Tod vor dem Steffl - Albert Frank - E-Book

Tod vor dem Steffl E-Book

Albert Frank

3,0

Beschreibung

Eine Melange aus Witz, Spannung und einem Schuss Bösartigkeit. Wien im Ausnahmezustand: Genetisch mutierte Riesentauben versetzen die Stadt in Angst und Schrecken. Der Fall erweckt die psychisch labilen Beamten einer verschlafenen Polizeiwache aus ihrem Dornröschenschlaf. Die Jahre der Untätigkeit, in denen sie sich ihren ungewöhnlichen Verhaltensstörungen hingegeben haben, sind vorbei. Jetzt wird ermittelt!

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Albert Frank, 1959 in Wien geboren, war als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen österreichischen und deutschen Bühnen tätig. Seit 1999 verfasst er außerdem Theaterstücke, darunter auch »Der Präsident«, welches als Grundlage für »Tod vor dem Steffl« diente.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Ein Hinweis für Marmeladinger und andere auswärtige Leser: Hinten im Buch findet sich ein Glossar.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/allOver images/Alamy, carson_t/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-267-0

Originalausgabe

Das Gedicht stammt aus: Ernst Kein/Jörg Hornberger, »Wiener Panoptikum« (Wien 1970), S. 51. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Wienbibliothek im Rathaus, Druckschriftensammlung.

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*De ringldaum undde duatldaum undde waundadaum undde diakndaum undde schtrossndaum undde rauchfaungdaum undde briafdaum undde hausdaum undde lochdaumde ludan scheissnollas au.Ernst Kein, 1970

Der Oskar-Helmer-Hof, benannt nach dem österreichischen Sozialdemokraten und Widerstandskämpfer Oskar Helmer, ist einer der größten Gemeindebauten Wiens. Er liegt im 21. Gemeindebezirk Floridsdorf, dem nordöstlichsten Bezirk von Wien.

1933 wurden auf dem Gelände die Strebersdorfer Militärbaracken errichtet. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war Floridsdorf der letzte Stützpunkt der deutschen Wehrmacht, hier fielen besonders viele Bomben. 1945 diente das Areal als Flüchtlingssammelstelle für vertriebene Sudetendeutsche.

Erst nachdem 1960 die Bombenruinen abgetragen waren, konnte man mit dem Bau des Oskar-Helmer-Hofes beginnen. 1967 waren die über siebenhundertachtzig Wohnungen, verteilt auf hundertzwölf Stiegen, fertig. Längliche, meist zweigeschossige Bauten mit ansprechenden Grünflächen und einer intakten Infrastruktur, dazu Kindergarten, Schule, Freibad, besondere Wohnungen für Alte und vieles mehr machen den Oskar-Helmer-Hof auch heute noch zu einer begehrten Wohnanlage. Bei Inländern, Ausländern, Jungen, Alten und Beamten. Aber dazu komme ich noch.

Gertrud und Wolfgang DurbenOskar-Helmer-Hof 14, 1210 Wien

Brrt … brrt … brrt …

Jetzt bloß keine falsche Bewegung.

Durben hebt langsam den linken Arm, damit das Vibrieren seines Handys, das an seinem Oberarm festgeschnallt ist, nicht bis zu Gerti durchdringen kann. Geschmeidig rollt er über die linke Arschbacke auf den Bettrand und schlüpft in die vor dem Bett platzierten Filzpantoffeln.

Durben will unter allen Umständen vermeiden, dass seine Frau Gertrude, von allen Gerti genannt, in ihrem Schlaf gestört oder – Gott behüte! – sogar munter wird. Durben liebt seine Gerti immer noch innig, aber am Morgen, bevor er zum Dienst geht, kann er sie eigentlich nicht ertragen. Da braucht er seine Ruhe. Früher, als Gerti noch als Lehrerin gearbeitet hat, da saßen sie einträchtig beim Frühstück. Schweigend, jeder in seine Gedanken versunken. Aber seit Gertis Burn-out, nach fast dreißig Jahren im Schuldienst kein Wunder, beginnt sie, kaum erwacht, über den verheerenden Zustand der Welt wehzuklagen.

Das vergammelte Fleisch, die lächerliche Rente, die unverhohlenen Nazis, die gierigen Banker, die depperten Russen und die depperten Amerikaner und die verkommene Kirche. Es gibt wenig, was die Gerti nicht belastet. Eigentlich nichts.

Aber Durben hat ja auch seine Probleme. Nicht, dass ihn Ebola oder die Fundamentalisten hüben wie drüben kaltlassen würden, aber darum sollen sich doch andere kümmern. Auf seiner Dienststelle fallen jeden Tag aufs Neue genug Probleme an. Die muss er lösen. Zeitnah. Dafür ist er ausgebildet. Dafür wird er bezahlt.

Geräuschlos bewegt sich Durben jetzt vom Schlafzimmer durch den Flur in die Küche und schließt leise die Küchentür. Geschafft. Gerti schläft. Das Frühstück ist eine lieb gewonnene Routine. Kaffeemaschine an. Zwei Butterbrote mit Marmelade, eines mit Erdbeere und eines mit Marille. Die Kleidung, besser Verkleidung, hat Durben schon gestern Abend über einen Küchenstuhl gehängt. Die Zeit bis Dienstbeginn ist knapp bemessen.

Der Wetterbericht verspricht für heute einen strahlend blauen Himmel. Mit Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad. Bis jetzt ist der Juni in Wien schon fast kitschig schön. Und nicht so heiß wie im Juli oder August, wenn der Südwind wie ein Haarföhn die Hitze aus der ungarischen Puszta direkt in die Stadt bläst.

Vor seinem eigentlichen Dienstantritt wird Durben auch heute wieder Jagd auf verantwortungslose Taubenfütterer machen. Er wird, wie jeden Morgen, in seinem Revier verdeckt ermitteln. Das Taubenfutter aufspüren und sichern. Im besten Fall eine Person, die illegal Tauben füttert, in flagranti ertappen und sie dann gnadenlos zur Anzeige bringen. Steter Tropfen höhlt den Stein, davon ist Durben überzeugt. Er wird erst ruhen, wenn die letzte Taube verhungert ist.

Die Zielpersonen sind vorsichtig geworden. Blitzschnell werfen sie Unmengen von Taubenfutter in eine Ecke, und genauso blitzschnell sind sie wieder verschwunden. Bisher ist es Durben noch nicht gelungen, einen der Täter oder Täterinnen zu überführen. Obwohl er täglich in ein anderes Inkognito schlüpft, um nicht erkannt zu werden. Meistens – nein, immer – sammelt Durben dann mit seinem kleinen Handbesen das Taubenfutter ein, um es später auf der Dienststelle zu vernichten.

Als Tarnung wählt Durben heute ein Basecap mit der Aufschrift »Höllerbauer-Installationen«, eine Sonnenbrille, ein T-Shirt mit dem Signet »I love Heidelberg« und einen roten Backenbart, den er schon lange nicht mehr getragen hat. Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass alle Kleidungsstücke, also Jeans, Basecap und T-Shirt, in Durbens Lieblingsfarbe gehalten sind. In Grün. Na ja, fast, denn wie gesagt, der Bart ist rot.

Nach diesem Undercover-Einsatz wird er sich dann pünktlich vor Dienstbeginn in der Dienstdusche frisch machen und seine Uniform anziehen.

Während seines morgendlichen Rituals hört Gruppeninspektor Durben den Polizeifunk. Er geht zum Dienst in die Polizeiwache Kaingasse in Wien-Floridsdorf.

Strahlender Sonnenschein begrüßt Durben, als er auf die Roda-Roda-Gasse tritt, und lässt ihn seine verspiegelte Sonnenbrille aufsetzen. Heute steht turnusmäßig der Edmund-Hawranek-Platz mit dem Altersheim im Fokus seiner Ermittlungen. Immer wieder wird dort illegales Taubenfutter von bisher unbekannten Tätern ausgebracht. Durben vermutet die Schuldigen in der Seniorenresidenz. Bisher ist es ihm aber nicht gelungen, den oder die Täter auf frischer Tat zu ertappen. Er muss inzwischen davon ausgehen, dass die Täter von Komplizen, die sich im oberen Teil des Gebäudes befinden, mit modernster Kommunikationstechnologie vor ihm gewarnt werden. Immer wieder sieht er Alte am Fenster im vierten Stock, die in ein Handy sprechen und ihm, wie er argwöhnt, höhnisch zuwinken. Sein Inkognito gibt dem Gruppeninspektor heute jedoch die Sicherheit, nicht erkannt zu werden.

Unauffällig vor sich hin pfeifend nähert er sich dem Edmund-Hawranek-Platz aus südlicher Richtung. So kommt er sichtgeschützt ziemlich nahe an die Bänke heran, die im Beserlpark in der Mitte des Platzes stehen. Es sind zwei Bänke: die Sandlerbank und die Rentnerbank. Diese Aufteilung hat sich mit der Zeit zwischen den Sandlern und den Insassen des Altersheimes so ergeben. Auf der Sandlerbank sitzt auch heute der Fritzl und zischt sein Frühstücksbier. Wie jeden Morgen, wenn es das Wetter zulässt. Aber der Fritzl und die anderen Sandler füttern keine Tauben. Für unseren Gruppeninspektor ist die andere die relevante Bank. Die Rentnerbank. Hier hofft Durben heute endlich einen Täter, oder wahrscheinlicher eine Täterin, in flagranti zu erwischen.

Es ist niemand zu sehen. Kein Rollator, keine Krücke weit und breit. Aber Tauben! Vier, nein, jetzt schon fünf Tauben, die am Fuße der Rentnerbank eifrig Körner picken. Wieder zu spät! Der oder die Täter sind wieder unerkannt entkommen.

Fritzl ist als Zeuge keine Hilfe. Er kümmert sich nicht um die Kompostis, wie er immer sagt.

Durben stößt einen entsetzten Schrei aus, als er den Tatort aus nächster Nähe in Augenschein nimmt. Das heute ausgebrachte Taubenfutter übertrifft mengenmäßig alles bisher Dagewesene bei Weitem. Zwei Plastiksackerl sind prall gefüllt, nachdem Durben die Körner mit seinem Handbesen und einem Schaufelchen sichergestellt hat. Zwei Säcke! Er ist fast den Tränen nahe, wie er da auf dem Boden kauert und die letzten Körner zusammenbeselt.

Fritzl hört zwischendurch immer wieder ein Aufjaulen, wenn der Gruppeninspektor mit seinem Beserl in die Luft schlägt, um die Tauben zu verscheuchen, die ihm die letzten Körner streitig machen wollen. Im Rücken von Durben hat sich Fritzl unbemerkt genähert und beobachtet an seiner Bierdose nuckelnd das Schauspiel, das sich ihm bietet: ein ausgemergeltes, heute rotbärtiges Männlein, das auf dem Boden kniet, Körner einsammelt, hin und wieder mit einem kleinen Besen in die Luft schlägt und dabei entsetzliche Flüche ausstößt.

»Morgen, Herr Inspektor. Alles paletti?«

Durben erschrickt fürchterlich und fällt mit einer halben Drehung auf seinen Hosenboden.

»Ah! Ah, Morgen, Fritzl. Diese Schweine! Aber ich krieg die. Irgendwann krieg ich die alle.«

»Sicher, Herr Inspektor. Sicher.«

Durben packt seine Sachen zusammen und macht sich leise schimpfend auf den Weg zu seiner Dienststelle. Wie der Fritzl ihn trotz Inkognito erkennen konnte, fragt sich Gruppeninspektor Durben erst gar nicht.

Stefanie UllrichOskar-Helmer-Hof 4, 1210 Wien

Auch in dieser Nacht hat Revierinspektorin Stefanie Ullrich kein Auge zugemacht. Die möglichen Folgen der Gentechnologie rauben ihr den Schlaf. Diese Bedrohung spürt sie geradezu körperlich. Aber außer ihr scheint das niemanden zu interessieren. Was diese Gene so alles machen, weiß doch keiner.

Und jetzt soll auch noch das Freihandelsabkommen mit den Amis kommen. Der Pakt mit diesen Radikalkapitalisten öffnet der genetischen Manipulation Tür und Tor. Wir werden genetisch unterwandert. Mit jeder Pizza, mit jeder Semmel, mit jedem Apfel, den wir essen. Vielleicht werden in Zukunft unsere Kaufinteressen genetisch beeinflusst. Von Google oder Amazon oder Billa.

Gerne würde sie jetzt mit ihrer Mutter telefonieren, aber die ist erst ab sieben Uhr zu erreichen. Ihre Mutter macht sich auch Sorgen wegen der Gene, aber erst ab sieben. Bis dahin braucht die Mama ihren Schlaf. Ullrich setzt grünen Tee auf. Während dieser zieht, geht sie für Wechselbäder unter die Dusche. Manchmal hilft das gegen ihre morgendliche Depression. Zum Tee gibt’s Blutwurst und Kren auf einer Scheibe Sauerteigbrot. Das Brot ist nicht mehr ganz weich, aber garantiert nicht genmanipuliert. Sie kauft es alle zwei Wochen bei einem burgenländischen Biobäcker am Floridsdorfer Markt. Die Blutwurst kommt von ihrer Mutter, sie betreibt einen kleinen Bauernhof im Mostviertel. Ullrich kennt alle Schweine persönlich. Im Herbst fährt sie gerne mal aufs Land, um eines davon zu schlachten. Sie weiß, was drin ist in ihrer Blutwurst: Blut, Majoran, Salz und Muskat. Sonst nichts.

Der Mutter wäre es lieber gewesen, wenn Ullrich den Hof übernommen hätte. Mit Mann und Kindern. Mutter mag zwar keine Kinder, »aber es muass jo weitergehn«.

Ihr leiblicher Vater hat sich wohl noch vor ihrer Geburt aus dem Staub gemacht. Oder er wurde von der Mutter vertrieben, was wahrscheinlicher ist. Wer ihr Erzeuger ist, hat Stefanie nie erfahren.

»Es war a haaßer Sommer«, war das Einzige, was sie ihrer Mutter entlocken konnte.

Die Großeltern sind bei einem Traktorunfall ums Leben gekommen.

»Der Papa war bsoffn. Die Mama eh a«, erklärte Mama Ullrich ihrer kleinen Tochter, als diese nach dem Verbleib ihrer Großeltern fragte.

Ullrichs Mutter hielt dann den Hof mit Saisonarbeitern am Laufen. Bei den männlichen Helfern war die Fluktuation enorm. Die meist kräftigen jungen Männer aus Kroatien, Ungarn, Serbien und dem restlichen ehemaligen österreichischen K-u.-K.-Imperium durften schon mal im Haupthaus übernachten. Aber spätestens nach der dritten Nacht wurden sie ausgetauscht.

»Damit s’ net zutraulich werdn«, wie die Mutter immer sagte.

Die weiblichen Domestiken hatten eine längere Halbwertszeit, sofern sie fleißig und nicht zu fesch waren. Ullrichs Mutter führte ein gerechtes Regiment. Sie war zu allen gleich grauslig.

Vor etwa zehn Jahren machte ein Investor ihrer Mutter ein Angebot, das diese nicht ablehnen konnte. Sie verkaufte fast ihren gesamten Grund und behielt gerade so viel, dass sie sich und ihre Leibeigenen bis heute weitgehend selbst versorgen kann. Jetzt befinden sich ein gepflegter Golfplatz und ein Golfhotel neben dem Hof.

»Für die Gstopftn aus Wien«, wie Mama angewidert feststellt.

Geldprobleme hatte Mama Ullrich nie, und jetzt erst recht nicht. Inzwischen gibt es nur noch zwei Helfer auf dem Hof, die ausgemergelte, über siebzigjährige Sudanesin Bimbal und ein altersloser, grenzdebiler Mongole, der aber zupacken kann.

Manchmal, wenn auf dem Hof gerade nichts zu tun ist, schickt die Mutter Mongo – so nennen ihn alle der Einfachheit halber – auf den Golfplatz, damit er nach verschossenen Golfbällen sucht. Das geht natürlich nur kurz nach Tagesanbruch oder kurz vor Sonnenuntergang, weil es eigentlich verboten ist. Mongo bekommt dann für jeden gefundenen Golfball ein Zuckerl und fünfzig Cent. Diese Golfbälle vertickt dann Bimbal vor anderen Golfplätzen. Mutter ersetzt ihr die Fahrtkosten, und als Lohn darf Bimbal zehn Prozent vom Erlös behalten. Sie ist froh, wenn sie mal, wenn auch nur für ein Stündchen, vom Hof wegkann.

Mutter ist mit ihren jetzt dreiundsiebzig Jahren zwar ruhiger, aber nicht wesentlich zugänglicher geworden. Stefanie Ullrich fährt auch nicht wegen ihrer Liebe zur Mutter aufs Land. Ihre Liebe gilt der Blutwurst und dem Schlachten. Dabei ist ihr Mongo nur zu gerne behilflich. Er quietscht dabei immer so, als ob er selbst geschlachtet würde. Das Abstechen eines Schweins scheint ihm echt Spaß zu machen.

Der Tee hat lange genug gezogen. Die Blutwurst und das Brot sind aufgeschnitten, der Kren ist frisch gerieben. Der Morgen graut. Eigentlich müsste es »dem Morgen graut« heißen, findet Ullrich. Seit die Gentechnik mit voller Wucht in ihr Leben getreten ist und sie die Dimension der damit verbundenen Gefahren erfasst hat, ist sie nicht mehr die Gleiche. Besonders lebensbejahend oder gar optimistisch war die Ullrich ja nie, aber jetzt hat sie eine depressive Panik gepackt, die auch für sie überraschend ist. Ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit und vor allem uneingeschränkter Einsamkeit. Niemand, gar niemand sieht das volle Ausmaß dieser Gefahr. Die Politik nicht, die Mutter nicht und ihre Kollegen erst recht nicht.

Die Kollegen! Da sitzt man seit fast vierzehn Jahren in derselben Dienststelle, im selben Büro. Es gibt ja nur eines in Wiens kleinster Polizeiwache. Und was verbindet einen? Nix! Die Kollegen sind beide um mehr als fünfzehn Jahre älter, und vor allem sind sie Männer.

Und mit Männern konnte sie noch nie viel anfangen. Nie. Ihre Mutter fragte sie mal, ob sie eine warme Schwester ist. Steffi konnte ihr beim besten Willen keine ehrliche Antwort geben. Ihre Sexualität ist ihr selbst ein Rätsel.

In einer Art Selbstversuch hat sie sich Pornos mit Lesben, Heteros und Schwulen angesehen. Für sie so erregend wie die Teletubbies. Sie ist in die Frauensauna gegangen. Nix. In die gemischte Sauna. Nix. Dort haben ihr ein paar Männer ungeniert auf die etwas zu mächtig geratenen Brüste gestarrt. Das hat Ullrich nicht weiter gestört, eher irritiert. Was finden Männer bloß an diesen nutzlosen Gewebebergen, die ihr oft Kreuzschmerzen bescheren und sie zu einer leicht gebeugten Haltung verleiten? Einer Körperhaltung, die gerade in Uniform völlig unangebracht ist.

Einmal hat sie versucht, einen Mann zu küssen. Ein Desaster! Sie erinnert sich nicht gerne daran. Ihr damaliges Gegenüber sicher noch weniger. Der Mike hat seit damals einen ziemlichen S-Fehler, was vermutlich an der abgebissenen Zungenspitze liegt.

Schwamm drüber. Kinder, Männer und Bauernhof spielen in ihrer Lebensplanung schon lange keine Rolle mehr. Ihre Berufung ist es, Verbrecher zu fangen und auszuschalten. Und, wenn es denn sein muss, allein gegen die Biochemie und deren Büttel anzutreten.

Revierinspektorin Ullrich dreht den Polizeifunk an. Dieses monoton krächzende, metallische Schnarren mit den immer wiederkehrenden Meldungen: Unfall, hilflose Person, Schlägerei, Täter, Flucht … Das alles dringt kaum in ihr Bewusstsein, aber es gibt ihr doch das Gefühl, dass noch alles in Ordnung ist. Noch. In knapp zwei Stunden ist Dienstbeginn. Zwei Stunden Zeit für Recherche.

Sie setzt sich an ihren Küchentisch. Vor ihr das Buch »Gentechnologie – unser letztes Experiment«. Daneben das Brettchen mit dem Blutwurstbrot. Der Kren und die Blutwurst haben inzwischen ihren appetitlichen Glanz verloren. Das Brot war schon vorher hart. Hart ist auch der Blick von Ullrich. Hart und entschlossen.

Es ist aber noch etwas anderes in diesem Blick, das schwer zu beschreiben ist, obwohl man dieses Gefühl zu kennen glaubt. Eine unbändige Wut, die kein Ventil findet, weil der Gegner nicht zu greifen ist. Das sind so die Momente, in denen sie die Autonomen, die Chaoten, beneidet. Die setzen ihre schwarze Sturmmütze auf und schmeißen Pflastersteine. Auf eine Bank, ein Ministerium, die Nobelkutsche eines menschenverachtenden Kapitalisten.

Ja, das wär’s jetzt.

Die Tage, an denen es ihr immer schwererfällt, ihre Uniform anzuziehen, um genau solche anarchistischen Angriffe abzuwehren, häufen sich besorgniserregend. Wobei man sagen muss, dass sie in der Dienststelle Kaingasse sehr selten mit derartigen strafbaren Handlungen konfrontiert wird. Eigentlich nie.

Ullrich nimmt eine Ritalinpille. Ein Stimmungsaufheller, der gleichzeitig die Konzentration schärft. Sie kennt die Wirkung seit ihrem dreizehnten Lebensjahr. Damals hat es ihr der Schulpsychologe empfohlen. Wegen ADS, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Ritalin hilft da generell weiter. Es wird aber nicht nur hyperaktiven Zappelphilipps verschrieben, sondern auch schulischen Tagträumern. Das wissen die wenigsten. Ullrich gehörte in der Schule zu den Träumern. Sie wirkte auf ihre Lehrer äußerst verschlossen und geradezu abwesend.

Das lag allerdings weniger an ihrer überschäumenden Phantasie, sondern war mehr dem Umstand geschuldet, dass sie jeden Morgen um halb fünf die Kühe melken musste, da ihre Mutter gerne mal etwas länger schlief und Steffi es nicht ertragen konnte, die Kühe schon von Weitem brüllen zu hören, wenn sie am Nachmittag aus der Schule kam. Das Ritalin half ihr damals, den Schultag zu überstehen, und es hilft ihr auch noch heute.

Und was für eine Dreizehnjährige ungefährlich ist, kann ja wohl für eine Fünfundvierzigjährige nicht schädlich sein. Dr. Buchsbaumer ist inzwischen schon über achtzig, aber er hat ihr, als er vor fünf Jahren in Rente ging, einen Rezeptblock geschenkt. Blanko unterschrieben. Ullrich muss nur das Datum und die Menge einsetzen. Sehr aufmerksam vom Herrn Doktor: »Damit’st net immer so weit fahren muasst, Madl.«

Der Block wird wohl noch ein paar Jahre reichen, da sie sich immer die gerade noch zulässige Maximalmenge verordnet.

Die Nebenwirkungen von Ritalin sind absolut kalkulierbar. Die Kopfschmerzen, der trockene Mund und die manchmal auftretenden Aggressionsschübe sind halb so wild. Und sollte sie mal ein, zwei Pillen zu viel eingeschmissen haben und nicht schlafen können, dann nimmt sie eben, wie heute Morgen, eine Pille zum Frühstück, und alles ist wieder im Lot.

Auch heute setzt die Wirkung fast unmittelbar ein. Sie fühlt, wie ihre Kräfte zurückkehren. Die Wut bleibt, aber sie ist euphorisch. Eine euphorische Wut, die nicht mehr lähmt, sondern den Kampfgeist beflügelt.

Um viertel acht schwingt sich die Ullrich auf ihren Drahtesel. Die Fahrt zu ihrer Dienststelle müsste jetzt – sie fühlt sich topfit – in etwa zehn Minuten zu schaffen sein. Das ist ihr sehr wichtig.

Ullrich achtet sehr darauf, dass sie die Umkleide in der Polizeiwache für sich alleine hat. Die Vorstellung, sich mit Gruppeninspektor Durben gleichzeitig umziehen zu müssen, bereitet ihr ein geradezu körperliches Unbehagen. Gegen alle Vorschriften gibt es in der Polizeiwache Kaingasse keine nach Geschlechtern getrennten Umkleideräume. Aber allgemeine Vorschriften sind in dieser Dienststelle ohnehin nicht weiter von Bedeutung. Was sie Gruppeninspektor Durben hoch anrechnet, ist, dass auch er es peinlich vermeidet, ihr in der Umkleide zu begegnen. Sie haben eine unausgesprochene Verabredung. Ab sieben Uhr fünfundvierzig gehören Dusche und Umkleide Gruppeninspektor Durben.

Gruppeninspektor Kruppa ist von diesem Agreement nicht betroffen. Er kommt und geht immer in seiner Uniform. Ullrich hat ihn in vierzehn Jahren noch nie in Zivil gesehen. Wahrscheinlich besitzt er gar keine Zivilkleidung.

Da die Sonne ja bekanntlich keine Dienstgrade kennt, strahlt sie für Revierinspektor Ullrich ebenso wie ein paar Minuten vorher für Gruppeninspektor Durben. Das Ritalin lässt die Sonne für Ullrich jedoch noch etwas strahlender strahlen. Vom Oskar-Helmer-Hof, wo die Ullrich seit über zehn Jahren wohnt, zur Kaingasse, in der ihre Dienststelle liegt, ist es eine angenehme Fahrradtour. Kein Kopfsteinpflaster, das einem das Gehirn durchrüttelt. Kein Verkehr, auf den man sich konzentrieren müsste. Keine Ampeln, die sinnlos Zeit kosten. Die euphorisierende Chemie findet in kraftvollen Pedaltritten ihr Ventil. Mit hohem Tempo fetzt die Ullrich durch die Roda-Roda-Gasse und biegt dann links in die Mayerweckstraße.

»Ja, bist du deppert! Du Oarsch!«

Da kann man schon die Fassung verlieren. Ein Autofahrer hat seine Wagentür aufgemacht, ohne vorher in den Rückspiegel zu schauen. Um ein Haar wäre die Ullrich voll in die Autotür gekracht. Nur durch einen reflexartigen Schlenker in die Fahrbahnmitte konnte sie dem plötzlichen Hindernis ausweichen. Gott sei Dank kam ihr gerade kein Auto entgegen.

Der Verursacher des Fast-Unfalls scheint entweder von dem Vorfall nichts mitbekommen zu haben, oder er versucht, seinen Fauxpas zu ignorieren. In aller Ruhe geht er um sein Auto herum, öffnet die hintere Tür und hilft wohl seinem Kind aus dem Kindersitz.

So geht’s aber wirklich nicht! Schon gar nicht mit einer Ullrich, die eben noch euphorisch ihrer Genrecherche entgegenradelte.

»Sind Sie wahnsinnig? Sie können doch nicht einfach ohne Schauen die Tür aufreißen! Ich hätte tot sein können!«

»Is eh nix passiert. Bleib cool, Tante. Wir müssen in den Kindergarten. Sind eh schon spät dran.«

Ob das nun Folgende mehr dem Ritalin oder dem Adrenalin geschuldet ist, sei dahingestellt. Das Ergebnis ist für den unvorsichtigen Jungvater in jedem Fall verheerend.

Die Ullrich nickt nur zwei Mal.

Das erste Mal wie zur Bestätigung, dass sie verstanden hat, und das zweite Mal, als sie direkt vor dem eiligen Jungvater steht. Ganz direkt vor ihm. Mit diesem zweiten Nicken bricht Revierinspektorin Ullrich ihrem verdutzten Unfallgegner das Nasenbein. Der sitzt jetzt auf dem Boden und versucht, mit seinen Händen das auslaufende Blut aufzufangen. Eine ebenso häufige wie sinnlose Reaktion auf einen Nasenbeinbruch.

Jetzt erst registriert die Ullrich das etwa vierjährige Mädchen, das ziemlich irritiert auf seinen am Boden sitzenden Erzeuger schaut.

»Der Papi muss besser aufpassen. Im Verkehr muss man immer aufpassen, dann passiert auch nix. Merk dir das. Für die Zukunft.«

Mit diesem pädagogischen Rat schwingt sie sich wieder auf ihren Drahtesel. Jetzt hat sie es eilig, wegzukommen. Noch gibt es keine Zeugen für den Vorfall, und so soll es auch bleiben.

»Ich zeig dich an! Du Irre!«, ist das Letzte, was die Ullrich noch hört, bevor sie nach rechts in die Kaingasse abbiegt.

Bevor jetzt unsere Inspektoren in der Kaingasse eintreffen, sollte man die außergewöhnliche Stellung, die diese Dienststelle innerhalb der Wiener Polizeidienststellen einnimmt, etwas genauer erläutern.

Um die Jahrtausendwende kam es innerhalb der Polizei Wiens zu Umstrukturierungsmaßnahmen. Reviere wurden verlegt, zusammengelegt, vergrößert, verkleinert, aufgelöst. Nur ein kleiner Polizeiposten in der Kaingasse 55b in Wien-Floridsdorf wurde bei dieser Strukturreform – ja, man kann es nicht anders sagen – vergessen.

Man muss dazu auch wissen, dass besagte Kaingasse kurz vor der Landesgrenze zu Niederösterreich endet. Sie ist im eigentlichen Sinn keine Sackgasse, sie hört einfach auf. Als hätten Bauarbeiter einfach ihre Arbeit eingestellt.

Die nächste Straße, die Dr.-Leopold-Barsch-Straße, verläuft quer zur Kaingasse und gehört schon zu Niederösterreich. Zwischen der Kaingasse und der Dr.-Leopold-Barsch-Straße ist eine etwa zwanzig Meter breite Brache, die zur einen Hälfte zu Wien und zur anderen zu Niederösterreich gehört.

Der erste Polizeiposten in Niederösterreich befindet sich in ebendieser Dr.-Leopold-Barsch-Straße. Der letzte Wiener Posten vor der Landesgrenze, sieht man von unserem ab, liegt in der Berlagasse. Keine tausend Meter von der Dienststelle Kaingasse entfernt. Die Notrufe in Landesgrenznähe gehen entweder zur Gendarmerie in der Dr.-Leopold-Barsch-Straße, sofern der Notruf aus Niederösterreich kommt, oder zur Berlagasse, wenn in Wien Hilfe gebraucht wird.

Die Kaingasse spielt auch bei Besprechungen oder übergeordneten Planungen keine Rolle. Einzig die Sammel-E-Mails erreichen die Kaingasse. Die sind aber für den praktischen Tagesablauf der Dienststelle irrelevant.

Die turnusmäßigen Beförderungen finden statt. Bei Dienstjubiläen kommen Glückwünsche aus der Polizeidirektion. Die Grundversorgung mit Büromaterial, Uniformen, Waffen und Munition ist gewährleistet. Die diversen Anforderungsformulare werden von Dienststellenleiter Gruppeninspektor Durben gezeichnet und anstandslos bewilligt.

Von den ursprünglich zehn Planstellen sind gerade noch drei geblieben: Durben, Kruppa und Ullrich.

Die anderen haben um Versetzung angesucht oder sind altersbedingt ausgeschieden.

Dienststellenleiter Durben hat sich nie um die Neubesetzung einer frei gewordenen Stelle bemüht, da mehr Untergebene auch mehr Ärger bedeuten, und Ärger hatte und hat Durben immer mehr als genug.

Die drei Inspektoren haben sich mit dieser ungewöhnlichen Situation im Lauf der Zeit arrangiert. Sofern kein Notruf auf der Wache eingeht, und es geht de facto nie ein Notruf ein, kann sich jeder Beamte seinem spezifischen Fachgebiet widmen.

Bei Ullrich ist das zurzeit die Verhinderung einer globalen Genkatastrophe.

Durben geht völlig in seinem Taubenhass auf. Wie es dazu kam, erfahren wir später.

Und last, but not least Kruppa. Er verwendet seine Dienstzeit und seinen dienstlichen Internetanschluss hauptsächlich zum Ersteigern von Fußballdevotionalien und polizeihistorischen Artefakten. Für diese Sammelleidenschaft hat Kruppa einen hohen Preis bezahlt. Seine Frau ist weg. Seine Wohnung praktisch unbewohnbar. Aber das ist es ihm wert, sagt Kruppa.

Durben und Ullrich sind jedoch der Meinung, dass er schlicht nicht anders kann, dass er einen Poscha hat, wie man in Wien sagt, einen Knall.

Es bleibt noch etwas Zeit, bevor Revierinspektorin Ullrich als Erste die Polizeiwache betritt. Gerade genug, um sich dort ein wenig umzusehen.

Von außen könnte man meinen, dass es sich bei dem grauen Betonklotz um eine etwas größere Garage handelt, wenn da nicht das rot-weiße Schild mit der Aufschrift »Polizei« auf seine tatsächliche Bestimmung hinweisen würde.

Architektonisch, wenn man dieses Wort im Zusammenhang mit diesem Bauwerk überhaupt in den Mund nehmen darf, ist es äußerst minimalistisch gehalten. Der Architekt, wenn es denn überhaupt einen gab, hat sich wohl von einer Schuhschachtel inspirieren lassen.

Das Dienstgebäude steht am Ende der Kaingasse. Fast am Ende. Die Asphaltierung geht noch etwa zwanzig Meter weiter, bevor sie abrupt endet. Dahinter ist nur noch eine karge Brachlandschaft. Aber die gehört schon zu Niederösterreich.

Von der Straße ist das Gebäude etwa zehn Meter weit nach hinten versetzt.

Die Länge des gleichseitigen Quaders beträgt etwa zehn Meter. Die Höhe dürfte circa vier Meter betragen. Auf dem Flachdach ist ein Kreuz aufgemalt, weil es ursprünglich auch als Hubschrauberlandeplatz konzipiert wurde. Das Kreuz kann man aber von unten nicht sehen. Unnötig zu erwähnen, dass hier noch nie ein Hubschrauber gelandet ist. Wozu auch?

Die Fenster mit ihren vergammelten Plastikrahmen sind gleichmäßig um das Gebäude verteilt. Eines ist vergittert. Dahinter befindet sich eine kleine Arrestzelle. Der Häfen dient mittlerweile als Ruheraum für gestresste Gruppen- und Revierinspektoren.

Den eigentlichen Wachraum betritt man durch eine Sicherheitstür, die nur von innen oder mit einem Schlüssel geöffnet werden kann.

So war das ursprünglich gedacht. Inzwischen funktioniert der Schließmechanismus der Sicherheitstür nicht mehr, sodass der Letzte nicht vergessen sollte, abzuschließen.

Das ist zwar schon vorgekommen, besonders Durben vergisst so was leicht, aber es ist nichts weiter passiert. Wer bricht schon in eine Polizeiwache ein? Und vor allem, wer sollte abends an der Kaingasse 55b vorbeikommen? Das führt ja zu nichts und nirgends hin.

Nach dem Durchqueren der ehemaligen Sicherheitstür steht man sofort im Wachraum. Er nimmt fast die Hälfte der Gesamtfläche ein.

Gegenüber der ehemaligen Sicherheitstür schließt sich ein Flur an, von dem rechts erst der Arrestraum und dann das WC abgeht. Linker Hand kommt der Umkleideraum, durch den man in die Dusche gelangt.

Die Arrestzelle ist, wie es sich gehört, spartanisch eingerichtet. Eine mit der Wand fest verschraubte Pritsche, ein ebensolcher Tisch mit Hocker sowie eine Kloschüssel. Sonst nichts. In einer Ecke liegen noch drei Schlafsäcke, die je nach Belegung auf der Pritsche ausgerollt werden. Einziger Luxus ist ein Weltempfänger, der auf den Polizeifunk eingestellt ist.

Darin sind sich die drei Inspektoren einig, dass man mit nichts so beruhigt einschläft wie mit dem Polizeifunk.

Das Guckloch in der Zellentür, durch das man den gesamten Raum einsehen könnte, ist mit einem Kaugummi verklebt.

Der Umkleideraum liegt dem Arrestraum direkt gegenüber und hat die gleichen Ausmaße. Hier sind für die Beamten zehn schmale Blechspinde in die Wand eingelassen. Auf dem ersten steht »Gruppeninspektor Durben«, auf dem zweiten »Gruppeninspektor Kruppa« und »Revierinspektorin Ullrich« auf dem dritten.

Die Spinde vier bis zehn sind unbeschriftet, aber alle von Kruppa in Beschlag genommen. Sie dienen ihm als zusätzlicher Stauraum für seine Sammelleidenschaft. Es sind Bücher darin, alte Verkehrsschilder, Zeitschriften, historische Polizeiausrüstungs- und Gebrauchsgegenstände, Wäsche und … ja, so genau weiß Kruppa das selber nicht mehr. Er hat die Spinde seit Urzeiten nicht mehr geöffnet.

An der Wand, den ersten drei Spinden gegenüber, stehen drei Plastikstühle, wie man sie vom Camping oder von ranzigen Imbissbuden kennt. Besonders für Kruppa ist sein Stuhl wichtig, da er sich die Schnürsenkel nur binden kann, wenn er den Fuß hochstellt. Eine andere Schnürsenkelbindemethode ist ihm aufgrund seines doch ziemlich gewaltigen Bauchumfanges zurzeit nicht möglich.

In der Ecke, hinten rechts, steht die Munitionsentladekiste. Sie ist bis oben hin mit Sand gefüllt und dient der vorschriftsmäßigen Überprüfung der Waffensicherheit. Nach dem Abziehen des Magazins richtet man den Lauf der Waffe in die Kiste und betätigt den Abzug. So kann man hinterher sicher sein, dass sich keine Patrone mehr im Lauf befindet. Wenn’s kracht, war eine Patrone im Lauf. Das passiert aber nie. Wenigstens so gut wie.

Gruppeninspektor Durben hatte mal eine Patrone im Lauf vergessen und schoss in die Kiste. Der Krach in dem relativ kleinen Umkleideraum war höllisch.

Gruppeninspektor Kruppa, der das Pech hatte, gerade an seinem Spind zugange zu sein, hatte drei Tage lang ein stark eingeschränktes Hörvermögen. Er behauptet auch heute noch, dass sein Tinnitus, ein manchmal schwächerer, meist aber stärkerer Ton in seinem Ohr, von daher rührt. Das Geräusch erinnere an das Röhren eines Hirsches, behauptet Kruppa. Aber man kann das schwer überprüfen.

Über das Klo und die Dusche gibt es nicht so viel zu berichten. Durch die Umkleide kommt man in die etwas schlauchartige Nasszelle, wie der Ossi sagt. Der Ossi wohlgemerkt, nicht der Ösi, der sagt Brause. Links vom Eingang ist die randlose Dusche. An der rechten Wand ist ein Heizkörper, an dem immer zwei Handtücher hängen. Ein grünes von Durben und ein rotes von Ullrich. Kruppa duscht nie auf der Dienststelle.

Kruppa duscht auch nicht täglich. Eher seltener.

Ullrich benutzt die Dusche gern mal zwischendurch. Wenn sie die Recherchen und das Ritalin zu wuschig gemacht haben, bringen kalt-heiße Wechselduschen etwas Abhilfe. Man kann dann ganz spitze Schreie aus dem hinteren Gebäudekomplex hören.

Durben hingegen duscht jeden Morgen vor seinem offiziellen Dienstantritt. Nach seiner allmorgendlichen Taubenfutter-Einsammelaktion fühlt er sich immer so dreckig. So muss sich eine geschändete Jungfrau fühlen, meinte er einmal in einer Morgenbesprechung. Als Ullrich etwas darauf erwidern wollte, wurde sie von Kruppa mit einer herrischen Geste zum Schweigen gebracht. Er hatte wohl keine Lust, sich mit Durben darüber auszutauschen, wie sich wohl eine Jungfrau nach der Schändung fühlte. Und wollte auch nicht wissen, wie Ullrich die Gefühlslage besagter Jungfrau einschätzte. Gegenüber der Dusche befindet sich das WC, allerdings durch eine Wand getrennt. Möchte man dorthin, muss man erst durch die Umkleide zurück in den Flur und dort dann die zweite Tür rechts nehmen.

Das WC ist mit der Dusche spiegelverkehrt identisch. Links hinten ist die WC-Muschel. Rechts hinten das Pissoir. Das ist für Kruppa echt wichtig, da er aufgrund seiner Körperfülle die Muschel nicht treffen würde. Er sieht zwar, wo sein Urinstrahl endet, nicht aber, wo er beginnt, wenn Sie wissen, was ich meine.

Der Klodeckel ist immer runtergeklappt, die Klobrille niemals oben. Das ist das Einzige, was Revierinspektorin Ullrich in fast vierzehn Jahren Dienststelle Kaingasse 55b durchsetzen konnte.

Für Ordnung und Hygiene in der Dienststelle ist Frau Bibiane – kurz Bibsi – Pischinger zuständig. Eine pensionierte Bewährungshelferin, die ihre karge Rente mit dieser Arbeit etwas aufbessert. Früher hatte Bibsi selbst ein Dienstzimmer mit Putzfrau. Aber so ändern sich die Zeiten.

Sie kommt jeden Sonntag um acht Uhr und bleibt so etwa bis dreizehn Uhr. Da ist sie allein, da kann sie in Ruhe ihre Verrichtungen machen. Für die Instandhaltung der Wache braucht sie allerhöchstens drei Stunden. Die restliche Zeit nehmen Kaffeetrinken, das Checken und Beantworten von E-Mails sowie ausgedehnte internationale Telefonate in Anspruch.

Als ihre Söhne Max und Moritz noch nicht erwachsen waren, konnte sie sehr gut von ihnen leben, aber diese Einnahmequellen sind jetzt endgültig versiegt. Um das zu erklären, muss man etwas weiter ausholen.

Nach dem Abschluss an einer pädagogischen Fachhochschule begann Bibsi mit sechsundzwanzig Jahren als Bewährungshelferin bei der Stadt Wien. Schon bald merkte sie, dass ihr Interesse an den männlichen Klienten nicht rein beruflich war. Bibsi fühlte sich von diesen Kriminellen körperlich angezogen. Egal, ob es die dilettantischen Tätowierungen an den Unterarmen von gewaltbereiten Ex-Knackis waren oder der routiniert schmachtende Augenaufschlag eines verurteilten Heiratsschwindlers. Diese aufregende halbseidene Aura konnte ihr kein Kollege, aber auch kein anderer Mann mit einem blütenweißen Führungszeugnis bieten.

Bibsi war über ihre eigenen Empfindungen durchaus irritiert. Aber sie war jung und lebenslustig. Und sie wollte sich später nicht vorwerfen müssen, dass sie irgendwas verpasst hätte.

Aber für Bibsi kam es nie in Frage, mit einem dieser vorbestraften Rechtsbrecher eine ernsthafte Beziehung einzugehen. Sie ließ sich nur auf Klienten ein, die in einer festen Beziehung lebten. Also verheiratet waren. Glücklich verheiratet. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass sich eine ihrer Bettgeschichten womöglich wegen ihr trennte und plötzlich Ansprüche an sie stellte.

Diese Überlegung erwies sich nicht nur als praktisch, sondern auch als durchaus gewinnträchtig. Und das kam so.

Damals kannte man noch kein Aids, und wenn Bibsi, meist während eines Kundengesprächs, die Begierde überkam, war nie ein Präservativ in Griffnähe. Und Warten oder gar Aufschieben war für Bibsi damals undenkbar. Sie liebte es spontan, kurz, aber heftig.

Das jeweilige Objekt ihrer Begierde kam erst gar nicht zum Nachdenken. Bevor ihm einfiel, dass er eigentlich glücklich verheiratet war, saß Bibsi schon wieder zufrieden und mit leicht geröteten Wangen an ihrem Schreibtisch.

Als sie dann schwanger wurde, konnte sie beim besten Willen nicht sagen, wer der Verursacher ihrer Leibesfrucht war. Bei Max, ihrem Erstgeborenen, kamen vier Klienten in die nähere Auswahl. Ein Bankräuber, ein Einbrecher, ein Trickbetrüger und ein Kunstfälscher. Das Lukrative daran war, dass Bibsi allen vieren unter dem Siegel der absoluten, immerwährenden Verschwiegenheit von ihrer Schwangerschaft berichtete und von allen heimlich, aber pünktlich für Max alimentiert wurde. Bei Moritz, der drei Jahre später das Licht der Welt erblickte, verhielt es sich im Prinzip genauso. Die Straftaten der potenziellen Erzeuger waren andere, aber das änderte nichts am Prinzip.

So kam es, dass Bibsi zwei Kinder von insgesamt neun Vätern hatte. Ihre Söhne wuchsen zwar vater-, aber alles andere als mittellos auf. Mit der Volljährigkeit von Moritz versiegte diese Einkommensquelle aber endgültig.

Ja, und jetzt putzt Bibiane Pischinger die Dienststelle Kaingasse 55b. Times are changing.

Wenn Bibsi mit dem hinteren Trakt der Dienststelle durch ist, kommt die eigentliche Wachstube dran. Drei Schreibtische. Einer rechts vom Eingang, einer links, einer im hinteren rechten Eck. Rechts Kruppa, links Ullrich, Durben im Eck. Die Schreibtische, das hat ihr der Dienststellenleiter Durben explizit erklärt, sind für sie putztechnisch absolut tabu. Das soll ihr nur recht sein. Hier gilt es, den Boden zu machen, die Fenster und das Regal links hinten. Das ist praktisch leer. In einem mittleren Fach stehen ein Wasserkocher, Tassen, Nescafé, Kaffeeweißer, Tee und solche Sachen eben. In einem kleinen Campingkühlschrank, für den ein Regalzwischenboden entfernt wurde, stehen ein paar Energydrinks und Bierdosen.

Für ihren E-Mail-Verkehr kann sie nur den Rechner hinten rechts benützen. Die beiden anderen sind passwortgeschützt. Ein paarmal hat sie aus reiner Neugierde den Verlauf aufgerufen, aber da war nichts. Entweder wurde er gelöscht, oder, was Bibsi vermutet, der Rechner wird gar nicht verwendet.

Zum Telefonieren setzt sich Bibsi aber lieber an einen der beiden anderen Schreibtische. Sie kann von da aus dem Fenster schauen. Das geht bei dem Schreibtisch hinten rechts nicht. Da schaut man auf die graue Wand.

Bibsi kann ja nicht wissen, dass der Schreibtisch von Durben extra so gestellt wurde, damit er nicht bei einem Blick aus dem Fenster eventuell einer Taube ansichtig wird. Das regt ihn zu sehr auf und belastet die Atmosphäre in der Dienststelle erheblich.

Nach getaner Arbeit und ihren persönlichen Verrichtungen gönnt sich Frau Bibiane Pischinger beim Wirt in der Roda-Roda-Gasse ein typisches Wiener Sonntagsessen. Mal Schnitzel mit Erdäpfelsalat, mal Schweinsbraten mit Knödel. Was die Küche eben gerade anbietet. Dazu trinkt sie ein Krügerl Gösser-Bier. Nach dem Mahl geht sie satt und etwas bedüdelt vom Bier nach Hause in den Oskar-Helmer-Hof 33 und legt sich zu einem ausgedehnten Mittagsschläfchen nieder, um abends für den »Tatort« fit zu sein. Meistens schläft sie trotzdem vor dem Fernseher ein. Ob das am »Tatort« oder an ihr liegt, weiß man nicht.

Ullrich atmet auf, als sie die ehemalige Sicherheitstür zur Wachstube Kaingasse aufsperrt. Sie ist die Erste. Ein Blick auf die Uhr. Es bleiben ihr ziemlich genau fünfzehn Minuten für ihre morgendlichen Waschungen. Ihre Zivilkleidung – Trainingsanzug, Sportschuhe und Stirnband – verstaut sie gleich in ihrem Spind. Die Uniform – Hose, Bluse, Stiefel, Barett – legt sie auf ihrem Plastikstuhl bereit. BH und Slip zieht Ullrich erst in der Dusche aus. Die Vorstellung, plötzlich völlig nackt vor Durben zu stehen, lässt sie schaudern. Diese drei Minuten Wechselduschen lassen sie jeden Morgen ihre Sorgen um den Fortbestand der Schöpfung kurz vergessen. Vielleicht wird durch diese kreislaufanregenden Temperaturwechsel das Ritalin in ihren Adern aufgewirbelt und entfaltet so erst die optimale antidepressive Wirkung.

Die Erinnerung an die kleine Verkehrsregellektion, die sie diesem unachtsamen und etwas unverschämten Familienvater angedeihen ließ, zaubert ein kleines Lächeln auf ihre sonst so düstere Miene.

Gesäubert und erfrischt geht ihr erster Gang zum Wasserkocher. Im Handwaschbecken des Klos füllt sie ihn heute ganz auf. Durben mag es, wenn er das Wasser nicht selbst holen muss. Diesen Gefallen macht ihm Ullrich heute gerne. An manchen Tagen nämlich füllt sie den Kocher nur zur Hälfte, immer dann, wenn sie mit dem Verhalten ihres Vorgesetzten hadert. Zurzeit ist ihr Verhältnis recht entspannt. Sofern man im Zusammenhang mit Durben überhaupt jemals von entspannt reden kann.

Ullrich bereitet sich einen Rotbuschtee zu. Sie trinkt Rotbuschtee und Red Bull im Wechsel. Der Rotbuschtee dient dazu, den koffeinhaltigen Energydrink zu neutralisieren. Warum Ullrich das tut, könnte sie wohl selbst nicht sagen, zumal ihr beide Getränke eigentlich nicht schmecken.

Ullrich fährt den Rechner hoch und gibt ihr Passwort ein: Apocalypse Now.

Johannes KruppaOskar-Helmer-Hof 43, 1210 Wien

Anders als die Ullrich hat Gruppeninspektor Johannes Kruppa jemanden, der seine Sorgen und Nöte teilt. So konnte er sich gestern Abend seinen Frust nach dem Ländermatch Österreich gegen die Färöer Inseln von der Seele chatten. Wer weiß, was passiert wäre, hätte der Kruppa dieses Ventil nicht gehabt. Vielleicht wäre er vor Wut geplatzt oder hätte womöglich sonst was Dummes angestellt. So ganz nüchtern war er ja gestern nach dem Match nicht mehr. Acht Bier steckt auch der Kruppa nicht so einfach weg.

Seinen neuen Freund »Hackerl« hat er im Chat kennengelernt. Im Forum einer Seite für Fußballverrückte. Vor drei, vier Monaten haben sie zu chatten begonnen und gleich gemerkt, dass sie, was Fußball betrifft, auf der gleichen Wellenlänge sind. Dem Kruppa gefällt auch die gewählte Ausdrucksweise vom Hackerl. Selbst wenn er sich, so wie gestern Abend, furchtbar aufregt, verliert sein Gegenüber nie die Contenance. Schreibt der Kruppa zum Beispiel was von »faulen Arschlöchern«, nennt Hackerl das »ärgerlich wenig Laufbereitschaft«. Aber im Kern sind sie sich einig. Und das zählt.