Todesspiel - Heinrich Breloer - E-Book

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Heinrich Breloer

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Beschreibung

Deutscher Herbst: ein hochbrisantes Kapitel jüngster Zeitgeschichte – spannend und fundiert erzählt Eine Szene wie aus einem Krimi: Zwei Limousinen biegen um die Ecke. Plötzlich rollt ein Kinderwagen auf die Straße. Die Autos bremsen, es fallen Schüsse. Vier Menschen sterben im Kugelhagel, ein Überlebender wird fortgeschleppt.Doch dieses Szenario ist keine Fiktion, sondern bildete am 5. September 1977 den blutigen Auftakt des Deutschen Herbstes. Die Geiselnahme von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch ein Kommando der Roten Armee Fraktion und die anschließende Entführung der Lufthansamaschine »Landshut« hielten die Bundesrepublik sechs Wochen lang in Atem. Viele Details und Hintergründe des Dramas sind bis heute im dunkeln geblieben. 20 Jahre nach den tragischen Ereignissen konnte der bekannte Dokumentarfilmer Heinrich Breloer jetzt persönlich mit fünfzig der wichtigsten Beteiligten sprechen – vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, dem Chef des BKA und der Familie Schleyer bis hin zu einigen Mitgliedern der RAF und der Flugzeug- Entführerin Souhaila Andrawes. Dank zahlreicher neuer Erkenntnisse gelingt es Breloer, sich beklemmend nah in das Geschehen und die psychische Verfassung der Akteure hineinzudenken und somit dieses wichtige Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte in erzählerischer Form aufzuarbeiten und für die heutige Generation begreifbar zu machen.Zwanzig Jahre nach der Geiselnahme von Hanns Martin Schleyer und der Entführung der Lufthansamaschine »Landshut« zeichnet der bekannte Dokumentarfilmer Heinrich Breloer das dramatische Geschehen auf der Basis neuer Erkenntnisse nach.

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Seitenzahl: 424

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Heinrich Breloer

Todesspiel

Von der Schleyer-Entführung bis Mogadischu

Eine dokumentarische Erzählung

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Heinrich Breloer

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

VorbemerkungI Die Entführung1 Kommando Siegfried Hausner2 Blutbad3 Der Kanzler4 Erstes Ultimatum5 Krisenstab6 Lebenszeichen7 Fahndungsdruck8 »Volksgefängnis«9 Hier spricht die Raff!10 Fragebogen11 Verhör im Volksgefängnis12 Exotisches Denken ist erlaubt13 Mord in Utrecht14 Katastrophe programmiert15 Abu Hani in BagdadII Die Befreiung1 Bagdad – Brüssel – Bonn – Mallorca2 Der Überfall3 Galle im Herzen4 Nach Dubai5 Verrat im Interconti6 Happy Birthday7 Notlandung in Aden8 Mord in der Landshut9 Mogadiscio Welcome10 Abschied vom Leben11 Grenzschutzgruppe Neun12 Aktion Feuerzauber13 Tote in Stammheim14 Genickschuss15 Trauerfeiern, GräberNachbemerkung
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Vorbemerkung

Ich werde sie Karla, Anne, Tony, Flipper oder Bille nennen. Die Kämpfer der RAF haben selber immer wieder einen großen Mummenschanz getrieben mit den Namen, Masken und Rollen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die sie mit ihren Aktionen zum Einsturz bringen wollten. Hinter diesen Namen versammeln sich reale, zum Teil auch zusammengezogene und verdichtete Personen aus dem Kreis der Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer.

Als Kopf und Organisatorin wird Brigitte Mohnhaupt angesehen. Das Kommando für den Überfall auf der Straße bildeten: Sieglinde Hofmann, Peter-Jürgen Boock, Stefan Wisniewski und Willy Peter Stoll. Als Sprecher der RAF bei Telefonaten fungierte häufig Rolf Clemens Wagner. Für Wohnungsanmietungen, Fahrzeugbeschaffung, Waffenorganisation, Passfälscherwerkstatt, Transport- und Kurierdienste und Depotbewirtschaftung war darüber hinaus ein großer Kreis von Kämpfern der RAF tätig. Dies waren vor allem Christian Klar, Knut Folkerts, Rolf Heißler, Adelheid Schulz, Monika Helbing, Silke Maier-Witt, Susanne Albrecht, Angelika Speitel und Sigrid Sternebeck, aber auch manch andere helfende Hand. Die Entführung von Hanns-Martin Schleyer war die logistisch aufwendigste Aktion der RAF.

Es geht mir hier um Einzelheiten, um die vielen Details einer immer noch verborgenen Geschichte. Aber es geht auch ums große Ganze: um den Sinn und Unsinn dieser sieben Wochen Bürgerkrieg, den die RAF der Bundesrepublik aufzwingen wollte.

Fünfzig der wichtigsten an dem Geschehen beteiligten Personen konnte ich zwanzig Jahre nach den dramatischen Ereignissen des Herbst 1977 persönlich sprechen. Für die Entwicklung eines Drehbuchs habe ich hundert Stunden meiner Videointerviews ausgewertet: vom Bundeskanzler, seinen Ministern und dem Chef des BKA auf der einen Seite und einigen Mitgliedern der RAF auf der anderen. Mit der Kamera, dem Tonband und manchmal nur mit dem Bleistift konnte ich ihre Erinnerungen festhalten. Auch das vorliegende Buch beruht weitgehend auf diesen persönlichen Gesprächen mit den unmittelbar am Geschehen Beteiligten.

Die Menschen aus der Lufthansamaschine »Landshut«, die aus dem Urlaub von Mallorca direkt in den Strudel der Weltgeschichte gerissen wurden, haben bis heute die fünf Tage ihres Irrflugs nach Mogadischu nicht vergessen. Manche von ihnen haben erst jetzt den Mut gefunden, diese Reise innerlich noch einmal anzutreten. Ich bin ihnen dankbar, dass ich sie dabei begleiten durfte.

Das Leben der beteiligten Personen war am Ende dieser Geschichte ein anderes geworden. Die Befreiung der Geiseln von Mogadischu, der Tod der Führungselite der RAF in Stammheim und die Ermordung Hanns-Martin Schleyers haben das Leben aller beteiligten Personen gründlich verändert. Es gab keinen Weg mehr zurück in das Leben davor. Für den Kanzler nicht, für die vielen Geiseln nicht, die in ihre Familien mit unsagbaren Erlebnissen zurückkehrten, für die RAF nicht, deren Kraft danach gebrochen wurde, und für den Präsidenten des Bundeskriminalamtes nicht, der neben dem Kanzler der wahre Gegenspieler der Stadtguerilla gewesen ist. Und schließlich hatten die Bürger der Bundesrepublik alle gemeinsam in dieser Zeit eine Erfahrung gemacht, die das Land veränderte.

Die noch junge Bundesrepublik der Siebzigerjahre hat sich nach dem Angriff der RAF stabilisiert. Das war der Gewinn der Geschichte. Aber Staat und Gesellschaft sind seit dieser Zeit immer enger zusammengerückt. Die einstmals getrennten Bereiche von Arbeit und Leben in unserer Gesellschaft und der Politik, als der Verwaltung von Arbeit, sind heute fast untrennbar zusammengewachsen. Der Staat regelt weite Bereiche unseres Lebens. Eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen und einen anderen Staat, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren selbstverständlich war, erscheint heute altmodisch.

Die Ziele und der Weg der RAF wirken im Rückblick unvorstellbar töricht, weltfremd und brutal. Und doch waren es nicht die dümmsten und auch nicht nur die harten und brutalen jungen Menschen, die sich auf diesen blutigen Weg begeben hatten. Sie hatten sich hart gemacht für den Kampf, eiserne Ringe um ihr Herz geschmiedet, damit sie Feuerwaffen festhalten konnten, wenn sie diejenigen, die sie zu Gegnern erklärt hatten, töteten. »Blindwütige Mörder« – ein Wort, das in der Nacht der Entführung – ohne Absprache – Bundeskanzler Schmidt und Oppositionsführer Kohl in Fernsehansprachen voller Abscheu verwendeten, traf die Sache und trifft sie auch wieder nicht. Die Täter waren blind vor Wut. Das entsprang unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Aber sie sind zu Mördern geworden, weil sie glaubten, etwas erkannt zu haben: einen Ausweg aus dem Kreislauf der Geschichte, hin zur Entwicklung der Menschen in eine bessere und gerechtere Zukunft.

Auch bei den früheren Kämpfern der RAF sind heute einige Ringe abgesprungen. Manche trauen sich an die Tage von damals heran und fragen sich: Warum war ich so gefühllos, als ich die Bilder der Toten auf der Straße sah? Wie war es möglich, dass wir, die wir doch möglichst weit von unseren Nazi-Eltern wegwollten, manchmal wieder vor Situationen standen, die den Erfahrungen unserer Eltern so ähnlich waren?

 

Peter-Jürgen Boock, mit dem ich einige Tage sprechen konnte, habe ich hier Tony genannt, weil er sich selber in seinen Erinnerungen zu einer Figur verdichtet hat. Unter den Namen Karla, Anne, Flipper, Harry und Bille fiel es mir – auch aus juristischen Gründen – leichter, Personen der Zeitgeschichte in einem Spiel als Figuren zu bewegen. Alle hier genannten Täter sitzen seit Langem im Gefängnis. Nicht immer jedoch konnten sie für alle Taten, für die sie wahrscheinlich verantwortlich sind, auch verurteilt werden. Ihre Identität war die RAF. Wenn sie in den nächsten Jahren freikommen und anfangen zu sprechen, werden wir sie vielleicht kennenlernen.

H.B.

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IDie Entführung

1Kommando Siegfried Hausner

Morgen würden sie die drei Bullen töten.

Den Fahrer des Arbeitgeberpräsidenten, und die zwei Mann vom LKA im zweiten Wagen dahinter. Auf Packpapier hatten sie die Abbiegung der Vincenz-Statz-Straße von der Friedrich-Schmidt-Straße in Köln aufgezeichnet. Sie fuhren mit Zigarettenschachteln die zwei Limousinen um die Kurve der Friedrich-Schmidt-Straße in die Vincenz-Statz-Straße. Rückwärts stieß der Rammwagen vom Bürgersteig mit dem Heck auf die Straße: Der Fahrer des ersten Wagens würde auffahren, das Sicherungsfahrzeug, wie immer zu dicht dahinter, musste ebenfalls auf das erste Fahrzeug krachen – mit einem kurzen harten Feuerüberfall wollten sie die drei Bewacher ausschalten und dann endlich Hanns-Martin Schleyer aus seinem Dienstwagen in den weißen VW-Bully an der Straßenecke rüberschleppen. Noch bevor die Polizei einen Alarm bekommen hatte, wären sie irgendwo im Weichbild der Großstadt verschwunden. Verschluckt von einer Tiefgarage, versteckt in einem der anonymen Wohntürme, die sich wie ein Ring um die Stadt legten.

Hanns-Martin Schleyer war für sie der Repräsentant des verfluchten Systems, dieses stinkenden, absterbenden Kapitalismus, der wie ein würgender Krebs um die Welt gewuchert war. Wo sich die jungen Völker der Dritten Welt in Guerilla-Kämpfen befreiten, da sah man schon das Neue, den neuen, freien Menschen – im Gesicht der Kämpfer. Auch sie waren Kämpfer – die Stadtguerilla der RAF –, die Maden im Gehirn der hochgerüsteten, sterbenskranken Bundesrepublik. Der westliche deutsche Staat war Kolonie und Erfüllungsgehilfe der imperialistischen Zentralmacht USA, Nachschubgebiet für die Kriege, mit denen die Völker der Dritten Welt niedergedrückt wurden. Die fette deutsche Bourgeoisie sah sich zur Abendunterhaltung im Fernsehen die brennenden Kinder aus Vietnam an, die allmähliche Auflösung des Libanon, die Massaker in Afrika. Aber nun fuhren die Panzer endlich durch ihre Wohnzimmerwand, und die Schüsse trafen die Polstermöbel des Bankiers Ponto in Oberursel. Susanne hatte sie mit Blumen zu ihrem Onkel Jürgen ins Wohnzimmer gebracht. Als der Bankier sich nicht einfach entführen lassen wollte, hatte Christian sofort geschossen. Karla hatte es in einer Erklärung vor vier Wochen der Welt mitgeteilt, und Susanne hat es dann unterschreiben müssen. Einfach und klar, wie die Wahrheiten in der Bibel verkündet wurden:

zu ponto und den schüssen, die ihn jetzt in oberursel trafen, sagen wir, dass uns nicht klar genug war, dass diese typen, die in der dritten welt kriege auslösen und völker ausrotten, vor der gewalt, wenn sie ihnen im eigenen haus gegenübertritt, fassungslos stehen … es geht natürlich immer zuerst darum, das neue gegen das alte zu stellen, und das heißt hier: der kampf, für den es keine gefängnisse gibt, gegen das universum der kohle, in der alles gefängnis ist.

 

Dafür war kein Einsatz zu hoch: die Welt zu befreien. Endlich noch einmal die ganze Welt! Nichts weniger. Der letzte Versuch in diesem verfluchten Jahrhundert, in dem so viele größenwahnsinnige Diktatoren ihre Experimente mit der Menschheit angestellt hatten. Aber sie hatten die Schriften verstanden, hatten die Fingerzeige der Klassiker des Marxismus zu deuten gewusst: Jetzt war die Zeit reif. Den narkotisierten Massen wollten sie ein leuchtendes Beispiel dafür geben, dass Widerstand auch in einem Polizeistaat wie diesem möglich war. Dabei würden sie als die Avantgarde ihr Leben hingeben und wie schaurige Meteore als Zeichen am Himmel verglühen. Aber sie hatten dann die Tore aus dem großen Gefängnis des Kapitalismus durchschritten – frei.

Für die jungen Männer und die Frauen in der Kölner Kommandowohnung gab es kein Zurück mehr in das dreckige Nest der bürgerlichen Gesellschaft. Die Dokumente ihrer Vergangenheit hatten sie vernichtet. Manchmal verbrannten sie feierlich Fotos von ihrer Kindheit und Jugend in diesem Wirtschaftswunderland im Dunkel eines einsamen Ackers, am Waldrand. Die lieben Gesichter hilfsbereiter junger Mädchen auf Klassenfahrt, am Mittagstisch mit dem Gesicht des strengen Vaters – die kuriosen Passfotos und Führerscheinbilder der zweiten Generation der RAF. Sie waren aus den rebellischen Zirkeln der »Folterkomitees« mit Bedacht und Vorsicht und von langer Hand an den Kern der Roten Armee Fraktion herangeführt worden. Nun verbrannte der Versuch, durch Mitleid und Hilfsbereitschaft die großen Schmerzen etwas zu lindern. Und es verbrannte der Versuch, für vernünftige Ziele Mehrheiten zu gewinnen. Es verbrannte der Versuch, mit dem Studium einen Beruf zu finden und in die Gesellschaft der Eltern einzutreten. Tausende hatten bei Diskussionen an den Universitäten ganz ungeniert und offen darüber abgestimmt, ob man sich nun bewaffnen müsse. Ein Spiel nur. Aber eine Handvoll von ihnen hatte damit Ernst gemacht.

Sie waren frei: Das war schaurig und schön zugleich. Dann kam der Moment, wo die Genossen dir eine Waffe gaben: geprüft und aufgenommen in den innersten Zirkel. Wir versprechen uns, nicht kampflos von den Bullen erwischt zu werden. Wir ziehen zuerst, und sie wissen das. Und dann die höchste Form der Anerkennung: das Kommando!

Siegfried Hausner – mit diesem Namen würden sie die Kommandoerklärungen der nächsten Tage unterschreiben und die sozialdemokratische Charaktermaske Helmut Schmidt an Stockholm erinnern. Vor zwei Jahren, im April 1975, hatte das Kommando Holger Meins die westdeutsche Botschaft in Stockholm besetzt, um – im Austausch mit dem als Geiseln festgehaltenen Botschaftspersonal – Andreas, Gudrun, Jan-Carl und 23 andere Genossen aus den Gefängnissen der BRD freizupressen. Bei der vorzeitigen Explosion von Sprengstoff waren ihre Kämpfer Wessel und Hausner getötet worden. Drei Überlebende des Kommandos, die festgenommen wurden – Bernd Rösner, Hannah Krabbe und Karl-Heinz Dellwo –, standen bald auf der Liste jener RAF-Gefangenen, die gegen Schleyer ausgetauscht werden sollten.

In den Monaten nach Stockholm hatten sie ihre Reihen wieder aufgefüllt, nun standen sie vor dem alles entscheidenden großen Angriff. Kommando Siegfried Hausner. Wenn sie die Spitze der Wirtschaft in der Hand hatten, den Top-Repräsentanten von Mercedes-Benz, den Boss der Bosse, dann musste die Politik gehorchen. Denn so viel war klar: Die Politiker waren die Marionetten der Wirtschaft, und wenn’s ernst wurde, dann würde auch Schmidtschnauze, der Hamburger Deichgraf und Krisenmanager der großen Flut, der Mann, den sie gerne Zwerg nannten, als lächerlicher Hampelmann am Faden des Kapitals strampeln. Und alle würden es sehen und endlich verstehen.

 

Sie würden die drei Bullen totschießen. Das war beschlossen. Als sie am nächsten Nachmittag sahen, dass ein vierter Mann im Wagen saß, zögerten sie keine Sekunde, ihre automatischen Waffen auch auf ihn abzufeuern. Und doch gab es einen Winkel in ihren Herzen, der sich nicht beruhigen ließ. Hier regte sich etwas gegen das Töten. Und Bille sprach es aus, an diesem Abend zuvor. Sah sie schon hinter den Zigarettenschachteln jene Bilder, die am nächsten Tag über den Fernseher in jede Stube gesendet würden?

Ich stelle mir vor, dass es ein vorsichtiger Einwand war: »Wir brauchen doch mehr Zeit.« Nicht gleich und schnell drei Menschen aufs Pflaster legen. Sah sie die jungen Männer mit ihren Familien? Spürte sie, dass der Kanzler – mit diesen drei Toten im Gepäck – keine Verhandlungen über die Spitze der RAF würde führen können?

»Spinnst du, wir sind im Krieg!« Flipper wurde ärgerlich, es sollte mit der Planung vorangehen. Morgen war der beste Tag, um Schleyer zu klauen. Er würde nach der Ankunft von Stuttgart in seine Kölner Wohnung fahren, bevor er am Abend noch einen Termin in Düsseldorf hatte. Jetzt oder nie. »’ne Schießerei kann’s auch dann geben, wenn wir noch Monate an der Sache rumchecken.«

Das war Tony, der seine eigenen Gründe hatte, für Andreas und Gudrun morgen mit der Pumpgun auf die Straße zu gehen. Die beiden hatten ihn vor Jahren aus einem der schrecklichen Fürsorgeheime geholt und ihm ein anderes Leben gegeben. Auch wenn er Zweifel spürte: er war es vor allem Andreas und Gudrun schuldig, auch wenn es sein Leben kosten würde. Außerdem: Die Befreiung der Gefangenen würde diesen Staat tief erschüttern. Seine Schwäche und Verwundbarkeit würden sie aller Welt deutlich vor Augen führen.

Im Schein einer Architektenlampe lag das Szenario vor ihnen ausgebreitet auf dem Fußboden. Sie saßen auf Luftmatratzen, die sie in der Nacht als Feldbetten benutzten. Drei Männer und drei Frauen, erzählte mir Tony, der dabei war, und er sagt, es herrschte sofort ein schneidender Ton, als Bille die Aktion noch einmal in Zweifel ziehen wollte.

»Bisher haben wir aber noch alle politischen Aktionen diskutiert.« Noch waren die Autos nur Zigarettenschachteln. Noch war Zeit. Aber in der Gruppe konnte schon lange nicht mehr offen diskutiert werden, kaum jemand wagte es, seine Zweifel an einzelnen Aktionen oder gar dem Konzept der Stadtguerilla auszusprechen. Wie sollte man sich im Ernstfall auch auf den Schützen nebenan verlassen können, wenn er seiner selbst nicht sicher war?

Deshalb musste der eigene Zweifel auch dann niedergerungen werden, wenn er aus den anderen ebenfalls deutlich genug sprach. Anne, knapp über dreißig, fährt Bille mit der Deutlichkeit der Frau, die morgen das Feuer auf den Fahrer im ersten Wagen eröffnen wird, über den Mund.

»Du, das ist ein Befehl!« Und zu Karla, die, mit der Autorität der Stammheimer versehen, die Gruppe für die Offensive ’77 wieder hingekriegt hatte: »Bring du’s ihr bei!« Karla hämmert dann mit nachsichtiger Freundlichkeit alle Bedenken weg. »Sie packen’s nicht mehr! Sonst nehmen die ihr Schicksal selbst in die Hand!« Bille hatte offenbar den Kassiber aus Stammheim nicht geschnallt. Karla erinnert an diese geheime Botschaft von Baader und Ensslin. »Nimm es als Befehl! Wenn sie es nun sagen, dass sie’s nicht packen, haben wir das ohne Wenn und Aber zu akzeptieren!«

Die Zahlenreihen aus Stammheim hatten sie schnell in einen Text übersetzt. Kein Problem, wenn man das gleiche Buch besitzt und die Seitenzahl als Schlüssel bekannt ist. Es war eine Botschaft vom Kopf der Bewegung, und sie war deutlich gewesen wie immer. Fünf Jahre saßen sie nun schon in Untersuchungshaft. Nach dem Urteilsspruch im Stammheimer Prozess würden sie ihr Leben hinter Gittern verbringen müssen.

Sie wussten, dass man sie auf verschiedene Strafanstalten in der Bundesrepublik verteilen wollte und die Gemeinschaft im siebten Stock des Stammheimer Gefängnisses in Stuttgart damit zerschlagen wäre: der Umschluss auf dem Flur, ihre Planungsgespräche am Tisch, den sie vor die Zellen stellen konnten, und die gemeinsamen Spaziergänge auf der großen Dachterrasse. Nach einer Serie von Hungerstreiks, bei der Holger Meins in den Tod gegangen war, und nach dem Tod von Ulrike Meinhof, den die Stammheimer in der Öffentlichkeit noch geschickt als Mord platziert hatten, war offenbar die Kraft für weitere Jahre hinter Gittern verbraucht. Die zweite Generation sollte, musste die Leute der ersten Stunde aus der Haft befreien. Die Entführung von Ponto, durch die Gegenwehr des Bankiers zu einer Ermordung geworden, war schon schiefgelaufen. Schleyer war geplant als die zweite Stufe in einer Eskalation, bei der die Geisel Ponto nur als Eröffnungszug in der Partie mit dem Kanzler Schmidt gedacht war.

Als Karla den Kassiber noch mal vorliest, wird schon durch den schroffen Befehlston deutlich, was auf dem Spiel steht. an den haufen, der sich raf nennt, unsere geduld mit euch ist zu ende, was ist mit euch los? hat euch der tod pontos so verstört? ihr seid nicht mehr, was ihr vorgebt zu sein: stadtguerilla in der offensive, spart euch alle weiteren erklärungen und rechtfertigungsversuche, von euch wollen wir nur eins lesen: die kommandoerklärung zu spindy. denn während ihr eure wunden leckt, läuft das Vernichtungsprogramm gegen uns. wir haben keine kraft mehr, aber werden uns nicht wie vieh verschieben lassen, ihr habt noch 14 tage, dann nehmen wir unser Schicksal selbst in die hand.

Spindy – damit war Schleyer gemeint. Aber nur Karla und Tony wussten in diesem Moment bereits, was der drohende letzte Satz bedeutete. Aber sie hatten sich doch alle mit der Beschaffung der ins Stammheimer Gefängnis geschmuggelten Waffen – den zwei Pistolen und dem Sprengstoff – beschäftigt. Hatte denn da niemand nachgefragt? Dachten die anderen etwa an einen weiteren Hungerstreik? Das eigene Leben und den Körper auch in der Gefangenschaft als letzte und äußerste Waffe einzusetzen – die Strategie war deutlich genug ausgesprochen.

 

Als ein Signal nach Stammheim, sich auf den Austausch vorzubereiten, hatte Tony mit den anderen einen selbst gebastelten Raketenwerfer in einer Wohnung gegenüber der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe in Stellung gebracht. Die Stalinorgel sollte in die Büros auf der anderen Seite krachen und dem Gegner zeigen, dass eine zu allem entschlossene Gruppe nicht aufzuhalten ist. Es war zugleich ein Zeichen an die Gefangenen, die ihren Hungerstreik dann auch eine Woche später eingestellt hatten, dass die Gruppe draußen den ganz großen Schlag vorbereitete.

Das war am 25. August 1977 gewesen, gerade mal vor zehn Tagen. Doch der Zeitzünder setzte die Raketen nicht in Bewegung. Das Ehepaar Sand, mit Klebstreifen vor dem Raketenwerfer gefesselt, konnte sich befreien und die Polizei alarmieren.

»Es sollte nur ein Zeichen sein«, sagt Peter-Jürgen Boock heute, »ich habe den Zünder absichtlich falsch geschaltet. Aber das konnten die Stammheimer nicht wissen.«

Tony und Karla konnten das Kassiber mit seiner hintergründigen Bedeutung verstehen: »Wenn ihr uns nicht rausholt, werden wir hier sterben.« Und: »Ihr seid es nicht wert, euch RAF zu nennen.« Darum standen diese beiden auch unter ganz besonderem Druck. Die moralische Erpressung war mehr als ein Befehl. Bille verstand das nicht so genau. Ihr letztes leises »Ich kann das so nicht!« bringt die Entscheidung: Sie wird aus dem Zimmer geschickt.

»Über deine Schwierigkeiten sprechen wir ein andermal!«

Sie ist raus aus dem Kommando. Sie ist zu gefährlich. Morgen auf der Straße brauchen wir Genossen, die nicht zögern, die Schweine niederzuschießen, ohne sich lange auf ein Feuergefecht einzulassen. In drei Minuten müssen wir mit Schleyer vom Platz sein. Dann läuft der Einsatz der Bullen über die Zentrale an. Es gibt genügend Wohnungen, aus denen heraus die netten Nachbarn sofort die 110 wählen, wenn sie nach der Ballerei aus dem Fenster blicken und das Schlachtfeld entdecken. Hat sich die Kleine das alles nicht richtig klargemacht? Schon zur eigenen Sicherheit brauchst du neben dir einen Kämpfer, der ohne Skrupel schießt, auf den du dich verlassen kannst, der dir Deckung gibt und dich freischießt, wenn’s denn sein muss.

Ich stelle mir vor, wie sich Bille vor Scham auf die Lippen beißt. Sie hätte es besser nicht gesagt. Sie kennt doch die Worte, mit denen sie nun ausgehöhlt wird: Es ist deine persönliche, kleinbürgerliche Schwäche, dass du nicht hart genug bist. Gehörst du wirklich noch zu uns, zum Kern der RAF? Über die Identifikation zur Identität, so herum geht der Weg der Menschwerdung! »Das ist ihre großbürgerliche Erziehung. Die haben ihrem Goldherzchen den Pazifismus ins Gehirn gedrückt! Die Eltern! Aus schlechtem Gewissen über ihre Nazi-Schweinereien!« So ist das eben, wenn man sich nicht von all dem bürgerlichen Unsinn trennt. Karla schickt ihr den Spott hinterher.

Nun sind sie unter sich. Sie können noch mal in Ruhe den nächsten Tag durchspielen. Wer steht an der Strecke? Wer gibt das Signal übers Telefon, dass Spindy mit seinem Wagen die Arbeitgeberzentrale am Rheinufer verlassen hat? Was geschieht, wenn er mit seinem Wagen um die Ecke biegt?

 

Als Hanns-Martin Schleyer am Tag seiner Entführung frühmorgens von seinem Fahrer an der Wohnung in Stuttgart abgeholt wurde, lebte er seit Wochen mit dem eigentümlichen Gefühl, dass sein Name ganz oben auf der Liste der RAF stand. Er wusste es sogar sehr genau: Horst Herold, der Chef des Bundeskriminalamtes, hatte seinen Namen endlich in den apokryphen Planungspapieren der RAF entziffern können – und eine dringende Warnung war ihm durch Innenminister Maihofer und noch mal durch Kanzler Schmidt zugegangen. Höchste Sicherheitsstufe: Mit einem Anschlag ist zu rechnen!

Seitdem wurde er auf Schritt und Tritt von den Männern des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg bewacht. Sie saßen im Campingwagen vor seiner Haustür am Stuttgarter Ginsterweg. Ihre Scheinwerfer tauchten das bescheidene, über die Jahre an den Hang gebaute und immer weiter ausgebaute Einfamilienhaus in helles Licht. Die Nachbarn beschwerten sich schon; und seinem Freund Eberhard von Brauchitsch hatte er eben noch gesagt, dass die Firma Mercedes seinen Nachbarn wohl bald ein paar dichte Rollos für die Fenster stiften müsse.

Die Scheinwerfer brannten noch, als die Tür in seinem Haus für immer hinter ihm ins Schloss fiel.

Für den heutigen Montag stand wieder einmal der Name Herold in Schleyers Terminkalender. Die letzten Erkenntnisse des Bundeskriminalamts hatten auch ihn, der sonst sehr nervenstark war, nachdenklich gemacht. Aber zu Hause, gegenüber seinen vier Söhnen, machte Schleyer nicht viel daraus. Er wollte sich nichts anmerken lassen.

»Na ja, wenn mich einer erwischen will, der erwischt mich auf jeden Fall.« So sprach er beiläufig davon. Sie sollten sich keine Sorgen machen. Es galt ihm, in seiner Rolle als Repräsentant der Wirtschaft, und nicht der Familie.

Aber die Drohung galt auch ihm ganz persönlich. Sie galt seiner Biografie – den Jahren vor 1945, seiner Mitgliedschaft in der SS und seinem Engagement beim Wiederaufbau der Firma Mercedes Benz, seiner Haltung bei den Streiks der Sechzigerjahre, vor allem der Aussperrung von 300000 Arbeitern als Antwort auf einen Streik. Dieser bullig wirkende Mann mit den vernarbten Schmissen im Gesicht war das perfekte Opfer für die RAF. Noch im letzten Jahr hatte das Fernsehen streikende Arbeiter gezeigt, die hinter seinem Namen »Profitgier« auf die Transparente schrieben. Durch die wütende Menge musste er sich seinen Weg bahnen, und wenn er sie dann vom Podium laut als »die ungebetenen Gäste« bezeichnete, kamen Schreie und Pfiffe zurück und man stürmte das Podium. Die Ansprüche der Gewerkschaft nannte er als BDI-Präsident »Sozialfeudalismus«, wenn »sie bestimmen wollen, was in unserer Gesellschaft sozial gerecht und ökonomisch vernünftig ist«.

Der Unternehmer war ein Lieblingsbild der Fünfzigerjahre gewesen – im Kino, im Fernsehen, den Illustrierten und Tageszeitungen. Die zehn Jahre von 1966 bis 1976 hatten dagegen ausgereicht, dieses positive Bild in der Öffentlichkeit zu ruinieren. Aus den Schöpfern des Wiederaufbaus wurden widerliche Profithyänen. Es gab zwar einen Nachholbedarf an Kritik im Land, aber es waren auch viel Demagogie und Naivität dabei im Spiel. In einem Land, in dem einmal die dicke Zigarre eines Wirtschaftsministers das Bild für die Solidität der Unternehmer und ihrer Zusammenarbeit mit der Politik abgegeben hatte, brannten nun, bei den ersten wilden Streiks, die Unternehmer-Strohpuppen. Schleyer, Mitglied der CDU, rief zur Umkehr: »Die Unternehmerschaft steht vor der Wahl, sich dem Schicksal ihrer Demontage zu ergeben oder sich zur Wehr zu setzen.«

Nun trachteten also einige Fanatiker nach seinem Leben. Hanns-Martin Schleyer kannte nur die Fahndungsfotos – alte Passfotos oder die verzerrten Gesichter von der erkennungsdienstlichen Behandlung bei der Polizei. Inzwischen waren es längst nette und adrett anzusehende junge Frauen und Männer geworden. Mit kurzem Haarschnitt und Schlips und Kragen die Herren, die Damen proper frisiert, nett geschminkt und auch ansonsten nach der Mode der Saison gekleidet. Unauffällig, aber mit dem Image: erfolgreich und aufstrebend. Unverdächtig. Der ehemalige Arbeitsdirektor Schleyer hätte wohl nichts gegen ihre Einstellung bei Daimler einzuwenden gehabt.

 

Sie lagen zu diesem Zeitpunkt unruhig auf ihren Luftmatratzen in der Kölner Kommandowohnung. Eine Infrastruktur in der Illegalität aufzubauen, das kostet Zeit, Geld und Genossen. Auf jeden einzelnen Kämpfer kam ein Kranz von Genossen, die im Umfeld aushalfen. Früher war das einfach gewesen: »Du, da ist einer, der braucht mal ’ne Wohnung! Können wir mal deinen Pass haben?« Das war’s dann schon gewesen. Da wurde nicht viel gefragt, sondern schnell geholfen.

Nun aber mussten sie sich ganz abschotten. Es durfte keine Spur zurück zu irgendwem mehr geben. Kein Schwätzer, kein Wichtigtuer, kein Weichei durfte dabei sein, niemand, den die Bullen unter Druck setzen konnten. Was morgen los sein würde, war ihnen klar. Wer da den Bullen in die Hände fiele, konnte was erleben. Aber sie hatten eine Reihe zuverlässiger Genossen dicht an den Kern herangeführt. Mit denen allein musste man das Leben in der Illegalität aufbauen. Vielleicht fünf mal zehn Mann. Das musste reichen.

Wenn wir morgen siegen, wird es bald mehr Kämpfer auf unserer Seite geben.

Vom 26. Stock des Unicenters an der Luxemburger Straße hatte man einen guten Blick auf die Stadt am Rhein. Nach Norden das grauschwarze Sandsteingebirge des Doms im wechselnden Licht. Davor und dahinter ein ungeordneter Haufen von Hochhäusern und den Resten einer alten Stadt, die der Krieg und danach die Gier der Abrissbirne übrig gelassen hatten. Nach Westen sah man den Fluss mit den klaren Konturen der Eisenbrücken, die nach Osten führten. Im Osten war Deutschland – diese Stadt lag im Westen.

Die Kommandozentrale war strategisch gut gewählt, mit einem Blick auf den fließenden Verkehr der städtischen Hauptadern und aller Wege, die Hanns-Martin Schleyer nehmen konnte. Auf einem Rundweg hoch über der Stadt konnten sie ihr Reich betrachten: die Reihe der konspirativen Wohnungen, die man mit viel Mühe in den letzten Monaten organisiert hatte.

Nach Süden lief die Straße Richtung Liblar. Dort stand ein anderes Hochhaus, das bald für längere Zeit das »Volksgefängnis« enthalten sollte. Kein schlechter Begriff. Sie waren sogar stolz auf dieses Wort. Schließlich handelten sie im Auftrag des Volkes, wenn sie, jenseits der Klassenjustiz und der alltäglichen Gerichtsmaschinerie, die Feinde des Volkes einfangen und einsperren würden.

Tony rauchte schon eine erste Zigarette, weil er nicht mehr schlafen konnte. Sie warteten auf Spindy. Und er wird heute noch in ihre Gesichter sehen, und in den kommenden Tagen und Nächten, in den langen Tagen der Gefangenschaft, werden sie ihm viele Fragen stellen. Das Kommando hatte allen befreundeten Legalen und Illegalen vorsichtige Warnungen zukommen lassen. »Eine Kiste, die härter ist als alles, was bisher gelaufen ist«, warnte Flipper. »Wenn ich daran denke, geht mir der Arsch auf Grundeis.«

 

Als der Falcon-Jet aus Stuttgart auf dem Köln-Bonner Flughafen in der Morgendämmerung ausrollt, sind die Fahrzeuge schnell herangefahren. Sein Fahrer Marcizs mit dem 450er und die drei Beamten des LKA Stuttgart im Sicherungsfahrzeug. Schleyer will alleine fahren, keinen Mann mit einer Waffe auf den Knien vor sich sitzen haben. Mit seinem Fahrer Marcizs, dem Heinz, versteht er sich gut. Mit dem Mann kann man während der Fahrten ein paar Worte wechseln, man hört, was die Leute sagen. Der kriegt viel mit, zwangsläufig. Eine Vertrauensperson, nur noch mit der Chefsekretärin vergleichbar. Über Enkelkinder, die Mitbestimmung und die Kraft, die man braucht, endlich mit dem Rauchen aufzuhören. Die oberste Spielregel lautet: Alle Geheimnisse bleiben im Wagen. Ehrensache, dass Heinz nicht kündigt, weil sein Chef nun ganz oben auf der Abschussliste steht. Er hat Wochen zuvor die Bilder seiner Kollegen Wurster und Goebel gesehen. Der Fahrer des Generalbundesanwalts und sein Leibwächter waren an der Ampel von einem Suzuki-Motorrad aus mit mehreren Feuerstößen zersiebt worden.

»Heinz, am Nachmittag fahren wir kurz an meiner Wohnung vorbei, und am Abend geht’s noch zu einer Veranstaltung nach Düsseldorf!«

»Gut, ich werde zu Hause Bescheid sagen, dass es heute etwas später wird. Kein Problem!«

Marcisz fuhr seinen Chef zum Oberländer Ufer. Der Doppelpräsident der westdeutschen Arbeitgeberverbände und des Bundes der Deutschen Industrie hatte noch eine Reihe Termine an diesem Vormittag.

 

Eine gute Idee von Tony, die beiden Heckler-&-Koch-Sturmgewehre in einem Kinderwagen vor Ort zu bringen. Mit Anne, die jetzt die Rolle der jungen Mutter spielte, konnte er dann etwas länger an der Ecke herumstehen und reden. Das fiel im vornehmen Stadtteil Lindenthal nicht weiter auf. Hier hatte man Zeit.

Die Kommandowohnung im Hochhaus an der Luxemburger Straße musste noch gecleant werden: Aufräumen und mit Schwamm und Spülmittel die Fingerabdrücke von den Möbeln und Wänden holen. Sie konnten die konspirative Wohnung nicht lange halten. Die Bullen standen vielleicht schon in einer Woche hier, und Herold, dieser besessene Chef des Bundeskriminalamtes, würde die Reste zerlegen und analysieren lassen und dann wieder neue Spuren in seinen Rechner eingeben.

Zu spät allerdings. Wie so häufig, würden sie ihrem Jäger wieder einen Schritt voraus sein. Sie kämpften mit offenem Visier und unterschrieben ihre Kommandoerklärungen – aber ihre Fingerabdrücke sollten nicht zurückbleiben. Bei einer möglichen Verhaftung und dem folgenden Prozess wollten sie es den Gegnern in den schwarzen Roben nicht unnötig leicht machen. Die sollten ihnen erst einmal beweisen, wer wann und wo geschossen hatte. Die Luftmatratzen wurden eingefaltet und der Stadtplan von der Wand geholt: die Nadeleinstiche in der Tapete ließen sie als Gruß an Herold zurück.

 

Herold, dieser fantasiebegabte Mann, verstand seine Gegner in der RAF wie kaum ein anderer. Der Schlüsselsatz der Achtundsechziger, der noch im Pariser Mai an alle Wände gemalt worden war: Die Fantasie an die Macht! – dieser Satz war vor allem bei der Neuorganisation des Bundeskriminalamtes durch seinen neuen Chef Horst Herold Wirklichkeit geworden. Zug um Zug hatte er seit 1970 das Bundeskriminalamt aus einer kleinen Behörde zu einem schlagkräftigen Apparat umgebaut. Die finanziellen Mittel lieferten ihm die Terroranschläge seiner Gegner. In diesem Klima der Bedrohung war es auch für die Sozialdemokraten in der Bonner Regierung kein Problem, seine Behörde so auszustatten, dass sie die gefährlich-intelligenten Täter der RAF und ihre Sympathisanten erkennen und fangen konnte. Im Keller des Bundeskriminalamtes stand schon bald, mit der Ausdehnung eines Fußballfeldes, einer der leistungsstärksten Rechner Europas – das Gehirn, mit dem der Kriminalist Herold seine Gegner fangen wollte.

Mit diesem Rechner hatte er in den letzten Jahren ein engmaschiges Netz geknüpft, das größte und gewaltigste Netz in der Geschichte der polizeilichen Fahndung überhaupt. Und er, Herold, war das Gehirn, das sich diese Maschen für die Gegner der Demokratie ersonnen hatte. In einer unvergleichlichen Anstrengung hatte das Bundeskriminalamt Hunderttausende von Spuren der RAF gesammelt, in den Rechner eingegeben und damit schnellstmöglich verfügbar gemacht.

Die Spuren waren inzwischen so weit lesbar, dass die Wissenschaftler an den Terminals, wenn neue Spuren hereinkamen, sofort die Zusammenhänge zu den bekannten »Figuren« der Stadtguerilla herstellen konnten. Wenn ihm eine der konspirativen Wohnungen in die Hände fiel, kamen seine Wissenschaftler und zerlegten das Pharaonengrab in Hunderte einzelner Spuren. Jede Creme und Salbe wurde Personen zugeordnet, jede Seite in einem Comicheftchen umgedreht und auf Fingerabdrücke untersucht. Denn das konnten sie mittlerweile, ohne dass es der Gegner wusste: Fingerabdrücke sogar auf Papier sichtbar machen. Sogar unter dem Lack der gefälschten Autoschilder an ihren Fahrzeugen hatten seine Leute Fingerabdrücke gefunden.

Andere Beamte waren ausgezogen, noch vorhandene frühere Lebensspuren bei Schulfreunden, Bekannten, in den Akten von Schulen, Universitäten und Bundeswehr aufzuspüren und damit das große Gehirn des Rechners zu füttern.

Der enthielt Fotos und Handschriften ebenso wie die Blutgruppen, die in bestimmten Fällen sogar mittels der Speichelproben an Briefmarken wiedererkannt werden konnten. Noch Jahre später verriet sich auf diese Weise eine Zunge in Paris, wenn sie eine Botschaft der RAF an den Kanzler Schmidt absandte. Sechshunderttausend Gegenstände waren festgehalten, verzettelt und in das Programm PIOS eingegeben worden. Elf Millionen Datensätze zum Thema RAF waren jetzt über mobile PIOS-Terminals abrufbar.

PIOS – das war ein Verzeichnis aller Personen (Täter, Zeugen, Opfer), Institutionen (Vereine, Verbände, Gruppen, Rote Hilfe etc.), Objekte (Anschriften, Häuser, Telefonnummern, Treffpunkte, Auslandsobjekte) und Sachen (Waffen, Ausweise, Beweismittel, Spreng- und Tatmittel). Ohne hinderliche Hierarchie sollte alles für jeden einfachen Kriminalbeamten mit Zugriffsberechtigung – und natürlich für Interpol – von jedem Punkt aus in Sekunden abrufbar sein.

Die Lebensläufe der RAF-Mitglieder lagen vor Herold wie ein abgeschlagenes Buch. Ihre Haare, Blut, Körperausscheidungen, Sprache, Gang, Mimik und Körperhaltung, auch die Fingerabdrücke mit einer wesentlich verbesserten Genauigkeit, all das hatte Herold in sein elektronisches Archiv einlesen lassen. Er wusste, wer über den großen Onkel latschte oder welche der Frauen der RAF sich die Röcke nicht säumen konnte, sondern sie mit Tesafilm einfach umklebte. Welche Zigarettenmarke man bevorzugte, ob Rotwein oder Biertrinker – der Rechner wusste es. Im Prinzip war zum ersten Mal in der Kriminalgeschichte das gesamte Wissen zu einem Fall für jeden einzelnen Polizisten abrufbar. Dazu kam: das Wissen wuchs Woche für Woche. Mit neuen Taten und Recherchen vermehrten sich die Daten im Rechner. Das war eine informatorische Überlegenheit, gegen die kein Gegner auf Dauer eine Chance hatte.

So hatte es Herold noch vor 14 Tagen im Kabinett, auf Einladung von Kanzler Schmidt, den Ministern vorgetragen. Er hatte den Herren die Summen aus den Banküberfällen, die man der RAF zurechnete, vorgerechnet, die Logistik ihrer Fahrzeuge, Wohnungen und Sympathisanten aufgezählt. Von den 46 Personen, die inzwischen als Kern in den Untergrund abgetaucht waren, wurden bereits 34 mit Haftbefehl und Bildern an allen Litfaßsäulen gesucht.

 

Dennoch hatten seine Gegner einen gewaltigen Vorteil: Sie fassten den Entschluss, wo, wann und wie sie zuschlagen würden. Das war ein Vorsprung – für den Moment. Denn so unglaublich es die Politiker fanden: Ihr Mann im BKA wollte schon bald die Bewegungen seiner Gegner so weit studiert haben, dass er ihre Angriffe auf den Staat voraussagen konnte.

Seine Gegner waren zwar in die Illegalität abgetaucht und für die Fahndung nach altem Polizeimuster nicht mehr zugänglich. Herold aber sah die Kämpfer der RAF vor sich. Er hatte ein Radar entwickelt, diese Unsichtbaren in ihren Bewegungen sichtbar zu machen. Er ließ diejenigen, die er schon länger im Fadenkreuz hatte, ohne Zugriff – und oft ohne Zugriffsmöglichkeit – weiterhin beobachten. Jeder Ausweis, der beim Passieren der Grenze auf einen Bildschirm gelegt und fotografiert wurde, verriet dem Beamten nebenbei, dass hier jemand aus der Szene unterwegs war.

Die Ausweise der Mitreisenden wurden ebenfalls kontrolliert und mit Datum von Ein- und Ausreise festgehalten. Unbefragt konnten die Reisenden weiterfahren, nachdem sie nichts ahnend ihre Spuren hinterlassen hatten. Das geschah auch bei Kontrollen in Bahnen, bei Demonstrationen und vor allem bei Besuchern in den Strafanstalten wie Stammheim. Auf diese Weise war ein Kreis von Sympathisanten und Helfern sichtbar geworden, deren Reisen im Rechner als Bewegungsbilder der RAF erschienen. Diese computerisierte Beobachtende Fahndung (BEFA) verzeichnete 6500 Personen aus dem RAF-Umfeld. Noch während etwa die Botschaft in Stockholm von der RAF besetzt gehalten wurde, konnte Herold aufklären, wer von den Leuten der RAF sich in diesem Gebäude befand.

Es war sicher nicht leicht, dabei immer zwischen Weizen und Spreu zu unterscheiden. Viele unschuldige Mitreisende oder Nachbarn aus dem Sympathisantenumfeld sind bei der Gelegenheit in die Raster geraten, waren möglicherweise eine Zeit lang einer unberechtigten Beobachtung oder Notierung im Rechner unterworfen.

Alle diese Anstrengungen wurden von manchen Beamten belächelt. »Mr. Computer«, so wurde Herold spöttisch in der Öffentlichkeit bezeichnet, einer Öffentlichkeit, der noch längst nicht dämmerte, wie sehr Computer und Microchips die Welt verändern würden. Herold hatte es begriffen, und er war dabei, die Welt zu verändern, zumindest die Welt der Kriminalbeamten. »Herold ist auf der Höhe der Reaktion«, sagte Baader in Stammheim dazu, wenn er all die Veränderungen und Verbesserungen in Fachzeitschriften nachlas, die sich während der Jahre seiner Haft allmählich aufbauten. Im September 1972, als die Polizei Baader und Raspe aus der Frankfurter Garage herausgeschossen und festgenommen hatte, war Herold der Jäger am Ort gewesen. Innerhalb weniger Monate hatte er mit seinem Fahndungsdruck und etwas Glück die gesamte Führungsspitze der Baader-Meinhof-Bande eingesammelt.

Die zweite Generation der RAF war inzwischen vorsichtiger geworden. Ihre Logistik war ausgebaut: illegale Wohnungen, Fahrzeuge, Geld und Waffen lagen bereit. Gegen die legalen Unterstützer und Sympathisanten hatten sie sich mit Nahtstellen-Personen abgeschottet. Nur über solche Schleusen waren sie zu erreichen, über sie erfuhren sie auch, was man in der Szene über sie dachte und sprach.

Dennoch liefen sie immer wieder leichtsinnig in Herolds Netz. Jeden Moment konnten sie einen Fehler machen. Doch sie hatten oft Glück, und auch die Müdigkeit oder Arglosigkeit einfacher Beamter und die Anfälligkeit der frühen Rechnergeneration halfen ihnen dabei.

 

So war es auch noch zwei Tage vor dem Überfall auf Schleyer gewesen. Am dritten und vierten September hatten sich Karla und Adelheid an der Strecke von der Arbeitgeberzentrale zur Privatwohnung von Hanns-Martin Schleyer mit einem blauen Alfa Romeo aufgebaut. Sie markierten eine Panne und beobachteten den fließenden Verkehr, um die Fahrstrecke ihres Opfers zu erkunden. Als die Polizei, von den Anwohnern alarmiert, am 3. September die beiden Frauen kontrollierte, bemerkten die Beamten nicht einmal, dass sie vor den meistgesuchten Terroristen der Republik standen. Der Zugang zum Rechner in Köln war im Moment der Anfrage aufgrund eines technischen Fehlers gesperrt. Die Zentrale ließ die Kollegen auf der Straße in dem Glauben, dass mit den beiden Frauen alles in Ordnung sei. So begleitete die freundliche Polizei – zwei Tage vor der Entführung – Karla und Adelheid zu einer Reparaturwerkstatt …

 

Herold war an diesem Montag nach Lenggries in Bayern gefahren. Ein Gespräch mit Günther Nollau, dem ehemaligen Chef des Verfassungsschutzes, dessen Hilfe er in einer delikaten Angelegenheit brauchte, war eine angenehme Unterbrechung seiner Arbeit an Akten und Programmen.

Für Horst Herold eine besonders merkwürdige Zeit: zum ersten Mal war ihm völlig klar, dass ein konkretes Verbrechen vorbereitet wurde. Er kannte die kommenden Täter, ihre Gesichter und Namen. Er kannte das Opfer, und er wusste den Ort des zukünftigen Verbrechens. Er war sich sicher, dass es im Raum Nordrhein-Westfalen passieren sollte. Die Bewegung seiner RAF-Geisterarmee im Computer verlief auf der Rhein-Main-Schiene ins Ruhrgebiet so massiert, dass er sich fast sicher war, wo es geschehen sollte. Er hatte überall, wo es nützlich war, Alarm geschlagen. Hatte nicht nur im Kabinett, auch an anderer Stelle, vor ausgewählten Abgeordneten, einen kleinen Einblick in die Ermittlungsergebnisse gegeben. Er kannte an diesem Montag, den 5. September 1977, schon den Namen von Hanns-Martin Schleyer als potenziellem Opfer. Bei der Auswertung von Planungspapieren der RAF, die dem Bundeskriminalamt bei der Verhaftung des Anwalts Haag in die Hände gefallen waren, waren die Kriminalisten auf den Hinweis eines zukünftigen Entführungsopfers mit den Initialen »H.M.« gestoßen. »H.M.«, so ergab der Computer, das konnte der Vorname Hanns-Martin sein.

2Blutbad

Selbstbewusstsein war die beste Waffe. Tony wusste es, als er an diesem Montagnachmittag mit Anne, Flipper und Harry im Sportcafé in Lindenthal die Wartestellung für den Überfall bezog. Sie waren Handelsvertreter, die auf einen Anruf warteten.

»Wenn nach einem Herrn Schmitz verlangt wird, rufen Sie mich bitte.«

So tranken sie Kaffee, spielten Schach auf dem kleinen Steckbrett und warteten auf die Abfahrt des Herrn Dr. Schleyer von der Zentrale der Arbeitgebervertretung am Oberländer Ufer.

Der Informant, der ihnen das dann aus der Telefonzelle am Rheinufer durchgab, sagte nur ein Wort: »Mendocino«. Der Schlager der Saison: Auf der Straße nach San Fernando / Da stand ein Mädchen wartend in der heißen Sonne / Ich hielt an und fragte »Wohin?« / Sie sagte: »Nimm mich mit nach Mendocino!«

An diesem Nachmittag ließen die Organisatoren der Sicherheit den Wagen ihrer höchstgefährdeten Person in die Falle fahren. Die Vincenz-Statz-Straße war die Parallelstraße zur kleinen Raschdorffstraße, in der Schleyers Wohnung lag. Wäre die Einbahnstraßenregelung in der Raschdorffstraße aufgehoben worden, dann hätte es auch andere Anfahrtsmöglichkeiten für den Heimweg Hanns-Martin Schleyers gegeben. So aber war die Fahrt über Vincenz-Statz-Straße und Aachener Straße berechenbar geworden.

Nun parkte gegen 17 Uhr 20 an der Ecke Friedrich-Schmidt-Straße zur Vincenz-Statz-Straße ein weißer VW-Bus, dessen Fensterscheiben mit Gardinen verhängt waren. Anne und Tony trugen den Kinderwagen aufs Trottoir – wie es ein junges Paar machen würde, das vielleicht mit seinem Säugling von einem Arztbesuch kam. Sie schoben den blauen Kinderwagen an die Kurve, unterhielten sich dort und warteten. Die beiden sahen den gelben Mercedes 300, den Flipper direkt hinter der Kurve geparkt hatte. Harry stand mit einer Tennistasche auf dem Bürgersteig.

Dann kam Bewegung in die Szene. Als Tony die Kolonne mit Schleyers Fahrzeug sah, schob er mit Anne den Kinderwagen von der Kreuzung in die Vincenz-Statz-Straße hinein. Flipper fuhr das Rammfahrzeug auf den Bürgersteig – ganz so, als ob er im Moment vielleicht den Wagen wenden wollte. Als die Kolonne in zügiger Fahrt von der Friedrich-Schmidt-Straße her einbog, hielt sich Heinz Marcizs mit seinem Wagen ganz rechts auf der Straße. Er hatte das junge Paar mit dem Kinderwagen auf der linken Fahrbahn noch soeben erkannt. Da schlug Harry als Zeichen nur kurz auf die Motorhaube. Flipper setzte den Wagen mit dem Heck ein Stück zurück auf die Straße. Zu spät erkannte Heinz Marcizs das Hindernis und rammte das Heck. Das Begleitfahrzeug hatte keine Chance. Mit dumpfem Krachen fuhr der LKA-Mann Brändle seinen Wagen auf den Vordermann.

Sie hatten nicht einmal mehr das Pärchen mit dem Kinderwagen vorne auf der Straße sehen können. Anne und Tony, die nun die unter den Decken versteckten Heckler-&-Koch-Sturmgewehre herausrissen, gingen auf die beiden Fahrzeuge zu und eröffneten sofort das Feuer. Anne feuerte vorn durch die Scheibe auf Marcizs. Sie trat ganz nah heran, um sicherzugehen, dass sie Spindy, ohne ihn zu verletzen, präzise herausschießen konnten.

Oder waren es Harrys Schüsse, die den Fahrer töteten? Gleichzeitig eröffneten vor dem Rammwagen Harry und Flipper das Feuer von vorne auf die Fahrzeuge. Flipper hatte zur Sicherheit seine Repetierflinte mit panzerbrechender Munition dabei. Die Munition abwechselnd ins Magazin geschoben: immer eine dicke Ladung Schrot, dann das schwere Bleigeschoss. Schrot für den Fall, dass jemand flüchtete. Sie waren sich nicht sicher gewesen, ob die Türen und die Fenster so verstärkt waren, dass man sie nur mit Brennecke-Munition durchschießen konnte. Wenn die schnell die Türen schließen und sich im Panzerwagen einigeln wollten, würde man sie einfach herausschießen.

Der Überfall sollte den Bullen keine Chance lassen. Und doch kam es für einen Moment anders, als sie es in der Nacht auf dem Papier durchgespielt hatten. Nicht, dass Heinz Marcizs eine Chance gehabt hätte. Sie bemerkten nicht einmal, dass der einundvierzigjährige Fahrer Hanns-Martin Schleyers unbewaffnet war. Tödlich getroffen, brach er über seinem Steuer zusammen. Ebenso chancenlos war der Polizist Brändle, der Fahrer des Begleitfahrzeugs, der von Tony und Anne direkt durch das Seitenfenster abgeknallt wurde. Polizeimeister Ulmer auf dem Beifahrersitz und Polizeimeister Pieler dahinter hatten sich, mit den Waffen auf ihren Knien, sofort nach den ersten Treffern aus den Türen auf den Bürgersteig geworfen und von dort das Feuer auf Flipper eröffnet, der sich mit einem Sprung über die Motorhaube des Rammfahrzeugs zurück in Sicherheit brachte.

Aus einem Halbkreis heraus wollten sie ihre Feuerstöße abgeben, damit niemand von ihnen selber in die eigene Feuerlinie geraten konnte. So der Plan. Doch dann verlor Harry die Nerven. Er rannte auf das zweite Fahrzeug zu, hinter dessen Türen Ulmer und dahinter Pieler aus der Deckung feuerten. Sprang auf die Haube des Fahrzeugs und schoss von oben durch den Spalt zwischen Fahrzeug und Tür auf die verwundeten Männer. Tony konnte es nicht fassen – er war gerade dabei, eine zweite Salve auf den Wagen abzufeuern, und Harry, der nun gegen jede Absprache durch die eigene Feuerlinie rannte, wäre beinahe in seine Kugeln gelaufen. So stand er da, feuerte hysterisch auf die Toten, immer weiter, auch als das Magazin bereits leer geschossen war und Flipper nur noch das Klicken seines durchziehenden Abzugshebels hören konnte.

Dann war es still. Ein Junge, der bei den Schularbeiten die Schüsse gehört hatte, rannte auf die Straße und rief: »Die drehen da einen Film. Kommt mal her!«

 

Höchste Zeit, mit der Geisel zu verschwinden. Zwei Minuten hatten sie sich für den Überfall gegeben. Dann konnte frühestens die Polizei alarmiert werden, sodass sie noch mal einige Minuten Zeit hatten, bis die ersten Polizeifahrzeuge vor Ort waren.

Aber wo war Hanns-Martin Schleyer? Er hatte nach den ersten Schüssen sofort begriffen, was geschah, und war zur Sicherheit hinter die Sitze in Deckung gegangen. Als Flipper die Tür öffnete, war er bleich, aber unverletzt. »Komm!« Sie zogen ihn zu zweit aus dem Fond und schleiften Schleyer quer über die Straße in den weißen VW-Bus. Schleyer ließ sich hängen, spielte den geschockten, verletzten Mann. Vielleicht gab es einen Zeugen, der sich das Nummernschild des weißen VW-Busses mit den offenen Türen da vorne aufschreiben würde.

Der Junge sah das genau. Er war ja direkt auf die Filmszene zugelaufen. Dann sah er die Männer in ihrem Blut. Zwei von ihnen lagen neben den offenen Türen auf dem Bürgersteig, die Maschinenpistolen noch in der Hand. Es war kein Film, das sah der Junge jetzt ganz genau. Der eine von ihnen wollte etwas sagen. Als der Junge sich herunterbeugte, hörte er nur noch das Gurgeln einer sterbenden Stimme, sah das ausströmende Blut. Sah es und sieht es immer noch – bis heute.

Dann kamen endlich die ersten Passanten herbeigerannt.

 

Tony saß bereits am Steuer und hatte den Bully gestartet, als die Tür hinter Schleyer zufiel. Um 17 Uhr 30, in der Rushhour, war die Friedrich-Schmidt-Straße stadtauswärts so dicht befahren und mit Autos verstopft, dass Tony mit seinem VW-Bus zunächst gar nicht auf die Fahrbahn zurückfand. Er fuhr über den Bürgersteig, die rote Ampel, Bremsen quietschen. Noch ein letztes Hindernis: Laster des Technischen Hilfswerks wurden auf die Junkersdorfer Straße dirigiert, Sperre. Noch einmal über den Bürgersteig. Und dann endlich rollte nach wenigen Minuten ein weißer VW-Bus im Schritttempo in die Tiefgarage am Wiener Weg. Eine Wohnung war hier nur angemietet worden, um an den Schlüssel für die Tiefgarage zu kommen.

Tony parkt direkt neben einem präparierten Mercedes, dann wird umgestiegen.

 

Hanns-Martin Schleyer hatte schon im VW-Bus eine Beruhigungsspritze bekommen. »Muss das sein?« Der zweiundsechzigjährige Mann war nicht bei bester Gesundheit und hatte Angst, seine Entführer könnten mit einer gefährlichen Droge experimentieren. Anne drückte ihn einfach runter: »Was sein muss, bestimmen wir!« Sie verstand sich darauf, schnell und wirkungsvoll das Medikament in den Muskel zu applizieren. Leicht taumelig, wurde er nun in den Kofferraum des Benz gelegt. Genauer: sie legten den alten Mann in die Arme von Flipper, der inzwischen mit seiner Waffe hineingekrochen war. Harry ging mit Tony auf dem Rücksitz in Deckung.

Nachdem der Bus von einem Mann gefahren worden war, fuhr den Mercedes eine Frau – alleine. Am Rollgitter trat Anne noch einmal auf die Bremse, fuhr zum VW zurück und legte eine erste Kommandoerklärung auf die Sitzbank. So verließen sie die Schleuse. Dann sah man auf den Feldwegen vor der Hochhaussiedlung am Wiener Weg einen Mercedes mit einer Staubfahne entlangbrettern: Richtung Liblar. Noch einmal 20 Minuten bis zum endgültigen Versteck, einer Hochhauswohnung, in der das Volksgefängnis für ihren Kriegsgefangenen schon eingerichtet war.

Als die Polizei schließlich die Ringalarmfahndung auslöste und bald auch über das Fernsehen nach einem VW-Bus mit dem Kennzeichen K – C 38 49 suchen ließ, waren Tony und Anne bereits am Renngraben Nr. 8 in Liblar angekommen. Die Hochhäuser zwischen Köln und Bonn sehen hier von ferne wie senkrecht aufgestellte Streichholzschachteln aus. Eigentumswohnungen als Abschreibungsobjekte für Besitzer im süddeutschen Raum. Eine Verwaltungsgesellschaft vergibt die kleinen Wohnungen. So auch die Wohnung Nr. 104 im dritten Stock, die vor einigen Wochen von einer Frau Lottmann-Bücklers angemietet worden war. Modeschneiderin sei sie, hatte der Hausmeister erfahren, und deshalb brauche sie ein helles Zimmer mit einem Arbeitsplatz am Fenster. Monika Helbing von der RAF wurde später wiedererkannt.

Ein zweites Mal war das Kommando wie vom Erdboden verschluckt, und diesmal gab es keine Zeugen.

 

Anne, Tony und Harry warfen sich in der Wohnung auf die Polster. Die Luft war jetzt raus, die Anspannung, die große Fiebrigkeit, die sie alle seit Tagen immer tiefer ergriffen hatte, ließ für einen Augenblick nach. Der Polizeifunk zeigte ihnen, wie die falschen Beobachtungen der Zeugen ihre Verfolger in die Irre führten. Für den Moment waren sie sicher. Hanns-Martin Schleyer lag unten im Kofferraum. Der kräftige Flipper hielt ihn in seinem Arm, wie ein großes dickes Kind, die Pistole am Kopf. Manchmal hörten sie das Quietschen der hereinrutschenden Wagen, die Schritte von Mitbewohnern, die allmählich nach Hause kamen. Ein Loch durch den Rücksitz, nach vorn in den Fahrgastraum gebohrt, ließ ihnen genug Luft zum Atmen. Nach Mitternacht, wenn alles im Haus ruhig geworden war, wollten sie ihr prominentes Opfer über den Fahrstuhl nach oben in die Wohnung schleusen.

Bis dahin kannte das Gesicht jeder Mensch in Deutschland, ganz sicher auch alle Nachbarn im Haus am Renngraben 8. Das Fernsehen nahm gerade seine Sendungen mit den Fotos des entführten Arbeitgeberpräsidenten auf.

 

Im bayerischen Lenggries befand sich Horst Herold mit seinem Fahrer gerade auf dem Weg zum Essen mit Günther Nollau. Seit der unseligen Affäre um den Rücktritt Willy Brandts, drei Jahre zuvor, kannten sich die beiden Sozialdemokraten genauer. Es waren Beamte der Sicherungsgruppe Bonn gewesen, die den Kanzler in Begleitung Guillaumes und der – wohl auch von diesem zugeführten – Damen in den Sonderzügen beobachtet und schließlich kompromittierende Details darüber zu Protokoll gegeben hatten. Nollau war einer der Informanten Herbert Wehners gewesen, der dann den Rücktritt des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers der Republik, unter Schmerzen aber rücksichtslos, vorantrieb. Es waren Einzelheiten bekannt geworden, von denen Wehner sagte: »Das bricht uns das Genick!«

Der Wechsel von Brandt zu Schmidt, im Mai 1974, sollte sich als Glücksfall für die Partei und das Land erweisen. Das aber konnte damals noch keiner wissen. Auch Wehner nicht. Erst allmählich, und vor allem nach den Wochen der Schleyer-Entführung, wurde aus Helmut Schmidt ein gefeierter Sieger. An diesem Montag hatte er noch eine bittere Titelgeschichte im »Spiegel« (»Regierung Schmidt: ratlos«). Sieben Wochen später sah man sein strahlendes Porträt auf der ersten Seite. Der »Spiegel«-Titel drückte nun aus, was viele Menschen in der Bundesrepublik ebenso empfanden: »Helmut Schmidt – der bewunderte Deutsche.«

 

Herold hört im Autoradio die Meldungen vom »Echo des Tages«. Um 18 Uhr 49 unterbricht der Kommentator das Programm: Meine Damen und Herren, aus Köln wird soeben gemeldet, dass auf den Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Hanns-Martin Schleyer, heute Abend ein Attentat verübt worden ist. Bei einem Anschlag in Köln gab es nach den ersten Angaben von Polizei und Feuerwehr vier Tote. Die Schüsse wurden aus einem VW-Kombi heraus abgegeben. Nach dem Auto wurde eine Großfahndung ausgelöst.

Sein Wagen stoppt, wendet, und Herold holt das Gepäck aus dem Hotel. Über das Autotelefon entschuldigt er sich bei Nollau, und sein Wagen fährt mit höchstem Tempo Richtung Bonn. Er gibt von der Autobahn übers Funktelefon seine Standorte an, lässt sich die ersten Ergebnisse seiner Mitarbeiter aus dem Godesberger Büro durchgeben und gibt Order, wo er die Schwerpunkte der Suche ansetzen will. Das Licht seiner Leselampe im Auto zeigt ihm dabei den Stadtplan von Köln, den er in seinem Autoatlas aufgeschlagen hat.