn zu beruhigen. »Bleib cool, mir geht es gut.«
»Du hast einen Schock, und du musst geröntgt werden.«
Franks Studienkollege mischte sich ein. Fachmännisch betastete er Lizzies Kopf und prüfte Augenbewegungen und Pupillen. »Beruhige dich, alter Knabe. Dem Mädel fehlt nichts.«
Thomas löste den Druck auf Maike, die er im Klammergriff hielt. »Komm, ich bring dich nach Hause.«
»Ich habe kein Zuhause!« Maike schrie erneut los. »Wo soll ich denn hin?« Thomas roch eine deutliche Fahne.
»Zu uns natürlich, da hast du doch dein Zimmer«, antwortete er. »Du lässt dein Auto stehen und fährst mit mir.«
Ohne sich zu verabschieden, zog Thomas Maike nach draußen.
Jetzt erst fiel ihm auf, dass Stefan gar nicht hier war. Er musste seinem Vater die Affäre verdammt übel nehmen.
***
Wer von Weinheim kommend durch den Saukopftunnel nach Fürth im Odenwald fuhr, der passierte die Gemeinde Mörlenbach. Der Ort verbarg zunächst seinen Charme, man passierte Supermärkte und Tankstellen. Die Schönheit des Ortskerns erschloss sich nur dem Kundigen. Wenn man abseits der Straße an einer unscheinbaren Ecke ein paar Treppenstufen hinunterstieg, stand man auf dem sonnenbeschienenen Marktplatz mit dem Dorfbrunnen, dem Rathaus und der Pfarrkirche.
Für den alten Mann existierte das Stadtzentrum nur noch in der Erinnerung. Er interessierte sich nicht mehr für romantische Plätze mit gemütlichen Cafés. Seinen klapprigen Opel Corsa, der wundersamerweise noch einmal durch den TÜV gekommen war, benutzte er nur, um die nötigsten Einkäufe zu tätigen und ganz selten für eine Fahrt in die Praxis seiner Hausärztin. Er hielt generell nichts von Ärzten, aber vor zwei Jahren war er auf der steilen Treppe seines Hauses gestürzt und hatte sich den Knöchel gebrochen, da brauchte er ab und zu ein Rezept für Schmerzmittel. Die Medikamente für Herz und Blutdruck, die er ebenfalls verschrieben bekam, vergaß er meistens einzunehmen.
Der alte Mann wohnte abseits der Durchgangsstraße am Ende einer Sackgasse, in die sich außer den wenigen verbliebenen Anwohnern kaum jemals ein Mensch verirrte.
Hier stand sein Haus, und hier hatte man ihn schlicht und einfach vergessen.
Vor vielen Jahren, nein, Jahrzehnten hatte es hier noch Leben gegeben. Junge Familien aus der unteren Mittelschicht hatten sich ihre bescheidenen Häuschen buchstäblich vom Mund abgespart, für ein wenig Freiheit und einen Garten zum Spielen für die Kinder.
Der alte Mann dachte an den kleinen Jungen, für den er damals hinter dem Haus eine Schaukel aufgebaut hatte. Der Junge hatte ihm dabei zugesehen, war aufgeregt um den Vater herumgehüpft. Als es so weit war, stieß der Vater die Schaukel an, vorsichtig erst, bis er sicher war, dass das Kind sein Gleichgewicht gefunden hatte, dann kräftiger, der Junge juchzte, sie lachten beide, dann sprang der Junge ab, und der Vater fing ihn auf und wirbelte ihn herum, und sie riefen die Mutter, damit auch sie das Wunderwerk bestaunen konnte.
Von der Schaukel waren zwei rostige Stangen geblieben, zwischen wild wucherndem Unkraut kaum noch erkennbar. Um Haus und Garten kümmerte sich niemand mehr. Der Putz blätterte ab bis auf die Grundmauern, die Tapeten waren von Stockflecken übersät, dem alten Mann fehlten die Kraft und der Sinn.
Von dem Jungen hatte er seit Jahren nichts gehört, und so würde es auch bleiben.
Nichts im Leben bedeutete dem Alten noch etwas.