Todeskammer, Lügenspiel & Die Einsamkeit der Lüge - Sarah Rayne - E-Book
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Todeskammer, Lügenspiel & Die Einsamkeit der Lüge E-Book

Sarah Rayne

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Beschreibung

Wem kannst du noch trauen? Der abgründige Thriller-Sammelband » Todeskammer, Lügenspiel & Die Einsamkeit der Lüge« jetzt als eBook bei dotbooks. Kein Ort ist dunkler als die eigene Seele ... Die Spuren ihrer Familiengeschichte führen die junge Georgina zur Ruine des Calvary-Gefängnisses im Norden Englands, wo ihr Urgroßvater einst als Arzt diente. Ein Fernsehteam bereit dort gerade ein Experiment vor – und mutig lässt Georgina sich darauf ein. Doch sie ahnt noch nicht, dass es der Auftakt eines tödlichen Spiels ist … Das schreckliche Gefühl, keinen Ausweg mehr zu haben, kennt auch Stella: Seit Jahren hat sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt sind ihr Freund und ihre Schwester. Doch mehr und mehr hat Stella das Gefühl, das sie ihr nicht die Wahrheit sagen – und dass die wahre Gefahr gar nicht dort draußen lauert … In einem Netz aus Lügen fühlt sich auch die Londonerin Elly gefangen: Ihr Mann scheint immer mehr Geheimnisse vor ihr zu verbergen. Doch je mehr die Eifersucht von Elly Besitz ergreift, desto näher kommt sie auch dem Abgrund ihrer eigenen Seele … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Todeskammer, Lügenspiel & Die Einsamkeit der Lüge« mit den psychologischen Spannungsromanen »Todeskammer« von Sarah Rayne, »Lügenspiel« von Janni Visman und »Die Einsamkeit der Lüge« von Gillian White. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1363

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Über dieses Buch:

Kein Ort ist dunkler als die eigene Seele ... Die Spuren ihrer Familiengeschichte führen die junge Georgina zur Ruine eines Gefängnisses in Nordengland, wo ihr Urgroßvater einst als Arzt diente. Ein Fernsehteam bereit dort gerade ein brisantes Experiment vor – und Georgina gerät mitten hinein in ein tödliches Spiel … Das schreckliche Gefühl, keinen Ausweg mehr zu haben, kennt auch Stella: Seit Jahren hat sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt sind ihr Freund und ihre Schwester. Doch mehr und mehr hat Stella das Gefühl, das sie ihr nicht die Wahrheit sagen – und dass die wahre Gefahr gar nicht dort draußen lauert … In einem Netz aus Lügen fühlt sich auch die Londonerin Elly gefangen: Seitdem sie über Nacht zu einer reichen Frau geworden ist, scheint sie niemandem um sich mehr trauen zu können …

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Sammelband-Originalausgabe Juli 2023

Die Sammelband-Originalausgabe erschien erstmals 2020 unter dem Titel »Das kalte Herz der Angst« bei dotbooks, München.

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2020, 2023 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb/ys)

ISBN 978-3-98690-845-4

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Todeskammer, The Girl in the Room & Die Einsamkeit der Lüge

Drei abgründige Brit-Crime-Thriller in einem Band

dotbooks.

Sarah RayneTodeskammer

Aus dem Englischen von Ursula Bischoff

Ein altes Gefängnis, die Mauern getränkt von Blut – wird die Todeskammer ein weiteres Opfer fordern?

Bedrohlich ragt es auf einem Hügel in der rauen Landschaft Nordenglands auf: das berüchtigte Calvary-Gefängnis, in dem ein Fernsehteam nun ein riskantes Experiment plant. Die Bewohner des nahen Dorfs sind misstrauisch – schließlich ranken sich dunkle Gerüchte um die Todeskammer. Nur die junge Georgina ist bereit, sich mit dem Reporter Jude für eine Nacht in die Kammer einsperren zu lassen. Ihr Urgroßvater war dort einst Gefängnisarzt – doch seine Geheimnisse könnten nun tödliche Folgen für Georgina haben: jemand will um jeden Preis verhindern, dass sie die Kammer wieder lebend verlässt …

Kapitel 1

Georgina las den Brief ein zweites und dann ein drittes Mal, weil er so seltsam anmutete. Sie wollte jedes Missverständnis ausschließen. Der Briefkopf war beeindruckend. In verschnörkelter Schrift wies er auf den Absender hin, die Caradoc Gesellschaft für die Erforschung übersinnlicher und paranormaler Phänomene, gegründet 1917.

15. Oktober 20 ...Sehr geehrte Miss Grey,die Treuhänder der Caradoc Gesellschaft haben mich mit der Anfrage beauftragt, ob Sie uns bei der Vermögensabwicklung der Gesellschaft behilflich sein könnten.

Das war die erste rätselhafte Aussage, wobei das Wort ›Vermögen‹ für jemanden, der in den letzten zehn Tagen versucht hatte, sich einen Überblick über den durch eine unredliche Geschäftspartnerin angerichteten Schaden zu verschaffen, einen verlockenden Beiklang besaß. Die Tatsache, dass sich diese Geschäftspartnerin nicht nur mit dem größten Teil des Geldes, sondern auch mit David aus dem Staub gemacht hatte, erleichterte Georginas Aufgabe nicht gerade.

Der Verfasser des Schreibens erklärte mit ausgesuchter Höflichkeit, dass unlängst beschlossen worden sei, die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft zu beenden und Letztere aufzulösen. Die Formulierung klang, als sei die Entscheidung freiwillig erfolgt, ein aufmunternder Gedanke für sie, die soeben völlig unverhofft und unwiderruflich in den Bankrott getrieben worden war.

Wie Sie sicher wissen, wurde der Kauf von Caradoc House, derzeit noch Hauptgeschäftsstelle der Gesellschaft, durch das 1940 erfolgte großzügige Legat Ihres Urgroßvaters Dr. Walter Kane ermöglicht. Bedauerlicherweise muss das Anwesen nun veräußert und der Verkaufserlös zur Begleichung der finanziellen Verbindlichkeiten verwendet werden. Wie man uns mitteilte, wird jedoch ein kleiner Betrag übrig bleiben, ein Guthaben, das nach Auskunft des Justiziars der Gesellschaft an die rechtmäßigen Erben Dr. Walter Kanes weitergeleitet werden kann. Die Hausbank der Gesellschaft stimmt diesem Vorschlag zu.

Um Ihren Anspruch zusätzlich zu bestätigen, wäre es hilfreich, wenn Sie und ggf. andere direkte Nachfahren entsprechende Unterlagen beibringen könnten – vielleicht Briefe aus der Zeit, als Dr. Kane den Trust gründete. Nach seinem Tod gingen einige wenige Dokumente in unseren Besitz über, die wir natürlich an Sie weiterleiten werden.

Ich würde mich freuen, von Ihnen zu hören. Falls es Ihnen möglich wäre, nach Thornbeck zu reisen, um uns die Unterlagen persönlich zu überbringen, wäre es uns eine große Ehre, Sie begrüßen zu dürfen. Sie könnten im Kinds Head absteigen, das über recht annehmbare Unterkünfte verfügt, oder für die Dauer Ihres Aufenthalts in einem kleinen Apartment in Caradoc House wohnen, das früher Gastreferenten zur Verfügung stand. Sie wären uns als Gast höchst willkommen.

Mit den besten Grüßen

Vincent N. Meade

Sekretär der Caradoc Gesellschaft

Offensichtlich ging Vincent N. Meade davon aus, dass Georgina mit dem Legat ihres Urgroßvaters Walter Kane vertraut war, aber sie hörte zum ersten Mal davon. Sie wusste ohnehin kaum etwas über ihn, außer dass er in den 1930er-Jahren als Gefängnisarzt in Cumbria gearbeitet und seine Frau und seine kleine Tochter verlassen hatte, um im Ausland ein neues Leben zu beginnen. Ein Legat an eine Gesellschaft, die sich der Erforschung übersinnlicher Phänomene verschrieben hatte, war interessant, weil es nicht zu Georginas Bild eines Gefängnisarztes passte.

Sie hatte keine Ahnung, welche Unterlagen erforderlich waren, um ihren Anspruch auf ein eventuelles Restguthaben aus dem Verkauf der Immobilie in Thornbeck zu untermauern. Ein normaler Identitätsnachweis sollte eigentlich genügen. Doch der Besitz von Briefen an oder von Walter Kane war vielleicht eine nützliche Dreingabe, da Schreiben, in denen beispielsweise Gemälde oder Porzellan erwähnt wurden, Auskunft über die Herkunft solcher Wertgegenstände gaben. Möglicherweise fand sich dergleichen in dem Packen Familienfotos, die seit dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren in einem Koffer auf dem Dachboden eingelagert waren. Georgina zog einen alten Trainingsanzug an und steckte die Haare hoch, bevor sie hinaufstieg. Auf dem Dachboden herrschte große Enge und eine Hitze, die einem den Atem verschlug. Es bestand jedoch keine Gefahr, dass David hereinplatzen und eine seiner verächtlichen Bemerkungen vom Stapel lassen würde, wie: »Meine Güte, George, wie du aussiehst, das reinste Schreckgespenst!«. Eine Erkenntnis, die unerwartet guttat! Oder dass er die Stirn über Spinnen runzeln würde, die aus ihrem angestammten Revier vertrieben worden waren und Zuflucht in der Wohnung suchten.

Im Koffer befanden sich keine Fotos von Walter, was enttäuschend war, denn Georgina begann sich allmählich für ihn zu interessieren und hätte gerne gewusst, wie er aussah. Ob er die grauen Augen und hellbraunen Haare gehabt hatte, die in ihrer Familie typisch waren?

Der Koffer enthielt mehrere zerfledderte medizinische Artikel – keiner war von Walter geschrieben – und etliche verblasste Postkarten von unidentifizierbaren Personen und Ortschaften, doch das waren kaum die Unterlagen, die Vincent N. Meade oder der Caradoc Gesellschaft vorschwebten. Aha, da war noch etwas. Georgina zog einen handgeschriebenen Brief hervor, der das Datum September 1940 trug, und verspürte eine Welle freudiger Erregung, als sie die Worte »Mein lieber Walter« las.

Der Absender hatte eine Adresse in Thornbeck angegeben und den Brief mit ›Lewis Caradoc‹ unterzeichnet.

Ich bin froh, Sie in Sicherheit zu wissen. Hier oben ist es uns gelungen, den Bombardierungen zu entgehen; bisher blieben uns Angriffe erspart. Meiner Frau vermag ich allerdings die regelmäßigen Besuche in London nicht auszureden. Obwohl so viele Jahre vergangen sind, sucht sie immer noch Leute, die das berüchtigte Gaunerpärchen in Finchley ersetzen könnten, aber ich stelle keine Fragen bezüglich ihrer Aktivitäten, was auf Gegenseitigkeit beruht. Lächeln Sie angesichts dieser Zeilen Ihr typisches verhaltenes Lächeln, mein lieber Walter?

Ich grüße Sie herzlich, mein Junge. Geben Sie gut auf sich acht – nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben, wäre ich untröstlich, Sie zu verlieren.

Mit großem Interesse habe ich vernommen, dass Sie während des bevorstehenden Fronturlaubs eine junge Krankenschwester zum Abendessen eingeladen haben – werden Sie zu guter Letzt doch noch romantischen Anwandlungen erliegen? Ich hoffe es und kann es kaum erwarten, mehr darüber zu erfahren. Berkeley Grill war bei meinem letzten Besuch so gut wie eh und je, aber sollten Sie sich für das Hungaria entscheiden, dürfen Sie sich gerne auf mich berufen, und ich bin sicher, dass Luigi Ihnen einen anständigen Tisch zuweisen wird.

Georgina gefiel dieser Lewis Caradoc, der im Berkeley Grill und Hungaria bekannt war und trockene Bemerkungen darüber machte, dass seine Frau keine Fragen bezüglich seiner Aktivitäten stellte. Wer waren die Gauner aus Finchley? Und war es ihre Großmutter gewesen, die Walter zum Abendessen ausgeführt hatte? Die Daten stimmten ungefähr überein.

Sie überlegte, ob sie Vincent N. Meade anrufen und ihn fragen sollte, ob dieser Brief von Nutzen sein könnte. Jammerschade war indes, dass er keinerlei Hinweis enthielt, warum Walter einer Einrichtung, die sich der Erforschung übersinnlicher Phänomene widmete, Geld hinterlassen hatte. Ob die Lösung des Rätsels in Thornbeck lag? Würde sie Antwort auf ihre Fragen erhalten, wenn sie an Ort und Stelle Nachforschungen anstellte? Konnte sie sich die Reise überhaupt leisten?

»Gerade noch«, erklärte Georginas Steuerberaterin, die nach einem Ausweg aus der Finanzkrise suchte. »Aber es wird gefährlich eng.«

»Ich weiß.«

»Was ist damit?« Die Steuerberaterin ließ ihren professionellen Blick durch den kleinen Laden in Chelsea schweifen, dessen Pacht Georgina zwar nicht die Seele wie bei Faust, aber das letzte Hemd und mehr gekostet hatte, weil die Hausbesitzer in London Blutsauger waren und eine Anzahlung verlangt hatten, die sich gewaschen hatte. »So wie es aussieht, werden Sie sich den Laden alleine nicht leisten können.«

»Ich weiß.«

»Wie lange läuft der Pachtvertrag noch ... wie bitte? Oh Gott! Es wäre besser zu versuchen, den Laden unterzuvermieten. Und nicht zu vergessen die Warenbestände, die sich vielleicht zu Geld machen lassen.« Ihr Blick war auf die Stoffmuster, Tapeten-Musterbücher und sorgfältig ausgestellten Stühle in dem kleinen Ladenfenster gerichtet, über die Stoffe im William-Morris-Design und üppige Seiden-Kaskaden drapiert waren. Georgina und ihre perfide Geschäftspartnerin hatten sich bemüht, beim Einkauf von Stoffen und Tapeten wirtschaftlich zu denken, aber es war unumgänglich, zusätzlich eine Reihe von Stoffballen für Vorhänge und Sofas und ein paar ausgesuchte Möbelstücke anzuschaffen, um Farben und Materialien angemessen zu präsentieren.

»Die werden Sie vermutlich auch verkaufen müssen, falls Sie einen Abnehmer finden«, sagte die Steuerberaterin mit Blick auf die echten Chippendale-Stühle, den kleinen Regency-Tisch und ein paar weitere Antiquitäten. Manches hatten sie günstig auf Flohmärkten erstanden. Aber die Klientel, die Georgina und ihre Geschäftspartnerin als Zielgruppe ins Auge gefasst hatten, kannte den Unterschied zwischen Christie's und Portobello Road, so dass die Möbel im Ausstellungsraum erstklassig sein mussten. »Sie werden wahrscheinlich nur einen Bruchteil dessen erhalten, was Sie dafür bezahlt haben.«

»Ich weiß.«

»George, ich wünschte, Sie würden aufhören, ›ich weiß‹ zu sagen und stattdessen darüber nachdenken, wie es weitergehen soll!«

»Ich weiß genau, wie es weitergehen soll«, erklärte Georgina. »Ich werde nach Thornbeck fahren und herausfinden, was es mit diesem seltsamen Legat meines Urgroßvaters an die Caradoc Gesellschaft auf sich hat.«

»Besteht die Möglichkeit, dass sich die Reise finanziell lohnt?«

»Das ist nicht der Grund für meinen Entschluss, aber wenn ich Glück habe, springt dabei die Pacht für den nächsten Monat heraus.«

»Wo wohnen Sie in Thornbeck?«

»In Caradoc House. Der Gasthof im Ort ist ziemlich ausgebucht. Laut Vincent Meade hält sich im Moment ein Fernsehteam in Thornbeck auf, um zu prüfen, ob sich eines der ehemaligen Gefängnisse für irgendeine Sendung über ungewöhnliche Bauwerke eignet. C. R. Ingrams Leute machen sich vor Ort kundig.«

»Klingt interessant. Handelt es sich um den C. R. Ingram, der die Bücher über alte Kulturen, die menschliche Psyche, die Macht der Fantasie und was sonst noch schreibt?«

»Vermutlich. Ich glaube nicht, dass es mehr als einen C. R. Ingram gibt.«

»Er ist eine Koryphäe. Ich habe den Dokumentarfilm über die leeren Versprechungen der Religion im Fernsehen gesehen, den er letztes Jahr gedreht hat. Er diente als Vorlage für ein Buch.«

»Mentale Glücksbringer. Das Buch kenne ich nicht, aber die Sendung.«

»Haben nicht der Erzbischof von Canterbury dagegen gewettert und der Papst eine offizielle Verlautbarung oder dergleichen abgegeben?«

»Ich denke, so weit ging die Reaktion nicht. Vielleicht hat der eine oder andere Vikar dagegen protestiert.«

»Trotzdem lohnt es sich vermutlich, ihn kennen zu lernen, falls sich die Gelegenheit bietet. Obwohl ich persönlich keinem Mann trauen würde, der lediglich seine Initialen preisgibt.«

»Ich würde überhaupt keinem Mann trauen«, erwiderte Georgina und wandte sich der Aufgabe zu, verschiedene Immobilienmakler anzurufen, um den Laden unterzuvermieten. Danach warf sie einen Blick auf die Straßenkarten für die Fahrt nach Cumbria.

Die Fahrt nach Thornbeck dauerte länger als erwartet, doch das störte Georgina nicht, weil sie das Gefühl hatte, das heillose Durcheinander aus treulosen Geliebten und gescheiterten Geschäftsprojekten hinter sich zu lassen und eine völlig neue Welt zu betreten. Als sie die nach Norden führende M6 erreichte, war es gut, dass David sie nicht begleitete. Er hätte ihr Auto sofort mit neueren, schnelleren Modellen auf der Straße verglichen und nach Hotels und Restaurants mit Egon-Ronay-Sternen Ausschau gehalten, wo sie fürstlich zu Mittag speisen könnten. Bei dieser Erinnerung empfand Georgina ein perverses Vergnügen, an einer Tankstelle unweit von Coventry anzuhalten, um ein Schinkenbrötchen und Obst zu kaufen, die sie im Wagen verspeiste.

Als Georgina die Autobahn verließ, dunkelte es bereits. Die Straßen wurden steiler, und am Horizont ragten zerklüftete Berge auf; sie wirkten eintönig und ein wenig bedrohlich, aber Georgina fand sie schön. Sie stellte sich vor, einen Raum in diesen Farben einzurichten, der minimalistisch ausgestattet sein müsste. Wände in einem weichen Grau, mit eingesetzten cremefarbenen Rechtecken ... samtgepolsterte Sofas in Schiefergrau, nicht kohlrabenschwarz, aber viel dunkler als grau ... moderne Tongefäße in mattiertem Schwarz ... Mit einem erneuten Anflug von Bitterkeit erinnerte sie sich daran, dass die Planung schöner Räume im Augenblick auf Eis gelegt war.

Je weiter sie nach Norden kam, desto stärker erinnerten die Namen der Ortschaften an das gute alte England oder an ›Mittelerde‹. Ambleside und Ravenglass, Thirlspot und Drigg, Grizedale Forest. Solche nostalgischen Anklänge strahlten einen unerwarteten Frieden aus.

Sie fuhr an Wast Water vorbei, dem einsamsten und trostlosesten Gewässer, das ihr jemals unter die Augen gekommen war, und dachte, wenn sie jetzt eine Autopanne hätte, wäre sie aufgeschmissen. Vermutlich würde sie verrotten und sich in einen der Geister verwandeln, die hier allenthalben umgingen. Künftige Generationen würden mit ernster Miene auf eine Reisende im einundzwanzigsten Jahrhundert verweisen, die an einem Tag im Spätherbst in dieser Einöde spurlos verschwunden war. »Niemand wusste, woher sie kam und was mit ihr geschah«, würden sie sagen. »Doch in mondlosen Nächten sieht man gelegentlich ihren Schatten, der die Hände ringt ...«

Die Vorstellung heiterte Georgina in einem solchen Maß auf, dass sie beim Umfahren des gesamten Wast Water die feministische Hymne I will Survive sang, eine leidenschaftliche, wenngleich misstönende Kampfansage, nach der sie, der Landschaft entsprechend, zu River Deep, Mountain High überging. Wenigstens saß David nicht neben ihr, um zusammenzuzucken, sarkastische Kommentare abzugeben und demonstrativ das Radio einzuschalten.

Als sie an eine Kreuzung gelangte, fuhr sie an den Straßenrand, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Geradeaus, danach scharf rechts, und dann waren es noch ungefähr sechs Meilen bis Thornbeck, einem winzigen Fleck auf der Landkarte. Gut. Sie war gerade abgebogen, als sie das verwitterte Schild entdeckte, das auf einen schmalen, von der Hauptstraße abzweigenden Feldweg verwies. Der Weg war so schmal, dass man ihn leicht übersehen konnte, aber Georgina hatte den Wegweiser bemerkt. Sie fuhr langsamer.

CALVARY hieß es dort, und darunter, in kleineren verblassten Buchstaben ZWEI MEILEN; ein winziger Pfeil deutete in die entsprechende Richtung.

Calvary. Das war nicht gerade eine Ortsbezeichnung, wie man sie auf einem Wegweiser im Herzen einer ländlichen, durch und durch englischen Idylle des einundzwanzigsten Jahrhunderts erwartete, aber ein Wort, das Erinnerungen wachrief. Man brachte damit automatisch den Kalvarienberg in Jerusalem und die sich dunkel abzeichnende Silhouette der Kreuze in Verbindung, die darauf errichtet waren. Selbst wenn man nicht weiter nach Osten als bis Norfolk Broads gereist war oder womöglich sein ganzes Leben in einem entlegenen tibetischen Tal verbracht hatte, drängte sich dieses Bild unabhängig von Glauben oder Nichtglauben auf.

Georgina kannte diese Bilder wie jeder andere, aber für sie beschwor der Begriff außerdem Erinnerungsfetzen herauf, die in ihrer Familie von einer Generation zur anderen weitergegeben wurden. »Dein Urgroßvater war Arzt ... Er arbeitete in einem Gefängnis – Calvary Goal in Cumbria, wo verurteilte Verbrecher hingerichtet wurden ...«

Am Ende dieses abgeschiedenen Feldwegs lag also Calvary. Hatte Walter dort gelebt? Hatte er Anspruch auf eine Dienstwohnung auf dem Gelände der Haftanstalt gehabt? Oder hatte er ein Haus in der Nähe bewohnt? Georgina wünschte sich abermals, sie wüsste mehr über ihn. Es war irgendwie unfair von ihm, keine biographischen Aufzeichnungen hinterlassen zu haben, obwohl ihn gerade dieser Umstand interessant machte, da er ihm eine geheimnisvolle Note verlieh.

Die Landschaft hatte zu Walters Zeit wahrscheinlich ähnlich ausgesehen. Er musste diese Straße gekannt haben; bestimmt war er sie dutzende Male entlanggefahren und in den schmalen Feldweg eingebogen. Soll ich auch abbiegen?, dachte Georgina, den Blick beharrlich auf den Wegweiser gerichtet.

Doch dann gab sie Gas und fuhr nach Thornbeck, ließ Calvary und die Echos der Vergangenheit unbeirrt hinter sich.

Oktober 1938

Walter Kane hätte um ein Haar den Wegweiser nach Calvary Goal verpasst, aber er entdeckte ihn in letzter Minute, riss das Steuer herum und bog in den schmalen Feldweg rechter Hand ein.

Die Fahrt nach Thornbeck war lang gewesen, doch als frischgebackener Besitzer eines eigenen Autos hatte sie Spaß gemacht. Es war eine extravagante Anschaffung – wenn seine Mutter noch gelebt hätte, wäre sie entsetzt gewesen. Wie leichtfertig!, hätte sie gesagt. So handelt nur ein Verschwender. Oh, Walter, wie konntest du so unbesonnen sein! Zwischen ihnen hatte stets die stillschweigende Übereinkunft geherrscht, dass er das Geld seines Vaters, das ihm bei Erreichen der Volljährigkeit – also mit dem einundzwanzigsten Lebensjahr – zufließen würde, sinnvoll anlegte. Um ihm ein bescheidenes Einkommen zu sichern, hatte seine Mutter betont. Dafür wirst du noch einmal dankbar sein, denn mit deiner Tätigkeit als Arzt wirst du nicht viel Geld verdienen: Den Gedanken schlag dir aus dem Kopf.

Walter hatte weder erwidert, dass er den Beruf des Arztes nicht ergriffen habe, um Geld zu verdienen, noch dass er auf das Geld seines Vaters verzichten könne. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte er sein Erbe auf der Bank angelegt und sich geschworen, es nur dann anzurühren, wenn er sich in einem schwerwiegenden finanziellen Engpass befand. Er hatte gleichwohl genug abgezweigt, um das Auto zu kaufen – einen robusten kleinen Austin Seven. Es war keine Anschaffung, die von Verschwendungssucht zeugte: Wenn er die Anstellung in Calvary erhielt, würde sich ein Wagen an einem so entlegenen Ort als ungemein nützlich erweisen.

Nein, wenigstens in dieser Hinsicht sollte ich ehrlich sein, dachte er. Das Auto habe ich mir zugelegt, weil ich keinen Vergleich zwischen der heutigen Fahrt und derjenigen ziehen möchte, die meinen Vater vor mehr als zwanzig Jahren über die gleiche Straße an das gleiche Ziel brachte. Ich will mein eigener Herr sein, wenn ich in Calvary ankomme, will über mein eigenes Leben bestimmen und will nicht, dass mich die Geister der Vergangenheit auf meiner Reise begleiten.

Doch die Geister der Vergangenheit waren nichtsdestoweniger bei ihm. Als er den schmalen Feldweg zum Gefängnis entlangfuhr, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass sich die Landschaft seit 1917 vermutlich kaum verändert hatte. Damals hatten hier vielleicht weniger Häuser gestanden, obwohl das Bauernhaus am anderen Ende der Felder schon existiert haben musste – für ein ungeschultes Auge sah es aus, als stammte es aus der Elisabethanischen Epoche. Ich gehe nicht davon aus, dass du es bemerkt hast, sagte Walter in Gedanken zu seinem Vater. Für die Feldwege und Rainhecken hattest du vermutlich ebenfalls keinen Blick. Verflixt, gleich beschwöre ich wahrscheinlich noch ein Phantom aus der Vergangenheit herauf, wie in Hamlet. Dazu verdammt, zu nachtschlafender Zeit herumzugeistern, Anschuldigungen zu erheben und Stillschweigen über die Geheimnisse des Gefängnisses zu bewahren. Das wäre typisch für meinen Vater, denn Erzählungen zufolge liebte er dramatische Gesten.

Doch es gab keine Geister, und wenn dieses Gefängnis Geheimnisse barg, sollte es sie getrost in seinen vier Wänden bewahren. Denn Walter legte nicht den geringsten Wert darauf, sie zu lüften. Er würde sie aus seinen Gedanken verbannen und sich auf seinen Termin beim Verwaltungsrat des Gefängnisses konzentrieren, der für fünfzehn Uhr anberaumt war. Wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät kommen. Er hatte nicht die Absicht, zu spät zu kommen oder seine Chancen, die Anstellung zu erhalten, auf andere Weise zu gefährden. Vielleicht war sogar eine Dienstwohnung vorhanden? In dem Schreiben war nichts davon erwähnt, aber eventuell würde das Thema während des Vorstellungsgesprächs zur Sprache kommen.

Als er um die Kurve bog, sah er einen sanft gerundeten Hügel vor sich, der auf die ländliche Idylle hinabblickte. Calvary. Die Hinrichtungsstätte, auf einem Berg.

Kapitel 2

»Das ist eine der ursprünglichen Strafanstalten für Mörder«, sagte Chad Ingram, während er die Fotos auf dem Tisch des Frühstücksraums im Kinds Head betrachtete. »Sie ist zweihundert Jahre alt und angefüllt mit Erinnerungen. Die Todeskammer muss vor Verzweiflung, Grauen und Hass strotzen.«

Das jüngste Mitglied von Chad Ingrams Team, ein Harvard-Student im letzten Jahr, der Finanzmakler werden wollte und von England im Allgemeinen und von Dr. Ingrams erlesener britischer Höflichkeit im Besonderen hingerissen war, studierte die Aufnahmen mit Hingabe und meinte dann, das Gefängnis mache einen düsteren Eindruck.

»Es sieht düster aus, aber das liegt nicht zuletzt daran, dass es auf dem Gipfel eines Hügels erbaut wurde. Als würde es auf alle menschlichen Niederungen herabschauen.«

»Ich gehe nicht davon aus, dass Sie meine Meinung hören wollen«, erklärte das dritte Mitglied des Teams.

»Sie halten unseren Aufenthalt hier für reine Zeitverschwendung«, erwiderte Chad lächelnd.

»Oh Gott, der ultimative Alptraum – ein Chef, der Gedanken lesen kann! Ja, Sie haben Recht, ich denke, es ist Zeitverschwendung«, bestätigte Drusilla. »Calvary ist viel zu bekannt. Sie werden niemals objektive Reaktionen darauf erhalten.«

Der Harvard-Student sann über Drusillas Äußerung nach und stimmte ihr dann zaghaft zu. Sein Name lautete, zu seinem grenzenlosen Unbehagen, Phineas Farrell, obwohl sich die meisten Leute glücklicherweise damit zufriedengaben, ihn Phin zu nennen. »Was wir suchen, ist doch eine Antwort auf die Frage, ob Gebäude selbst den Stempel der Vergangenheit tragen oder die Menschen nur auf das reagieren, was sie bereits wissen, oder?«

»Richtig, Phin. Deshalb meiden wir Orte wie den Tower of London oder Glamis Castle.«

»Familiengespenster und enthauptete Königinnen«, ließ sich Drusilla vernehmen. »Da wäre die Reaktion vorhersehbar. Es sei denn, Sie möchten Ihre Zuschauer in Schlaf versetzen.«

»Aber Calvary fällt bezüglich dieser beiden Punkte in dieselbe Kategorie«, gab Phin zu bedenken, der insgeheim gehofft hatte, Dr. Ingrams Projekt würde den Tower und Glamis Castle einbeziehen. Was er aber um keinen Preis der Welt zugegeben hätte, selbst wenn er damit sein Leben gerettet hätte. »Die Leute mögen die spezielle Geschichte von Calvary vielleicht nicht, aber wenn sie nicht gerade vom Mars stammen, sollten sie sich eigentlich vorstellen können, wie es in der Zelle eines Verurteilten zuging.«

»Ich muss Phin Recht geben«, sagte Drusilla. »Die Leute werden auf Schritt und Tritt Geister sehen, bevor Sie auch nur die Chance haben, ein Tonband einzuschalten. Dass Sie die Genehmigung für einen Film erhalten haben, wundert mich, Chad.«

»Die Regierung ist bemüht, das gesamte Anwesen zu verkaufen«, erklärte Chad. »Vermutlich ist man höheren Orts der Ansicht, eine Fernsehsendung könnte helfen – allem Anschein nach hatte man bisher Schwierigkeiten, einen Käufer zu finden.«

»Das überrascht mich nicht«, erwiderte Drusilla umgehend. »Mit einem ausrangierten Gefängnis lässt sich nicht besonders viel anfangen.«

»Man könnte es für alle möglichen Dinge nutzen. Es beispielsweise umbauen und einer anderen Verwendung zuführen. Oder es abreißen und auf dem Grundstück etwas Neues errichten.«

»Es steht auf der Denkmalliste, Kategorie II«, warf Chad ein.

»Ach so.«

»Und sie glauben, den alten Kasten loszuwerden, wenn sie dafür sorgen, dass er in einer Fernsehsendung erscheint? Ach du liebe Güte!«, meinte Drusilla. »Falls sie mir genug zahlen, um mich auf den Bahamas zur Ruhe zu setzen, wäre ich möglicherweise bereit, ihn in einer mondlosen Nacht abzufackeln, damit sie die Versicherung kassieren können. Phin, du kannst mir dabei zur Hand gehen, das würde deinem Leben ein bisschen Spannung verleihen.«

Phin, der das Gefühl hatte, dass es mehr als genug Spannung in seinem Leben gab, aber die typisch britische Ironie zu verstehen begann, erwiderte mit ernster Miene, er werde die Streichhölzer tragen.

»Könnten wir, bevor die Brandstiftungspläne in allen Einzelheiten erörtert werden, etwas über die Informationen erfahren, die Sie über Calvary ausgegraben haben, Phin?«

Phin setzte die Brille auf und griff nach seinen Notizen. Er hatte große Mühe in die Nachforschungen investiert und die eigenwillige Haarlocke über der Stirn für diese Besprechung zu bändigen versucht, um einen gesetzten, intellektuellen Eindruck zu erwecken – er hasste es, wenn sie ihm im Eifer des Gefechts ins Gesicht fiel. Drusilla fand, dass sie ihm das Aussehen eines arbeitswilligen Yak verlieh; Phin hatte seine Haare ganz kurz schneiden lassen, bevor er sein Elternhaus verließ, doch sein Vater war der Meinung gewesen, er sähe nun wie ein Sträfling aus. Phin zog es vor, dann lieber einem Yak als einem Sträfling zu gleichen, deshalb hatte er sich die Haare wieder wachsen lassen.

Er las seine Notizen vor. In Calvary Goal, 1790 erbaut, hatten durchschnittlich acht Hinrichtungen im Jahr stattgefunden, allesamt durch den Strang. »Die Anzahl mag hoch erscheinen, weil es sich um ein kleines Gefängnis handelt, doch es deckte damals einen weiten Umkreis ab. Verglichen mit Newsgate oder Tyburn war die Anzahl eher gering. In den ersten Jahren wurden dort weit mehr als acht Hinrichtungen durchgeführt. Doch dann wurden Delinquenten, die Schafe gestohlen oder gewildert hatten, nicht mehr gehängt. Oder wenn sie ...« Phin runzelte die Stirn. »Es klingt sonderbar, aber damals schien es nicht ungewöhnlich zu sein, Opfern aufzulauern, um ihnen die Zunge herauszuschneiden oder die Nase aufzuschlitzen.« Seine beiden Zuhörer akzeptierten diese Mitteilung ohne Kommentar, woraus Phin schloss, dass die Briten an die exzentrischen Seiten ihrer Gesetzgebung gewöhnt waren. »Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Todesurteil oftmals in Verbannung umgewandelt, so dass die Hinrichtungszahlen rückläufig waren. Dennoch hat Calvary unter dem Strich ein beeindruckendes Gesamtergebnis vorzuweisen.«

Phin blätterte um, wobei er den Faden verlor, und Drusilla bemerkte: »Nicht auszuhalten, die Spannung bringt mich noch um!«

»Wie auch immer, es waren insgesamt etwa achthundert Hinrichtungen.«

»Ich wusste, dass es sich um eine schaurige Menge handelt.«

»Gab es eine Todeskammer als stehende Einrichtung?«, fragte Chad. »Oder wurde bei solchen Gelegenheiten ein Karren mit dem Galgen in den Hof hinausgerollt und das Gerüst an der Außenmauer aufgestellt?«

»Sie hatten von Anfang an einen Todestrakt errichtet und benutzten seit 1790 immer dieselbe Todeskammer.« Phin war stolz, dass er diese Frage erwartet und die Antwort parat hatte.

»Wunderbar! Zweihundert Jahre geballte Verzweiflung an einem Ort konzentriert. Bis wir die Kameras drinnen haben, werden wir alle unwiderruflich in Melancholie und Weltschmerz schwelgen.«

»Haben Sie einzelne Fälle unter die Lupe genommen?«, fragte Chad, Drusillas Bemerkung ignorierend. »Neville Fremlin wurde in Calvary hingerichtet, oder?«

»Moment, da muss ich nachschlagen ... Ja. Neville Fremlin, erhängt im Oktober 1938.«

»Dann erübrigt sich jedes weitere Wort von mir«, erklärte Drusilla. »Es gibt mit Sicherheit keine Menschenseele – von Ihren Marsbewohnern einmal abgesehen, Phin –, die noch nie etwas von Neville Fremlin gehört hat, selbst vor siebzig Jahren oder so. Sogar mir ist der Name geläufig.«

»Die Presse nannte ihn damals den ›Mörder mit der Engelszunge‹«, sagte Chad nachdenklich. »Alle seine Opfer waren Frauen. Aber Fremlin ist für unser Projekt von zweitrangiger Bedeutung. Man könnte ihn als Zusatzbonus bezeichnen.«

»Bezeichnen Sie ihn, wie Sie wollen, aber sein Name untermauert meinen Standpunkt«, entgegnete Drusilla. »Fremlin war einer der berüchtigtsten Mörder des zwanzigsten Jahrhunderts. Was bedeutet, dass der Ort, an dem er gehängt wurde, einen ähnlichen Bekanntheitsgrad besitzt. Jede Person, die wir nach Calvary bringen, kennt die Geschichte des Gefängnisses. Und wäre somit voreingenommen.«

»Ich weiß. Deshalb werden wir jemanden wählen, der die Geschichte von Calvary nicht kennt.«

»Das dürfte schwierig sein, oder?«, erkundigte sich Phin.

»Nicht wenn er einen Marsbewohner in petto hat, und das würde ich ihm durchaus zutrauen«, bemerkte Drusilla.

Chad beugte sich vor, seine Miene war enthusiastisch. Phin blickte ihn an und dachte, dass Dr. Ingram mindestens vierzig sein musste, aber wenn er ein Ziel vor Augen hatte wie jetzt, wirkte er fünfzehn Jahre jünger und schien mit einem Mal eine magnetische Anziehungskraft auszustrahlen.

»Ein unvoreingenommenes Versuchsobjekt zu finden ist nicht so schwierig«, sagte er. »Und es müsste auch kein Marsbewohner sein. Ich habe da einen Kollegen, Jude Stratton, und ... Ja, Drusilla? Kennen Sie Jude?«

»Ich habe von ihm gehört.« Drusilla hatte den Blick gehoben, als der Name fiel. »Er war früher freiberuflicher Journalist. Überwiegend als Auslandskorrespondent tätig. Hat viele Beiträge für Dokumentarberichte und Nachrichtensendungen wie Newsnight geliefert.«

»Ja, aber vor zwei Jahren sattelte er um und schreibt seither ausschließlich Bücher.«

»Sie meinen, nach diesem Bombenangriff im Mittleren Osten, dessen Opfer er wurde.«

»Genau das meinte ich.« Chad sah Drusilla ausdruckslos an.

»Bei dem er sein Augenlicht verlor«, fuhr Drusilla bedächtig fort. »Für immer. Ich erinnere mich an die Meldungen in den Nachrichten.« Sie sah Chad an. »Habe ich das richtig verstanden? Sie wollen einen Blinden nach Calvary bringen, ohne ihm zu sagen, wo er sich befindet – um zu sehen, welche Wirkung der Ort auf ihn hat? Und seine Reaktionen auf die Atmosphäre beobachten, die dort herrscht?«

»Und dann eine Fernsehsendung daraus machen?«, ließ sich Phin vernehmen.

»Genau. Jude Stratton wird eine Nacht in der Todeskammer von Calvary verbringen, ohne zu wissen, wo er sich befindet.«

»Das können Sie nicht machen!« Phin erkannte an Drusillas Ton, wie erregt sie plötzlich war. »Sie sind mein Boss, und ich weiß, dass ich Ihnen nicht immer den gebührenden Respekt entgegenbringe –«

»Sie bringen mir selten den gebührenden Respekt entgegen.«

»Aber das geht eindeutig zu weit. Das ist – unmenschlich!«

»Ist es nicht. Ich habe bereits mit Jude gesprochen. Er findet das Projekt faszinierend, ist neugierig und macht mit. Er wird ein erstklassiges Versuchsobjekt abgeben. Jude verfügt über eine gehörige Portion Fantasie, aber auch über einen messerscharfen Verstand. Ich fahre übrigens heute Abend nach London, um ihn abzuholen. Ich übernachte bei ihm, und wir werden morgen am späten Nachmittag wieder hier sein. Das Experiment beginnt morgen Abend.«

»Das schaffen Sie nie«, entgegnete Drusilla. »Zwischen Theorie und Praxis besteht ein himmelweiter Unterschied. Er wird ahnen, wo Sie ihn hinbringen.«

»Nicht wirklich. Er wird vielleicht das Gefühl haben, nach Norden zu fahren, aber das ist auch schon alles.«

»Sobald er hier ist, wird er die Leute reden hören und anhand der regionalen Mundart erkennen, in welchem Teil des Landes er sich befindet.«

»Selbst wenn dem so wäre, spielt das meiner Meinung nach keine große Rolle. Aber auch dieses Risiko können wir auf ein Mindestmaß reduzieren. Er wird die Bar nicht betreten und ansonsten wenig Kontakt zur Außenwelt haben. Ich werde dafür sorgen, dass man ihm das Abendessen im Zimmer serviert, und gegen neun bringen wir ihn dann nach Calvary. Er sagte, er möchte einen Walkman oder MP3-Spieler mitnehmen und Mozart hören, wenn wir uns auf den Weg machen. Auf diese Weise erhält er keinerlei Anhaltspunkte, bis er sich am Zielort befindet. Haben Sie die Schlüssel besorgt, Drusilla?«

»Ja. Der Anwalt – wie war gleich der Name? Ach ja, Huxley Small – hat sie an der Rezeption abgegeben. Als ich sie abholte, hat mich dieser Typ von der Caradoc Gesellschaft in die Finger gekriegt.«

»Vincent Meade«, sagte Phin. »Er ist erpicht darauf, uns zu helfen.«

»Erpicht ist leicht untertrieben, ich fand ihn geradezu aufdringlich«, seufzte Drusilla. »Er hat bereits eine Einführung für uns geschrieben und mir das Manuskript in die Hand gedrückt.«

»Haben Sie einen Blick hineingeworfen? Taugt es etwas?«

»Schwülstig. Genau wie der Typ selber. Obwohl ich zugeben muss, dass er einiges über Calvary weiß.«

»Dann könnte er bis zu einem gewissen Grad nützlich sein.« Chad stand auf. »Wenn ich heute Abend noch bis London kommen will, sollte ich mich auf den Weg machen. Phin, ich schlage vor, Sie begleiten mich. In Judes Wohnung wird sich bestimmt noch ein Plätzchen für Sie finden, und Sie sind herzlich willkommen. Aber ich denke, auf der Rückfahrt wird im Auto kein Platz für Sie sein.«

»Wegen der Ausrüstung?« Phin war inzwischen an die Kameras und Aufzeichnungsgeräte gewöhnt, die in Dr. Ingrams Wagen für ein heilloses Durcheinander sorgten. Sie machten jede Reise zur Tortur, doch zumindest wurde man von Dr. Ingrams Fahrkünsten abgelenkt, die zu den schlechtesten gehörten, mit denen Phin jemals konfrontiert worden war.

Chad grinste. »Nein, nicht wegen der Ausrüstung. Jude besteht darauf, ein paar Flaschen Wein, Kaviar und Räucherlachs mitzunehmen. Er meinte, wenn er schon an einem meiner chaotischen Experimente teilnehmen soll, dann nur mit allem Komfort ausgerüstet, den die Zivilisation zu bieten hat.«

Phin fand, dass ein gewisses Maß an persönlichem Stil unerlässlich war, um sich in ein unbekanntes Gebäude zu begeben, das man nicht sehen, von dem man aber annehmen konnte, dass es unheimlich war, um dort zu kampieren und dabei Mozart zu hören und Kaviar zu speisen. Er begann sich auf die Begegnung mit Jude Stratton zu freuen.

Jude Stratton hatte seine Wohnung aufgeräumt, in Vorbereitung auf Chad Ingrams Besuch. Er hatte diese Aufgabe in der ungeduldigen, wenngleich organisierten Weise erledigt, die ihm in den letzten zwei Jahren zur Gewohnheit geworden war. Routine und Systematik waren ihm nicht in die Wiege gelegt worden, und es gab immer noch Zeiten, in denen er voller Verbitterung über die hinderliche schwarze Wand vor seinen Augen wutentbrannt mit Dingen um sich warf, ungeachtet dessen, wo sie landeten oder was sie trafen. Die Therapeutin, die auf die Schulung von Blinden spezialisiert war – ihnen die praktischen kleinen Tricks beibrachte, die das Leben erleichterten –, hatte ihm barsch erklärt, sein Starrsinn sei reine Zeit- und Energieverschwendung. Wenn er Wert darauf lege, sein Leben alleine zu meistern, würde er irgendwann aufheben müssen, was er weggeworfen hatte. Sollten dabei Spiegel oder Fenster zu Bruch gehen, würde er irgendwann barfuß in eine Glasscherbe treten und im Krankenhaus landen.

Das war ihm egal, was er ihr auch unmissverständlich klargemacht hatte. Doch am Ende hatte er Vernunft angenommen und die Verhaltensweisen beachtet, die man ihn gelehrt hatte. Obwohl es noch immer vorkam, dass ihn die Wut übermannte. Vermutlich würden diese Ausfälle mit der Zeit seltener werden. Und wer weiß, vielleicht würde er sich eines Tages sogar an die Blindheit gewöhnen. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, die Hoffnung, wieder sehen zu können, jemals aufzugeben.

Chad Ingrams Projekt hatte ihn gereizt, obwohl es so vage beschrieben war, dass Jude klipp und klar erklärt hatte, wenn sich dahinter eine Verschwörung verbarg, das House of Windsor zu entmachten oder das Weiße Haus zu infiltrieren, könne Chad nicht mit ihm rechnen. »Und wenn es um eine Reality-Show im Fernsehen geht, vergiss es. Da wäre mir eine Rebellion noch lieber.«

»Es handelt sich weder um eine Reality-Show noch um eine Rebellion«, hatte Chad geantwortet. »Es ist ein anständiges und durch und durch angemessenes Projekt. Ich möchte nur, dass du ein paar Stunden in einem Gebäude verbringst – einem Gebäude, das du nie zuvor betreten hast – und feststellst, welche Emotionen die Atmosphäre des Gebäudes in dir auslöst. Ich kann dir allerdings nicht sagen, was für ein Gebäude es ist oder wo es sich befindet. Denn dann wärst du kein neutraler Beobachter mehr.«

Aller Wahrscheinlichkeit nach ging es um eine Folgesendung, die sich aus Chads letztem Projekt ergeben hatte, die Fernsehdokumentation über das scheinbare Sicherheitsnetz der Religion, Mentale Glücksbringer. Anschaulich präsentiert, waren die Themen von unterschiedlichen Standpunkten beleuchtet worden und hatten die Fantasie der Zuschauer in ihren Bann geschlagen. Die hohe Einschaltquote hatte einen Verlag bewogen, Chads Buch herauszubringen, das umgehend die Bestsellerlisten stürmte.

Wäre Jude ein Spieler gewesen, hätte er sein letztes Geld darauf verwettet, dass irgendeine Spukgeschichte mit Chads neuestem Projekt verknüpft war. Dagegen war nichts einzuwenden. Die Geister fremder Menschen konnten ihn nicht schrecken, es waren die Geister seiner eigenen Vergangenheit, die sich seiner Kontrolle entzogen. Die Erinnerung an all die Fahrten mit Kamerateams und Dolmetschern in die vom Krieg zerstörten Regionen des Mittleren Ostens wallte in ihm auf. Keiner hatte wirklich gewusst, worauf sie sich einließen, die meisten hatten insgeheim Angst gehabt und das hinter einer Fassade der Kaltschnäuzigkeit zu verbergen versucht. Und dann die letzte Fahrt, als die Bombe unweit der syrischen Grenze hochgegangen war und die Welt in grelles Licht tauchte, ein blendendes Panorama aus Feuerwerkskörpern und Kometen. Als die Feuerwerkskörper verglüht waren, dämmerte ihm die schreckliche Erkenntnis, dass vor seinen Augen nur noch tiefste Dunkelheit herrschte.

Nach allem, was er miterlebt hatte – sei es die Zerstörung der rosaroten Städte mit den biblischen Namen und einer Geschichte, die älter war als die Zeit, oder die Gewohnheit, sich den Anschein zu geben, Bomben zu entgehen sei kaum lästiger als die Mückenplage –, würden ein paar Stunden in einem Spukhaus einem Sonntagsspaziergang gleichen. Deshalb hatte er sich auf Chads Vorschlag eingelassen und erklärt, er hätte nie für möglich gehalten, dass er jemals an Chads absonderlichen Experimenten teilnehmen würde.

»Es ist eine lukrative Absonderlichkeit. Vor allem, wenn die Fernsehsendung zustande kommt. Ich setze dich auf die Spesenliste.«

»Kannst du dir jemanden wie mich überhaupt leisten?«

»Wenn nicht ich, wer dann?«, hatte Chad erwidert und aufgelegt.

Jude hatte die Unterhaltung mit Chad genossen und freute sich darauf, sie fortzusetzen. Er packte einen Koffer, wobei er die Kleidungsstücke an den kleinen Stoffquadraten erkannte, die in die Säume eingenäht waren. Das war eine der sogenannten Alltagshilfen, mit denen man ihn vertraut gemacht und gegen die er sich anfangs gesträubt hatte. »Wen interessiert es schon, was ich anziehe«?, hatte er grimmig protestiert. Doch die Therapeutin hatte erklärt, dass es die Leute sehr wohl interessiere und er gewiss nicht darauf aufmerksam gemacht werden wolle, wenn er zum Einkaufen im Supermarkt in Smokingjacke oder anlässlich einer heißen Verabredung zum Abendessen im Anorak erschien.

»Die Chancen für eine Verabredung zum Abendessen, heiß oder nicht, sind doch wohl gleich null«, hatte Jude erwidert und gegen den Anflug von Bedauern gekämpft, der ihn bei dem Gedanken an Fenella überkam, die ihre Beziehung beendet und dabei ihre eigene Art von schmerzhafter Kaltschnäuzigkeit an den Tag gelegt hatte. (»Jude, Darling, kannst du dir vorstellen, dass ich einen Geliebten mit weißem Stock und dunkler Brille im Schlepptau habe – mal ganz ehrlich! Wie auch immer, wir beide hatten nie etwas mit Krankheiten und Gesundheitsproblemen am Hut, das musst du zugeben.«) Er hatte so getan, als gäbe er ihr Recht, aber ihr Verhalten hatte ihn zutiefst verletzt.

Jude klappte den Koffer zu, tastete nach dem Schloss und schottete gleichzeitig seine Gedanken vor der Vergangenheit ab. Er hatte bereits festgestellt, dass man die Gegenwart nur dann zu meistern vermochte, wenn man beschloss, keinen Blick zurückzuwerfen.

Oktober 1938

Walter Kane wusste, dass es Zeiten gab, in denen man die Gegenwart nur dann zu meistern vermochte, wenn man die Vergangenheit ruhen ließ, und beschloss, keinen Blick zurückzuwerfen.

Er war sich indes nicht sicher, ob ihm das in Thornbeck gelingen würde. Der Verwaltungsrat von Calvary hatte zwar vielleicht keine Ahnung, wer er war, aber Sir Lewis Caradoc wusste es mit Sicherheit. Ob sich die Situation als unangenehm entpuppen würde, musste sich erst noch zeigen. Caradocs Brief war freundlich und zuvorkommend formuliert, was seiner Persönlichkeit entsprach, wie Walter bereits erfahren hatte.

»Wenn Sie es einrichten könnten, gegen Mittag in Thornbeck einzutreffen, wäre es mir ein Vergnügen, Sie zum Essen in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Wie Ihnen bewusst sein dürfte, ist es einige Zeit her, seit ich die Stellung des Gefängnisdirektors bekleidet habe, aber das Wohl von Calvary liegt mir noch immer am Herzen, und der Verwaltungsrat ist so freundlich, mich bei administrativen Entscheidungen zu Rate zu ziehen. Schon aus diesem Grunde freue ich mich sehr, Sie kennen zu lernen.«

Walter, der daraus entnahm, dass das Mittagessen vermutlich als inoffizielles Beschnuppern vor dem eigentlichen Vorstellungsgespräch gedacht war, hatte die Einladung in seinem Antwortschreiben dankend angenommen, und Sir Lewis hatte ihm daraufhin eine Wegbeschreibung zu seinem Haus geschickt. Es war eine Überraschung, als sich herausstellte, dass er in dem alten Bauernhaus lebte, das Walter von der Straße aus bewundert hatte.

»Dachten Sie: Aha, er hat es vorgezogen, im Schatten von Calvary zu bleiben?«, sagte Sir Lewis bei der Begrüßung, und Walter, der nicht mit einer solchen Direktheit gerechnet hatte, erwiderte: »Ja, genau das dachte ich. Trotzdem, es ist ein wunderschönes Haus.«

»Ja, nicht wahr? Einige Teile sind im Tudor-Stil erbaut, und es ist viel zu schön für ein Gespräch über die Vollstreckung der Todesstrafe, aber das Gespräch muss sein.«

Es war ein wenig befremdlich, in dem behaglichen Raum mit den zarten Farbtönen und der niedrigen Decke Platz zu nehmen und zu wissen, dass der Mann, der ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß, den größten Teil seines Lebens unter verurteilten Schwerverbrechern verbracht hatte. Caradoc musste mindestens sechzig sein, aber er besaß die Energie eines weit jüngeren Mannes, und seine Augen waren dunkel und intelligent. Außer ihnen beiden war niemand anwesend. Walter versuchte vergeblich, sich zu erinnern, ob es eine Lady Caradoc gab.

»Hängen ist eine hässliche Sache, Dr. Kane«, sagte Sir Lewis. »Ich entschuldige mich übrigens nicht dafür, dass wir uns bei Tisch darüber unterhalten: Wenn man Sie mit der Stellung betraut, wird diese Hässlichkeit Teil Ihres Lebens sein.«

»Das ist mir klar. Und mir ist bewusst, dass Hängen ein schauerlicher Vorgang ist.«

»Qualvoll und barbarisch.« Caradoc musterte Walter. »Und belastend, ungeachtet Ihrer persönlichen Überzeugungen,« fügte er leise hinzu

Sie sahen sich an. »Sie denken an meinen Vater, Sir«, sagte Walter schließlich.

»Aha. Sie wissen also, was mit Ihrem Vater geschah. Ich war mir nicht sicher.«

»Ja, ich weiß es.«

»Sie können nicht älter als sieben gewesen sein, als er starb. Kaum alt genug, um die Situation zu verstehen.«

»Damals begriff ich nicht, was vor sich ging, jedenfalls nicht richtig. Später schon.«

»Wussten Sie, dass ich damals Direktor von Calvary war?«

»Ja.« Es bestand keine Notwendigkeit, näher auf das Geschehen vor mehr als zwanzig Jahren einzugehen. Damals hatte ein jüngerer Sir Lewis hinter diesem Schreibtisch gesessen und Walters Mutter ihm gegenüber, das Gesicht von einem Schleier verhüllt, doch die Spuren der Tränen trotzdem sichtbar.

»Verabschiede dich von deinem Vater, Walter ...«, hatte sie gesagt, als sie durch die langen Gänge mit den kalten Steinböden geführt wurden. Einen Moment lang sah er sich als Siebenjährigen vor sich, verängstigt und verwirrt, der nicht verstand, warum er an einen Ort mit klirrenden Türen, auf- und zugesperrten Schlössern und Menschen gebracht worden war, die ihn mitleidig ansahen.

»Sag ihm Lebewohl, Walter, deshalb sind wir hier ...«

»Ja. Ich wusste, dass Sie damals in Calvary waren«, erwiderte Walter schließlich.

»Das dachte ich mir schon.« Sir Lewis runzelte die Stirn. »Dr. Kane, für einen Gefängnisarzt sind Sie noch sehr jung, aber Ihre Eignungszeugnisse sind hervorragend, und ich denke, der Verwaltungsrat wird Ihre Bewerbung wohlwollend in Erwägung ziehen. Es besteht kein Grund, warum irgendjemand Sie mit Ihrem Vater in Verbindung bringen sollte. Sie haben Ihren Namen geändert – eine geringfügige Änderung, aber es ist erstaunlich, wie unterschiedlich Kane und O'Kane klingen. Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen wegen Ihrer beruflichen Tätigkeit auf den Zahn zu fühlen, aber eine Frage würde ich Ihnen gerne stellen.«

»Ja?«

»Haben Sie wegen Ihres Vaters beschlossen – wegen dem, was er getan hat und was ihm widerfahren ist –, Medizin zu studieren und sich für diese Stellung zu bewerben?«

»Teilweise, Sir. Was damals geschah, weckte in mir den Wunsch, das Leben solcher Menschen erträglicher zu machen, die sich dem Tod oder lebenslanger Haft gegenübersehen. Wir schulden ihnen ein gewisses Maß an Würde, ungeachtet dessen, was sie verbrochen haben.« Walter runzelte die Stirn. »Das mag hochtrabend und anmaßend klingen, aber das ist meine Einstellung.«

»Ich verstehe. Ihre Mutter ist tot, nehme ich an?«

»Ja.« Es bestand keine Notwendigkeit, näher darauf einzugehen; Caradoc zu erzählen, dass sie an gebrochenem Herzen gestorben war und der Welt nicht länger ins Gesicht sehen konnte. »Ich würde mich sehr freuen, die Stellung zu erhalten, Sir Lewis«, sagte Walter.

Das Lächeln erschien abermals. »Ganz meinerseits, Walter«, erwiderte Lewis Caradoc.

»Er ist natürlich sehr jung«, befand Edgar Highnet, der Direktor von Calvary. »Ich hatte auf einen älteren Mann gehofft. Mit mehr Erfahrung. Und der Fähigkeit, mit den wirklich schwierigen Fällen fertigzuwerden. Aber die anderen Anwärter waren völlig ungeeignet.« Er hob ein imaginäres Glas. »Der eine trank, der andere war absolut untauglich. Und beides kann man in einer Anstalt dieser Art nicht gebrauchen, wie Sie wissen, Sir Lewis.«

»Ich denke, Kane wird mit den Insassen von Calvary sehr gut zurechtkommen«, erwiderte Lewis. »Er nimmt seine Arbeit ernst und ist durch und durch aufrichtig. Das werden Sie erkennen und respektieren.«

»Also gut. Ich werde Ihre Entscheidung unterstützen«, erklärte Highnet. Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: »Es sieht ganz so aus, als stünde Kane die Feuertaufe schon bevor. Ich nehme an, dass Sie es in der Zeitung gelesen haben.«

»Sprechen Sie von dem Fall in Knaresborough? Neville Fremlin? Ja natürlich. Es scheint kaum Zweifel an seiner Schuld zu geben.«

»Nicht den geringsten, denke ich. Fünf Frauen hat er mit Sicherheit umgebracht – zwei mit Messerstichen in die Schädelbasis und zwei vermutlich erwürgt. Die fünfte war zu stark verwest, um die Todesursache feststellen zu können. Die Leichen wurden ausnahmslos in Becks Forest wenige Meilen außerhalb von Knaresborough verscharrt.«

»Es gab doch noch ein weiteres mögliches Opfer, oder?«

»Ja, aber man hat ihre Leiche noch nicht gefunden. Fremlin wird morgen hierher überstellt, deshalb sollte es mich nicht wundern, wenn die Zeitungsreporter ebenfalls in Scharen eintreffen. Nächsten Monat um diese Zeit ist der ganze Rummel zum Glück vorbei.«

Auszug aus »Mentale Glücksbringer« von C. R. IngramEs lässt sich nicht leugnen, dass Männer und Frauen in allen Jahrhunderten unablässig auf der Suche nach Möglichkeiten waren, die Schatten des Todes abzuwehren – mit Hilfe von Amuletten, Zaubersprüchen und Glaubensformeln. Manche waren ausgefeilt und zeremoniell – wie die Rituale der Druiden oder die Verwandlung von Brot und Wein vor einem Altar –, andere makaber, wie der Diebstahl der Hand eines gehängten Mörders.

Antworten auf die Fragen nach dem Jenseits wurden an den seltsamsten Orten gesucht, auch an einem runden Tisch in einem verdunkelten Raum mit einer Gruppe trauernder Menschen, die einander an den Händen hielten, um sich gegenseitig zu versichern, dass der Tod nicht das Ende sei. Es gab Männer und Frauen, die weltweit in den Todeszellen der Gefängnisse nach Erkenntnis suchten – jenen von Verzweiflung erfüllten Räumen, in denen die letzten Minuten eines Lebens verrannen, bis die Uhr schlug ...

Kapitel 3

Thornbeck präsentierte sich als einer der idyllischen kleinen Marktflecken, von denen es in diesem Teil Englands nur so wimmelte. Es schmiegte sich an den Ausläufer eines bescheidenen Berges, den die lokale Landkarte als Mount Torven auswies. Dort gab es eine schmucke Hauptstraße mit Geschäften, die sich hinter einer Bogenfront verbargen, und mehrere Kettenläden, die auf Marschstiefel, Camping- und Kletterausrüstung spezialisiert waren. Außerdem gab es drei Pubs mit weißer Frontseite und Bogenfenstern, die für ihre Barfood-Gerichte warben. Nichts von alledem war marktschreierisch auf Touristen ausgerichtet, und nun, gegen halb sechs Uhr abends, herrschte im Ort mäßige Geschäftigkeit, beschränkt auf Menschen, die in Busse stiegen oder ihre Autos aus den Parkzonen navigierten. Verglichen mit der Londoner Stoßzeit, in der die Pendler wie die Lemminge die Innenstadt verließen, bot sich hier ein friedvolles Bild.

Caradoc House befand sich an der Peripherie dieser gedämpften Aktivität. Georgina, die Vincent Meades Wegbeschreibung gefolgt und sich nicht sicher war, was sie von einem Anwesen erwarten sollte, das mit Walters Legat erbaut oder erworben wurde, hatte die reizloseren Etappen der Reise damit verbracht, sich verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen zu lassen. Wie sich am Ende herausstellte, handelte es sich um ein mittelgroßes graues Steingebäude, das aussah, als hätte es ursprünglich einem Geschäftsmann gehört, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatte. Es lag an einer steilen, gewundenen schmalen Straße unweit eines hübschen öffentlichen Platzes. Dahinter ragte der Mount Torven empor. Selbst an einem strahlenden Sommertag schienen die Zimmer an der Rückseite des Hauses nicht viel Licht zu erhalten, doch wenn man hier lebte, war einem das vermutlich egal, weil die Umgebung atemberaubend war. Das Haus machte einen ansprechenden Eindruck. Es blickte zur Straße hinaus, doch Georgina parkte an der Seite und ging anschließend um das Gebäude herum zum Vordereingang. Auf einem rechteckigen Messingschild hieß es: ›Eingetragener Sitz der Caradoc Gesellschaft zur Erforschung übersinnlicher und paranormaler Phänomene. Gegründet 1917 von Sir Lewis Caradoc.‹

Die Caradoc Gesellschaft mochte ihrem Untergang entgegensehen, aber sie tat es auf zivilisierte und noble Weise. Die Tür war in glänzendem Grün gestrichen, der Türklopfer aus Messing auf Hochglanz poliert. Als Georgina danach griff, bewegte sich ein Vorhang hinter einem der Fenster im Erdgeschoss; gleich darauf wurde die Tür von einem Mann geöffnet, der Vincent N. Meade sein musste. Er war älter, als seine Stimme am Telefon vermuten ließ – mindestens sechzig oder ein paar Jährchen darüber –, und von imposanter Statur, wenngleich er ein wenig kraftlos wirkte. Er trug eine dunkelrote Samtjacke (Samt um halb sechs?), ein blassrosa Hemd und ein geknotetes Halstuch aus weichem Material. Georgina platzierte ihn vor ihrem inneren Auge in einen bonbonrosa Raum, ausgestattet mit bombastischen weißen Sofas und Satinkissen mit Quasten.

Vincent Meade war allem Anschein nach entzückt, Georgina kennen zu lernen, genauer gesagt, Walter Kanes Urenkelin: ein historischer Tag, meiner Treu, der in die Annalen der Gesellschaft eingehen würde. Seine großen weichen Hände umfassten Georginas, und sie musste das Bedürfnis unterdrücken, sie ihm gewaltsam zu entreißen.

Alle waren überglücklich, dass sie die Einladung angenommen hatte, erklärte Vincent, vor allem im Herbst, zu dieser öden Jahreszeit, und obwohl sie bestimmt sehr viel zu tun hatte. War das der einzige Koffer, den sie mitgebracht hatte? Er würde ihn nach oben tragen – nein, er bestand darauf. Es gab zwei Treppenläufe, und der zweite war ziemlich steil. Für jemanden, der drei Jahre lang Davids Vorstellung von Gleichberechtigung ertragen hatte (›Georgina, du wirst es doch wohl schaffen, deine eigenen Koffer zu tragen, oder? Ja, das dachte ich mir schon.‹), war diese bescheidene Geste der Ritterlichkeit durchaus annehmbar.

Das Gästeapartment befand sich im zweiten Stock und bestand aus einem L-förmigen Raum mit bequemen Sesseln und einem Couchtisch im größeren, Spülbecken, Herd und Kühlschrank im kürzeren Bereich. Es gab ein winziges Schlafzimmer mit einem Liegesofa und Wandschränken und einen daran angrenzenden Duschraum mit Toilette in Miniaturformat. Alles war makellos sauber und behaglich, obwohl es das sterile Aussehen eines Hotelzimmers besaß und es Georgina in den Fingern juckte, die herrlichen Purpurschattierungen der Berglandschaft ins Haus zu bringen oder die üppigen Farne in Kupfergefäße umzupflanzen, als Kontrast zu den weißen Wänden und dem beigefarbenen Teppich.

»Ich denke, Sie werden sich hier wohlfühlen, Miss Grey.« Vincent stellte den Koffer ab. »Es ist klein, aber wir hoffen, dass es unseren Gäste zusagt.«

»Es ist alles bestens. Und ich werde mich sehr wohlfühlen.«

»In der Küche finden Sie Milch und Brot, und das Bett ist frisch bezogen. Es gibt ein Radio, aber bedauerlicherweise kein Fernsehgerät, da wir von den Ausläufern des Mount Torven im Empfang gestört werden. Es ist ein kleiner Berg, und Puristen würden ihn nicht einmal als solchen bezeichnen – nicht hoch genug, verstehen Sie? –, aber gleich ob Berg oder Maulwurfshügel, die TV-Signale haben hier buchstäblich keine Überlebenschance.«

»Der Torven ist mir ohnehin lieber als Fernsehen.« Georgina blickte durch das Fenster auf die hinreißende Szenerie. Selbst an einem dunklen Oktoberabend bot der Möchtegern-Berg ein spektakuläres Bild in samtigem Purpurrot und Kobaltblau. Sie würde die Vorhänge heute Nacht offen lassen, um zu beobachten, wie sich das Licht auf den Hängen des Torven veränderte.

»Tatsächlich? Nun, dann werde ich Ihnen noch eine Tasse Tee heraufbringen – nein, das macht überhaupt keine Mühe, ich hatte den Wasserkessel bereits aufgesetzt, in Erwartung Ihrer Ankunft. Ich bin gleich zurück.«

Er trollte sich mit zufriedener Miene, und Georgina nutzte seine Abwesenheit, um die wenigen Dinge auszupacken, die sie mitgebracht hatte, und ihre Jacke an der Garderobe aufzuhängen.

Der Tee wurde in Porzellantassen mit Zitrone, Milch und Keksen serviert, die auf einer Papierserviette angeordnet waren.

»Der Justiziar der Gesellschaft erwartet uns morgen früh in seiner Kanzlei«, sagte Vincent, während er eifrig Tee einschenkte. »Er wird sich die Briefe anschauen, die Sie mitgebracht haben, und Ihnen vermutlich gleichzeitig einige Papiere Ihres Urgroßvaters übergeben. Um zehn Uhr haben wir einen Termin bei ihm. Ich hoffe, das ist nicht zu früh nach der langen Fahrt, die Sie heute hinter sich haben?«

»Nein, keineswegs.« Georgina verspürte einen Anflug freudiger Erregung. Papiere, die Walter gehört hatten. Vielleicht Briefe oder Fotografien ... Ihr war nicht bewusst, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, einen Blick zurückzuwerfen und die Hand zu ergreifen, die sich ihr aus der Vergangenheit entgegenstreckte.

Sie erkundigte sich bei Vincent, ob er schon lange Sekretär der Gesellschaft gewesen sei.

»Ich habe diese Stellung einundvierzig Jahre bekleidet«, erwiderte er mit einem tapferen Lächeln. »Ich kam mit einundzwanzig Jahren nach Thornbeck, und die Gesellschaft war seither immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich habe zahlreiche Artikel und Broschüren über unsere Arbeit verfasst. Es ist traurig, mitansehen zu müssen, wie alles endet und wie das Haus veräußert wird. Es wurde 1940 mithilfe des Kane-Legats gekauft, wissen Sie.«

»Eigentlich weiß ich kaum etwas über all diese Dinge. Außer dass mein Urgroßvater in den 1930er-Jahren in Calvary Goal arbeitete, aber abgesehen davon –«

»Calvary«, sagte Vincent in einem Tonfall, in dem Betroffenheit und Traurigkeit mitschwangen. »Calvary, Miss Grey –«

»Georgina.«

»Calvary, Georgina, war ein beinahe ebenso wichtiger Teil meines Lebens wie die Gesellschaft. Wer kann schon ermessen, was früher in diesem düsteren Gebäude geschah?«

Er scheint eine Vorliebe für das Dramatische zu haben, dachte Georgina. Ob ich ihn darauf aufmerksam machen soll, dass der Zipfel seines Halstuchs in der Teetasse hängt? Doch Vincent, der sah, dass sie ihren Tee ausgetrunken hatte, verabschiedete sich mit den Worten, sie werde gewiss auspacken und sich nach der Reise ausruhen wollen. Was sie von ihm denken müsse, ihr eine Unterhaltung aufzudrängen! Er befürchte, ein schmählicher Langweiler zu sein, wenn er auf das Thema zu sprechen kam – die Gesellschaft, die sein Lebenswerk darstellte.

Es wäre Georgina nie in den Sinn gekommen, dass außer den Romanfiguren von Jane Austen noch irgendjemand in diesem Zusammenhang das Wort ›schmählich‹ benutzen könnte. Sie erwiderte rasch, es müsse eine interessante Tätigkeit gewesen sein und sie würde sich freuen, ein andermal mehr darüber zu erfahren.

»Nun, wenn Sie sicher sind, dass Sie alles haben, was Sie brauchen?«, hatte Vincent schließlich gesagt und war aufgestanden, um sich zu verabschieden.

»Ganz sicher. Sie waren sehr freundlich. Wir sehen uns dann morgen früh«, sagte Georgina mit Nachdruck, für den Fall, dass er sich bemüßigt fühlte, sie zum Abendessen einzuladen.

Was nicht der Fall war. »Ich komme gewöhnlich gegen halb zehn hierher. Ach ja, das ist der Schüssel zu der Tür, die auf die Hauptstraße hinausgeht. Für den Fall, dass Sie sich später noch ein wenig in der Stadt umschauen oder im King's Head eine Mahlzeit zu sich nehmen wollen. Im Kühlschrank finden Sie aber auch Eier und Käse und im Schrank einige Dosensuppen.«

Georgina hörte, wie er die Treppe hinunterstieg und zur Vordertür hinausging; sie spähte aus dem Fenster und sah, wie er die Straße entlangeilte. Dabei band er das Halstuch neu und betrachtete sein Spiegelbild in den Schaufenstern der Geschäfte. Eitelkeit war nicht die größte Sünde, die es gab. Sie beobachtete ihn einen Moment, verärgert über sich selbst, weil sie Opfer des Vorhang-Schnüffel-Syndroms geworden war.

Es war inzwischen halb sieben. Sie würde duschen und ins King's Head zum Essen gehen; sie packte es nicht, den ganzen Abend alleine zu verbringen. Vor allem, wenn sie sich ausmalte, was David und ihre Ex-Geschäftspartnerin dazu sagen würden: ›Die arme George, den ganzen Abend alleine in diesem deprimierenden Zimmer, gezwungen, mit Dosensuppe, Brot und Käse vorliebzunehmen.‹

Das Zimmer war keine Spur deprimierend, und sie hatte nicht das Geringste gegen Brot und Käse einzuwenden, aber sie würde trotzdem essen gehen.

Vincent hatte mit sich gerungen, ob er Georgina Grey, die Urenkelin von Walter Kane, zum Abendessen einladen sollte. Der Gedanke, in ihrer Gesellschaft das King's Head zu betreten, war verlockend – bestimmt waren etliche Einheimische dort, und natürlich kannte ihn jeder, so dass sein Erscheinen einigen Wirbel ausgelöst hätte. Meiner Treu, würden die Leute tuscheln, da ist ja Vincent Meade in Damenbegleitung. Noch ziemlich gut in Schuss, der alte Schwerenöter!

Aber diese Vorstellung besaß zwei Nachteile. Zum einen war Miss Grey jünger als erwartet – vermutlich erst sechs- oder siebenundzwanzig –, und er legte keinen Wert darauf, dass sich die bewundernden Blicke in ein anzügliches Grinsen verwandelten, mit dem man alternde Männer bedachte, die sich mit ihrem Faible für junge Mädchen zum Narren machten. Er selbst alterte mit Würde – er hatte neuerdings etwas Distinguiertes an sich und unlängst begonnen, sich vornehm zu kleiden –, so dass der Gedanke, sich mit gleich welchem jungen Mädchen zum Narren zu machen, lächerlich war. Dennoch, die Leute waren nun einmal grobschlächtig und neidisch.

Der zweite Nachteil war die Anwesenheit der Fernsehleute, die im King's Head logierten und die Möglichkeit überprüften, einen Dokumentarfilm über die Gegend zu drehen. Wie verlautet, ging es dabei um ungewöhnliche Bauwerke im Nordwesten Englands und verschrobene Winkel im ländlichen Teil Britanniens. Als er davon gehört hatte, war ihm auf Anhieb klargeworden, dass sein lokales Wissen äußerst nützlich sein könnte. Er hatte einige Einzelheiten über Calvary zusammengetragen – nichts Prekäres, nichts, was sie zu jenem Teil der Geschichte von Calvary führen könnte, der verborgen bleiben musste. Nur Tatsachen, beispielsweise, dass das Gebäude in den 1790er-Jahren errichtet worden war, ursprünglich als Anstalt für Häftlinge, die auf ihren Prozess oder die Hinrichtung warteten. Doch seit der Unterschied zwischen Gefängnis und Besserungsanstalt Mitte des 19. Jahrhunderts mittels einer Parlamentsakte aufgehoben worden war, hatte Calvary viele Insassen beherbergt, die zu lebenslanger Haft verurteilt waren. Das Ganze hatte er mit einer Prise Klatsch und lokalen Legenden gewürzt, damit die Informationen nicht zu trocken waren. Dass beispielsweise der ehemalige Dienstraum des Aufsehers vom Geist eines viktorianischen Zuchthäuslers heimgesucht wurde, der das alte Newgate-System dort eingeführt und die Insassen gezwungen hatte, für grundlegende Dienste zu zahlen.

Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine ungemein schwungvolle Geschichte, aber der Umgang mit Worten war Vincent schon immer leichtgefallen. Das hatte seine Mutter auch oft gesagt. »Warum machst du nicht etwas aus deinem schriftstellerischen Talent, Vincent! All die schönen Aufsätze, die du in der Schule geschrieben hast.«

Es wäre sehr befriedigend, wenn die Fernsehleute seinen Artikel verwenden würden, obwohl er auf einer angemessenen Würdigung seiner Verdienste bestehen müsste. »Wir danken Vincent N. Meade, der uns während der Entstehung der Sendung großzügig seine Zeit und sein Wissen zur Verfügung gestellt hat.« Solche Zeilen würden einen guten Eindruck machen.

Er hatte den Artikel der Assistentin übergeben – Drusilla irgendwas; sie meinte, dass alle sehr interessiert daran waren, ihn zu lesen, und natürlich sollte er ihnen seine Telefonnummer geben, damit sie sich mit ihm in Verbindung setzen konnten. Vermutlich hatten sie den Artikel inzwischen genau unter die Lupe genommen, was bedeutete, dass sie erpicht darauf waren, sich mit ihm darüber zu unterhalten. Also würde er später ins King's Head gehen, aber alleine, um ungebunden zu sein, wenn sie Kontakt mit ihm aufnehmen wollten. Sein Erscheinen in der Bar würde niemand als seltsam erachten: Er suchte sie hin und wieder auf, um dort den Abend bei einem Glas Sherry zu verbringen. Möglicherweise schafften sie den Sherry nur für ihn an, und er stellte sich vor, wie der Barkeeper zum Barbesitzer sagte: »Wir müssen diese Woche unbedingt eine Flasche oder auch zwei von Mr Meades Sherry bestellen: nicht auszudenken, wenn er ausginge.«