Tödliche Allianz - Tom Clancy - E-Book
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Tödliche Allianz E-Book

Tom Clancy

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Beschreibung

Eine unheilvolle alte Allianz bedroht das Gleichgewicht der Weltmächte

Präsident Jack Ryan kämpft an allen Fronten: Während es innenpolitisch in den USA hoch hergeht, rückt in Osteuropa Russland in die Ukraine vor. Dann gelangen zwei russische Atomraketen in den Iran. Hängt beides miteinander zusammen? Und was hat die neue iranische Rebellenbewegung damit zu tun? Die gibt sich zwar zunächst als Verbündeter aus, macht sich jedoch schnell höchstverdächtig. Langsam entwirren sich die Fäden eines perfiden Komplotts: Die globale digitale Kommunikation soll durch einen massiven Anschlag zerstört werden. Mit vereinten Kräften versuchen der Campus und Präsident Ryan die ultimative Katastrophe abzuwenden. Und die Uhr tickt ...

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Seitenzahl: 760

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DASBUCH

Im Iran scheint Hoffnung aufzukeimen: Der »Persische Frühling«, eine neue Dissidentenbewegung, stemmt sich gegen das erzkonservative Ajatollah-Regime. Präsident Jack Ryan jedoch bleibt zunächst skeptisch. Zudem hat er daheim in den USA alle Hände voll zu tun, innenpolitisch geht es hoch her: Neben zahlreichen Überschwemmungen im Inland sieht er sich mit dem Ausbruch einer Polio-Epidemie an der Westküste konfrontiert. Fake News versuchen ihm die Glaubwürdigkeit zu entziehen, und seine schärfste innenpolitische Gegnerin, Senatorin Chadwick, heizt die Anti-Ryan-Stimmung nur noch weiter auf.

Auch außenpolitisch brodelt es: Russland wird in der Ukraine und im Schwarzen Meer aktiv, dann gelangen zwei russische Atomraketen in den Iran. Hat der »Persische Frühling« seine Finger im Spiel? So freiheitsliebend, wie sie sich anfangs gegeben hat, scheint die Bewegung nämlich gar nicht zu sein. Direkt vor Ort entwirren Jack Ryan jr. und der Campus langsam die Fäden eines gefährlichen Plans, der die gesamte digitalisierte Welt ins Chaos zu stürzen droht …

DIEAUTOREN

Tom Clancy, der Meister des Technothrillers, stand seit seinem Erstling Jagd auf Roter Oktobermit all seinen Romanen an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten. Er starb im Oktober 2013.

Marc Cameron ist erfolgreicher amerikanischer Romanautor und Experte für Personenschutz und Selbstverteidigung. Er stand 29 Jahre im Polizeidienst und war im United States Marshals Service auf den Schutz von Würdenträgern spezialisiert.

Tödliche Allianzist der 26. Band aus dem Jack-Ryan-Universum. Bei Heyne erschien zuletztDas Reich der Macht.

TOM

CLANCY

UND

MARC CAMERON

TÖDLICHE ALLIANZ

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Oath of Office

bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Werner Wahls

Copyright © 2019 by The Estate of Thomas L. Clancy, Jr.;

Rubicon, Inc.; Jack Ryan Enterprises, Ltd.;

Jack Ryan Limited Partnership

Copyright © 2023 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung © Nele Schütz Design

unter Verwendung von AdobeStock (luzitanija)

und Shutterstock (Eky Studio, Lucky-photographer,

Michal Zduniak, Neil Lockhart)

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26794-0V001

www.heyne.de

Hauptpersonen

REGIERUNG DER VEREINIGTEN STAATEN

JACKRYAN: Präsident der Vereinigten Staaten

SCOTTADLER: Außenminister

MARYPATFOLEY: Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste (DNI)

ROBERTBURGESS: Verteidigungsminister

ARNOLD »ARNIE« VANDAMM: Stabschef des Präsidenten

MARKDEHART: Heimatschutzminister

DER CAMPUS/HENDLEY ASSOCIATES

GERRYHENDLEY: Direktor von Hendley Associates/Direktor des Campus

JOHNCLARK: Operationsleiter

DOMINGO »DING« CHAVEZ: Leitender Außenagent

JACKRYANJR.: Außenagent/Leitender Analyst

DOMINIC »DOM« CARUSO: Außenagent

ADARASHERMAN: Außenagentin

BARTOSZ »MIDAS« JANKOWSKI: Außenagent

GAVINBIERY: Leiter der IT-Abteilung

LISANNEROBERTSON: Logistik- und Transportleiterin

Weitere Personen

VEREINIGTE STAATEN

DR. CATHYRYAN: First Lady der Vereinigten Staaten

WILLHYATT: Pilot einer Reaper-Drohne der U. S. Air Force

MICHELLECHADWICK:US-Senatorin

RANDALVANORDEN: Professor für Astrophysik, U. S. Naval Academy

ALEXHARDY: Offiziersanwärter, U. S. Naval Academy

RUSSLAND

NIKITAJERMILOW: Präsident der Russischen Föderation

MAKSIMDUDKO: Persönlicher Berater Jermilows

ERIKDOWSCHENKO: Russischer SWR-Agent, stationiert in Teheran, Iran

OBERSTPAWELMIKHAILOW: Pilot einer Antonow 124, Russische Luftstreitkräfte

ELIZAWETABOBKOWA: Russische SWR-Feldagentin, stationiert in Washington, D. C.

EUROPA

HUGOGASPARD: Französischer Waffenhändler

LUCILEFOURNIER: Französische Auftragskillerin

URBANODAROCHA: Portugiesischer Waffenhändler

IRAN

REZAKAZEM: Führer des Persischen Frühlings

AJATOLLAHGHORBANI: Ajatollah, Mitglied des iranischen Wächterrats

PARVIZSASSANI: Major, Iranische Revolutionsgarde

MARYAMFARHAD: Dowschenkos iranische Freundin

YSABELKASHANI: Iranische Wissenschaftlerin; ehemalige Freundin von Jack Ryan jr.

ATASHYAZDANI: Iranischer Luftfahrtingenieur

SAHARTABRIZI: Iranische Astrophysikerin

KAMERUN

CHANCEBURLINGAME: US-Botschafter in Kamerun

ADINCARR: Diplomatischer Sicherheitsagent, stationiert in Kamerun

FRANCOISNJAYA: Präsident der Republik Kamerun

GENERALMBIDA: Kamerunischer General

SARAHPORTER: Ehefrau des Stellvertretenden US-Botschafters in Kamerun

SEANJOLIVETTE: Pilot eines F/A-18 Hornet-Hubschraubers der USSGeorge H. W. Bush

Ein Mensch, der überall nur das Gute will, muss inmitten von so vielen anderen, die das Schlechte tun, notwendigerweise zugrunde gehen.

Niccolò Machiavelli

1

In Mütterchen Russland bleiben Geheimnisse nicht lange geheim. Information ist Macht. Verrat ist tief verwurzelt. Es grenzte daher an ein Wunder, dass Oberst Pawel Mikhailow von der Abteilung 224 für Militär-Lufttransporte seine Sünden überhaupt hatte geheim halten können.

Das Verfahren, das seine Vorgesetzten gegen ihn eingeleitet hatten, war eine einzige lange Peinlichkeit gewesen. Aber nach der ganzen Qual war es ihm doch besser gegangen, oder nicht? Wie hieß es doch so schön: Bez muki net nauki – die Qual stärkt den Charakter. Jetzt hatte er endlich seine Flügel wieder – und war fest entschlossen, sich niemals mehr etwas zuschulden kommen zu lassen, was dazu führen könnte, dass er sie noch einmal verlor. Er würde vorsichtig sein. Er würde sich genauestens an die Vorschriften halten. Und vor allem würde er trocken bleiben.

Mit einer starken Taschenlampe ging der 53-jährige Oberst unter den Hängeflügeln des monströsen Frachtflugzeugs, einer Antonow An-124, umher und inspizierte sie. Tief atmete er den vertrauten Kerosingeruch ein, während eine Brise sein schütteres graues Haar zerzauste. Die hartnäckige Rosacea, eine Hautkrankheit, unter der er wohl für den Rest seines Lebens leiden würde, rötete seine runden, fülligen Wangen. Jetzt, am Abend, war es noch einmal richtig kalt geworden, aber insgesamt war es ein schöner Moskauer Frühlingstag gewesen; der dunkle Teerbelag strahlte immer noch ein wenig Tageswärme ab. Oberst Mikhailow trug Schaumstoffstöpsel in den Ohren, um sein Gehör zu schützen, so klangen das Heulen des Hilfstriebwerks und das hydraulische Maschinenjaulen nur noch wie gedämpfte Musik in seinen Ohren. Er ließ den Lichtstrahl über die breite Unterseite des leicht nach hinten gerichteten Flügels gleiten; er kontrollierte sehr sorgfältig jedes einzelne der 24 Fahrwerkräder, so aufmerksam und gründlich, als sei er immer noch der rotwangige Kadett der Gagarin-Akademie.

Mikhailow hatte noch nie einen Flugzeugabsturz erlebt, nicht einmal eine Bruchlandung oder einen Beinahe-Unfall. Aber sein kommandierender General hatte einmal den Hinweis fallen lassen, ein Pilot könne noch so erfahren und kompetent sein, doch wenn er ein paarmal »wie ein Haufen Scheiße« zur Arbeit erschien, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Leute zu reden anfingen. Ironischerweise waren seinen Vorgesetzten keinerlei Bedenken gekommen, ihn fliegen zu lassen, bis sie erfuhren, dass Mikhailow zum ersten Mal an einer der wöchentlichen Gruppensitzungen der Anonymen Alkoholiker teilgenommen hatte. Der russische Staat hatte die AA-Bewegung schon immer mit einem gewissen Misstrauen beäugt, und dass die AA ihre Versammlungen geheim hielten und auf absolute politische Unabhängigkeit pochten, verstärkte die Skepsis der russischen Behörden gegenüber den AA, wie ja überhaupt gegen jede Organisation oder Bewegung, die vom Westen ausging. Aber noch größeren Kummer machte seinen Vorgesetzten Mikhailows neue Einstellung.

Wodka gehörte ebenso zur russischen Psyche wie mächtige Pelzmäntel und Gedichte über Fahrten in Troikas, den dreispännigen Kutschen, die noch im 19. Jahrhundert das meistgenutzte Verkehrsmittel waren.

Im Jahr 1858 wollte die russische Regierung die staatlichen Finanzen wieder aufbessern, die durch den Krimkrieg in eine bedenkliche Schieflage geraten waren. Deshalb verdreifachte sie den Preis für einen Eimer (ca. zwölf Liter) Wodka. Aus Protest gegen die Steuer schworen die Bauern, fortan nüchtern zu bleiben. Abstinenzbewegungen sprangen wie Pilze aus der Erde, als ehemals trunksüchtige Bürger jedem alkoholischen Getränk abschworen, das stärker war als Bier – und das durfte natürlich nicht sein. Die Armee musste äußerst aggressiv und brutal durchgreifen, um das staatliche Interesse am Alkoholkonsum der Bevölkerung durchzusetzen. Die Protestierer wurden ausgepeitscht und mithilfe von Trichtern mit Wodka abgefüllt. Abstinenzlergruppen wurden verboten, und mehr als siebenhundert Rädelsführer wurden als Rebellen weggesperrt.

Wenn sich folglich Oberst Mikhailow plötzlich über seinen Alkoholkonsum Sorgen machte, sollten sich vielleicht auch alle anderen Sorgen machen. Vielleicht war er ja ein Rebell.

Nach drei Jahrzehnten im aktiven Dienst schwebten viele Schutzengel in höheren Rängen um Mikhailow herum, Männer, die mit ihm geflogen waren, damals in Afghanistan in den 1980er-Jahren, und die ihm gegenüber immer noch eine gewisse kameradschaftliche Loyalität empfanden, obwohl sie inzwischen in viel höhere Positionen aufgestiegen waren. Kompetente Piloten mit Mikhailows Erfahrung waren rar, und er sagte sich auch selbst immer wieder, dass er sogar besoffen besser war als die meisten Jungs, die heutzutage die Maschinen der russischen Luftstreitkräfte flogen – so nüchtern sie auch sein mochten.

Aber die disziplinarische Vernehmung war die reinste Qual gewesen. Schon betrunken war es schwer genug, sich die eigenen zahlreichen Mängel anhören zu müssen. Aber wenn man mit klarem Kopf vor einem Tribunal von Generalen saß, die die lange Liste seiner Verfehlungen abhakten, eine nach der anderen, wurde die Sache schier unerträglich. Auch seine hochrangigen Freunde konnten oder wollten das Gremium nicht davon abhalten, ihm mit einer unehrenhaften Entlassung zu drohen. Doch trotz aller Schande war er sich ziemlich sicher, dass sie das nicht tun würden. Hätten sie ihm seinen Pensionsanspruch tatsächlich nehmen wollen, hätten sie damit nicht nur gedroht, sondern es getan.

Obwohl er bei der Anhörung manchmal glaubte, nicht eine Flasche, sondern ein ganzer Eimer Wodka wäre jetzt genau die richtige Menge, schaffte er es, während des gesamten Verfahrens den Mund zu halten. Er tat immer genau das, was man ihm sagte, und bekam am Ende seine Flügel zurück – und mit ihnen genug Vertrauen seiner Vorgesetzten, ihm diese Mission zu übertragen.

Am Tag zuvor hatte er seine Antonow 124 von Migalowo zum Schukowski-Flughafen geflogen. Die Startbahn auf dem 6955. Luftwaffenstützpunkt Twer-Migalowo, dem Heimatflughafen der An-124, war lang genug für diesen Riesenvogel, solange er leer startete, aber voll beladen war das eine ganz andere Geschichte. Heute war Mikhailows Vogel um 74352 Kilogramm schwerer als gestern und brauchte daher eine erheblich längere Startbahn als die, die in Migalowo zur Verfügung stand. Der Flughafen Moskau-Schukowski lag knapp vierzig Kilometer südöstlich von Moskau an der Moskwa. Er diente heutzutage nicht nur als internationaler Zivilflughafen, sondern beherbergte auch das Michail-Gromow-Institut für Flugforschung. Das hatte zur Folge, dass hier die Sicherheitsvorkehrungen schärfer waren als anderswo, und das galt auch für diese Mission.

Der Zweihundert-Kilometer-Flug diente nicht nur dazu, die Start- und Landeleistung der beladenen Transportmaschine auf den jeweiligen Flughäfen zu testen, sondern hatte auch den Zweck, die sechsköpfige Crew zu erproben. Vier von ihnen kannte Mikhailow noch nicht. Mit einem der beiden Bordtechniker war er schon mal geflogen, aber der andere sowie der Funker, der Navigator und der Erste Offizier gehörten nicht zur 224. Luftwaffenabteilung. Ersatzlösungen wie diese konnten vorkommen, vor allem für derartige Missionen, aber die An-124-Gemeinde war relativ klein, weshalb Mikhailow ziemlich überrascht gewesen war, als er entdeckt hatte, dass er den größten Teil seiner Crew noch nicht kannte. Dazu hätte er ganz gern noch ein paar Fragen gestellt, wenn er im Hinblick auf seine Pilotenlizenz festeren Boden unter den Füßen gehabt hätte. Mikhailow wusste, dass sein Ruf als äußerst kompetenter Pilot der notorisch launischen Antonow 124 von keinem anderen Piloten übertroffen wurde, aber auch sein Ruf als Alkoholiker war allgemein bekannt, sogar außerhalb der Streitkräfte. Und natürlich bemerkte er, wie aufmerksam ihn die neuen Crewmitglieder während der Vorflug-Besprechung nach Anzeichen von Alkohol beobachteten.

An diesem Abend war er frühzeitig eingetroffen und hatte mit seiner Ausweiskarte die üblichen Kontrollen an den konzentrisch angelegten Sicherheitsringen mit ihren Türen, Toren und bewaffneten Wärtern hinter sich gebracht, bis er endlich zu seinem Flugzeug gelangt war – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die innen an der Laderaumdecke montierten Krane und die mächtigen Winden die beiden zwanzig Meter langen Holzkisten durch die Heckklappe in das Flugzeug hievten. Den Flugbegleitpapieren zufolge war der Inhalt der beiden Kisten osoboj washnosti – »streng geheim« –, oder »topsecret«, wie es die Amerikaner nannten. Zielort dieser streng geheimen Kisten war Saryschagan in Zentral-Kasachstan, wodurch die Klassifizierung ziemlich überflüssig wurde. Denn Saryschagan war ein Raketenstartplatz und -testgelände, deshalb konnte man sich die Frage sparen, was sich in den Kisten befinden mochte. Sie trugen keinerlei Aufschriften oder Markierungen, von den üblichen Computer-Barcodes abgesehen, aber die Dosimeter, die am vorderen Ende beider Kisten befestigt waren, ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um nuklearen Inhalt handeln musste. Als Chefpilot war Mikhailow darüber informiert worden, dass jede Kiste knapp über dreitausendsiebenhundert Kilogramm wog. Nach Länge und Gewicht konnte man auf irgendwelche Mittelstreckenraketen spekulieren, sicherlich ein neues Modell, da sie zu einem Testgelände transportiert werden sollten. Aber Mikhailow wurde für den Transport bezahlt, nicht für Spekulationen.

Ihm war egal, was er im Frachtraum hatte, solange er nur fliegen durfte.

Befestigungspunkte an den Raketen ragten durch kleine Aussparungen über die gesamte Länge aus den Kisten, die es dem bordeigenen Kransystem der Antonow ermöglichten, die schwere Last durch die Heckklappe zu hieven und sie im Frachtraum zu sichern.

Trotzdem hätte da noch eine Menge Zeug Platz.

Mikhailow hatte schon ein Bataillon Soldaten transportiert, oder auch riesige Militärfahrzeuge, Tank-Lkws, kleinere Flugzeuge und einmal sogar ein Rettungs-U-Boot. Er und seine Pilotenkollegen prahlten gerne, sie könnten sogar den ganzen Kreml irgendwohin verfrachten, solange sein Gewicht im Flugzeug richtig verteilt würde.

Die Lademeister würden die mächtige Schleppstange hinten im Frachtraum verstauen, sobald die Antonow zurückgeschoben worden war. Sie selbst würden hier zurückbleiben, denn am Zielflughafen in Saryschagan würden ihre Kollegen das Ausladen dieser »streng geheimen« Kisten übernehmen.

Nachdem er seine Vorfluginspektion beendet hatte, ging Oberst Mikhailow zur offenen Heckklappe, schob sich an der Wand neben den bereits gesicherten Raketenkisten entlang und stieg die Treppe zum Oberdeck hinauf. Der Rest der Crew hatte seine jeweiligen Positionen im Cockpit bereits eingenommen. Sie grüßten ihn so höflich, wie es ihm als höherem Offizier und ihrem Chefpiloten zustand, und Mikhailow setzte sich auf den linken Pilotensitz. Egal wie oft er schon hinter dem Steuerhorn eines Flugzeugs Platz genommen hatte, er verspürte doch jedes Mal wieder ein tiefes Staunen, das ihm den Magen wärmte wie … na ja, wie ein guter Schluck Wodka.

Er setzte die Lesebrille auf und war nun bereit, seinen Teil der Vorflugkontrolle durchzuarbeiten, die sein Erster Offizier, ein kräftig gebauter, mürrischer Mann namens Tscherenko, Punkt für Punkt von einer laminierten Karte ablas. Als Zivilist – oder wahrscheinlich eher als Pilot des Inlandsgeheimdienstes FSB – trug er eine dunkle Hose und ein weißes Hemd mit drei gelben Streifen auf den schwarzen Schulterklappen.

Eine sekundäre Warnlampe für das Feuerlöschsystem im Frachtraum war nicht ausgetauscht worden, obwohl Mikhailow es am Vortag extra angeordnet hatte, aber er beschloss, damit zu warten, bis die Maschine wieder in Migalowo stand. Die übrigen Punkte der Checkliste waren alle in Ordnung.

Mikhailow drehte sich zum Navigator um, der direkt hinter ihm saß und vom Tower bereits die Streckenfreigabe mit allen Details der Flugroute sowie die übrigen Startanweisungen erhalten hatte. »Flugzeit?«

»Drei Stunden und siebenunddreißig Minuten, Herr Oberst«, antwortete der Navigator sofort. »Wind fast während des gesamten Flugs direkt aus Flugrichtung. Ein Airbus 320 der Ural Airlines aus südlicher Richtung berichtet von schweren Turbulenzen auf Flugfläche eins-neun-null.«

Mikhailow nickte; die Turbulenzen machten ihm keine großen Sorgen. »Na gut. Starten wir, Männer. Ich kenne dort eine Frau, die verdammt guten Hammeleintopf kocht.«

»Dann ist sie wahrscheinlich eine kasachische Pferdefleischköchin«, witzelte Co-Pilot Tscherenko und kicherte vor sich hin, während er die Vorflugkontrollliste wieder im Ordner neben seinem Sitz verstaute.

»Schon möglich.« Mikhailow zuckte die Schultern. Er hatte längst beschlossen, den Mann nicht zu mögen. »Aber ihr Eintopf schmeckt trotzdem sagenhaft.« Er warf einen Blick auf die Uhr – 0104 – und beugte sich vor, um das Funkgerät genauer einzustellen und sich die letzte Durchsage vom Fluginformationsdienst anzuhören. Er hörte sich die gesamte aufgezeichnete Durchsage an; erst dann nickte er dem Co-Piloten zu. Auf dem Flug von Migalowo hierher hatte Mikhailow schon die von ihm bevorzugte Arbeitsteilung etabliert: Er flog die Maschine selbst; seinem Co-Piloten überließ er die Kommunikation.

»Rollkontrolle«, sagte Tscherenko. »Antonow 2808 bereit zum Rollen mit Information Bravo.«

»Antonow 2808«, antwortete eine Männerstimme, »rollen Sie zum Rollhalt vor Piste Eins-Zwo, rufen Sie Turm auf Frequenz eins-eins-neun-Komma-fünf.«

Russische Militärpiloten sprachen manchmal Russisch untereinander, und zur Verärgerung ausländischer Piloten machten das manchmal auch die Fluglotsen im Tower. Aber Englisch war nun einmal die internationale Flugverkehrssprache, und dieser Luftraum stand unter ziviler Verkehrsleitung. Der Tower wies der Antonow den Startplatz hinter einer schweren Iljuschin Il-76 zu und wies sie auf mögliche Turbulenzen hin, die der Riese beim Start erzeugte.

»In Reihe hinter der Iljuschin, Antonow 2808«, bestätigte Tscherenko.

Einen Augenblick später rollte die knapp fünfzig Meter lange, vierstrahlige Iljuschin schwerfällig, doch immer schneller werdend die Startbahn entlang, wobei sie unsichtbare Luftwirbel erzeugte.

Der Towerlotse meldete sich erneut. »Antonow 2808 – klar zum Start auf Startbahn Eins-Zwo, nach dem Abheben steigen Sie geradeaus auf fünftausend Fuß. Kontakt Moskau Flugleitzentrale.«

Tscherenko gab die Anweisungen an Mikhailow weiter, der den Schubhebel langsam nach vorn schob. Noch im Stillstand begann das Flugzeug zu vibrieren, während er die vier Lotarjow-D-18T-Mantelstromtriebwerke behutsam fast fünf Minuten lang hochlaufen ließ, bis er endlich die Bremsen löste und zum Startvorgang anrollte. Langsam und gleichmäßig gewann der gewaltige Vogel an Fahrt, bis er die nötige Geschwindigkeit erreicht hatte, um von der Startbahn abheben zu können.

»Positive Steigrate, Oberst«, meldete Tscherenko über das Headset, jetzt wieder auf Russisch, während er das Altimeter im Auge behielt. »Fahrwerk eingefahren.«

Die massige Antonow war ein recht empfindlicher Vogel, aber unter Mikhailows erfahrenen Händen flog sie erstaunlich anmutig – trotz der Viertelmillion Kilogramm, die Flugzeug, Treibstoff und »streng geheime« Fracht ausmachten.

Fluglotsin Swetlana Minsky fuhr sich mit der Zungenspitze über die rissigen Lippen und drückte die schlanken Finger auf die Ohrstücke ihres Headsets, etwas, das sie immer tat, wenn sie sehr nervös wurde. Ihr Freund, dieser Idiot, hatte sie überredet, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, und heute Abend bekam sie die Entzugswirkung besonders deutlich zu spüren. Ein Motivationsposter an der Wand über ihr besagte in kyrillischer Schrift: Der Hammer zerschlägt Glas, aber schmiedet Stahl. Über das russische Sprichwort konnte man zwar lachen, aber ihr kam es einfach nur trostlos vor. Wenn die Flugsicherung der Hammer war, dann war er durchaus in der Lage, auch Stahl und Eisen zu zerschmettern. Und Minsky war ohnehin viel zu sehr mit ihrem Job beschäftigt, als dass sie sich die Zeit hätte nehmen können, über derartige idiotische Motivationsposter nachzudenken. Sie und Dutzende weiterer Fluglotsen oder Air Traffic Controller, kurz ATCO, die in dem fensterlosen, bläulich schimmernden Raum der Moskauer Flugleitzentrale an diesem Abend Dienst hatten, waren für den gesamten Luftraum der siebzig Flughäfen in und um Moskau zuständig. Und heute Abend war es besonders hektisch, weshalb sie ihren Freund verfluchte, weil er ihr die Zigaretten weggenommen hatte.

Auch über Funk war ihrer rauen Stimme die Gereiztheit anzuhören, was ihr einen warnenden Blick ihres Vorgesetzten einbrachte, der wie ein Geier an einem der Schreibtische hinter ihr hockte, ziemlich genau in der Mitte des Großraums.

Nach einer weiteren Umdrehung des Sweeps entdeckte sie ein neues nummeriertes Radarzeichen, Blip genannt, auf ihrem Schirm.

Zu dem neuen Blip gehörte auch eine neue Stimme, die nun in ihrem Headset zu hören war. Sie sprach Englisch, aber mit derart haarsträubendem slawischem Akzent, dass fast niemand außer einem anderen Russen etwas verstehen würde. »Moskau Flugleitzentrale, Antonow 2808, Anstieg von achthundert Fuß auf fünftausend.«

»Antonow 2808, Radarkontakt. Setzen Sie den Anstieg fort wie angewiesen.«

Das Short-Term-Conflict-Alert, kurz STCA, auf Minskys Computer zeigte eine zweite Antonow, die ebenfalls zur russischen Luftwaffe gehörte. Beim STCA handelte es sich um ein Annäherungs-Warnsystem der Flugsicherung, das die Fluglotsen vor Kollisionen warnen sollte. Minsky erkannte sofort, dass die zweite Antonow den Flughafen Schukowsky auf einem Kurs passierte, mit dem sie bei unveränderter Geschwindigkeit und Flughöhe mit der 2808 kollidieren würde. Die beiden Flugzeuge waren momentan noch rund acht Meilen oder fast dreizehn Kilometer voneinander entfernt. Damit blieben Minsky rund drei Meilen, bevor sie es mit einem sogenannten »incident«, einem Vorfall, zu tun haben würde. Das Kollisionswarnsystem löste den Alarm aus, sobald die horizontale Entfernung zwischen zwei Luftfahrzeugen weniger als fünf nautische Meilen und die vertikale Entfernung weniger als dreihundert Fuß Höhendifferenz betrugen.

Zunächst allerdings widmete sich Minsky anderen Flügen und hustete ein wenig Schleim weg, bevor sie sich wieder den beiden Antonows zuwandte. Ringsum hatten sie meilenweit den Himmel für sich, und trotzdem waren diese beiden Idioten offenbar entschlossen, frontal ineinanderzukrachen.

Minsky wünschte sich, sie dürfte laut fluchen – fast so sehr, wie sie sich nach einer Zigarette sehnte. »Antonow 2967, gehen Sie auf Flughöhe eins-viertausend. Drehen Sie nach links, Kursänderung dreißig Grad, um eine Kollision mit Flugzeugen von Schukowsky kommend zu vermeiden.«

Sie erhielt keine Antwort.

Das konnte vorkommen. Piloten stießen manchmal versehentlich gegen die Funktasten, schalteten auf die falsche Frequenz oder ließen sich durch irgendein Geplauder im Cockpit ablenken. Und manchmal schliefen sie auch einfach ein.

Die beiden Antonows waren jetzt nur noch sechs Meilen voneinander entfernt.

Minsky versuchte es noch einmal, wiederholte ihren Befehl für 2967, Flughöhe und Kurs zu ändern.

Wieder keine Antwort. Ein Flugzeug, dessen Funkgerät ausgefallen war oder das nicht auf Funkbefehle reagierte, wurde mit dem Begriff NORDO bezeichnet, aber Minsky nahm sich nicht die Zeit, ihn anzuwenden.

»Antonow 2808, bleiben Sie auf eins-sechstausend, drehen Sie unverzüglich um dreißig Grad nach links ab.«

Annäherung fast fünf Meilen. Das war nach Minskys Meinung schon verdammt nahe an einem offiziellen »incident«.

Beide Maschinen stiegen jetzt auf achtzehnhundert Fuß, sodass sie am selben Punkt im Südwesten über der Moskwa zusammentreffen würden.

Minsky tröstete sich damit, dass nur eine der Maschinen ausweichen musste.

Der Pilot antwortete mit der Wiederholung ihrer Anweisungen. »Bleiben auf eins-sechstausend, drehen dreißig Grad nach links, Antonow 2808.«

Minsky schnappte sich das kleine Gummikrokodil, ein Geschenk ihres Freundes. Es sollte ihr helfen, den Entwöhnungsstress leichter zu bewältigen. Sie drückte es, als ob sie das blöde Ding ganz und gar zerquetschen wollte. Bei der Bestätigung ihrer Anweisungen seufzte sie erleichtert auf, und noch einmal, als das Symbol, das auf ihrem Radarschirm die 2808 darstellte, vom bisherigen Kurs abwich und ihre Anweisungen ausführte.

Zu ihrem heillosen Entsetzen bewegte sich nun aber auch der andere Radarblip, der die 2967 darstellte, mit Kurs und Steigrate direkt auf die 2808 zu.

Minsky vergeudete keine Zeit mit dem NORDO-Flugzeug.

»Antonow 2808, drehen Sie sofort um dreißig Grad nach links ab.«

Im Jargon der Flugverkehrskontrolle bedeutete »sofort« genau das. Der Pilot durfte keine Sekunde Zeit verlieren, weder um den Autopiloten auszuschalten, noch durfte er sich mit dem Soll-Kursanzeiger abgeben. Vielmehr musste er auf der Stelle das Steuerhorn packen und die Maschine im selben Moment herumziehen, in dem er den Befehl bekommen hatte.

Antonow 2808 bestätigte, änderte aber den Kurs nicht.

Im düster beleuchteten Raum leuchtete die »snitch« genannte Alarm-LED auf dem Computerterminal des Schichtleiters auf und machte ihn darauf aufmerksam, dass es da ein Problem gab. Im selben Moment stieß auch Minsky die Hand hoch und schnippte laut mit den Fingern, um ihn zu sich zu rufen. Er rollte sich mit seinem Stuhl über den blauen Teppichboden und riss entsetzt die Augen auf, als er die beiden Blips auf dem Radarschirm sah, die sich geradewegs aufeinander zubewegten.

Minsky erwartete nicht, dass er ihr helfen würde, sie wollte ihn nur als Zeugen, dass sie genau nach Vorschrift handelte.

»Versuchen Sie es mit der anderen Maschine«, flüsterte der Aufseher geschockt.

Jetzt löste auch das Kollisionswarnsystem den Alarm aus, der eine Kollision in der Luft in zwei Minuten anzeigte. Die Amerikaner bezeichneten einen solchen Vorfall als »deal« – nach Minskys Meinung das größte aller Understatements.

Sie versuchte es noch einmal.

»Antonow 2967, drehen Sie dreißig Grad nach rechts, sofort! Bleiben Sie auf Flugfläche eins-neun-null. Break. Antonow 2808, drehen Sie dreißig Grad nach links, Flugzeug auf Kollisionskurs drei Meilen von Ihrem rechten Flügel. Break. Antonow 2967, drehen Sie sofort nach rechts!«

Keine Reaktion.

Minsky zerdrückte das Krokodil in ihrer Faust und hämmerte damit voller Frustration auf den Schreibtisch. Genauso gut hätte sie diesen Idioten »Bajuschki Baju« vorsingen können, oder irgendein anderes bescheuertes Schlaflied, es hätte nichts genützt.

Dann, endlich, kam die Erlösung: »Drehen links dreißig Grad, Antonow 2808.«

Tatsächlich zeigte jede Sweepdrehung, dass der Blip seinen Kurs änderte.

Minksy konnte endlich die aufgestaute Luft ausatmen. »Danke, 2808. 2967 ist NORDO.«

»Wir versuchen, sie zu kontaktieren«, antwortete 2808.

Minsky gestattete sich einen Moment der Erholung und rieb sich mit den Handballen die überanstrengten Augen, aber eine ganze Serie von Flüchen ihres Aufsehers setzte der kurzen Unaufmerksamkeit ein jähes Ende. Die Antonow 2808 hatte die Anweisungen befolgt und den Kurs geändert, aber der zweite Vogel machte jetzt genau dasselbe. Mit ihrem jeweiligen Kurs und ihrer Flughöhe würden sich die beiden Flugzeuge schon in sehr kurzer Zeit in einen riesigen Feuerball über Russland verwandeln.

Minsky gab weiterhin über Funk ihre Anweisungen. Ihr Aufseher tippte währenddessen dieselben Fluganweisungen in das Sintez-Computersystem, sodass beide Flugzeuge ihre Anweisungen auch als elektronische Mitteilung erhielten. Gleichzeitig wurde der gesamte Luftverkehr so weit wie nötig von der Gefahrenzone weggeleitet. Die zweite Antonow schien alles daranzusetzen, mit der anderen Maschine zu kollidieren. Minksy starrte voller Entsetzen auf die beiden Blips auf ihrem Schirm, die mit jeder Sweepdrehung noch näher aufeinander zu rückten, während das System die Ident-Nummern ihrer jeweiligen Transponder quäkte.

»Antonow 2967«, versuchte es Minsky noch einmal. Der flehende Tonfall ließ sogar ihre raue Raucherstimme sanft klingen. »Sie müssen Flughöhe und Kurs beibehalten.« Und sie wiederholte die Anweisung noch einmal auf Russisch, für alle Fälle.

Die beiden Blips erstarrten für einen Sekundenbruchteil in etwas, das »ghost track« genannt wurde, während sich die verwirrten Prozessoren in Radar und Computer abmühten, die Positionen der beiden Flugzeuge neu zu erfassen.

Der Aufseher stöhnte laut auf; er hing fast auf Minskys Schulter, als suchte er emotionale Unterstützung. Seine Stimme klang heiser. »Zwanzig Sekunden. Dann wissen wir es.«

Die hohe Positionierung des Cockpits der Antonow ermöglichte der Crew der 2808 einen entsetzlichen Anblick: die Unterseite des Flugzeugs, das auf sie zustürzte wie ein riesiger Adler, der auf seine Beute herabstieß. Oberst Mikhailow fluchte durch zusammengebissene Zähne und stieß das Steuerhorn nach vorn, während das andere Flugzeug im Abstand von hundert Metern direkt über ihnen flog, auf demselben Kurs, als ob es Mikhailows Maschine in enger Formation beschatten wollte.

Die Kontrollanzeigen flackerten kurz, ebenso die Kabinenbeleuchtung. Mikhailow hörte den hinter ihm sitzenden Bordmechaniker etwas Unverständliches rufen, aber er hatte beide Hände voll zu tun und keine Zeit nachzufragen.

»Ich übernehme das Flugzeug«, hörte er Tscherenko vom rechten Sitz sagen.

Mikhailows Kopf fuhr herum. »Negativ, es ist mein Flu…«

Der kalte Stahl eines Pistolenlaufs in seinem Nacken ließ den Oberst im Sitz erstarren. Sehr langsam hob er die Hände vom Steuerhorn.

»Das Flugzeug gehört Ihnen«, sagte er tonlos.

Er drehte sich halb um und entdeckte den Ersten Bordmechaniker, der bewusstlos auf dem Boden lag, entweder durch eine Spritze oder einen Schlag auf den Kopf betäubt. Der andere Mechaniker, den Mikhailow nicht kannte, hielt mit fester Hand eine Pistole und lächelte gleichmütig.

Die zweite Antonow beschattete sie immer noch. Der Transponder blinkte auf, als er sich abschaltete, und sprang sofort wieder an – aber jetzt zeigte er eine völlig andere Ident-Nummer an.

Dann meldete sich der Funk wieder – eine andere Stimme. Gleichzeitig stieg das andere Flugzeug hoch und verschwand in der Nacht.

»Moskow Departure, Antonow 2808. Wir sind klar. 2967 ist direkt unter uns durchgeflogen.«

Nun mischte sich auch der hinter Mikhailow sitzende Funker ein. »Moskow Departure, Antonow 2967. Wir entschuldigen uns. Wir hatten einen intensiven elektrischen Sturm und mussten völlig blind fliegen. Wir haben jetzt alles wieder im Griff.«

»2967, möchten Sie einen Notfall berichten?«, fragte die weibliche Lotsenstimme. Man konnte ihr immer noch anhören, wie angespannt sie bei dieser Beinahe-Kollision während ihres Dienstes gewesen war.

»Der Kapitän sagt negativ«, antwortete Tscherenko. »Wir werden in Saratow landen und die vorgeschriebenen Systemchecks durchführen. Antonow 2967.«

Die Fluglotsin gab ihm eine Telefonnummer durch, an die er sich wenden solle, »um die Angelegenheit weiter zu klären«. Auf jeden Fall müsse ein Bericht eingereicht werden. Tscherenko bestätigte alle Informationen, machte sich jedoch keine Notizen.

Mikhailow senkte langsam die Hände, aber der Bordmechaniker stupste ihn mit der Pistole, sodass er sie auf dem Kopf ruhen ließ.

»Also«, murmelte Mikhailow, »sind wir jetzt plötzlich die 2967 geworden, und sie sind jetzt die 2808.« Der Funker redete weiter mit der Flugleitstelle, und Mikhailow spürte, dass das Flugzeug scharf nach rechts abbog, sodass es jetzt fast direkt nach Süden flog. Er schaute seinen Ersten Offizier an, wobei er sich schmerzlich bewusst war, wie dumm und sinnlos diese ganze Sache war. »Sie haben noch andere Möglichkeiten herauszufinden, wer wir sind.«

»Das stimmt«, sagte der Mechaniker mit der Pistole. »Aber mit der richtigen Ausrüstung … und wenn man von den richtigen Leuten unterstützt wird…«

»Aber was wollt ihr damit erreichen? Um die Raketen abzuschießen, braucht ihr Codes und Steuergeräte, sonst sind sie nutzlos.«

»Auch das ist richtig«, sagte der Funker und blickte lächelnd auf die zwei ledernen Aktenkoffer hinunter, die neben seinem Sitz standen.

Mikhailow spürte förmlich, wie seine letzte Hoffnung zerbarst.

»Ah, ich verstehe. Aber was passiert mit dem anderen Flugzeug, wenn es ohne Raketen in Kasachstan ankommt?«

»Es fliegt noch eine Weile in der richtigen Richtung weiter«, erklärte Tscherenko. »Aber leider hat dieser elektrische Sturm, den wir gerade erlebten, seine Navigations- und Kommunikationssysteme beschädigt. Irgendwo über den bewaldeten Bergen von Baschkortostan wird es von den Radarschirmen verschwinden. Ich kann Ihnen versichern, dass man das Flugzeug nie mehr finden wird.«

»Und wir? Wohin fliegen wir?«

Tscherenko wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Das, fürchte ich, brauchen Sie nicht mehr zu erfahren, Genosse Oberst. Denn Sie müssen verstehen, dass Sie sich doch eigentlich an Bord der 2808 befinden, die dann verschollen sein wird.« Er drehte seinen Sitz ein wenig, um den hinter ihm sitzenden Funker direkt anschauen zu können. »Juri, eigentlich ist es schon Donnerstag – der kleine Freitag. Wären Sie so freundlich, dem Oberst ein wenig Wodka einzuschenken?«

»Nein … ich … ich trinke nicht mehr …«, stotterte Mikhailow.

»Mein Freund«, sagte Tscherenko sanft, »tun Sie sich doch bitte selbst den Gefallen und trinken Sie noch einen Schluck Wodka. Er macht Ihnen das, was jetzt kommt, leichter.«

2

Der Präsident der Vereinigten Staaten stellte die weiße Porzellantasse auf einen hölzernen Untersetzer an einer Ecke des Präsidentenschreibtisches, Resolute Desk genannt. Es mochte Leute geben, die überzeugt waren, Jack Ryan trinke seinen Kaffee aus den Hirnschalen seiner besiegten Feinde, aber die Wahrheit sah anders aus – der Akademiker und ehemalige Marine Jack Ryan senior zog es vor, seinen Kaffee aus einer leicht angeschlagenen, becherförmigen Porzellantasse zu trinken, deren Innenseite eine reiche Patina zierte, erzeugt von unzähligen Litern des schwarzen Gebräus, die durch diese Tasse geflossen waren. Zu dieser Tasse hatte Ryan heute jedoch erst später greifen dürfen, denn beim ersten Termin im Oval Office mit einem neu ernannten Kabinettsmitglied war zwangsläufig das offizielle Geschirr des Weißen Hauses verwendet worden, das sich beim obligatorischen Fotoshooting besser in Szene setzen ließ.

Doch jetzt war der Fotograf wieder gegangen. Ryan war hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen und hatte sich auf einen der beiden Chippendale-Stühle gesetzt, die vor dem Schreibtisch standen. Ihm gegenüber saß Mark Dehart, der neue Heimatschutzminister. Die Sofas und gepolsterten Sessel, die mitten im Oval Office standen, waren zwar bequemer, hatten aber den Nachteil, dass die Leute darin förmlich versanken. Ryan war Dehart nur einmal kurz begegnet, unmittelbar nach dem letzten Dinner der im Weißen Haus akkreditierten Journalisten – eine spontan arrangierte Begegnung in einem winzigen Nebenzimmer im Washington Hilton, das nicht viel größer als eine Telefonzelle gewesen war. Es war eine Art Überfall aus dem Hinterhalt gewesen, wie es Befragungen des Oberbefehlshabers häufig waren. Ryan hatte Dehart weder Zeit noch Raum gelassen, nervös zu werden, aber jetzt kam ihm der Mann absolut unerschütterlich vor. Seine Augen glitzerten vor Begeisterung über sein erstes offizielles Gespräch mit seinem neuen Boss. Ryan gefiel das. Leute, die sich in ihrer Haut wohlfühlten, würden wahrscheinlich eher zu offener, ehrlicher Kritik oder unbequemen Ratschlägen bereit sein. Und ehrliche Kritik aus dem eigenen Lager bekam man nur selten zu hören, wenn man der wohl mächtigste Mann auf dem Planeten war.

An diesem Morgen hatte sich Ryan volle zwanzig Minuten für das Gespräch mit seinem neuen Minister frei gehalten. Für derartige Besprechungen im Oval Office war das eine kleine Ewigkeit, vor allem dann, wenn der Anlass nur eine freundliche Plauderei sein sollte.

Ryan nickte Dehart wohlwollend zu. »Ich muss mich entschuldigen, dass es so lange dauerte, bis Sie mich persönlich sprechen konnten.«

»Sie sind ein viel beschäftigter Mann, Mr. President«, antwortete Dehart. Er war einundsechzig Jahre alt, fit und schlank, mit den hungrigen Gesichtszügen eines Triathleten und kleinen Krähenfüßen an den Augenwinkeln, ein Zeichen, dass dieser Mann oft und gern lächelte. Ein blütenweißes Hemd betonte sein braunes, vom Wetter gegerbtes Gesicht, als würde er die ganze Freizeit, die ihm sein bisheriger Job als Kongressabgeordneter ließ, am Steuer eines alten John-Deere-Traktors verbringen und den Pflug über endlose Felder ziehen. Dehart stammte aus einer alten Pennsylvania-Familie mit holländischen Wurzeln; sein Vater und sein Großvater waren Milchbauern gewesen. Auch Dehart hatte mit »Milchgeld« sein Studium an der Pennsylvania State University finanziert und an der Carnegie Mellon seinen Master in Biologie gemacht. Er war Wissenschaftler mit Leib und Seele und ein gründlicher, analytischer Denker mit der Arbeitsethik eines Bauern – ein zutiefst ehrlicher Mann und beliebt bei den meisten Leuten. Aber in der skrupellosen Welt der Hauptstadtpolitik bedeutete das auch, dass es viele Leute gab, die ihn scheitern sehen wollten, und sei es auch nur, weil sie neben ihm so schlecht aussahen.

Dehart rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er war nicht nervös, aber er hätte es vorgezogen, wieder an seine Arbeit zu gehen, statt hier zu sitzen und darüber nachzudenken, was zu tun sei. »Offen gesagt, war ich ziemlich überrascht, dass die Bestätigung so reibungslos durchging«, sagte er. »Keine Ahnung warum, aber ich dachte immer, dass Senatorin Chadwick es auf mich abgesehen hätte.«

Ryan schüttelte nachdenklich den Kopf. Michelle Chadwick war Vorsitzende des Senats-Unterausschusses für Heimatschutz, der für die Bereitstellung finanzieller Mittel in diesem Bereich zuständig und somit einer der mächtigsten Senats-Unterausschüsse war, weshalb die Ausschussvorsitzenden oftmals auch »Cardinal« genannt wurden. Chadwick übte daher enorme Macht aus.

»Nein, Mark«, sagte Ryan seufzend, »sie kämpft gegen mich. Bei ihren Kämpfen betreibt sie eine Politik der verbrannten Erde, in politischer und persönlicher Hinsicht. Ehrlich, ich glaube sogar, wenn ich sie für irgendein hohes Amt vorschlagen würde, würde sie sich selbst für irgendeine schmutzige Sache schuldig bekennen, nur um mich zu blamieren, weil ich sie vorgeschlagen habe.« Ryan trank noch einen Schluck Kaffee, um den sauren Geschmack hinunterzuspülen, den Michelle Chadwicks Name bei ihm verursachte, doch dann setzte er die Tasse wieder ab und verdrängte jeden weiteren Gedanken an die Frau. »Egal. Wichtig ist nur, dass Sie jetzt mit an Bord sind. Sind Sie bereit, gleich voll einzusteigen?«

Dehart lächelte. »Auf jeden Fall, Sir.«

»Haben Sie schon die Zeit gefunden, Ihre Einweisungen zu lesen?«

Als Minister für Heimatschutz war Dehart unter anderem für eine Reihe großer und wichtiger Behörden zuständig, beispielsweise für die Zoll- und Grenzschutzbehörde CBP (Customs and Border Protection), den Einwanderungs- und Zollermittlungsdienst ICE (Immigration and Customs Enforcement), die Bundesagentur für Katastrophenschutz FEMA (Federal Emergency Management Agency), den Küstenschutz USCG (United States Coast Guard) und den Secret Service.

»Ich habe den Aktenstapel von einem Meter Höhe zu zwei Dritteln durchgearbeitet«, antwortete Dehart mit völlig ernster Miene.

»Ich verrate Ihnen mal was«, sagte Ryan. »Einweisungen sind wie Kühe – jeden Tag fügen sie dem Haufen Mist noch was hinzu.«

Dehart grinste. »Der Vergleich mit einem Haufen Mist ist mir auch selbst schon durch den Kopf gegangen, Mr. President. Aber meine Mutter hat mich heute früh extra angerufen, um mich noch einmal zu ermahnen, flapsige Bemerkungen für mich zu behalten, schließlich sei ich zum ersten Mal im Oval Office und so weiter.«

»Ein weiser Rat. Sie haben also schon genug gelesen, um ein Gespür zu bekommen, worauf Sie sich hier einlassen … worauf wir uns alle einlassen müssen. Was davon macht Ihnen am meisten Sorge?«

Dehart atmete tief ein und blickte auf das große Präsidentschaftssiegel, das in der Mitte des Teppichs eingewebt war. Er wog seine Worte sorgfältig ab, bevor er Ryan offen in die Augen blickte. »Drei Dinge, Mr. President.«

Ryan hob die Augenbrauen. »Drei? Welche denn?«

»Drei beliebige Dinge«, antwortete Dehart. »Nämlich dann, wenn sie gleichzeitig passieren.«

Reza Kazem tat mehr oder weniger das, was man ihm befohlen hatte. Schließlich waren die Russen in diesem Geschäft Experten. Er sah zwar niemanden, wusste aber, dass sie ihm bei jedem Schritt nahe waren und aufpassten, ob er beschattet wurde.

Während seines Mathematikstudiums hatte der siebenundzwanzigjährige Iraner vier Jahre lang in Georgetown, einem Stadtteil von Washington, D. C., gewohnt und kannte sich daher in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten sehr gut aus. Auf jeden Fall hatte er dort lange genug gelebt, um sich darüber klar zu werden, dass in dieser Stadt buchstäblich hinter jedem Busch ein Spion lauerte, und, was noch wichtiger war, ein Gegenspion hinter jeder Ecke.

Kazem war knapp ein Meter achtzig groß, hatte olivfarbene Gesichtshaut und dichtes, dunkles, welliges Haar. Mit diesem Aussehen fiel er weder im Iran noch in Washington auf – bis man ihm in die Augen blickte. Sie waren tiefgrün, die Farbe aufgewühlter Meereswellen, und hatten ihm während seiner Zeit in der Hauptstadt jede Menge weiblicher Aufmerksamkeit beschert. Im Grunde war Kazem ein Träumer; oft vergaß er sogar zu essen – gerade jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand. Das verschaffte ihm jenes leicht ausgezehrte, asketische Aussehen, das offenbar bei jungen Amerikanerinnen besonders gut ankam. Er liebte Fußball, in den USA »soccer« genannt, und lief jeden Morgen fast vier Kilometer, um in Form zu bleiben. Körperlich war er nicht besonders stark, aber das war nicht so wichtig. Die Leute beugten sich nicht seinem Willen, weil er mehr Muskeln hatte; es genügte vollauf, wenn er ihnen sagte, was er wollte, und sie mit seinen meeresgrünen Augen durchdringend anschaute. Meistens taten sie dann ohne Murren, was er ihnen befahl.

Kazem hatte ein Taxi von seinem Hotel zur Metrostation Tysons Corner genommen, wo er in die Silver Line in Richtung Largo Town Center umgestiegen war. Den Anweisungen folgend stieg er in Rosslyn aus, fuhr auf der unglaublich langen Rolltreppe zum Ausgang hinauf, ging in östlicher Richtung zwei Straßenblocks weiter und betrat eine Starbucks-Filiale. Dort musste er mit den anderen Pendlern in der Schlange auf einen Becher Kaffee und ein Stück Zitronenkuchen warten, die er vor der Filiale auf der Straße verzehrte. Auf den Gehwegen wimmelte es von Menschen, die über ihre Ohrstöpsel Musik hörten, Zeitungen unter dem Arm trugen oder Kaffee tranken, aber kein einziger Passant sah auch nur annähernd wie ein Geheimdienstler aus, egal ob russischer Agent oder sonst irgendwas. Wer auch immer hier draußen operierte, musste außerordentlich geschickt sein. Kazem aß den letzten Bissen Zitronenkuchen, der leicht feucht war und so gut wie jeder Kuchen, den er jemals im Iran zu essen bekommen hatte, obwohl er das nur ungern zugeben würde. Schließlich ging er wieder zur Metrostation zurück. Dieses Mal nahm er die Orange Line, die innerhalb des District of Columbia parallel zur Silver Line verlief. Am L’Enfant Plaza stieg er in die Blue Line um und fuhr einen Teil der Strecke wieder zurück. Nach der Station Foggy Bottom, in deren Nähe sich das Außenministerium befand, wendete sich die Blue Line nach Süden und führte über den Potomac. Kazem fuhr an Rosslyn vorbei; hier verlief die Strecke oberirdisch. Der Zug war rappelvoll, die Passagiere standen Schulter an Schulter, und Kazem hielt sich an einer der Stahlhaltestangen an der Decke fest. Er erhaschte einen Blick auf endlose Reihen weißer Grabsteine auf dem Hügel des Heldenfriedhofs Arlington und auf den riesigen Parkplatz des Pentagon. Hier befand er sich tatsächlich mitten im Bauch des Ungeheuers.

Kazem stieg an der Metrostation Pentagon City aus, in deren Nähe sich das riesige Fashion Center befand, fuhr zum Ausgang hoch und ging auf der 15th Street in östlicher Richtung bis zum Crystal Gateway Marriott. Er durchquerte die Hotellobby und ging durch einen langen, steril wirkenden, gefliesten Flur in den unterirdischen Einkaufsbereich von Crystal City hinunter, in dem es nach gestärkten Hemden und polierten Lederschuhen roch – und wo er nun endlich seinen Kontakt treffen sollte.

Er drängte sich durch die dichte Menge frisch geduschter Staatsbeamter und uniformierter Militärs, die mit den Virginia-Transit-Zügen ankamen. Fast alle waren zum Pentagon, den Behörden oder ihren unzähligen Büros unterwegs, die »Inside the Beltway« lagen, also innerhalb des Autobahnrings um die Hauptstadt. Mit dem Begriff waren aber eigentlich die inneren Machtzirkel mit all ihren Politikern, Beratern, Lobbyisten und Medienleuten gemeint, die den Washingtoner Politikbetrieb ausmachten.

Kazem entdeckte seine Kontaktperson sofort. Sie saß vor einer weiteren Starbucks-Filiale, die einem Restaurant namens King Street Blues gegenüberlag.

Sie hatte sich an einen der sechs oder sieben kleinen, schwarzen, völlig identischen Metalltische gesetzt, und obwohl sie saß, konnte er erkennen, dass sie groß gewachsen war, mit der gertenschlanken Figur einer Läuferin, die täglich lange Strecken joggte, wie jene, die oft auf dem geteerten Joggingpfad zu sehen waren, der am Potomac zwischen Arlington und Mount Vernon entlangführte. Hellbraunes Haar fiel ihr in Locken bis auf die Schultern und umrahmte hohe Wangenknochen und eine recht lange, aber noch immer attraktive slawische Nase. Ihr anthrazitfarbener Geschäftsanzug sah teuer aus, obwohl Reza sich über Dinge wie Damenkleidung nie groß Gedanken gemacht hatte. Im Gegensatz zu den üblichen Gepflogenheiten in seinem Gewerbe kannte er den Namen seiner Kontaktperson, oder jedenfalls den Namen, unter dem sie bei der Botschaft bekannt war: Elizaweta Bobkowa, Erste Assistentin des Attachés für Wirtschaft und Handel der Russischen Botschaft in Washington. Außerdem arbeitete Bobkowa auch, wie Reza wusste, für den Sluschba Wneschnei Raswedki, den Auslandsnachrichtendienst der Russischen Föderation, besser bekannt unter der Abkürzung SWR. Noch genauer gehörte sie zur Iran-Abteilung des Direktorats für Politische Aufklärung.

Reza hatte sie schon einmal persönlich getroffen, im Smithsonian National Zoological Park, nach einer ähnlich gründlichen Maßnahme zur Gegenobservation, wie er sie heute hatte durchlaufen müssen. Zwei Becher Kaffee und zwei Stücke Zitronenkuchen standen bereits auf dem Tisch, dasselbe, was er auch in Rosslyn bestellt hatte. Es war das Zeichen, dass alles in Ordnung war.

Bobkowa winkte Reza zu ihrem Tisch, die hellrot lackierten Nägel stachen sofort ins Auge. Sie gab sich offenbar nicht die geringste Mühe, unauffällig zu bleiben. Sie lächelte ihn strahlend an und deutete auf den freien Stuhl.

»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?«, fragte sie, als er sich setzte.

Kazem stellte den Rucksack zwischen seine Füße.

»Ja, kein Problem.« Er beäugte den Zitronenkuchen. Die kühle Frühlingsluft hatte ihn hungrig gemacht. »Kann ich das essen?«

Elizaweta nickte und trank einen Schluck Kaffee, wobei auf dem dunklen Plastikdeckel ein noch dunklerer Halbmondabdruck ihres Lippenstifts zurückblieb. »Sie sehen bemerkenswert gut aus«, sagte sie. »Wissen Sie das?«

Kazem aß einen Bissen Kuchen, der genauso feucht war wie in Rosslyn, ging aber nicht auf die Bemerkung ein. Er brauchte diese Frau, deshalb hielt er es für besser, ihr nicht zu sagen, was er dachte. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Haben Sie einen Schatten bemerkt?«

Kazem schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Hm. Der eine oder andere meiner Leute hätte Ihnen vielleicht auffallen müssen«, sagte die Russin. »Alles Idioten und völlig unfähig.«

Kazem wusste, dass das nicht stimmte. »Darf ich aus diesem Treffen den Schluss ziehen, dass Ihre Vorgesetzten einverstanden sind, unser Anliegen zu unterstützen?«

»In gewisser Weise«, antwortete Bobkowa. Wieder trank sie einen Schluck Kaffee und schwenkte die Flüssigkeit im Becher herum, während sie ihn abschätzend musterte. »Wie Sie sicherlich wissen, ist mein Land einer der wichtigsten Verbündeten des gegenwärtigen Regimes, aber was im Iran derzeit geschieht, stört uns nicht. Dieser Aufruhr, dieser sogenannte Persische Frühling, ist recht … bemerkenswert.«

Kazem unterdrückte ein Lächeln. Er hatte lange genug in den Staaten gelebt, um zu wissen, dass sie diesen nichtssagenden Ausdruck ganz bewusst benutzte.

»Unsere Bewegung basiert auf einer breiten Unterstützung«, erklärte er. »Es gibt Demonstrationen nicht nur in Teheran, sondern auch in Ghom, Isfahan, im Osten bis nach Maschhad und nach Süden sogar bis Bandar Abbas, außerdem in zahlreichen anderen Städten. Die Regierung blockiert zwar die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter, Telegram … aber wir finden immer Möglichkeiten, die Blockaden zu umgehen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei das Schnee von gestern. »Aber damit brauchen Sie sich nicht zu befassen. Wird Russland liefern, was wir brauchen?«

»Die Sache erweist sich als … bemerkenswert schwierig.« Während sie das sagte, blickte sie auf und schenkte einem links an ihr vorbeigehenden Mann ein strahlendes Lächeln.

Kazem folgte ihrem Blick. Ein junger Mann in beigefarbenem Trenchcoat – er hätte direkt aus einem Humphrey-Bogart-Film entsprungen sein können – geriet kurz ins Stolpern und blieb einen Moment lang stehen. Ein Dutzend Leute kam über den Crystal Drive herüber, die es eilig hatten, zur Metrostation zu gelangen. Sie fluchten und ärgerten sich über sein ungeschicktes Verhalten, während sie ihm auswichen. Der Mann war vermutlich ein wenig jünger als Kazem und hatte ein rosafarbenes Gesicht, als sei es mit Salz eingerieben worden. Sein Haar glänzte von reichlich aufgetragenem Haargel. Unter dem offenen Trenchcoat war ein makelloser marineblauer Nadelstreifenanzug zu sehen.

Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die so wulstig waren wie die eines Karpfens, während sein Blick zwischen Bobkowa und Kazem hin und her zuckte. Der Blickkontakt dauerte nur eine Sekunde, dann war der Bann gebrochen, und der Mann verschwand im Strom der Leute, die zur Metro hasteten.

»Ich glaube, er hat Sie erkannt«, sagte Kazem. Der seltsam aussehende Mann mit der rosa gescheuerten Haut ließ bei ihm sämtliche Alarmglocken klingeln.

»Ja, das hat er«, bestätigte die Russin gelassen.

»Was?« Kazem war entsetzt, wie lässig sie mit der Situation umging. »Sie schicken mich gute zwei Stunden durch die Gegenobservation, obwohl Sie geplant haben, dass wir zusammen gesehen werden?«

Bobkowa klopfte leicht auf den Tisch und lächelte vielsagend. »Komplizierte Maskeraden gehören zu meinem Job. Die Maßnahmen, die Sie heute früh durchgeführt haben, waren absolut notwendig. Wenn Sie nicht versucht hätten, Ihren Schatten abzuschütteln, hätte das FBI unserer Begegnung keinerlei Bedeutung beigemessen.«

Kazem blickte sich besorgt über die Schulter. »Der Mann gehört zum FBI?«

»Wohl kaum«, sagte Bobkowa verächtlich. »Ich habe ihn neulich bei einem Dinner in der Botschaft kennengelernt. Er ist einer dieser gesprächigen Typen. Das kann unserer Sache nur nützen. Sie sollten sich darüber freuen. Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass die Vereinigten Staaten bei der Aktion mitmischen wollen. Ich wäre nicht überrascht, wenn Sie schon bald mit einem wahren Geldregen überschüttet würden. Denn genau so regeln die Amerikaner solche Dinge.« Ein boshaftes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Und sie werden wie verrückt versuchen herauszufinden, worum es bei dieser Sache eigentlich geht.«

Kazem schüttelte den Kopf, als müsse er einen leichten Schwindelanfall vertreiben. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Aber gut, Sie sind hier die Expertin. Vorhin sagten Sie, ›in gewisser Weise‹, als ich Sie fragte, ob Russland unser Anliegen unterstützen wird. Was meinten Sie damit? Wir haben ganz genau erklärt, was wir brauchen. Die iranischen Nachrichtendienste sind schon schlimm genug, aber die Revolutionsgarde ist absolut skrupellos. Wir benötigen bestimmte Dinge, um sie zu schwächen. Technische Ausrüstungen sind für unsere Bewegung von größter Bedeutung. Also: Wie soll ich das verstehen, dass Sie uns nicht direkt helfen können?«

»Ich begreife jetzt, warum sich die Leute Ihrer Bewegung anschließen.« Sie starrte in seine Augen. »So bemerkenswert …«, flüsterte sie fast träumerisch, bis sie sich mit einem Ruck aus dem Bann löste. Sie hüstelte, setzte sich wieder aufrecht. »Wie auch immer: Es ist so, wie ich gesagt habe. Die russische Regierung kann Ihnen nichts direkt liefern.« Kazem wollte protestieren, aber sie hob schnell die Hand. »Aber ich schicke Ihnen Kontaktdaten von Männern, die das können.«

Bobkowa war offensichtlich eine intelligente Frau, die ihn glauben machen wollte, dass sie mehr Informationen besaß, als es tatsächlich der Fall war. Im Vergleich zu der Maskerade, an der er selbst beteiligt war, kamen ihm ihre kleinen Versteckspielchen geradezu kindisch vor. Er schob den Teller mit dem halb gegessenen Zitronenkuchen von sich und starrte die Frau durchdringend an. Das arme Ding hatte ja keine Ahnung, worauf sie sich einließ und mit wem sie es zu tun bekommen würde. Ihre Arroganz war … nun ja, bemerkenswert und würde sie irgendwann ins Verderben führen.

»Das ist doch total krass«, sagte FBI-Agent Murphy und trank einen Schluck Kaffee. Der Agent saß an einem Tisch ungefähr zehn Meter von Bobkowa entfernt.

»Ja, stimmt, Grasshopper«, murmelte der ältere der beiden Agenten, der Coyne hieß. Er gehörte der Bundesbehörde schon seit siebzehn Jahren an, seit elf Jahren arbeitete er in der Abteilung Spionageabwehr. Coyne stammte aus Tennessee und hielt seine Südstaatenherkunft nicht nur für ein Ehrenzeichen, sondern auch für ein Zeichen seiner besonderen Begabung als Menschenjäger.

Die beiden Agenten beobachteten den Iraner und die Russin aus den Augenwinkeln, während sie Kaffee tranken und beiläufig miteinander plauderten. Unter dem Hemdkragen trugen sie Halsbänder mit farbcodierten Abzeichen, die ihnen den Zutritt zum Pentagon ermöglichten, wie ungefähr die Hälfte der Leute, die sich hier in der unterirdischen Shoppingmall aufhielten.

»Die Russen spielen doch ständig ihre Backe-backe-Kuchen-Spielchen mit dem Mullah-Regime in Teheran«, fuhr Murphy fort. »Ich kapiere das einfach nicht. Warum sollte sich Elizaweta Bobkowa hier mit dem Anführer einer Gruppierung treffen, die das derzeitige Regime stürzen will?«

»Und das ist noch längst nicht alles«, ergänzte Coyne. »Warum parkt sie ausgerechnet an einem Tisch, an dem Corey Fite jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit zwangsläufig vorbeigehen muss?«

»Corey Fite?«

»Der Bursche mit dem Fischmaul«, erklärte Coyne. »Er ist der engste Berater von Michelle Chadwick – und ihr Lustknabe. Nein, Elizaweta ist eine smarte Lady, die trägt sozusagen ein Schild mit der Aufschrift ›Intelligenzbestie‹ um den Hals. Die Königin des maskirowka, der ganz großen Show von Verschleierungs- und Ablenkungsmanövern. Und für die Spionageabwehr ist doch Crystal City so etwas wie der Serengeti-Park – hier jagen mehr Schlapphüte hintereinander her als irgendwo sonst im Land. Schau dich doch nur mal um: Unsere Kollegen sind überall, entweder führen sie gerade echte Operationen durch oder irgendein Beschattungstraining. Es ist völlig ausgeschlossen, dass Bobkowa hier unten ein Treffen abhalten würde, wenn sie es wirklich geheim halten wollte. Sie will gesehen werden – auf jeden Fall von Fite, und wahrscheinlich auch von uns.«

»Aber warum?«, fragte Murphy. »Was steckt dahinter?«

»Hinterlist und Schummelei, Grasshopper«, antwortete Coyne und setzte den Kaffeebecher so hart ab, dass ein wenig Kaffee wie ein kleiner Geysir durch das kleine Trinkloch im Deckel herausschoss. »Wir haben hier den potenziellen Anführer eines möglichen Staatsstreichs im Iran, der gemeinsam mit einer russischen Spitzenspionin Kuchen knabbert – die wiederum dafür sorgt, dass Chadwick Wind von diesem Treffen bekommt. Ich habe keine Ahnung, ob sie euch das bei deiner Ausbildung in Quantico beigebracht haben, aber eins steht fest: Wenn die Iraner und die Russen gemeinsam in etwas verwickelt sind, kann es nur eine verdammt dreckige Sache sein.«

3

Will Hyatt, Captain der U. S. Air Force, lenkte seinen roten VW Passat auf den Parkplatz der rund um die Uhr geöffneten Walmart-Filiale ein kleines Stück westlich des Highway 95. Viele, die auf der Creech Air Force Base stationiert waren, gaben als Adresse lieber die Postleitzahl an, als zuzugeben, im Nordteil von Las Vegas zu wohnen. Hyatt jedenfalls hatte sich erst vor Kurzem ein Haus in der Nähe, Postleitzahl 89149, sichern können. Die Kids liebten den neuen Swimmingpool. Der nächste Walmart lag praktisch um die Ecke, weshalb er sich bereit erklärt hatte, auf dem Weg zur Arbeit kurz anzuhalten und ein paar Dinge für die Geburtstagsparty der Zwillinge einzukaufen, bevor er wieder »in die Schlacht zog«.

Schon beim Aussteigen schwitzte er; vielleicht hätte er auch selbst ein paar Runden schwimmen sollen, um richtig abzukühlen, bevor er zur Arbeit ging. Es war noch früh am Morgen, noch nicht einmal sieben Uhr, aber die Hitze strahlte bereits vom Asphalt zurück.

Schon nach einer knappen halben Stunde stieg er wieder ins Auto – hauptsächlich deshalb, weil er nichts hatte einkaufen können, das während seiner zwölfstündigen Schicht nicht schmelzen oder schlecht werden würde. Und das war so ziemlich alles, was seine Frau auf die Liste gesetzt hatte, von Papptellern und Servietten abgesehen. Er hatte ein paar Packungen Wasserballone gekauft, obwohl Shannon ihm das nicht ausdrücklich aufgetragen hatte. Alle Siebenjährigen liebten Wasserballone, oder nicht? Will war erst dreißig, aber es kam ihm wie ein halbes Jahrhundert vor, seit er selbst sieben gewesen war.

Als Drohnenpilot alterte man schnell – aber nicht aus den Gründen, die man sich normalerweise denken würde. Es war keine körperlich besonders anstrengende Tätigkeit. Er musste keine extremen Flugmanöver wie ein Kampfpilot aushalten, bei denen gewaltige Kräfte auf den Körper wirkten. Verdammt, seine MQ-9 würde schon bei weniger extremen Kurvenflügen katastrophal versagen. Will schwitzte sich auch nicht in irgendeinem Bunker in Kandahar den Arsch weg und versuchte auch nicht, seine Kinder über eine wackelige Skype-Verbindung länger als nötig zu langweilen. Nein, Will saß den ganzen lieben langen Tag in einem bequemen Ledersessel in einem klimatisierten Wohnanhänger und fuhr nach seiner Schicht immer brav geradewegs nach Hause. Morgen hatte er sogar einen Tag freigenommen, um bei der Party dabei sein zu können.

Wenn er das alles laut aufzählte, klang es fast so, als würde er jammern. Aber genau das war das Problem.

Captain Hyatt war zu Hause und war es doch nicht. Nicht richtig zu Hause. Wie konnte man wochenlang über irgendeinem Scheißloch herumhängen, in dem sich der IS eingebunkert hatte, und nach den geringsten Anzeichen Ausschau halten, dass sich darin eine hochrangige Zielperson aufhielt – um dann dieses »High-value target« in die Hölle zu blasen, ins Familienauto zu steigen, nach einer Stunde zu Hause in 89149 die Kids zu küssen und den Kopf klar genug zu bekommen, um die Frau glücklich zu machen? Manchmal fragte er sich, ob den Jungs im Einsatzgebiet diese kleinen häuslichen Pflichten nicht fehlten, wenn sie die Terroristenärsche jagten.

Shannon begriff das nicht. Um ehrlich zu sein, sie hätte es wahrscheinlich begriffen, wenn er es ihr anvertraut hätte, aber wie sollte man der eigenen Frau klarmachen, dass man traurig war, weil man nicht achttausend Kilometer von ihr entfernt sein durfte? »Liebling, dass ich jeden Abend vom Kriegspielen nach Hause komme, macht mich noch wahnsinnig.« Das wäre so ziemlich die lahmste aller lahmen Ausreden. Nein, da war es doch besser, alles hinunterzuschlucken, die Leute zu töten, die getötet werden mussten, und dann zu Hause den elektrischen Wasserkessel zu reparieren oder welcher Scheiß gerade wieder im Haus kaputtgegangen war – und sich trotzdem glücklich zu fühlen.

Er schloss das Auto auf und öffnete die Fahrertür. Extrem überhitzte Luft quoll heraus. Die Hitze hier in Nevada würde seinen neuen VW-Passat noch umbringen. Den Wagen hatte er von seiner Personalbindungsprämie gekauft, die ihm die Air Force gezahlt hatte, damit er an Bord blieb. Aber natürlich wusste er, dass frühere Kameraden und Kollegen, die für private Auftragnehmer flogen, das Doppelte von dem verdienten, was er mit Gehaltsklasse O-3 nach Hause brachte, obwohl sie teilweise in denselben Einrichtungen in Creech arbeiteten.

Er wartete ein paar Sekunden, bis das Wageninnere auf eine Temperatur abgekühlt war, die die Zwillinge »subvulkanisch« nannten, dann warf er den dünnen Plastikbeutel mit seinen Einkäufen auf den Boden vor dem Beifahrersitz. Seine Schicht dauerte von sieben bis neunzehn Uhr, also den »vulkanischsten« Teil des Tages. Er konnte nur hoffen, dass die Ballone nicht zu einem großen Schleimball verschmolzen, wenn das Auto in dieser Bruthitze den ganzen Tag lang auf dem Parkplatz stand. Ballone. Er startete den Motor und fuhr rückwärts aus der Stellfläche, wobei er den Kopf schüttelte. Wen kümmerten schon ein paar Scheißballone? Plötzlich tat Hyatt sein geistiger Wutanfall leid. Sobald er an seinem Arbeitsplatz in der Basis saß, würde er einen Gesprächstermin mit dem Seelsorger vereinbaren. Captain Willis war ein Geschenk Gottes, zu einem Teil Geistlicher, zu zwei Teilen geduldiger Zuhörer, genau der Richtige, wenn es darum ging, mit der Spannung zwischen Kriegsführung und alltäglichen häuslichen Pflichten fertigzuwerden.

Der Verkehr kam ihm heute weniger dicht vor als sonst, was seltsam war, da jeden Tag dieselbe Gruppe zu ihrer Schicht unterwegs war. Niemand wohnte im Creech, weshalb die Autos, die vom Nordteil von Las Vegas in Richtung Indian Springs unterwegs waren, eine sich langsam bewegende Schlange bildeten, die sich über fast vier Kilometer bis zur Einfahrt erstreckte.

Hyatt parkte den Passat und ließ das Fenster einen Spaltbreit offen, um die Ballone vor der extremsten Hitze zu schützen, aber dann überlegte er es sich noch einmal, kehrte um und nahm die Einkaufstasche mit ins Büro. Unterwegs kritzelte er einen Hinweis auf die Handfläche, damit er am Abend nicht vergaß, die Tasche mitzunehmen.

Sein Arbeitsplatz glich aufs Haar dem der anderen fünfhundert Drohnenpiloten, die von Creech aus »flogen«: ein sandfarbener, klimatisierter Trailer, der neben Dutzenden anderer klimatisierter Trailer stand. Ein Schild an der Stahltür besagte, Sie sind hier nicht mehr in Kansas. Es erinnerte die Piloten daran, dass sie sich in einem Operationsgebiet befanden, das mehr als elftausend Kilometer entfernt lag, sobald sie sich an ihre Konsolen setzten.

Hyatt trug einen Fliegeroverall und ein grünes David-Clark-Headset. Er setzte sich auf den linken der beiden beigefarbenen Ledersitze, die vor einer Reihe von sechs Bildschirmen und Video-Monitoren standen, auf denen die technischen Details seiner MQ-9-Reaper-Drohne dargestellt wurden. In genau diesem Moment befand sich sein UAV – das unbemannte Luftfahrzeug – über der Provinz Helmand in Afghanistan. Die Kameras der Drohne boten Hyatt aus viertausend Metern Höhe einen bemerkenswert klaren Blick auf das Ziel.

Auf dem rechten Sitz saß bereits Staff Sergeant Ray Deatherage, der Sensorenoperateur. Ihre beiden Arbeitsplätze sahen bemerkenswert ähnlich aus, aber während Hyatt das UAV steuerte und die Geschosse abfeuerte, bestand Deatherages Job darin, die Kameras der Drohne und den Laserstrahl auf das Ziel auszurichten, um die Zielgenauigkeit der Geschosse sicherzustellen. Dass sein Name mit Ray für »Strahl« und Death für »Tod« auch zwei Wörter enthielt, die geradewegs aus seiner Jobbeschreibung zu stammen schienen, war natürlich allen klar, weshalb sein vorgesetzter Offizier angeordnet hatte, dass niemand darüber witzeln dürfe – obwohl Rays Zielgenauigkeit mit dem todbringenden Laserstrahl geradezu legendär war.

Auch der neue Bursche war schon da. Er saß hinten im überfüllten Trailer, ein Notebook mit geprägter Lederhülle auf dem Schoß. Auf der Hülle stand »Oreo«, wie diese bescheuerte Keksmarke. Das war ein ziemlich komischer Deckname für einen CIA-Drohnenbeobachter, aber das konnte Hyatt egal sein. Er wurde dafür bezahlt, die Reaper zu fliegen, und nicht, sich über die Decknamen irgendwelcher Grünschnäbel von der Spionageabwehr Gedanken zu machen. Im Film sahen die Spione immer unheimlicher aus als die Militärs, aber letztlich waren auch sie nur Menschen. Klar, seltsame Vögel waren das, aber trotzdem auch nur Menschen wie du und ich. Brian, wenn das denn sein richtiger Vorname war, war zu ihnen gestoßen, nachdem Hyatt einen Bericht über Faisal al-Zamils derzeitigen Aufenthaltsort eingereicht hatte. Brian schien ein recht umgänglicher Bursche zu sein, trotz seines Connecticut-Akzents. Aber Hyatt wusste natürlich, dass Brian aus einem einzigen Grund hier war.

Seit einem Monat hatte eine bestimmte Mobilfunknummer immer wieder mal von einem Mast in der Nähe von Nad Ali gepingt. Die Nummer gehörte einer von Zamils Frauen. Hyatt und ein anderer MQ-9-Pilot hatten sich abgelöst, um eine Drohne tagelang über dem Anwesen schweben zu lassen, das man für ihren Wohnsitz hielt. Die Drohne schwebte in viertausend Metern Höhe; die Frau hatte daher keine Ahnung, dass sie beobachtet wurde. Hyatt kam es irgendwie seltsam vor, dass er, Deatherage, Brian und die andere Reaper-Crew, also fünf Leute, wahrscheinlich zu den höchstens acht oder neun Männern auf dem Planeten gehörten, die diese Frau jemals ohne Schleier zu sehen bekamen. Sie beobachteten sie, wie sie die Wäsche aufhängte, wie sie ihren Kindern mit der Faust drohte, wie sie hinaus zum Auto eilte, um zum Markt zu fahren. Immer wurde sie von drei Typen begleitet, aber keiner von ihnen war Zamil, verdammt noch mal. Aber manchmal fuhr sie auch zu einem anderen Haus, sechs Kilometer entfernt. Das war eine ziemlich dünne Spur, aber weiter oben in der Befehlshierarchie hielt man die Zeit und die Mühe für angemessen, dieser Sache nachzugehen. Zamil war als Waffenlieferant des IS bekannt, und als solcher stellte er gewissermaßen das höchstrangige Ziel dar, das sie derzeit auf der Agenda hatten. Ganz abgesehen davon, dass das ihre einzige Spur war.