Tom Knight. Ein Mann tanzt aus der Reihe - Charles Hodges - E-Book

Tom Knight. Ein Mann tanzt aus der Reihe E-Book

Charles Hodges

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Beschreibung

Er ist witzig. Er ist charmant. Er ist noch immer gut zu Fuß.

Tom Knight ist 73 Jahre alt und hat schon bessere Zeiten gesehen. So wie die Dinge stehen, wird er sich seine Wohnung bald nicht mehr leisten können. Die Pension reicht gerade eben für das Minus auf seiner Kreditkarte. Aus purer Verlegenheit nimmt er einen schlecht bezahlten Job als Aktmodell an. Doch als seine spleenige Auftraggeberin plötzlich das Zeitliche segnet, wird Tom misstrauisch. Wird er einfach nur vom Pech verfolgt, oder gibt es hier ein Verbrechen aufzuklären – und möglicherweise sogar eine Frau zu erobern?

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Seitenzahl: 543

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Das Buch

Mit dreiundsiebzig Jahren ist Tom Knight praktisch an den Bettelstab geraten. Anhaltende Knieprobleme haben ihn von der Arbeit abgehalten, und von der Armeepension allein kann er seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. So nimmt Tom das Angebot der exzentrischen Künstlerin Clemetine Lever wahr, und wird Aktmodell für eine Gemäldeserie über Vergänglichkeit – nicht gerade ein würdevoller Job und obendrein schlecht bezahlt, aber Knight ist froh um jeden Penny.

Doch die Einkünfte sind nur von kurzer Dauer: Clementine Lever kommt unter mysteriösen Umständen ums Leben. Als Knight daraufhin Bekanntschaft mit ihrer bemerkenswerter Schwester Lolly macht, erlebt nicht nur seine Vergangenheit als Privatermittler eine erstaunliche Renaissance.

Der Autor

Charles Hodges, geboren in Südafrika, studierte Deutsch und Französisch am Jesus College Cambridge. Es verschlug Hodges unter anderem nach Deutschland, wo er in Gießen unterrichtete. Später verdiente er sich seine Sporen im Filmgeschäft und arbeitet als Drehbuchautor für das britische Fernsehen. Mit der Figur des Tom Knight begann er eine zusätzliche Karriere als Schriftsteller.

CHARLES HODGES

TOM KNIGHT

Ein Mann tanzt aus der Reihe

ROMAN

Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

Live Bait

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Copyright © 2017 by Charles Hodges

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Rainer Germann

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München,

unter Verwendung von Motiven von © Bigstock (Vectorchoice, kornienko, dracozlat)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-19112-2V001

www.heyne-encore.de

Für Gervase Bradford

1931 – 2017

1

Die Reihe identischer Bungalows erstreckte sich über mehrere Hundert Meter. Unter der Schneedecke bildeten sie ein regelmäßiges Muster, und wie in gut gemachten Computeranimationen bekam ihre trostlose Banalität so fast etwas Überirdisches.

Ein alter Mann zog langsam von Tür zu Tür. Mithilfe seines Stocks tastete er sich vorsichtig über die tückischen Stellen hinweg, an denen der Schnee festgetreten war. Sein schwerer Armeemantel bildete einen eigenartigen Kontrast zu den Gummistiefeln und der roten Pudelmütze, dem einzigen Farbklecks inmitten dieses weißen Meeres. Über seiner Schulter hing eine Umhängetasche.

So sehr Knight sich auch bemühte, sich in die Rolle eines Polarforschers zu versetzen, letztlich lief es doch eher auf die des Versagers hinaus. In seiner Tasche befand sich auch nicht der Proviant für eine Arktisexpedition, sondern vielmehr Flyer, die die Bürger Eastbournes animieren sollten, Gewächshäuser, Doppelglasfenster oder indisches Fast Food zu kaufen. Kurz war er in Versuchung geraten, die halbe Ladung in einer Mülltonne zu entsorgen, doch die Agentur überprüfte seine Route stichprobenartig.

Es wurmte ihn gewaltig, dass er im Alter von dreiundsiebzig praktisch an den Bettelstab gekommen war. In den sechs Monaten, die es gedauert hatte, bis sein Knie verheilt war, hatte er nicht arbeiten können. Die Aufträge, die er hatte ablehnen müssen, hätten ihm zwar auch nicht ermöglicht, sich endgültig zur Ruhe zu setzen, aber doch wenigstens seine laufenden Kosten gedeckt. Seine Schulden wuchsen so schnell, wie seine Aufträge zurückgingen. Überzogene Kreditkarten, Darlehen und unbezahlte Rechnungen formierten sich zu einem Bataillon, gegen das er mit seiner bescheidenen Lebensweise und der Armeepension vergeblich anstürmte. Doch zumindest konnte man ihm nicht vorwerfen, dass er untätig blieb, auch wenn er mit seinem Schneckentempo auf gerade einmal vier Pfund pro Stunde kam. Zudem war sein körperlicher Zustand recht erfreulich – den Marsch durch den Schnee empfand er sogar als belebend. Nach der wundersamen Operation funktionierte sein neues Knie wieder einwandfrei. Ebenfalls positiv wirkte sich das bisschen Gras aus, das er vorher noch geraucht hatte, der einzige Genuss, den er sich noch gönnen konnte, denn Zigaretten für acht Pfund die Packung kamen nicht im Entferntesten infrage.

Er war nun an der Stelle angelangt, wo die Bungalowreihe Richtung Meer führte. Am Ende der Straße befand sich ein kleiner Parkplatz, von dem aus man zu einem abgelegenen Strandabschnitt einige Kilometer außerhalb der Stadt gelangte. Vor zwei Wochen war dort die Leiche einer jungen Frau angespült worden. Da sie einen Neoprenanzug und Flossen trug, lag die Vermutung nahe, dass sie einem Taucherklub angehörte, aber niemand schien sie zu vermissen. Es wurde auch spekuliert, dass es sich um einen Flüchtling handelte, ertrunken bei dem Versuch, von Frankreich aus den Ärmelkanal zu überqueren. Aber es gab kein gekentertes Schiff, das diese Theorie gestützt hätte. Das tote Mädchen lenkte Knights Gedanken auf die humanitäre Katastrophe, die sich über den Kontinent hinweg nach Norden ausbreitete und seine eigenen Probleme belanglos aussehen ließ. Er sollte dankbar sein, dass es eher unwahrscheinlich war, dass er verhungern müsste oder von religiösen Psychopathen behelligt würde. Und doch, mochte es angesichts des Zustands dieser Welt auch selbstsüchtig sein, er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder um eine entsetzliche Befürchtung kreisten: Wenn kein Wunder geschah, würde er nicht mehr lange in seiner geliebten Wohnung bleiben können. Und an Wunder glaubte er nicht.

Er war nun nah genug, um eine Gestalt mit Helm auf dem Kopf zu erkennen, die sich auf die Schranke zwischen dem Parkplatz und dem Weg zum Strand lehnte. Daneben stand ein Motorroller, ein ungeschickt gewähltes Transportmittel angesichts der Schneeverhältnisse. Doch diese aus Leichtsinn geborene Freiheit war das Privileg der Jugend, die auch er selbst weidlich genutzt hatte. Fast hätte er der einsamen Figur an der Schranke eine gewisse Sympathie entgegengebracht – bis eine ältere Frau vom Strand aus den Parkplatz betrat. Als sie neben einem klapprigen Nissan stehen blieb, um in der Handtasche nach dem Autoschlüssel zu kramen, stürzte die von Knight eben noch so wohlwollend beurteilte Gestalt auf sie zu, stieß sie zu Boden und entriss ihr die Handtasche. Vom Schnee erstickt klang ihr Schrei mehr wie ein Jammern.

Während sie sich mühsam hochrappelte, saß der Dieb längst auf seinem Roller und raste mitten auf der Straße in Knights Richtung. Ob es ein Anfall von Zivilcourage war oder nur das dringende Bedürfnis, seinen aufgestauten Groll an einem geeigneten Objekt abzureagieren, konnte Knight im Nachhinein schwer sagen. Jedenfalls machte er, als sich der Motorroller näherte, einen Schritt nach vorn und schwang seine schwere Umhängetasche. Sein Schlag wurde von der Windschutzscheibe abgefangen und hätte keinen Schaden angerichtet, wenn der Fahrer nicht versucht hätte auszuweichen. Auf dem festgefahrenen Schnee geriet der Roller ins Schleudern, warf seinen Fahrer ab und schlitterte schließlich in einen geparkten Wagen.

Erst jetzt kam es Knight in den Sinn, dass seine Aktion unbedacht, wenn nicht gar leichtsinnig gewesen sein könnte. Wenn der Dieb ernsthaft verletzt war, drohten juristische Konsequenzen, war sein Opfer dagegen in der Lage, Rache zu üben, würde es ihm schwerfallen abzuhauen. Der Dieb kniete bereits wieder, und es ging ihm augenscheinlich gut genug, um Knight eine Flut von Schimpfwörtern an den Kopf zu werfen. Seine Stimme war schrill und ebenso aggressiv wie die knallrote Akne, die aus dem Helmvisier hervorleuchtete.

Das Messer, das dem Jungen nun aus dem Stiefelschaft rutschte, bestätigte Knights Befürchtungen hinsichtlich seiner unüberlegten Entscheidung und machte zugleich die nächste umso einfacher: Angriff war die beste Verteidigung.

Nachdem er sicher stand, ließ er seinen Stock durch die Hand gleiten, um ihn am unteren Ende zu fassen. Der Griff sah nur aus wie Holz, war aber tatsächlich aus massivem Stahl und geeignet, jemandem schwere Verletzungen zuzufügen. Rein technisch gesehen handelte es sich nur dann um eine Waffe, wenn man ihn als solche einsetzte, doch der Anblick des Messers schien Knight Rechtfertigung genug.

Der Junge stand inzwischen wieder auf den Füßen und näherte sich ihm vorsichtig über eine vereiste Stelle hinweg. Auch er fing gerade an, seine vorausgegangene Handlung zu bedauern. Bislang hatte er keines seiner Opfer tatsächlich angegriffen, es hatte immer genügt, mit dem Messer zu fuchteln und ein bisschen herumzuschreien. Bei der bislang einzigen Messerstecherei seines Lebens war er selbst das Opfer gewesen: als er sich in der Gastronomieschule, von der er kürzlich geflogen war, im betrunkenen Zustand mit einem Tranchiermesser duelliert hatte. Er richtete sein Messer nun auf das Gesicht des alten Mannes, dessen einziger Körperteil, der nicht bedeckt war.

»Was sollte denn der Scheiß?«, beschwerte er sich.

Knight schlug mit dem Metallgriff auf das Handgelenk seines Angreifers. Der Junge brüllte, beziehungsweise jaulte und presste seine Faust an die Brust, wobei er das Messer fallen ließ.

»Das Gleiche, was das hier soll. Und jetzt rauf auf die Kiste und verpiss dich, bevor ich es noch mal mache!«

Die Stimme des alten Mannes klang so herrisch arrogant, wie es der frustrierte Räuber nur aus dem Fernsehen oder vom Gericht her kannte. Die fremdartige, bedrohliche Vornehmheit verstärkte jedenfalls seinen Fluchtreflex, sodass es ihm irgendwie gelang, seinen Roller mit einem Arm hochzuhieven. Dann taumelte er davon, möglicherweise angemessen bestraft, aber nicht unbedingt klüger durch die Erfahrung.

Knight angelte sich die Handtasche mit seinem Stock und ließ sie kurz daran baumeln, als hätte er einen Trophäenfisch aus dem Meer geholt. Für einen Moment waren alle Gedanken an die Schulden und sein Scheitern wie weggeblasen, und die Welt lag ihm zu Füßen. Gleichzeitig schlurfte die Handtaschenbesitzerin durch den Schnee auf ihn zu.

»Das war ziemlich mutig von Ihnen, vielen Dank.« Sie konstatierte das sehr nüchtern, fast als wäre er ihr den eben geleisteten Dienst schuldig gewesen.

»Gern geschehen. Mit etwas Glück überlegt er es sich in Zukunft zweimal, ob er so etwas macht.«

Er hielt ihr die Handtasche hin, und sie zögerte einen Augenblick, bevor sie danach griff. Sie schien erwartet zu haben, dass er selbst sie von seinem Stock nahm und ihr offiziell überreichte. Unter der Kapuze ihres unförmigen Mantels erblickte er ein schmales, fast ausgemergeltes Gesicht mit dünner Nase und fliehendem Kinn. Einige graue Haare hingen ihr in die Stirn, und ein paar weitere hatten sich an ihrer Oberlippe angesiedelt.

»Sind Sie verletzt?« Er wusste aus eigener, bitterer Erfahrung, wie teuer man manchmal für einen Sturz bezahlte.

»Nein, gar nicht. Wegen des Schnees, wissen Sie.« Es klang, als hätte er sie genötigt, etwas ganz Offensichtliches zu erläutern. Nun begann sie, in ihrer Handtasche herumzuwühlen. »Ich sollte Ihnen wirklich etwas geben.«

So sehr Knight das Geld auch brauchen konnte, kränkte es ihn zugleich, dass sie seine Heldentat mit schnödem Mammon würdigen wollte.

»Nein, ich bitte Sie, das würde ich ja nicht im Traum erwarten!«

»Ach, Unsinn! Viel können Sie mit dem Prospektaustragen nicht verdienen.«

Die Werbeflyer waren als sichtbarer Beweis seines sozialen Abstiegs über die ganze Straße verstreut.

»Ach wissen Sie …« Er überlegte fieberhaft, wie er seine Tätigkeit in ein schmeichelhafteres Licht rücken könnte. »Ich bin für einen Freund eingesprungen, der heute nicht wegkonnte.«

»Egal, trotzdem …«, antwortete sie in wegwerfendem Ton, als spiele es gar keine Rolle, ob sie ihm glaubte. Sie öffnete eine abgegriffene Brieftasche. »Wären zwei Pfund in Ordnung?«

Knight war sprachlos. War sie vielleicht nicht ganz richtig im Kopf? Einerseits schien sie wie nicht von dieser Welt und andererseits davon auszugehen, dass diese sich nur um sie drehte. Knight machte eine höflich-abwehrende Geste, obwohl es letztlich das einzige Geld war, das er heute verdienen würde.

»Tatsächlich bin ich Privatdetektiv«, erklärte er. »Ich observiere diese Straße für einen Klienten, und das Austragen der Prospekte dient meiner Tarnung. Darf ich mich vorstellen: Tom Knight.«

Er streckte ihr seine Hand entgegen, und wieder zögerte sie, als wolle man ihr an der Fischtheke schlechte Ware andrehen.

»Clementine Lever. Die Künstlerin.« Als müsste er sie kennen.

Er bot ihr den Arm, und zusammen gingen sie zurück zu ihrem Nissan. Sympathisch war sie ihm nicht. Ihm zwei Pfund anzubieten war geradezu bizarr, und der nun folgende Vortrag über die Künstlerszene hier an der Küste, die sie angeblich gegründet hatte, wurde sehr schnell sehr langweilig. Nicht dass Knight dringend über sich selbst reden wollte, aber ihre Selbstbeweihräucherung verlieh ihr eine eher negative Ausstrahlung.

Am Auto angelangt, bot sie ihm nicht an, ihn mitzunehmen. Knight hätte auch nicht gewollt, er würde zu seinen Prospekten zurückkehren und von dem Tag retten, was zu retten war.

Nun musterte sie ihn prüfend von oben bis unten und zog wieder ihre Brieftasche hervor. Knight beschloss, dass er das Geld diesmal annehmen würde, doch statt der zwei Pfund hielt sie ihm eine Visitenkarte hin.

»Eventuell hätte ich Arbeit für Sie«, sagte sie, als würde sie ihm eine seltene Gnade erweisen. »Vielleicht rufen Sie mich einmal an?«

Merv machte sich Sorgen um Knight. Das neue Knie war definitiv ein Fortschritt, aber der alte Teufelskerl übertrieb es damit, und früher oder später würde er es wieder demolieren. Und dann war da noch der Vorfall in der Bibliothek: Knight hatte seine Schmerz- und Schlaftabletten verwechselt und mehrere Stunden geschlafen, während sein Handy stumm geschaltet war und Merv die ganze Stadt nach ihm abgesucht hatte. Wenigstens war es warm in der Bibliothek, vermutlich der Hauptgrund, warum Knight überhaupt dorthin gegangen war.

Natürlich wusste Merv, dass Knight pleite war. Das Problem war nur, dass er nicht darüber reden wollte. Immer wenn Merv eine Bemerkung über Knights leeren Kühlschrank machte, bekam er einen Vortrag über die Lebensmittelverschwendung im Lande. Wenn Merv auf die Kälte in Knights Wohnung hinwies, erklärte der ihm, dass Zentralheizungen die Bevölkerung verweichlicht hatten. Er wusste, dass das Knight beim besten Willen selbst nicht glaubte – angeblich waren Computerspiele dafür verantwortlich.

Das größere Problem war die unausgesprochene Annahme, dass in ihrer Freundschaft Knight es war, der das Sagen hatte, was darauf zurückging, wie sie sich kennengelernt hatten. Knight hatte ihn damals vor einer Gefängnisstrafe bewahrt, indem er gegen Detective Constable Bullock aussagte, der auf dem Parkplatz einer Kneipe mit Merv eine Schlägerei angefangen hatte und unterlegen war. Ob es nun daran lag, dass Merv in Knights Schuld stand, oder daran, dass Knight der Ältere war oder dass von den beiden Ex-Soldaten Knight Offizier gewesen war und Merv es nie weiter als bis zum Unteroffizier gebracht hatte – in jedem Fall war das der Ton, der gesetzt war und sich zwischen ihnen etabliert hatte. Als Knights gelegentlicher Assistent und Komplize konnte er das auch akzeptieren, nicht jedoch in der jetzigen Situation, und darin bestand die Schwierigkeit: Denn es war mehr als offenkundig, dass man Knight an die Hand nehmen musste, aber auch, dass dieser sich von Merv nicht sagen lassen würde, was er zu tun hatte.

Aber nun war Merv eine Möglichkeit eingefallen, ihm zu helfen – wenn der alte Herr es denn zuließ. Auf der Werkbank in der Hütte seines Schrebergartens stand ein Hummerfangkorb – na gut, im Prinzip handelte es sich um eine Plastikkiste und ein Stück Kaninchendraht, aber das Teil funktionierte, und er war stolz darauf. Jedenfalls hatte ihm dieser Korb, und einige andere, in den letzten Monaten ein bescheidenes steuerfreies Einkommen beschert, und zwar nur, weil das Sozialamt seinen Freund Charlie Fleece wegen Sozialbetrugs ins Gefängnis geschickt hatte. Das Unheil hatte seinen Lauf genommen, als Charlies Windhund auf der Hunderennbahn ausgebüxt war. Charlie, den man durchaus als Sportfanatiker bezeichnen konnte, hatte das Tier mit einer Leichtigkeit wieder eingefangen, die jedem deutlich jüngeren Mann die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Dummerweise hatte der Prüfer, der wegen Charlies Antrag auf Mobilitätsbeihilfe nachforschte, den Vorfall auf Video aufgenommen.

Merv billigte Sozialbetrug keineswegs – das war für ihn etwas völlig anderes als Steuerhinterziehung. Sozialbetrug stellte einen auf eine Stufe mit all den Schnorrern und Nichtstuern. Wer dagegen sein eigenes Geld nicht rausrücken wollte, hinderte allenfalls den Staat daran, es für irgendwelchen Blödsinn auszugeben. Einerseits hatte Charlie bei Merv beträchtlich an Ansehen eingebüßt. Andererseits hielt er ihm zugute, dass Charlie ihm während seiner Abwesenheit sein Fünf-Meter-Kajütboot überließ, das in Sovereign Harbour lag. Und nun wollte Merv Knight den Job als Steuermann anbieten. Ein solcher war zwar nicht unbedingt notwendig, denn Merv hatte an Bord schon oft allein gearbeitet, und genau genommen war ihm das auch lieber so. Aber er konnte behaupten, dass er jemanden brauchte, der dafür sorgte, dass das Boot nicht abdriftete, während er die Hummerkörbe hochzog und herunterließ. Das würde Knight garantiert hinbekommen, und da für den nächsten Tag ruhige See vorausgesagt war, bestand auch nicht die Gefahr, dass er ins Wasser fiel. Aber der alte Knacker hatte seinen Stolz, und es machte keinen Sinn, ihn mitzuschleppen, wenn er hinterher das Geld nicht annahm.

Knight presste den Teebeutel mit einem Löffel so lange aus, bis das Wasser in seiner Tasse ein fahles Gelb annahm. Für Merv hatte er einen frischen Beutel vorgesehen, um zu vermeiden, dass dieser wieder Fragen nach seinem Wohlergehen stellte. Merv, das hatte Knight schon festgestellt, hatte eine Neigung zum Glucken, und Knight wiederum hasste die Vorstellung, irgendwem zur Last zu fallen. Es war seine eigene Schuld, dass er in der Tinte saß, und er würde seinen Freund auf keinen Fall einladen, sich dazuzusetzen.

Die Tinte war außerdem über Nacht noch dicker geworden. Per Brief forderte die Hausverwaltung von ihm 20.000 Pfund für ein neues Dach und die Renovierung der Fassade. Alles in allem hatte er nun etwas über 50.000 Pfund Schulden. Schon während seiner früheren Tätigkeit im Bereich Industriespionage wäre das ein ganz schöner Brocken, aber über die Aufnahme weiterer Kredite wohl zu stemmen gewesen. Doch diese Option fiel jetzt weg. Er hatte sämtliche Kreditlinien ausgeschöpft, und seine Gläubiger wurden langsam unruhig. Andererseits, so schien ihm, waren 50.000 Pfund doch auch irgendwie Peanuts, für einen jungen Londoner Börsenmakler bestenfalls ein kümmerlicher Bonus. Umso erniedrigender, dass sie für ihn völlig jenseits des Erreichbaren lagen.

Gegen derartige Gewalten war sein neuer Job nichts als ein Tropfen Pisse auf den heißen Stein. Doch zumindest konnte er sich so an die Vorstellung klammern, dass sich schon irgendetwas ergeben würde, und das wiederum hielt ihn davon ab, ständig über seine Wohnung zu grübeln. Es ergab sich immer etwas – das war in der Vergangenheit so gewesen, also warum nicht jetzt wieder? Wie zur Bestätigung läutete es, was ihn daran erinnerte, dass Merv sich mit einem Joint bei ihm eingeladen hatte.

Merv war erleichtert, dass Knight sich zumindest nicht gehen ließ. Ein paar Kleidungsstücke und etwas schmutziges Geschirr waren über die Wohnung verteilt, mehr als genug, um bei einer Barackeninspektion durchzufallen, aber nach den üblichen männlichen Maßstäben ging das Appartement als aufgeräumt durch. Die Heizung hingegen war immer noch ausgeschaltet, weswegen es drinnen fast so kalt war wie draußen, wo es etwa drei Grad plus hatte. Er fragte sich, ob Knight den Armeemantel auch im Bett trug.

»Bisschen frisch hier drin. Willst du ein Leichenschauhaus aufmachen?«

Knight brummte etwas Unverbindliches. Sie saßen am Couchtisch, Merv auf dem alten Sofa gegenüber dem abgenutzten Ledersessel. Wenigstens hatte Knight noch nicht angefangen, seine Möbel zu verkaufen. Merv hatte ein paar Dosen Eintopf und Suppe im Rucksack, die er in den Küchenschrank schmuggeln würde, wenn Knight nicht hinsah.

»Und, wie läuft es mit den Prospekten?«

»Ach das … damit mache ich erst mal ein bisschen Pause. Warte auf besseres Wetter.«

Merv zerkrümelte das Gras. Er hatte die Pflanzen in seinem Schuppen gezogen, versteckt in einer Mülltonne, unter einer Lampe, die über ein Solarpanel auf dem Dach mit Strom versorgt wurde. Leider würde das für eine Weile ihr letzter Joint sein. Irgendein Mistkerl hatte ihm das Solarpanel gestohlen und ihn damit wieder einmal in seiner Ansicht bestätigt, dass die Welt ein gottloser Ort war. Manchmal fragte Merv sich, ob er Knight wirklich einen Gefallen damit tat, sein Dope mit ihm zu teilen, oder ob es vielleicht dessen Urteilskraft eintrübte, doch andererseits: Welche andere Freude hatte der Ärmste denn noch? Um den Flyerjob fand er es nicht schade, auch wenn das bedeutete, dass Knight nun noch weniger Geld hatte.

»Gut so, Kumpel, bei dem Sauwetter will man wirklich nicht vor die Tür. Kümmere dich mal hierum, während ich Wasser aufsetze.«

Knight wollte eigentlich nicht, dass Merv einen Blick in den Kühlschrank warf, aber der war schon aufgesprungen, und nun, da er den brennenden Joint in der Hand hielt, schien es ihm nicht der Mühe wert hinterherzulaufen. Er spürte die vertraute Schärfe im Hals, als der Rauch in seine Lungen strömte, und überlegte, ob er Merv von dem Job erzählen sollte.

Währenddessen schmuggelte Merv die Konservendosen in den Schrank, wo bereits eine trostlose Mischung aus Bohnen und Linsen zwischen ein paar Kartoffeln lagerte. Als er den Kühlschrank öffnete, um die Milch herauszuholen, packte ihn das blanke Entsetzen: Neben einem Stück Cheddar von Aldi und einer Tüte Möhren befand sich darin nur eine karge Auswahl an angebrochenen Konservengläsern und Wurststummeln in Frischhaltefolie, bei denen, so fürchtete er, das Haltbarkeitsdatum größtenteils bereits abgelaufen war – Selbstkasteiung der härtesten Sorte, aber Knight machte ja nie halbe Sachen.

»Bisschen wie bei einem Hungerkünstler«, bemerkte er so nebenbei.

Das Gras hatte Knight bereits Appetit gemacht, und vor seinem geistigen Auge erschien der Kühlschrank in seiner Glanzzeit, als er mit Lachs, Schinken und Oliven vollgepackt war – davon war ihm nur eine blasse Erinnerung geblieben. »Ja, ja, ich weiß, ich hatte keine Zeit, einkaufen zu gehen.«

»Bist du sicher, dass du genug isst?« Kaum hatte er sie ausgesprochen, bereute Merv seine Worte bereits. Er klang wie ein Sozialarbeiter, und die waren seiner Erfahrung nach nicht viel besser als die Polizei. Er sah, wie Knights Miene sich verfinsterte.

»Es geht mir ausgezeichnet, danke der Nachfrage. Willst du nun etwas hiervon oder nicht?«

Merv kam aus der Küche und nahm den Joint. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Knight Handstulpen trug.

»Ich will dir einen Vorschlag machen. Könnte ein schöner kleiner Verdienst sein, jetzt, wo du mit den Flyern aufgehört hast.«

Knight ließ ihn ausreden. Er hatte nichts gegen eine kleine Seefahrt einzuwenden, sah aber sofort, dass die Tätigkeit, die Merv ihm anbot, überflüssig war. Nicht nur, dass er keine Almosen annehmen wollte, er fühlte sich auch unwohl bei dem Rollenwechsel. Lag es daran, dass sie wie Offizier und einfacher Soldat waren, dass er in der Vorstellung gefangen war, die Führungsrolle in ihrer Freundschaft übernehmen zu müssen? Jedenfalls war er froh, dass er eine gute Ausrede hatte, um Mervs Angebot auszuschlagen.

»Das ist wirklich sehr nett von dir«, formulierte er es diplomatisch. »Aber ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, wie ich dir da von Nutzen sein könnte. Abgesehen davon habe ich einen neuen Auftrag.«

Merv war begeistert. Endlich war es so weit, Knight schien die Kurve zu kriegen. Er war auch ein wenig erleichtert, dass er sich auf dem Boot nicht noch um ihn kümmern musste. »Das ist ja großartig, Kumpel! Ich wusste ja, dass das Geschäft wieder in Gang kommen würde. Was ist es denn, eine Observation?«

»Nicht direkt, nur eine Kleinigkeit für eine Frau, die ich kürzlich kennengelernt habe.«

Merv grinste. »Du steigst jetzt also ins Gigolo-Geschäft ein, oder was?«

»Darüber haben wir nicht geredet, und ich bin nicht sicher, ob sie sich meinen Stundensatz leisten könnte. Sie ist nämlich Künstlerin.«

Merv wartete kurz. »Okay, dann erzähl mal, was machst du denn für sie?«

Knight war unentschlossen gewesen, ob er Merv davon erzählen sollte, doch jetzt schien es ihm schwieriger, es nicht zu tun. »Sie hat mich gefragt, ob ich für sie Modell stehe.«

Kurz war es ganz still.

»Modell? Du meinst – ausziehen?«

»Ja.«

Diese Neuigkeit sorgte bei Merv in Zusammenwirken mit dem Gras für einen der seltenen Glücksmomente. Er fing an zu lachen. »Du verarschst mich doch, Kumpel. Du sollst dich vor ihr splitternackt ausziehen, und sie bezahlt dich dafür? Warum das denn?«

»Vermutlich, weil sie in mir eine Schönheit sieht, die du nie zu schätzen wüsstest.«

Merv jubilierte innerlich angesichts dieser ungeheuerlichen Vorstellung. Dass es kein neuer Fall war, war ihm gleichgültig, entscheidend war, was es bedeutete: dass Knight wieder zu seiner alten Form zurückfand und damit die alten Zeiten wieder auflebten. Weniger gut gefiel ihm, was Knight als Nächstes sagte, weswegen er erneut hinterfragte, ob es wirklich klug war, ihm Marihuana zu verabreichen.

»Weißt du, was deinen Vorschlag betrifft: Mir gefällt die Idee mit dem Steuermann, aber natürlich nicht gegen Geld. Wann, sagtest du, wolltest du los?«

2

Die Adrenaline Rush sah eher aus wie ein Spielzeugschiffchen für die Badewanne, das Steuerhaus nicht größer als ein Wachhäuschen und das beengte Achterdeck den Elementen ausgeliefert. Benannt war es nach Charlie Fleeces lange betrauertem Lieblingswindhund, dessen gedopte Gewinne die Anschaffung des Boots überhaupt erst ermöglicht hatten. Nicht im Entferntesten so schnell und wendig wie ihr Namensgeber, kam die Adrenaline Rush zumindest mit der sanften Dünung gut zurecht. Knight saß in einer etwas zu eng über seinem Mantel zusammengeschnürten Schwimmweste auf der eingebauten Bank und genoss das stetige Auf und Ab durch die flachen Wellen. Sie waren etwa eineinhalb Kilometer von der Küste entfernt.

Seinem bevorstehenden Treffen mit Clementine Lever sah er mit gemischten Gefühlen entgegen. Dank seiner Erfahrungen in der Armee war er alles andere als verklemmt, und verglichen mit dem Austragen von Prospekten konnte man mit dem Job deutlich effektiver ein paar Pfund verdienen. Doch die Tatsache, dass er in Gegenwart einer Frau nackt sein würde, die weder seine Liebhaberin noch seine Ärztin war, förderte eine Frustration zutage, die er in der Regel lieber verdrängte. Seit über drei Jahren hatte er keinen Sex mehr gehabt, und inzwischen zweifelte er daran, dass er je wieder welchen haben würde.

Seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dann war Fran in sein Leben getreten, in die er sich kurz verliebt hatte, möglicherweise ein wenig zu obsessiv. Fran war deutlich jünger, ein Jungspund von fünfundfünfzig gegen seine dreiundsiebzig. Ihre kurze Beziehung hatte ihn aus seinem erotischen Schlummer gerissen, jedoch nur, um seine Hoffnungen schnell und vor allem unerfüllt wieder zu zerstören.

Clementine Lever dagegen war für ihn kein Objekt der Begierde. Er konnte sie nicht als unfreundlich bezeichnen, aber sie strahlte eine spröde Kälte und eine Hochnäsigkeit aus, die ihre Gesellschaft nicht gerade zu einem Vergnügen machten. Obendrein war sie geizig. Die fünf Pfund pro Stunde, hatte er herausgefunden, lagen weit unter dem üblichen Honorar für Modelle, vom Mindestlohn ganz zu schweigen. Umgerechnet waren sie sogar noch weniger als das Almosen, das sie ihm für die Rückeroberung ihrer Handtasche geboten hatte. Aber als Bettler durfte man nicht wählerisch sein.

Merv kam aus dem Steuerhaus. »Okay, du bist dran.«

Sie näherten sich drei Plastikkanistern, die Merv mithilfe von betongefüllten Eimern im Abstand von etwa sechs Metern am Meeresboden verankert hatte. Zwischen ihnen hatte er knapp unter der Wasseroberfläche das Tau gespannt, an dem die Hummerkörbe befestigt waren. Knight nahm Mervs ausgestreckte Hand zu Hilfe, um aufzustehen, und tastete sich dann vorsichtig zum Steuer. Abgesehen von einem einige Hundert Meter entfernten Fischerboot steuerbord war er alleiniger Herr über das ganze zu überblickende Gebiet.

Merv hatte ihm bereits gezeigt, was er tun sollte. Es ging schlicht darum, Steuer und Gashebel so zu justieren, dass das Boot an Ort und Stelle blieb, während Merv das Tau mit dem Bootshaken hochzog und die Käfige herausholte. Die Trockenübung an der Tonne im Hafen hatte er mit Bravour gemeistert.

Auf hoher See war die Aufgabe allerdings anspruchsvoller. Merv erwischte ohne Schwierigkeit das Tau, aber angesichts der entgegenkommenden Wellen übertrieb es Knight ein wenig mit dem Gas, und das Boot machte einen Satz nach vorne. Merv fluchte, als ihm das Tau wieder wegrutschte.

Knight legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Seine Geschicklichkeit beim Einparken hatte in letzter Zeit stark nachgelassen, wovon immer mehr Kratzer und Dellen in seinem Auto zeugten. Hier schien es nicht besser zu laufen. Er gab wieder zu viel Gas und drehte das Steuer zu weit, sodass der Bug auf die Bojen zeigte, während das Boot sich weiter rückwärts bewegte. Bildete er sich das nur ein, oder war der Seegang stärker geworden?

»Verdammt noch mal, was treibt der denn da?«, brüllte Merv.

Knight dachte zuerst, dass Mervs Wut ihm galt, bis er sich umdrehte und sah, dass das Fischerboot direkt auf sie zusteuerte und dabei eine mächtige Bugwelle vor sich herschob. Es war etwa dreimal so groß wie die Adrenaline Rush und verfügte über eine beeindruckende Menge an Masten und Winden. Ein stämmiger, rotgesichtiger Mann in einem blutbefleckten Overall stützte sich am Vorderdeck auf die Reling.

»Du bist in meinem Gebiet«, brüllte er. Das Boot war keine fünfzig Meter mehr entfernt und kam in hohem Tempo noch näher. Die Adrenaline Rush stampfte heftig, weswegen sich Knight ans Steuer klammerte und es dadurch noch weiter herumriss. Merv schrie ihn an, er solle den Motor abstellen. Mit deutlich mehr Geschicklichkeit, als Knight sie an den Tag gelegt hatte, wurde das Fischerboot längsseits gebracht, wo es bedrohlich über ihnen aufragte. Aus dem Steuerhaus grinste ein junger Mann herab, der Merv lässig den Mittelfinger zeigte; ein weiterer hatte sich zum Kapitän an die Reling gesellt. Letzterer beschimpfte Merv in derben Worten, weil er in sein Gebiet eingedrungen und seine Hummer gestohlen habe. Merv gab ihm nach Kräften Contra und wies korrekterweise darauf hin, dass er berechtigt sei, wo immer er wolle, drei Hummer pro Tag zu fangen, ohne jedoch zu erwähnen, dass es gelegentlich bis zu zehn gewesen waren.

»Du glaubst also, hier draußen hast du irgendwelche Rechte?«, schnauzte der Kapitän. Er musste Mitte sechzig sein, und sein Gesicht zeigte nun eine ungesunde Röte. Für seinen Blutdruck war es nicht ungefährlich, als »ignorantes Arschloch« bezeichnet zu werden, schon gar nicht in Gegenwart seiner Söhne, weswegen er dem im Steuerhaus etwas zurief.

Das Fischerboot versetzte seinem kümmerlichen Gegner mit dem Bug seitlich einen Stoß, der zwar keinen sichtbaren Schaden anrichtete, aber Merv in die Knie gehen ließ. Knight klammerte sich am Steuer fest, als das kleine Boot wild schaukelnd von den Bojen wegtrieb. Merv kroch ins Steuerhaus, wo es ihm gelang, den Motor wieder anzuwerfen und die Adrenaline Rush von ihrem Peiniger wegzusteuern. Der Kapitän zeigte ein finsteres Grinsen. Mit seiner Gesichtsfarbe und dem Fischblut auf dem Overall sah er wie ein furchterregender roter Teufel aus.

»Wenn ich euch zwei Idioten hier draußen noch mal erwische, dann versenke ich euch. Also verpisst euch und lasst euch nicht mehr blicken.«

Aber er war noch nicht fertig. Nachdem die Adrenaline Rush sich auf einen Sicherheitsabstand zurückgezogen hatte, schnappte er sich einen Bootshaken und hob Mervs Leine hoch, sodass die Hummerfallen an die Oberfläche kamen. Der jüngere Mann zog daran und holte die Fallen an Bord.

Aufgebracht angesichts dieses offensichtlichen Akts der Piraterie, griff Merv nach dem Steuer und wollte auf das Fischerboot zufahren, von dem aus man gerade seinen zweiten Käfig konfiszierte. Knight, der seine Absicht durchschaute, riss das Steuer zurück.

»Spinnst du? Wir können es mit den dreien nicht aufnehmen!«

»Wollen wir wetten? Schau mal!«

Die beiden lieferten sich einen bizarren Kampf um das Steuer, der am Anfang sogar ausgeglichen war, da Knight für einen Mann seines Alters einen erstaunlich kräftigen Oberkörper hatte. Aber natürlich war ihm auch klar, dass er als Erster schlappmachen würde.

»Verdammt noch mal, Merv, wer, glaubst du wohl, wird zuerst sinken, wenn du sie rammst?«

»Es ist mein Boot, also lass das Scheißsteuer los!«

Knight verlor die Geduld. »Merv, jetzt sei kein Idiot und schalte dein Gehirn ein!«

Die letzten Wörter brüllte er so laut, dass ihm die Luft wegblieb. Sie schienen jedoch in jenen Bereich von Mervs Psyche vorzudringen, der immer noch auf den Kasernenhofton ansprach. Er ließ das Steuer los. »Na gut«, sagte er kurz darauf trotzig. »Was schlägst du vor?«

»Ich weiß es nicht.«

Ihr Feind hielt nun einen Seilschneider in der Hand, und sein Sohn hielt die Leine hoch, die die Bojen miteinander verband, und durchtrennte sie. Sie versank, und die Kanister schwammen davon, um in die riesige internationale Plastikmüllgesellschaft aufgenommen zu werden, die durch den Ärmelkanal trieb.

Merv sah grollend zu, wie sich das Fischerboot weiter Richtung offenes Meer entfernte.

»Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe«, sagte Knight leise. »Ich hatte heute nur keine Lust auf Schwimmen.«

Merv antwortete nicht. So einen Ton hatte Knight ihm gegenüber noch nie angeschlagen, und auch wenn er natürlich recht hatte, wie er jetzt einsah, hatte Knight ihn an einem wunden Punkt getroffen: In ihm saß die Furcht vor und das Misstrauen gegen Autoritäten tief, weswegen er es nie weiter als bis zum Unteroffizier gebracht hatte.

Mervs Groll hing in der Luft wie dicker Nebel, und Knight suchte fieberhaft nach etwas Tröstlichem, obwohl gute Ideen im Augenblick Mangelware waren. »Wir könnten zur Polizei gehen«, war genau genommen seine einzige.

Merv schnaubte verächtlich. »Ja, klar, Aussage gegen Aussage, ich weiß schon, was dabei rauskommt. Wir wissen ja nicht mal, wie ihr verdammtes Boot heißt.«

Knight nahm sein Fernglas und blickte durch die Scheibe des Steuerhauses. Am Heck konnte man »King of Sussex« lesen, aber dann sah er plötzlich etwas Oranges im Meer aufblitzen und gleich darauf noch etwas. Hinter dem Boot verliefen auf einer Länge von etwa 200 Metern Markierungsbojen.

»Ich glaube, er hat seine Käfige da draußen.«

Er reichte Merv das Fernglas. Die King of Sussex näherte sich dem entfernten Ende der Markierungen und drosselte das Tempo. Merv, immer noch schäumend vor Wut, wusste sofort, was er zu tun hatte. »Die hol ich mir.«

Es war leichtsinnig, aber nicht selbstmörderisch, und Knight war bewusst, dass er Merv schon genug getriezt hatte. Auch er selbst ärgerte sich über die Demütigung durch die Fischer, und es schien ihm feige, sie auf sich sitzen zu lassen. »Ich sehe keinen Grund, es nicht zu versuchen. Wir müssen nur schnell sein.«

Merv steuerte auf das andere Ende der Markierungsbojen zu. Die Crew der King of Sussex achtete anfangs gar nicht auf sie, so sehr war sie damit beschäftigt, ihre Hummerfallen rauszuhieven. Diesmal lieferte Knight am Steuer eine Glanzleistung ab. Er hielt das Boot auf der Stelle, während Merv den ersten Käfig hereinholte und bereits den zweiten hochzog. Erst da begriffen die Fischer, was vorging. Sie hatten zwar gesehen, welchen Kurs Merv nahm, waren aber im Traum nicht auf die Idee gekommen, dass er so verrückt sein könnte, sich ihren Fang zu holen. Bis sie die Winde hochgezogen hatten, raste der Dieb schon mit Vollgas auf Sovereign Harbour zu.

Schnelligkeit war genauso wenig die Stärke der King of Sussex wie die ihrer Gegner. Als die sich auf etwa fünfzig Meter genähert hatte, waren sie nur noch gute 500 Meter vom Ufer entfernt, im Blickfeld des Kontrollturms und einer Handvoll Leuten am Strand, die ihre Hunde ausführten. Steuermann Knight entspannte sich ein bisschen. Dass die Fischer sie vor Publikum rammen würden, schien ihm eher unwahrscheinlich.

Hinter ihm war Merv damit beschäftigt, die Insassen der Fallen in einen flachen Korb umzusetzen. Die Fallen warf er ins Meer. Falls Dritte involviert würden, gäbe es keine Beweise, nur die Aussage von zwei gegen drei Beteiligten. Knight glaubte gar nicht, dass es so weit kommen würde. So wie er ihre Verfolger einschätzte, regelten die ihre Probleme lieber auf der persönlichen Ebene. Es überraschte ihn daher nicht, dass das Fischerboot die Richtung wechselte, statt ihnen weiter zur Hafenschleuse zu folgen. Er ahnte jedoch auch, dass die Sache damit noch nicht ausgestanden war.

3

Sovereign Harbour war an einem ausgedehnten, dicht bewachsenen Ufer gebaut worden, früher die Heimat von Seevögeln und seltenen Wildblumen. Die Anlage befand sich im Osten des Stadtzentrums und bestand aus vier miteinander verbundenen Hafenbecken, die von Häusern und Wohnblocks umgeben waren. Mit seinen Kettenrestaurants und der Nähe zu einem Einkaufszentrum verströmte Sovereign Harbour sicher nicht den Glamour von Saint-Tropez oder Monte-Carlo, aber die Bewohner, überwiegend Rentner, Mieter und Zweitwohnungsbesitzer, wussten es zu schätzen, dass sie dort Meeresambiente ohne die damit häufig einhergehenden Unannehmlichkeiten bekamen. Dass viele dort nur phasenweise wohnten, garantierte überdies eine gewisse Anonymität: Man konnte kommen und gehen, ohne allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die Becken waren vom Außenhafen durch eine Schleuse getrennt, die von einem Kontrolltower direkt darüber bedient wurde und immer zur halben und vollen Stunde öffnete. Da die Adrenaline Rush den richtigen Zeitpunkt verpasst hatte, wartete sie im Schutz der Außenhafenmauer.

Was Knights Adrenalinspiegel betraf, war der längst wieder gesunken. Es war zwar erst Vormittag, doch er war seit sechs Uhr auf den Beinen, und das unfreiwillige Scharmützel hatte ihn erschöpft – er taugte definitiv nicht für die Marine. Außerdem verspürte er Heißhunger.

Er sah dabei zu, wie Merv dicke Gummibänder über die Scheren seiner Beute zog. Die ergatterten Fallen hatten nicht weniger als acht Hummer enthalten, die nun in ihrem Korb nichtsahnend ihrem Schicksal entgegenzappelten. Indem Merv die Griffe seines Spezialwerkzeugs zusammendrückte, wurde das Gummiband gedehnt und konnte über die Hummerschere gezogen werden. Er positionierte es an der richtigen Stelle und zog das Werkzeug dann in einer geschickten Bewegung wieder herunter.

Neben dem Korb lag die letzte von Mervs selbst gebauten Hummerfallen. Das simple Prinzip bestand in einem Tunnel aus Kaninchendraht, durch den der Hummer zum Köder krabbeln und ihn verspeisen konnte, dann aber nicht mehr herausfand. So wurde der unglückselige Esser selbst zum Bestandteil der Nahrungskette. Auch wenn Knight angesichts ihrer unerfreulichen Lage durchaus ein gewisses Mitleid verspürte, hätte er den einen oder anderen mit Freuden auf der Stelle verspeist, wenn denn eine Kochgelegenheit vorhanden gewesen wäre.

»Willst du es auch mal versuchen?«, fragte Merv.

Knight griff nach dem Werkzeug und wählte einen Hummer aus. Da er keine Handschuhe trug, war es ein wenig ungünstig, dass er ausgerechnet ein überraschend kampfeslustiges Exemplar erwischte. Mit drei Pfund war der Hummer seinem Gegner zwar gewichtsmäßig unterlegen, schnappte und zappelte aber so heftig, dass Knight mit dem Instrument nur schwer zielen konnte.

»Ganz schön dreistes Miststück – soll ich?«

»Nein, danke, das schaffe ich schon.« Knight klang so selbstsicher, dass Merv sich zurücklehnte und ihm zuschaute.

Knight setzte den Hummer ab und griff ungeschickt nach seiner rechten Schere, mit der das Tier ihn prompt kräftig in die Fingerspitze zwickte. Knight griff wieder zu, verärgert, dass seine Reflexe sich denen des Tiers als unterlegen erwiesen. Doch der Hummer, offensichtlich ein Rechtsausleger, erwischte ihn mit einem Überraschungsangriff von links und klammerte sich fest. Merv wollte eingreifen, doch Knight winkte ab. »Ich sag doch, ich komme zurecht.«

»Du kommst eben nicht zurecht, der beißt dir gleich deinen verdammten Finger ab!«

Wäre der Hummer nur ein wenig größer gewesen, hätte er das bestimmt getan. Tatsächlich war der Schmerz beträchtlich, als die Scheren seinen Finger zusammenquetschten wie eine Schraubzwinge.

»Verflucht noch mal, nimm die Zange!«

Knight schob die Backen des Werkzeugs in die Schere des Hummers und presste die Griffe zusammen, um sie aufzustemmen. Sein Finger blutete. Ohne lange nachzudenken, schlug er das Tier gegen den Bootsrumpf. Vorübergehend benommen, ließ die Wachsamkeit des Hummers nach, sodass Knight das Gummiband anbringen konnte. Bei der zweiten Schere leistete er keinerlei Widerstand mehr.

»Sehr gut, doch noch geschafft. Jetzt zeig mal deine Wunde.«

»Das ist doch nur ein Kratzer, da ist nicht mal was zu sehen.«

»Hast du dann Lust, gleich noch einen zu übernehmen?«

Der Witz kam nicht gut an. Knight hatte genug. Er wollte raus aus dem Boot und rein in sein Bett. Während Merv sich um den restlichen Fang kümmerte, inspizierte er seinen Finger. Die Haut war aufgeplatzt, und aus der offenen Wunde kamen ein paar Tropfen Blut. In Sachen Panzerung war ihm der Hummer haushoch überlegen, aber letztlich war der Ausgang des Kampfes unabwendbar. Erst verwirrt von der Konstruktion der Falle, dann wild um sich schlagend, weil man es der ungewohnten Helligkeit der Überwasserwelt aussetzte – das Tier hatte schlicht kein Chance. Knight neigte nicht zu Sentimentalität, aber der Appetit war ihm vergangen.

Als sich die Schleuse knirschend öffnete, konnte die Adrenaline Rush in den Innenhafen fahren. Vor ihnen und auf beiden Seiten lagen die drei anderen Becken. Man erreichte sie jeweils durch einen kurzen Kanal, über den sich eine Zugbrücke spannte. Ihr Ziel war das rechte Becken, der Nordhafen, und dazu mussten sie etwa ein halbes Dutzend Piers mit ankernden Booten passieren.

Die Wolken hatten sich verzogen, und die aufgereihten Motor- und Segeljachten glänzten weiß in der Wintersonne. Die meisten waren deutlich größer als Mervs kleines Gefährt, und vor Knights geistigem Auge erschien eine Welt selbstzufriedenen Wohlstands, die in verstörendem Gegensatz zu seiner eigenen stand. Zumindest sorgte seine Vermutung, dass er die Torturen nun fast hinter sich hatte, für Erleichterung, die allerdings nur eine Minute anhielt.

»Verdammt, wo kommen die denn her?«

Auf der Brücke zwischen den zwei Becken warteten der wütende Kapitän und seine jungen Schergen. Nach der Verfolgungsjagd hatten Knight und Merv die King of Sussex nicht mehr gesehen, und einen anderen Zugang zu diesem Hafenbecken gab es nicht. Knight fiel nun ein, dass an dem Strand, der sich auf halber Strecke zum Stadtzentrum befand, ein paar Fischerboote lagen. In der Zeit, in der die Adrenaline Rush auf die Öffnung der Schleuse gewartet hatte, hatten die drei dort leicht ankern und hierher fahren können.

Merv stoppte am Ende des mittleren Piers. Die Wut, die sie beide in die Schlacht getrieben hatte, war auch bei ihm längst verraucht, und wie Knight sehnte er nur noch das Ende dieses Vormittags herbei. Knight spähte durch die Scheibe des Steuerhauses. Einer der drei winkte ihnen ironisch zu.

»Sie können uns nicht viel tun, hier sind überall Kameras.« Knights Hinweis konnte Mervs Stimmung nur geringfügig heben. Mit den zahllosen Überwachungskameras an den Gebäuden entlang der Kais konnte man praktisch jeden Winkel der Marina ausleuchten.

»Schon, aber irgendwas werden sie tun. Sie sind schließlich nicht gekommen, um zu sagen, hey, tut uns echt total leid, dass wir eure Hummer geklaut haben, behaltet dafür unsere. Die wollen definitiv Ärger machen.«

Knight versetzte sich in deren Lage. Während Merv und er in dem Wettkampf ein achtbares Unentschieden für sich reklamieren konnten, war für die Fischer die Entwendung ihres Fangs ein Affront, den sie auf keinen Fall auf sich sitzen lassen konnten. »Die wollen die Hummer. Mit uns zweien werden sie sich nicht groß anlegen müssen, und selbst wenn, dann können sie behaupten, dass sie nur ihr Eigentum zurückhaben wollten. Dann steht wieder Aussage gegen Aussage.«

Für Merv klang das logisch. Er hätte es gerne jedem von ihnen einzeln gezeigt, vielleicht auch zweien auf einmal, aber er hatte keine Lust auf eine Schlägerei, und Knight wollte er nicht in Gefahr bringen. »Also was nun, sollen wir sie ihnen kampflos überlassen?« Allein die Vorstellung brachte ihn wieder in Rage.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber wenn du an diesem Pier wieder zurückfährst, kann ich aussteigen, ohne dass sie mich sehen.«

Die Boote lagen auf beiden Seiten des Piers. Merv fuhr an der den Männern abgewandten Seite zurück, die Sicht wurde durch einen ganzen Wald von Schiffsrümpfen und Masten blockiert. Auf halber Strecke lag eine Schaluppe, die nur wenige Zentimeter weiter aus dem Wasser ragte als die Adrenaline Rush.

Knight stand auf der Bank hinter dem Steuerhaus, in gleicher Höhe wie das Vordeck des anderen Bootes, dem sie sich näherten. Es war nicht leicht gewesen, Merv von dem Wagnis zu überzeugen, aber das Wasser hier im Becken war noch ruhiger als außerhalb des Hafens. Außerdem war er ebenso entschlossen wie sein Freund, ihren Fang keinesfalls diesem Pack zu überlassen, das sie dort auf der Brücke erwartete. Vom stark gedrosselten Motor an Ort und Stelle gehalten, stupste das Heck ihres Bootes gegen das offene Vordeck der Schaluppe, wo Merv bereitstand, um ihn aufzufangen, sollte er stolpern. Er musste nur einen Schritt von einem leicht schaukelnden Deck zum nächsten machen, und zwar in dem Moment, wenn es sich senkte. Er sprang zu spät ab und bekam den vollen Aufwärtsschub ab, sodass er in Mervs Arme stolperte – aber er hatte es geschafft. Genauso gelangte er auf den Pier, wo Merv ihm den Korb mit den Hummern gab und wieder in sein Steuerhaus zurückkehrte.

Im Schutz der Boote wollte Knight den Übergang zum Kai erreichen und warten, bis die Männer Merv zu seinem Liegeplatz folgten. Mit einem flotten Marsch an der Beckenseite würde er dann sicher zum Parkplatz gelangen. Am Ende des Piers lugte er um einen Bootsrumpf und konnte sie in dem Wust aus Masten und Aufbauten gerade noch erkennen. Die drei beobachteten, wie die Adrenaline Rush langsam auf sie zufuhr. Die Brücke wurde hochgezogen.

Knight schlüpfte an der Lücke vorbei zum nächsten Pier und wartete neben einer großen Motorjacht. Sie war ihm schon bei der Ausfahrt ins Auge gestochen, eine dreißig Meter lange Sunseeker mit drei Decks und einer extravaganten stromlinienförmigen Silhouette. Sie hieß Mamma Mia, ein angemessen vulgärer Name, wie er fand. Die Adrenaline Rush passierte nun die Brücke, und die Männer folgten ihr. Er hatte freie Bahn zum Parkplatz.

Es war ziemlich unbequem, den Korb zu halten und den Stock dabei unter den Arm zu klemmen, aber der Kai war schneegeräumt, und er kam flott voran. Nicht zum ersten Mal pries er die Arbeit seiner Chirurgen.

Am nächsten Übergang machte er kurz halt, um sich umzusehen. Das war auch gut so, denn einer der jüngeren Männer hatte kehrtgemacht und entfernte sich von der Brücke, nachdem das Trio Knights Fehlen offensichtlich bemerkt hatte. Zu spät ging ihm die Schwachstelle seines hastig gefassten Plans auf.

Er drehte sich um und flüchtete, ohne genau zu wissen, wohin. Jeden Augenblick würde der Mann um die Ecke biegen und ihn sehen. Direkt vor ihm lag die offene Plattform am Achterdeck der Sunseeker, auf gleicher Höhe mit dem Kai. Ohne einen Blick zurück ging er an Bord.

Vor ihm führte eine schmale Treppe hinauf zum Hauptdeck, wo er in Sicherheit wäre. Er nahm jede Stufe einzeln und hielt den Korb so vorsichtig, als würde er einer Geliebten ein überladenes Frühstückstablett ans Bett bringen. Erst oben wagte er einen Blick über die Schulter. Sein Verfolger auf dem Kai starrte nach links und rechts und brauchte nur hochzusehen, um ihn zu entdecken. Die Tür zum Salon stand offen.

Ein cremefarbenes Kalbsledersofa schlängelte sich an der einen Wandseite entlang, gegenüber stand eine exquisit bestückte Bar. Dahinter befanden sich ein Esstisch aus schwarzem Marmor und ein Dutzend mit silberfarbenem Leinen bezogene Stühle. Die getönten Scheiben dämpften das Sonnenlicht von draußen, und die Beleuchtung tauchte alles in einen weichen Schimmer, der einem Nachtklub würdig gewesen wäre. Einen Moment lang vergaß Knight seinen Verfolger. Es war, als wäre er in der Abbildung eines Klatschmagazins gelandet, und fast erwartete er, dass irgendein geistloser Prominenter ihm von der Bar aus zuprosten würde.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die indignierte Stimme ertönte hinter dem Esstisch. Ein großer, schlanker Mann Mitte fünfzig in einem sehr hellen Poloshirt starrte ihn misstrauisch an.

Knight war klar, dass er hier so lange wie möglich bleiben musste. »Sind Sie der Herr, der die Hummer bestellt hat?«, fragte er liebenswürdig. Er trat vor, stellte den Korb auf dem Esstisch ab und nahm das Tuch herunter. Der Anblick wäre in jedem Ambiente beeindruckend gewesen, doch nirgends passte er besser als hier – die Hummer waren die ideale Requisite, um dieses perfekte Bild oligarchischen Luxus zu vervollkommnen.

Der Mann entspannte sich. »Das muss ein Irrtum sein. Tut mir leid, alter Knabe. Für wen, sagten Sie, sollen die sein?«

»Hopkins«, seufzte Knight. »Das sind also nicht Sie?«

»Nein, tut mir leid. Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.«

Trotz eines gewissen Bedauerns im Ton des Mannes wusste Knight, dass es Zeit war zu gehen. Er könnte noch fragen, ob er die Toilette benutzen durfte, aber dann müsste er noch mehr Treppen steigen. Stattdessen nahm er die Kiste und ging so langsam wie möglich zurück zur Tür. Wenn er zum Sofa kam, würde er einen Schwindelanfall bekommen, den er nötigenfalls auf eine halbe Stunde ausdehnen konnte.

»Warten Sie!« Der Mann kam ihm ganz von alleine zu Hilfe. Offensichtlich hatte sich sein Misstrauen in Luft aufgelöst. »Lassen Sie mich noch mal sehen.« Mit dem Blick eines Mannes, der immer bekam, was er wollte, zog er das Tuch vom Korb und musterte den schimmernden Inhalt noch einmal. »Was kosten die zusammen?«

Knight schätzte sie insgesamt auf fünfzehn Pfund, konnte sich aber nicht erinnern, wann und was er zuletzt für einen Hummer bezahlt hatte. »Ich glaube 120«, antwortete er, »aber ich sollte sie schon besser Mr. Hopkins liefern.«

»Wissen Sie was, ich zahle 150. Was sagen Sie nun?«

Knight konnte kaum glauben, dass das Glück ausnahmsweise einmal ihm lachte, und steckte die Scheine ein.

Der Kai draußen war leer, aber selbst wenn sie ihn jetzt fanden, war da keine Kiste mehr, die sie ihm wegnehmen konnten, und ihn unter den Überwachungskameras zusammenzuschlagen würden sie nicht wagen. Als er die Brücke überquerte, sah er, wie Merv vom letzten Becken auf ihn zukam. Die Fischer liefen hinter ihm her und überzogen ihn mit Drohungen und Beschimpfungen, die er klugerweise ignorierte. Erfüllt von einem ganz ungewohnten Wohlwollen den nutzlosen Reichen gegenüber, lief Knight ungestört hinüber zum Parkplatz.

4

Die sanft ansteigenden Felder hatten sich in die geisterhaften Dünen einer weißen Wüste verwandelt. Es tanzten immer noch ein paar Flocken, letzte Nachzügler eines Schneesturms, der in der Nacht durchgezogen war. Knight war im Schneckentempo auf der nicht gestreuten Landstraße unterwegs, die er zu seiner Erleichterung für sich allein hatte.

Ein Tag Ruhe und eine kleine Feier mit Merv hatten, was seine Zuversicht betraf, Wunder gewirkt. Merv hatte darauf bestanden, dass er die Hälfte des Geldes nahm, weswegen er über fürstliche fünfundsiebzig Pfund verfügte, wenn auch fünfzig gleich fürs Benzin draufgegangen waren. Morgen kam die Armeepension, die sein Kreditkartenminus ausgleichen würde. Auf Strohhalme wie diesen baute er seine ganze Hoffnung, während er die Abzweigung nach Hillside Grange suchte.

Clementine Lever wohnte an einem Weg, der von der Straße auf einen unbebauten Hang zuführte. Hier waren noch keine Autos vorbeigekommen, der Schnee lag mehrere Zentimeter hoch; er würde also laufen müssen. Sein Bein war von der Operation noch immer etwas steif, sodass er geschlagene fünf Minuten brauchte, um seine Gummistiefel anzuziehen. Dass er das überhaupt konnte, war allerdings schon ein Segen, noch vor ein paar Wochen hätte er es alleine gar nicht geschafft. Beseelt vom Gefühl eines Neuanfangs ließ er den Skoda an der Abzweigung stehen und marschierte los.

Hillside Grange, das nach etwa fünfzig Metern vor ihm auftauchte, entsprach ganz und gar nicht seinen Erwartungen. Levers Auftreten hatte eher an etwas Pompöses im gotischen Stil denken lassen, nicht an die Bruchbude, vor der er jetzt stand. Es war ein bescheidenes Landarbeiter-Cottage, an dem der Immobilienboom, der in Südengland ausgebrochen war, irgendwie vorbeigegangen war. Schon aus der Entfernung konnte er erkennen, dass die Fensterrahmen morsch waren und das Mauerwerk zerbröselte. Es mochte an einem Sommertag einen gewissen pittoresken Charme ausstrahlen, aber ohne den Schutz der Bäume vor dem verschneiten Hügel sah es schlicht trostlos aus.

Von der Eingangstür blätterte die Farbe. Widerstrebend griff er nach dem antiken Türklopfer, einem Fisch aus Messing. Als niemand öffnete, war er schon versucht, sich davonzustehlen, ging dann aber doch um das Gebäude herum. An der Seite befand sich eine weitere Tür und ein Fenster, durch das er eine schäbige Küche mit einer Ausstattung aus den Siebzigern sehen konnte.

»Ach, hier sind Sie. Ich habe mich schon gefragt, wo Sie bleiben.«

Knight fuhr herum. Die Künstlerin blickte missbilligend auf ihre Armbanduhr, obwohl er nur fünf Minuten zu spät war. Sie trug wieder den gleichen unförmigen Mantel, nur hatte sie die Kapuze nicht auf. Ein dicker grauer Zopf fiel ihr auf die Schulter. Knight nahm an, dass sie hineingehen würden, doch stattdessen führte sie ihn hinter das Häuschen, wo ein rostiger Blechschuppen angebaut war.

»Das Atelier ist vom Haupthaus getrennt«, erklärte sie knapp. »Sie können Ihre Kleider hinter dem Paravent ablegen. Ich rufe Sie dann, wenn ich so weit bin.« Keine freundliche Begrüßung, vom Angebot einer Tasse Tee ganz zu schweigen.

Er folgte ihr durch das Chaos farbverschmierter Tische, Regale und Kisten zu einem ramponierten chinesischen Wandschirm. Erst jetzt, als er begann sich auszuziehen, dämmerte ihm langsam, worauf er sich da eingelassen hatte. Natürlich hatte er eingewilligt, weil er dringend Geld brauchte, doch auch sein Draufgängertum hatte eine gewisse Rolle gespielt, oder die Annahme, sein Körper hätte Bewunderung hervorgerufen. Warum sonst sollte ihn jemand als Ausgangsmaterial für ein Kunstwerk auswählen? Doch als er seine Kleidungsstücke ablegte und zusammengefaltet auf einem Stuhlrücken deponierte, fühlte es sich überhaupt nicht mehr so an. Aus der Art, wie sie mit ihm sprach, aus ihrer hochmütigen Gleichgültigkeit konnte er schließen, dass sie ihn als reines Objekt betrachtete, mit einem Blick, den er als kalt und sogar ein wenig bedrohlich empfand.

Abgesehen davon war es eiskalt in dem Schuppen. Er reckte seinen Kopf hinter dem Paravent hervor. »Mrs. Lever?«

»Miss Lever, bitte. Sind Sie schon fertig?« Sie war damit beschäftigt, Papier an einer Staffelei zu befestigen, und sah gar nicht hoch.

»Noch nicht ganz. Ich wollte fragen, ob es hier drinnen eine Heizung gibt. Es ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen, aber es ist ziemlich kalt.«

Er schien sie zu enttäuschen. »Wenn es sein muss. Das verursacht ziemliche Kosten.«

Unwillig ging sie zu einem verbeulten Gasofen, der irgendwo in dem Durcheinander versteckt war, und drehte an diversen Knöpfen, bis er ansprang, allerdings auf der niedrigsten Stufe.

»Sind Sie jetzt so weit?«

Im Sitzen zupfte Knight mithilfe seines Stocks die Unterhose von seinen Füßen und stand auf: Showtime! Er trat hinter dem Paravent hervor, wobei er seinen Stock mehr als moralische denn als orthopädische Stütze gebrauchte.

»Dort hinüber«, wies sie ihn an.

Ein schmuddeliges weißes Laken hing an Drähten von der Decke. Davor stand ein billiges Kunstledersofa im fortgeschrittenen Zustand des Verfalls. Die Polsterung war zerfetzt und schimmelte teilweise bereits, an einer Seite stand eine Feder heraus. Selbst in Anbetracht seiner bisherigen Eindrücke stellte es einen erschreckenden Tiefpunkt dar.

»Soll ich mich da draufsetzen?«, fragte er empört.

Wieder sah sie ihn enttäuscht an. »Ich habe es mir extra besorgt«, erklärte sie. »Es geht um eine Serie von Arbeiten über Verwesung und Tod.«

An den verschiedenen Regalen und Schränken klebten Skizzen von moderndem Laub, einer Mistkugel und den Knochen eines toten Tieres.

»Sie, Mr. Knight, sollen das mittlere bis späte Stadium symbolisieren«, erklärte sie weiter. »Der Schimmel ist noch einen Schritt weiter, er ist zum Teil schon abgestorben. Könnten Sie den Kopf auf der Lehne ablegen, nach links in meine Richtung, und das äußere Bein auf den Boden stellen? Den Stock brauche ich nicht.«

Wenigstens erwartete sie nicht, dass er sich auf die herausstehende Feder setzte. Er legte den Stock neben dem Sofa ab und brachte sich in Positur, wobei er zusammenzuckte, als das kalte Kunstleder seine nackte Haut berührte.

Sie sah ihn missbilligend an. »Sie tragen noch Ihre Socken.«

»Es dauert ziemlich lange, sie auszuziehen, und der Boden hier ist feucht. Ich dachte nicht, dass das eine Rolle spielt.«

»Natürlich spielt das eine Rolle. Können Sie sie wirklich nicht ausziehen?«

»Doch, aber das dauert ein paar Minuten, und Sie hatten es ja anscheinend eilig.« Es war ihm nur recht, dass die Gereiztheit in seiner Stimme deutlich herauszuhören war.

Mit einem ungeduldigen Seufzen kam sie zu ihm herüber. Als er sich hinunterbeugte, um die erste Socke auszuziehen, schob sie seine Hände weg und machte es selbst, wobei sie ostentativ einen Blickkontakt vermied. Ihr Zopf baumelte nach vorne und streifte seine Wade, wie eine Schlange, die überlegt, wie sie sich am besten einen Ast hochschlängeln soll. Am Ende standen struppige Haarsträhnen heraus. Auch als sie sich der zweiten Socke zuwandte, würdigte sie dem Rest seines Körpers keines Blickes. Er war nicht sicher, ob er erleichtert oder beleidigt sein sollte.

»Na also.« Zu seiner Überraschung lächelte sie oder versuchte es zumindest, ein kurzes Zucken ihrer schmalen Lippen, ohne Beteiligung der Augen. Hinter ihrer kalten Fassade entdeckte er plötzlich eine Nervosität, die sie bisher noch nicht gezeigt hatte. Vielleicht lag es letztlich daran, dass er nackt vor ihr saß. Sie kehrte zu ihrem Hocker zurück und musterte ihn kritisch über ihren Bleistift hinweg.

»Könnten Sie das Bein nach innen beugen und Ihren Kopf auf der Lehne seitlich drehen, sodass Sie zum Oberlicht hinaufsehen?«

Es war eine extrem unbequeme Pose. Seinen Hals hatten sie bei der Reha außen vor gelassen, und so fiel es ihm schwer, ihn so weit zu drehen, wie sie es wünschte. In dieser unbehaglichen Streckung lag er nun da, seine Genitalien vor Kälte bis zur Unsichtbarkeit zusammengeschrumpft, sah den Schneeflocken beim Fallen zu und überlegte, welche Ausdauer sie ihm wohl abverlangen würde.

»Sie sind also Detektiv?«

Knight war zwar nicht in der Stimmung für Small Talk, aber wenn sie schon erstmals Interesse an ihm äußerte …

»Ja, und früher habe ich im Bereich Wirtschaftsspionage gearbeitet, und davor war ich bei der Armee.«

Sie nickte, schien aber nicht sonderlich beeindruckt. »Sind Sie nicht ein bisschen alt für einen Detektiv?«

Das saß. Er würde ihr bestimmt nicht verraten, dass er sich den Ruhestand gar nicht leisten konnte, dass er jahrelang von der Hand in den Mund gelebt hatte. Er war nicht sicher, ob sie ihm die Geschichte mit den Flyern glaubte.

»Ich möchte nicht aus der Übung kommen. Ich bin immer noch ausgesprochen gut darin, ich mag meine Arbeit. Vielleicht so, wie Sie weiter malen.« Er hoffte, dass sie nun den Mund halten würde.

»Aber verfolgen Sie wirklich irgendwelche Leute, ohne dass die das merken?« Aus ihrem Mund klang es ziemlich lächerlich. »Gibt es so etwas nicht nur im Fernsehen?«

»Doch, natürlich tue ich das, das gehört zum Job.« Er schnauzte sie zwar nicht direkt an, gab sich aber keine Mühe, seine Verärgerung zu verbergen. Aus dem Augenwinkel sah er wieder ihr Lächeln, wieder dieses nervöse Zucken.

»Aber wie machen Sie das? Das muss doch höchst spannend sein.« Sie klang nun fast ein wenig zerknirscht.

Sein Blick verlor sich in den fallenden Flocken, während er wahllos ein paar Anekdoten aus seiner Spionagetätigkeit zum Besten gab. Nun, da sie ein wenig aufzutauen schien, verflog auch sein Ärger, ja, er spürte sogar einen Hauch Mitleid mit ihr. Nicht nur, dass sie allein lebte, jedenfalls soweit er das beurteilen konnte, vielleicht sogar in noch bescheideneren Verhältnissen als er selbst. Es war auch schlicht nicht zu leugnen, wie unattraktiv sie aussah. Das schmale Gesicht, das fliehende Kinn, die hängenden Schultern. Ihre Figur war schwerer zu beurteilen, und es drängte ihn auch nicht danach, aber selbst wenn man berücksichtigte, wie dick der Mantel war, schien ihr Körper plump und schwerfällig. Doch umgehend bereute er seine Überlegungen. War für ihn ein Minimum körperlicher Attraktivität tatsächlich die Voraussetzung dafür, die Gegenwart einer Frau zu tolerieren? Wenn man solche Maßstäbe an ihn anlegte, was blieb ihm dann noch für Hoffnung? Sein unbequem auf dem Sofa ausgespreizter Körper war auch kein paradiesischer Anblick. Sein Bauch hatte nach Monaten der Untätigkeit Fett angesetzt, und dann seine bleiche Winterhaut mit den diversen unansehnlichen Narben – er war auch kein Augenschmaus. Was seine Gedanken wieder auf sein Liebesleben lenkte: Wäre es nicht klüger, einen Schlussstrich darunter zu ziehen und sich anderen Dingen zuzuwenden? Es gab Momente, in denen auch eine Kapitulation keine Schande war.

»Das muss großartig sein«, sagte sie gerade, »irgendwo zu sein und zu wissen, dass die Person, die man beobachtet, einen nicht sehen kann. Das ist ja, als wäre man unsichtbar.«

Da er ihr nun etwas mehr Nachsicht entgegenbrachte, spulte er weitere Informationshäppchen herunter: Verkleidung, Tarnung, Fluchtwege. Normalerweise hätte er seine mühsam erworbenen Kompetenzen keinem Fremden preisgegeben, aber sie war ja doch nur eine arglose Exzentrikerin und einsam obendrein. Warum sollte er sie nicht ein bisschen unterhalten?

Sie arbeitete noch etwa eine halbe Stunde weiter, stellte währenddessen ein paar Fragen zu seinen Fällen und arrangierte seine Körperteile mit der gleichen nüchternen Effizienz wie bisher. Zumindest gelang es ihr, ihm dabei in die Augen zu sehen und ihr zuckendes Lächeln zu zeigen. Schließlich sagte sie ihm, dass er sich wieder anziehen könne. Ihr Werk bestätigte seinen Pessimismus, den Zustand seines Körpers betreffend. Die Ausführung war gar nicht übel, der Stil möglicherweise an Francis Bacon oder Lucian Freud angelehnt. Sein Leib sah darauf aus, als wäre er in das Sofa hineingewachsen und darüber hinweggewuchert, als hätte er sich zusammen mit dem Schimmel ausgebreitet. Am furchtbarsten war, dass sie ihn mit geschlossenen Augen darstellte – er sah aus wie tot.

»Ich denke, ich habe Sie recht gut getroffen«, konstatierte sie fröhlich. »Sie möchten doch sicher einen Tee?«

Die Möbel in ihrem winzigen Wohnzimmer waren abgewetzt, aber im Vergleich zum Schuppen eine deutliche Verbesserung. Während sie Tee kochte, betrachtete er die Bilder an der Wand, darunter mehrere männliche Akte, die beträchtlich schmeichelhafter waren als seiner. Alle trugen deutlich sichtbar ihre Signatur. Dazwischen prangten Diplome und Preise, die den flachen Verlauf ihrer Karriere von der St. Martin’s School of Art zur unbekannten Künstlerin dokumentierten. Sie wirkten wie Reliquien, unerlässliche Requisiten, um die Illusion aufrechtzuerhalten, die sie brauchte, um weiterzumachen.