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Deutschland gleicht einer Gründerzeitvilla: Die Fassade steht noch, aber überall zeigen sich tiefe Risse. Der Amerikaner Christopher Reiter und der Brite William Wilkes wohnen und arbeiten seit Jahren in Deutschland: Gerade weil sie es lieben, können sie ihm die harte Diagnose nicht ersparen: Deutschland ist nicht mehr der Hort der Stabilität, wie viele meinen, überzeugende Antworten auf die großen Herausforderungen in den Bereichen Energie, Infrastruktur und Geopolitik fehlen, Deutschland lebt von der Substanz. Das wird nicht mehr lange gut gehen und auch die nächste Bundestagswahl prägen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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www.piper.de
Aus dem Englischen von Oliver Lingner
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel Broken Republik: The Inside Story of Germany’s Descent into Crisis bei Bloomsbury, London
© Chris Reiter and Will Wilkes, 2025
© der deutschsprachigen Ausgabe 2025:
Piper Verlag GmbH, München
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: sb-borg / iStock und eloleo / stock.adobe.com
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Cover & Impressum
Einleitung: Ausländer rein
Wills Geschichte
Chris’ Geschichte
Deutsche Missstände
1 Das Haus verfällt
Eine kurze Bestandsaufnahme der Baustellen
2 Das verhätschelte Kind
Der beschützende Onkel
Die Sünden des Vaters
Geschwisterrivalität
Mutti
3 Entlarvte Mythen
Der Mythos der Effizienz
Der Mythos der Umsichtigkeit
Der Mythos der progressiven Nation
Der Mythos der klaren moralischen Haltung
4 Geborstene Rohre
Tiefes Unbehagen
Faustischer Pakt
Grüne Triebe
Asche zu Asche
5 Geplatzter Boiler
Sonnenuntergang im Autoland
Die Fließbänder kommen zum Stillstand
Nichts in Sicht am Horizont
6 Verfall der Nachbarschaft
Risse im Straßenbelag
Wackelige Brücke
Ende der Fahnenstange
7 Die zerbrochene Leiter
Offensichtlicher Erbe
Harte Decke
Leere Versprechen
8 Das Haus ist gespalten
Falsche Freunde
Zielscheibe
Tag X
9 Angst und Isolation
»Sie« sind ein Problem
Kulturkampf
Die Tore schließen
10 Flickwerk
Reparieren und neu beginnen
Habitat für Heimat
Digitales Bockspringen
Alle Kraft dem Volk
Zusammen feiern!
Schlussbemerkungen: Ein Haus für alle
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir, was in der Welt, wie das, was in unserem eigenen Innern vorgeht, und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein.«
Hannah Arendt[1]
Keiner der Autoren wurde in Deutschland geboren. Aus verschiedenen Gründen entschieden wir uns jedoch beide, hier sesshaft zu werden, eine Familie zu gründen und Kinder großzuziehen. Wir sind mehr als nur Passanten oder externe Beobachter. Wir sind ein aktiver Teil der deutschen Gesellschaft und haben uns mit allem herumgeschlagen, was damit einhergeht – von Schulanmeldungen und Steuererklärungen bis zum Einkaufen und Pendeln.
Als Journalisten haben wir aber tiefere und umfassendere Einblicke in das Land bekommen als der durchschnittliche Einwanderer oder sogar manch Einheimischer. Über die Jahre haben wir mit Spitzenpolitikern, Industriebossen und Fließbandarbeitern gesprochen. Wir waren bei Demonstrationen, Besprechungen im Hinterzimmer und Unternehmenseröffnungen (beziehungsweise in letzter Zeit vermehrt Unternehmensschließungen) dabei. Wir standen im Regen, als Wolfgang Porsche seine Niederlage gegen seinen Cousin Ferdinand Piëch im großen Machtkampf um die Kontrolle über Volkswagen bekannt gab; wir haben mit Überlebenden von rechtsextremen Amokläufen gesprochen und an Wahlabenden bange auf die Ergebnisse gewartet.
Zusätzlich zu den Erfahrungen, die wir durch Recherche und Berichterstattung in Deutschland gesammelt haben, können wir das Land auch aus der Perspektive eines Amerikaners und eines Engländers betrachten. Unsere Heimatländer haben schon seit Jahren mit gesellschaftlicher Spaltung und einem allgemeinen Niedergang zu kämpfen. Deutschland scheint das nun auch bevorzustehen. Das Scheitern der Koalition von Olaf Scholz nur wenige Stunden nach der Wiederwahl von Donald Trump war eine eindringliche Warnung, wie fragil und unberechenbar Deutschland geworden ist.
Ehrlich gesagt, als wir anfänglich die Idee hatten, ein Buch zu schreiben, lag der Schwerpunkt auf der versteckten Krise hinter Deutschlands trügerischer Stabilität. Aber die Fragilität des Landes ist inzwischen offen zutage getreten. Eine Krise jagt die nächste, wodurch gravierende Probleme offenbar werden, aber das Land reagiert darauf nur zögerlich und halbherzig und scheint nicht bereit, neue Wege gehen zu wollen. Dafür ist eine typisch deutsche Furcht vor Veränderungen verantwortlich, aber auch eine Arroganz, die sich nach Jahrzehnten des Erfolgs eingestellt hat.
In diesem Buch wollen wir den vielen verschiedenen Problemen auf den Grund gehen, denen Deutschland gegenübersteht. Das Ziel ist dabei nicht, unsere Wahlheimat schlechtzureden, sondern existierende Probleme in einem größeren Kontext zu betrachten und womöglich Denkanstöße für Verbesserungen zu geben. Letzten Endes reflektiert dieses Buch auch den derzeitigen Zustand der westlichen Welt vor dem Hintergrund der zunehmend prekären Lage überall auf unserem Planeten. Das in der Geschichte der Menschheit unaufhaltsame Streben nach größeren Freiheiten scheint mehr und mehr der Vergangenheit anzugehören. Wenn es in Deutschland Rückschritte geben kann, dann auch in jedem anderen Land. Aber wie das deutsche Sprichwort sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wir glauben, dass unser neues Heimatland noch immer dazu fähig ist, einem deutschen Trump oder einem Abstieg in den Chauvinismus, wie er dem Brexit vorausging, zu entgehen; aber dafür muss Deutschland neue Wege beschreiten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Ich, Will Wilkes, war 1989 gerade alt genug, um mich heute noch an die Übertragung des Mauerfalls in den 18-Uhr-Nachrichten der BBC erinnern zu können. Wie bei vielen britischen Kindern waren meine ersten Eindrücke von Deutschland die verblüffenden Fahrkünste von Michael Schumacher und die brutale Effizienz deutscher Elfmeterschüsse. Auch deutsche Technik ist mir schon seit der Kindheit vertraut. In der Garage meines Elternhauses türmten sich Teile und Anleitungen für verschiedene Volkswagen-Modelle, darunter ein neuer Motor für einen ersteigerten verbeulten Polo, der dann auf dem Weg nach Hause liegen geblieben war. Geschichten vom Krieg spielten in unserer Familie ebenfalls eine Rolle: von Verwandten, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht heimgekehrt waren, und von Luftschutzbunkern und Lebensmittelrationierungen im Zweiten Weltkrieg.
Mein erster echter Kontakt mit Deutschland und den Deutschen fand im Rahmen eines Schulausflugs nach Nordrhein-Westfalen statt. In diesem Bundesland bestaunten wir Wunder, die damals in Nordengland noch rar waren, wie elektrifizierte Bahnstrecken und eine Industrie, die diese Bezeichnung auch verdient hatte. Die Deutschen fand ich insgesamt witzig und sympathisch. Die Warnungen meiner Großmutter, dass man ihnen nicht trauen könne, schienen mir ungerechtfertigt. Ihr Urteil war sicherlich geprägt von angstvollen Stunden im Morrison-Schutzraum, einer Art Stahlkäfig zum Schutz vor den Angriffen der deutschen Luftwaffe.
Ich wollte schon immer Journalist werden. Mit 17 Jahren konnte ich dann zum ersten Mal eine Nachrichtenredaktion von innen erleben: die der Westfälischen Rundschau, einer Regionalzeitung für Südwestfalen und Teile des Ruhrgebiets. Später unterrichtete ich als Englischlehrer Kinder und Chemiearbeiter in Dormagen, einer Industriestadt südlich von Düsseldorf. Mittlerweile wohne ich in Frankfurt/M., aber der ausgedehnte Rhein-Ruhr-Ballungsraum weckt in mir immer noch Heimatgefühle, besonders wenn ich die bahnbrechende Musik von Kraftwerk höre oder der Zug über den Rhein rattert und der Kölner Dom vor mir aufragt.
Die deutsche Kultur hat ebenfalls ihre Spuren bei mir hinterlassen – von der elektronischen Musik der 1970er-Jahre oder Ellen Allien über die faszinierenden Bilder von Otto Dix oder Jeanne Mammen bis zu den vielschichtigen Schriften von W. G. Sebald hat das Land sehr kreative Kunst hervorgebracht, die man in einem Menschenleben nicht ausloten kann. Außerdem habe ich das Glück, regelmäßig im Land herumreisen zu können, und bin entzückt von den Städten, Dörfern und Landschaften. Vom Sonnenaufgang über der Berliner Oberbaumbrücke bis zu den luftigen Gipfeln der Berchtesgadener Alpen, vom Nachtleben in Leipzig-Connewitz bis zu den steilen Weinberghängen am Oberrhein (wenn auch die Erinnerung an sie vom Riesling vernebelt ist) gehören die deutschen Städte und Naturlandschaften zu den ergreifendsten in Europa, einem an Schätzen reichen Kontinent. Auch die Jahreszeiten haben ihre besonderen Reize – während der Herbst in meiner ursprünglichen Heimat England eher schläfrig wirkt, wenn der Abend dämmert, ist diese Jahreszeit in Deutschland erfüllt von klaren Tagen, an denen die Luft vor Energie vibriert. Auch die Sommer sind länger, in denen selbst unser hektischer Wohnort Frankfurt sich beruhigt.
Als überzeugter Germanophiler studierte ich schließlich Deutsch und Italienisch in London, wonach ich dort sieben Jahre lang als Journalist arbeitete und regelmäßig nach Berlin, München und Frankfurt reiste, um über die Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 in Europa zu berichten. Nach zehn Jahren in London hatte ich genug von der wachsenden Ungleichheit und den beengten Wohnverhältnissen und verlegte Ende 2015 meinen Wohnsitz nach Deutschland, bevor in meinem Heimatland der Brexit-Albtraum losging. Kurz darauf lernte ich meine Frau kennen, eine Italienerin, mit der ich mittlerweile zwei Kinder habe – beide haben Babybodys von Eintracht Frankfurt erhalten, wie alle Kinder, die dort in städtischen Krankenhäusern geboren werden.
Unsere älteste Tochter besucht einen deutschen Kindergarten und bringt uns mit ihrem akzentfreien Deutsch in Verlegenheit. Von ihr haben wir deutsche Kinderreime gelernt, zum Beispiel den über eine Maus, die vor einem Ausflug durch das Weltall sorgfältig ihren Koffer packt. Auch Batterien und ein Mikrofon dürfen nicht fehlen – eine Einführung in die deutsche Neigung zu akribischer Planung. Da meine Frau und ich schon seit acht Jahren hier leben, hat unser jüngstes Kind gemäß dem deutschen Einbürgerungsrecht neben der britischen und der italienischen automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Die Sprache spricht sie noch nicht perfekt, sie kennt aber schon die Schaukeln und Rutschen auf den sorgsam gepflegten Spielplätzen. Es wäre elterliche Übergriffigkeit, unseren Kindern meine eigenen nationalen oder kulturellen Vorlieben aufzuzwingen, und es ist gut möglich, dass sie sich als Erwachsene vorwiegend als Deutsche fühlen werden.
Mein Beruf führt mich in alle Ecken der Bundesrepublik, um mit Politikern, Wirtschaftsbossen, Gewerkschaftsführern und Arbeitern zu sprechen. Ich weiche nicht nur Industrierobotern im wohlhabenderen Süden des Landes aus, sondern besuche auch regelmäßig ostdeutsche Bergbauregionen wie die Lausitz, die von starker Deindustrialisierung geprägt sind und zu Hochburgen der Alternative für Deutschland (AfD) wurden. Auch im Ruhrgebiet und im Saarland bin ich öfters zu Gast.
Briten beeindruckt in Deutschland in besonderem Maße, dass hier gewöhnliche Berufe Millionen von Menschen einen angemessenen Lebensstandard sichern. Bis vor einigen Jahren noch war hierzulande eine andere Einstellung gegenüber Habenichtsen und ein sozialer Zusammenhalt spürbar, der zu Hause in England weitgehend fehlt. Als ich 2015 nach Deutschland umsiedelte, setzte die deutsche Zivilgesellschaft Himmel und Erde in Bewegung, um 1,5 Millionen Flüchtlinge willkommen zu heißen und zu integrieren. Mein eigenes Land geriet schon wegen einiger Tausend Migranten in Panik, die mit Booten in Dover ankamen.
Dennoch sind die neuerdings auf Deutschland angestimmten Lobeshymnen irritierend, und die Deutschen selbst widersetzen sich wohlweislich diesem Trend. Insbesondere die berühmte deutsche Stabilität bröckelt seit Jahren und scheint zunehmend bedroht zu sein. Von den Arbeitern, die in den glühend heißen Stahlwerken im Ruhrgebiet schuften, bis zu den Führungskräften der Automobilindustrie, die von den Hightech-Unternehmen im Süden Deutschlands aus globale Imperien leiten – sie alle plagen wachsende Sorgen über die deutschen Zukunftsaussichten. Abseits der anglofonen Bars in den hippen Bezirken Berlins beschäftigt Lokalpolitiker, Gewerkschaftsführer und einfache Bürger die bange Frage, wie die Wirtschaft in Zukunft den im internationalen Vergleich großzügigen Sozialstaat finanzieren soll. Die soziale Ungleichheit wächst, und insbesondere im Osten regt sich spürbarer Unmut. Gleichzeitig fällt Neuzuwanderern die Integration schwer, da die Gesellschaft ihnen mit Argwohn und Verachtung begegnet.
Insbesondere der Aufstieg der AfD wirkt wie der Vorbote eines politischen Erdbebens – zwar in anderer Form, aber von ähnlichem Ausmaß wie der Brexit. Beobachter konzentrieren sich vorwiegend auf steigende und fallende Umfragewerte, aber der entscheidende Punkt ist, dass sich die Rechten in Deutschland wieder als große politische Kraft in der Parteienlandschaft etabliert haben und die einst stabile Mitte schwächen. Deutschland wird oft als das einzige Land angesehen, das wirklich aus seiner Geschichte gelernt hat, aber die Übernahme rechtsextremer Argumente durch Mainstream-Politiker hat den Glauben an die angebliche deutsche Einzigartigkeit erschüttert.
Für mich, Chris Reiter, war Deutschland schon seit meiner Geburt in einem wohlsituierten Vorort von Chicago ein Teil meines Lebens. Mein Vater – der starb, während Will und ich dieses Buch schrieben – wurde in Österreich geboren, als das Land dem Dritten Reich angehörte. Mein Großvater war wenige Monate nach dem »Anschluss« 1938 der NSDAP beigetreten. Er war in der Nähe der österreichisch-ungarischen Grenze stationiert, als er meine Großmutter mit dem wunderbaren deutschen Namen Gisela kennenlernte.
Nach Kriegsende war meine Familie wegen der Mitgliedschaft in der NSDAP in Österreich unerwünscht. So flohen meine Großmutter, mein Vater und seine zwei Geschwister nachts über die wieder errichtete Grenze und ließen sich in einem Dorf am Ufer des Walchensees nieder. Mein Großvater – der mir als strenger, ernster Mann in einem dunklen Holzhaus in Erinnerung ist – war in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Er war von Beruf Fischer gewesen und hatte sich von der Uniform, dem Machtgefühl und der sinnstiftenden Ideologie der Nazis ködern lassen. Aus seiner Militärakte ging hervor, dass er SS-Offizier war (mit dem Rang eines Rottenführers) und dass er und meine Großmutter versichern mussten, an die nationalsozialistische Sache zu glauben, um heiraten zu können. Ihre Abstammung wurde erfasst, und ihre körperlichen Merkmale wie Schädelgröße und Körperproportionen wurden gemessen, um ihre »rassische Reinheit« zu bestimmen.
Der Legende nach war es meinem Großvater gelungen, aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in Nowosibirsk nach Bulgarien zu fliehen. Von dort lief er zu Fuß quer durch Osteuropa, um seine Not leidende Familie in Süddeutschland zu suchen. Es waren harte Zeiten, und mein Vater erzählte mir, dass er im Wald Nesseln und andere essbare Pflanzen gesammelt hatte, um zu überleben. Für ein Kind in einem wohlhabenden Chicagoer Vorort war das schwer zu begreifen. Dort konnte man nur zwei Straßenecken weiter Süßigkeiten kaufen.
Vielleicht wegen dieser Zeit der Entbehrung wurde mein Vater Koch. Im zarten Alter von 14 Jahren verließ er sein Elternhaus, um den Beruf zu erlernen und Geld zu verdienen. Als Deutschland aus der Asche auferstand, kochte er für amerikanische Soldaten, die im Nachkriegsdeutschland stationiert waren. In den 1960ern, mit etwa 23 Jahren, machte er sich auf nach Amerika. Während er in der Nähe von Chicago arbeitete, lernte er meine Mutter kennen, ein Mädchen vom Lande aus Iowa, die in den Ferien als Kellnerin ihr Geld verdiente.
Den Rest seines Lebens verbrachte mein Vater in den USA, aber für die Einheimischen blieb er immer ein Kraut, der Bierkrüge sammelte, deutsche Volkslieder sang und seinen VW mit »Freistaat Bayern«-Aufklebern schmückte. Er liebte Bratwürste, Schnaps und deutsches Vollkornbrot und kochte Semmelknödel, Sauerbraten und Spätzle. Erdnussmus und labbrige amerikanische Hotdogs waren ihm ein Gräuel, aber er gewöhnte sich an die lockere amerikanische Lebensart, wurde zu einem eingefleischten Fan der Chicagoer Football- und Baseballteams und angelte in den Seen und Flüssen, sooft er konnte. Er war in der Gemeinde aktiv und baute zusammen mit unseren Nachbarn aufwendige Festwagen für die Paraden am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, an dem wir stets alte amerikanische Volkslieder sangen, während wir die Hauptstraße hinuntermarschierten. In den Sommermonaten feierten wir Nachbarschaftsfeste, und es wurde oft spontan gegrillt. Mein Vater trainierte die Jugendfußballmannschaft, in der ich spielte, und wir gewannen regelmäßig gegen unsere Rivalen, die von Wolfgang trainiert wurden, einem anderen deutschen Vater – Mannschaften, die von Amerikanern trainiert wurden, stellten damals keine ernst zu nehmende Konkurrenz dar.
Wenn wir die Verwandtschaft in Deutschland besuchten, brachte mir mein Onkel (ein bayerischer Braumeister) bei, wie man von der Weißwurst die Haut sauber abzieht, ohne die Finger zu benutzen, und am Weihnachtsabend durfte ich miterleben, wie plötzlich das Christkind auftauchte. Der Baum mit seinem Schokoladenschmuck und echten Kerzen zog mich magisch in seinen Bann, und als Elternteil in Deutschland habe ich sehr wohl die Tradition zu schätzen gelernt, am Abend bei einem Glas Wein zu feiern, statt in aller Herrgottsfrühe und von Müdigkeit benommen bei einer Tasse Kaffee.
Nachdem ich während des Studiums in England meine Frau, eine »Berliner Göre«, kennengelernt hatte, zog ich 1999 mit Ende 20 nach Deutschland. Ich hatte einige Monate lang in Paris gelebt und ein Semester lang in Wien studiert, und so hatte ich eigentlich genug Welterfahrung, um mich auch hier wohlzufühlen, tat es aber nicht. In den USA war es leicht gewesen, mich als Amerikaner und Deutscher zu sehen, aber in Deutschland fühlte ich mich sehr amerikanisch und nicht wirklich deutsch, obwohl ich über ein familiäres Unterstützungsnetzwerk verfügte und in den Freundeskreis meiner Frau integriert wurde, aber immer klar als »Ami« abgestempelt. Anfangs dachte ich, ich müsste nur den geheimen Code verstehen und mein Deutsch verbessern (das ich nicht in der Kindheit gelernt hatte), dann würde ich mich zu Hause fühlen. Aber auch das half nichts, selbst bei einem »guten« Ausländer wie mir, mit direkten Verwandtschaftsbeziehungen und dem sehr deutschen zweiten Vornamen Horst. Erst nachdem ich jahrelang über Deutschland berichtet und hier gelebt hatte, wurde mir klar, dass es nicht nur mir so ging. Wie ich verspürten auch viele andere Menschen in Deutschland ein Gefühl der Isolation. Ausländer haben jedoch eine Vergleichsmöglichkeit, die das Unbehagen deutlicher macht, wohingegen es die Deutschen nicht anders kennen.
Anfangs empfand ich diesen postnationalen Staat als befreiend und reifer als das inbrünstige Flaggenschwenken in den USA, aber später bemerkte ich eine dunkle Seite daran. Der Mangel an Gemeinschaft ist befremdlich. Um sich in den USA zu integrieren, muss man nur drei Dinge tun: den Unabhängigkeitstag am 4. Juli feiern, an Thanksgiving gemeinsam mit Freunden oder der Familie essen und den Superbowl schauen (oder es aktiv verweigern). Das ist natürlich eine etwas überspitzte Anleitung dafür, wie man Amerikaner wird, aber damit fängt es an. Alle diese Ereignisse erlebt man zusammen und überbrückt damit sozioökonomische, religiöse und politische Trennlinien. In Deutschland sind höchstens die Spargelzeit und der Tatort am Sonntagabend damit vergleichbar.
Das »andere« lauert jedoch überall, und ich fiel eindeutig in diese Kategorie.
Der Ton ist rauer und intoleranter geworden, und die stagnierende Wirtschaft erweckt Ideen wieder zum Leben, die man längst verbannt geglaubt hatte. Auch wenn generell anerkannt wird, dass etwas schiefläuft, gibt es keinen erkennbaren Plan, etwas dagegen zu tun – ja, nicht einmal einen gesellschaftlichen Konsens, dass etwas getan werden sollte. Wenn ich mir jedoch vergegenwärtige, welche Anziehungskraft die Nazis auf meinen Großvater ausübten, mache ich mir Sorgen, in welchem Deutschland meine Kinder einmal leben werden, und ich hoffe, dass sich diese Entwicklungstendenzen noch umkehren lassen.
In diesem Buch wollen wir gemeinsam die zunehmenden Missstände in Deutschland und die Risiken, mit denen das Land gegenwärtig konfrontiert ist, detailliert und so präzise wie möglich aufzeigen. Wir möchten Licht auf die sich verdüsternden Zukunftsaussichten und den gefährdeten sozialen Zusammenhalt werfen – nicht aus Schadenfreude, sondern als konstruktiven Beitrag zu einer sich intensivierenden Debatte darüber, welchen Weg die Führungsmacht Europas in Zukunft einschlagen wird.
Wir appellieren an die deutschen Bürger, zu der gemeinsamen Unerschrockenheit zurückzufinden, mit der ein Weg aus den Zerstörungen der Nazizeit gebahnt werden konnte. Dazu bedarf es unseres Erachtens einer optimistischen Grundhaltung.
Vielleicht erscheint unsere Darstellung an manchen Stellen sehr schonungslos, aber eine Beschönigung der Dinge wäre noch respektloser. Dadurch würde der Niedergang als unausweichlich akzeptiert, und die Leser und Leserinnen würden mit der Vorstellung getröstet, dass in anderen Ländern alles noch viel schlimmer ist. Von all den Deutschland derzeit plagenden Problemen ist das vielleicht gefährlichste ein sich einschleichender Fatalismus. Dem wollen wir mit diesem Buch entgegenwirken. Und wenn Deutschland es schafft, vereint der Zukunft ins Auge zu blicken, können auch andere Länder davon lernen.
»[…] oft [erscheinen] die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst […], wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht.«
Thomas Mann[2]
An einem wolkigen Frühlingsmorgen im Jahr 2024 holte ein starker Ruck die Bewohner eines Mietshauses im wohlhabenden Berlin-Schöneberg unsanft aus dem Schlaf. In der Fassade zeigten sich Risse, die auf bröckelndes Mauerwerk hindeuteten. Dieses Gebäude in Toplage war nach dem Zweiten Weltkrieg restauriert worden, und jetzt war es einsturzgefährdet. Das Leben der Menschen, die dort wohnten und arbeiteten, wurde schlagartig auf den Kopf gestellt. Der Schaden war das Resultat jahrelanger Vernachlässigung und ignorierter Warnsignale. Notfallmaßnahmen wurden ergriffen, um das Gebäude zu stabilisieren, aber es war unklar, wie marode die tragenden Wände waren. Dieser Vorfall ist ein bitteres Sinnbild für die Lage, in der sich Deutschland gegenwärtig befindet.
Auf dem Höhepunkt der Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert durchlief Deutschland eine Phase rascher wirtschaftlicher Entwicklung, die sogenannte Gründerzeit. Gebäude aus dieser Zeit – wie jenes, das in Schöneberg fast einstürzte – zierte auf der Straßenseite oft eine imposante Fassade, hinter der sich Wohn- und Lagerräume, Produktionsstätten und Nutztierstallungen befanden. Es war im Grunde ein Mikrokosmos des Landes. Inmitten der Wohnblöcke befanden sich Innenhöfe – manchmal mehrere, und der ehemalige Meyers Hof in Berlin hatte acht. Zwischen den einzelnen Gebäuden musste ausreichend Platz sein, dass ein von Pferden gezogener Löschwagen wenden konnte. Mit preußischer Präzision war berechnet worden, dass hierfür eine Fläche von 5,34 mal 5,34 Metern nötig war. Die eleganten Wohnungen auf der Vorderseite waren mit Ornamenten verziert, hatten hohe Decken und oft separate Eingänge. Weiterhin gab es karge Kammern für die Dienerschaft und die berüchtigten »Mädchenkammern«, die kaum mehr als unter die Zimmerdecke gezwängte Schlafkojen waren.
Der Gründerzeitstil war weitgehend eine rückwärtsgewandte Wiederbelebung der extravaganten Renaissance- und Barockarchitektur, mit der das aufstrebende Industriebürgertum sich den Prunk des Adels aneignen wollte. Einige wenige führten ein komfortables Leben, aber die meisten fristeten ein elendes Dasein.
Diese Form der Ungleichheit breitet sich heute wieder aus. Um die Probleme Deutschlands zu veranschaulichen, werden wir in diesem Buch immer wieder auf die Metapher eines bröckelnden Gründerzeithauses und die Konflikte zwischen seinen Bewohnern zurückgreifen. Wir nennen es das »Deutsche Haus«.
Obwohl das Land noch beeindruckend gut funktioniert, bröckelt doch die Fassade der Stabilität, und darunter werden tiefe Risse sichtbar. Ausländerfeindlichkeit, Angriffe auf Politiker und eine zunehmende Wirtschaftsmisere schwächen den sozialen Zusammenhalt. Nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Stabilität und dem Ignorieren struktureller Herausforderungen haben sich große Probleme aufgestaut, die in Deutschland und darüber hinaus gelöst werden müssen. In mancherlei Hinsicht ist die Situation des Landes speziell, aber es gibt Gemeinsamkeiten mit anderen freiheitlichen Demokratien. Die deutschen Probleme stehen in direktem Zusammenhang mit der zerfallenden Nachkriegsordnung. Wie auch in anderen westlichen Ländern wird die Bundesregierung von Unternehmensinteressen und reichen Machtmenschen beeinflusst, was zulasten der Bevölkerung geht. Die wachsende Ungleichheit macht es Populisten leicht, Zweifel und Frustration zu schüren. Deutschland ist jedoch verwundbarer als andere Länder, und es braucht einen frischen Blick, um diese bedrohliche Lage zu entschärfen.
Deutschland hat zweifellos Stärken. Die ausgereiften deutschen Industriegüter sind immer noch auf der ganzen Welt begehrt, nicht zuletzt, weil das deutsche Modell der Berufsausbildung weltweit seinesgleichen sucht. Das System der Zusammenarbeit zwischen den Angestellten und der Betriebsführung, die sogenannte Mitbestimmung, zwingt Unternehmen zur Einnahme von Perspektiven, die über Quartalsergebnisse und jährliche Bonuszahlungen hinausgehen. So findet sich in den Vorstandsetagen eine Form demokratischer Teilhabe wieder. Auch wenn dieses System gefährdet ist, gleicht es doch ein Stück weit die Hilflosigkeit aus, der Arbeiter in anderen Ländern ausgesetzt sind – vor allem, da künstliche Intelligenz und andere Technologien dramatische Veränderungen in der Arbeitswelt erzwingen. Mit dem Grundgesetz wurde ein politisches System geschaffen, das Kompromisse zwischen den Parteien erfordert, was polarisierende Rhetorik gewöhnlich entschärft. Auf der sozialen Ebene sind die Deutschen bereit, Flüchtlinge willkommen zu heißen, den Opfern von Naturkatastrophen rund um die Welt zu helfen und Widerstand gegen Regierungsentscheidungen zu leisten.
Aber trotz Jahrzehnte währender Stabilität und einem soliden Fundament werden Risse sichtbar. Die Probleme sind tiefer gehend, als viele es nachvollziehen können, und drängender, als viele glauben wollen. Das gilt für Menschen innerhalb und außerhalb des Landes. Die Wunschvorstellungen sind weitverbreitet, dass die schwächelnde Wirtschaftsleistung zyklisch und nicht strukturell bedingt ist, dass politische Spannungen lediglich eine auf Krisen folgende holprige Phase sind und dass die soziale Polarisierung nicht schlimmer als in anderen Ländern ist. Optimisten argumentieren, dass Deutschland diese stürmischen Zeiten, wie schon so oft, überstehen wird. Das ist nicht zuletzt deshalb ein verlockendes Narrativ, weil die Vorstellung, dass Deutschland von der freiheitlichen Grundordnung abrückt, die verstörende Vergangenheit wieder lebendig werden lässt und eine Destabilisierung des Westens heraufbeschwört.
Diese Risiken dürfen jedoch nicht ausblendet werden. Auch wenn die Probleme der Bundesrepublik denen anderer Industrieländer ähnlich sind, drohen deutsche Eigenheiten das Land schneller als andere Länder entgleisen zu lassen, sodass es einmal mehr einer dunklen, unberechenbaren Zukunft entgegenginge. Die gute Nachricht ist, dass Deutschland nach wie vor über eine hohe Wirtschaftsleistung und eine vitale Zivilgesellschaft verfügt. Es gibt Möglichkeiten, die gegenwärtige Dynamik umzukehren (einige Ideen dafür unterbreiten wir in Kapitel 10).
Die hier behandelten Themengebiete sind weitläufig, weshalb wir teilweise oberflächlich bleiben, um an anderer Stelle weiter ausholen zu können. Der Fokus des Buchs ist größtenteils auf Westdeutschland gerichtet, insbesondere wenn es um den Zeitraum vor der Wiedervereinigung geht. Diese ein Stück weit unvermeidliche Perspektivenverengung ist in der Eingliederung und Marginalisierung Ostdeutschlands begründet.
Eine unserer wichtigsten Feststellungen ist, dass nur wenige Dinge das Land überhaupt zusammenhalten. Die schwarz-rot-goldene Fahne zu hissen wurde bis zur 2006 in Deutschland abgehaltenen Fußballweltmeisterschaft von der Mehrheit der Bevölkerung als nationalistisch und inakzeptabel angesehen. Das war ein starker – und wohltuender – Kontrast zum inbrünstigen Flaggenschwingen in Großbritannien und den USA. Wie wir aus unseren Heimatländern wissen, kann Nationalismus (oder Patriotismus, um ihm eine weniger negative Konnotation zu geben) scheußliche Auswüchse haben, aber ein rudimentäres Zusammengehörigkeitsgefühl hat durchaus seinen Nutzen. Es kann dazu beitragen, dass sich Menschen zusammentun, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, oder zumindest die Gesellschaft in harten Zeiten vereinen, die plötzlich zur Realität für viele Deutsche wurden und in der größten Wirtschaftsmacht Europas noch härter zu werden drohen. Vielleicht scheute das Land die unangenehme Aufgabe der Nationenbildung, nachdem es zwei Weltkriege angezettelt hatte, aber dieses wichtige Thema zu vernachlässigen wäre gefährlich.
Es fehlt an Angeboten, eine deutsche Identität zu leben, die alle einbezieht. Das Brot ist wahrscheinlich das beste der Welt, aber das wird nicht öffentlich zusammen gegessen. Das Gleiche gilt für den Verzehr von weißem Spargel im Frühling. Lokale Traditionen wie der Karneval im Rheinland und das Oktoberfest in Bayern existieren vereinzelt und bringen Menschen zusammen, aber nicht auf nationaler Ebene. Das DFB-Pokalfinale ist der Saisonhöhepunkt im deutschen Fußball, aber außer den zwei beteiligten Mannschaften und ihren Fans identifiziert sich kaum jemand damit. Im Gegensatz dazu ist der Superbowl in den USA ein landesweites Event, bei dem American Football nur als Kulisse dient. In Deutschland sind die meisten Feiertage christlich, wohingegen nationale Gedenktage historisch bedingt einen düsteren Charakter haben und sich eher durch politische Reden als durch öffentliche Beteiligung auszeichnen. Es gibt wenige Traditionen und Bräuche, die sich jenseits religiöser, ethnischer und sozioökonomischer Grenzen bewegen, und so sind die Bande dünn, die die 84 Millionen Menschen in Deutschland miteinander vereinen.
Deutschland hat seinen sogenannten Verfassungspatriotismus, der das Grundgesetz zum vereinenden Element der Nation erhebt. Seine Bedeutung hängt mit dem relativ späten Zusammenschluss des Bundes zusammen. Das Deutsche Reich entstand erst 1871 infolge eines Krieges gegen Frankreich. Der errungene Sieg erfüllte das Land mit Nationalstolz, und durch Investition der Reparationszahlungen wurde neben militärischer auch industrielle Macht erlangt. Doch diese deutschen Traditionen vereinigten sich verhängnisvoll und führten zu neuen Kriegen und zum rassistischen Nationalismus der Nazizeit. Deshalb nimmt die Entstehung einer konstitutionellen Demokratie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen wichtigen Platz im Nationalgefühl ein.
Das Grundgesetz gibt staatlichen Institutionen tatsächlich eine robuste Struktur, und unabhängige Richter wachen über ehrgeizige Werte wie den Schutz der Menschenwürde. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes sollte sichergestellt werden, dass Deutschland nie wieder zu einer faschistischen, autoritären Macht wird. »Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten ein besseres Deutschland bauen«, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Staatsakt zum 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 2024. »Sie haben uns ein freiheitliches, ein demokratisches, ein gutes Deutschland hinterlassen. Bewahren wir das Erbe, das uns anvertraut ist.«[3]
Letzten Endes ist es jedoch nur ein Gesetzestext. Man würde sich wohl kaum mit Freunden treffen, um auf die Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern anzustoßen und zu jubeln, wenn eine Parade von Gesetzesartikeln vorbeimarschiert. Und so nobel die Absichten des Grundgesetzes auch sein mögen – die Alltagsrealität weicht von den darin formulierten Idealen und Prinzipien ab. Zu erwarten, dass sich Menschen an der Demokratie erfreuen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren haben oder das Geld für steigende Mieten aufbringen müssen, ist selbst von den glühendsten Verfassungspatrioten zu viel verlangt.
Wie in vielen anderen westlichen Ländern hat sich auch in Deutschland eine tiefe Kluft zwischen Staat und Bevölkerung aufgetan. Die politische Klasse scheint nicht in der Lage zu sein, der sozialen Spaltung entgegenzuwirken, und die Parteilisten sind mit Kandidaten gefüllt, die sich parteiintern nach oben gearbeitet haben. Es gibt kompetente Sprecher und Technokraten mit guten Absichten, aber im politischen Geschehen zählen Networking-Kompetenzen mehr als neue Ideen. Menschen werden oft nach oben befördert, weil sie Engagement für die Sache zeigen, und nicht wegen herausragender Fähigkeiten. Festgefahrene Debatten drängen das große Ganze in den Hintergrund, und die Aufmerksamkeit ist auf Umfrageergebnisse und taktische Manöver zwischen den Parteien gerichtet.
Die zunehmende Abgehobenheit wurde 2024 deutlich, als sich die Bundestagsabgeordneten eine sechsprozentige Gehaltserhöhung gönnten und gleichzeitig Haushaltskürzungen beschlossen, die dringend benötigte Investitionen in die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zur Sicherung der Zukunft der Bevölkerung gefährdeten. Die zusätzlichen 635,50 Euro monatlich für die Abgeordneten sind mehr als das Bürgergeld, mit dem Menschen ihre gesamte Existenz bestreiten müssen. Viele konservative Politiker haben großzügige Gehaltserhöhungen in Anspruch genommen, nutzen dann aber Sozialhilfeempfänger als Sündenböcke für Haushaltskürzungen. Die Unterstützung für »faule Deutsche« und »schmarotzende Flüchtlinge« dient als Erklärung dafür, dass die Schulen in einem solch schlechten Zustand sind und Straßen und Brücken nicht repariert werden können.
Diese schrille Dissonanz und der Mangel an praktikablen Lösungen haben den gegen das herrschende System gerichteten Bewegungen und vor allem der AfD Zulauf beschert. Die nationalistische Partei macht sich die Frustration zunutze, indem sie sich mit rassistischen Parolen an unzufriedene Deutsche wendet. Diese Strategie wird in weiten Teilen des Westens genutzt, hat aber tiefe Wurzeln in Deutschland, und bisher mangelt es an einem überzeugenden Narrativ, das dem entgegengesetzt werden kann. Remigration, ein Euphemismus für Massendeportation von unerwünschten Ausländern (und vielleicht sogar manchen nicht weißen Deutschen), hat sich bei den Rechtsextremen von einer Provokation zu einem offen diskutierten Vorschlag entwickelt.[4] Ob es Deutschland gefällt oder nicht – der fremdenfeindliche Nationalismus hat sich wieder etabliert, und das Land muss sich ihm stellen.
Oft wird die europäische Identität als ein verbindendes Element für Deutsche angeführt. Die Zahl der Deutschen, die sich als Europäer fühlen, ist verglichen mit anderen Ländern des Kontinents tatsächlich relativ hoch, aber es sind vorwiegend gebildete Städter, wohingegen die Arbeiterschicht und die ländliche Bevölkerung eher nationalistisch eingestellt sind. Eine deutliche Mehrheit der Menschen ohne Universitätsabschluss würde es vorziehen, dass Deutschland die eigenen Interessen verfolgt, anstatt die europäische Integration voranzutreiben.[5] Während der Staatsschuldenkrise zeigte sich deutlich, dass die europäische Identität nicht als Ersatz dienen konnte. Rechtsgerichtete Mainstream-Medien schürten nationalistische Ressentiments, indem sie die Griechen als faul anprangerten und ihnen unterstellten, sie würden auf Kosten der hart arbeitenden deutschen Steuerzahler leben. Bild forderte, die hellenische Republik aus der Eurozone auszuschließen, und beschwor Angela Merkel, eine »eiserne Kanzlerin« zu sein und Rettungsgeldern für Athen eine Absage zu erteilen. Das Magazin Focus titelte »Betrüger in der Euro-Familie« und zeigte die antike griechische Statue Venus von Milo mit hochgerecktem Mittelfinger auf der Titelseite. Die Feindseligkeiten gingen in beide Richtungen. Griechische Zeitungen bildeten regelmäßig Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble als Nazis ab, und als 2012 ein Staatsbesuch der Kanzlerin in Athen anstand, gab es öffentliche Proteste.
Solche Szenen spalteten die deutsche Gesellschaft in Bezug auf das europäische Projekt. Die Finanzhilfen für leichtsinnige Nachbarn verärgerten die Konservativen, die daher versuchten, die zunehmende Anziehungskraft einer paneuropäischen Identität zu unterminieren. Die Rechtsextremen adaptierten dieses Konzept wiederum für sich in Form eines Zusammenschlusses von europäischen Nationalstaaten, die gemeinsam den Multikulturalismus im Vaterland bekämpfen. In einer Plakatkampagne der Berliner AfD im Jahr 2019 mit dem Titel »Aus Europas Geschichte lernen« wurde ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert gezeigt, in dem eine nackte kaukasische Frau von dunkelhäutigen, Turban tragenden Sklavenhändlern inspiziert wird. Der Slogan lautete: »Damit aus Europa kein ›Eurabien‹ wird!«
Zwar bleibt die offene Skepsis gegenüber der Europäischen Union weiterhin auf populistische Randgruppen beschränkt, doch die Anzeichen mehren sich, dass die Begeisterung für das europäische Projekt nachlässt. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung stellte fest, dass nur ein Drittel der Deutschen überzeugte Anhänger der EU sind und fast einer von fünf Befragten Brüssel misstraut.[6] Auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass Deutschland je aus der EU austreten wird, ist dies ein weiterer Streitpunkt, der in einer Zeit der geopolitischen Instabilität die Bemühungen um eine stärkere europäische Integration behindern kann. Als Anzeichen des wachsenden Unmuts gegen das europäische Projekt wird eine 14 Meter hohe Skulptur des Eurozeichens in Frankfurt – dem Hauptsitz der Europäischen Zentralbank – so häufig zum Ziel von Vandalismus, dass die städtischen Behörden die Entfernung der Skulptur erwägen, falls sich kein Sponsor zur Finanzierung der Reinigungskosten findet.[7]
Angesichts des mangelnden Zusammengehörigkeitsgefühls schürten wachsende Frustration und sich vertiefende Ungleichheit Instabilität und eine tiefe Spaltung, ähnlich wie in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch die Erfahrungen der Nazizeit können diese Risse nicht heilen. In der Nachkriegszeit war die Entwicklung des Landes gehemmt durch das Trauma des Zusammenbruchs, und so richtete es den Fokus darauf, was nie wieder passieren sollte, anstatt auf die Möglichkeiten, die die Zukunft bot.
Infolgedessen kann Deutschland kaum als moderne Nation angesehen werden, sondern gleicht eher einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, der durch viel Geld zusammengehalten wird: 1,2 Billionen Euro pro Jahr, um genau zu sein.[8] Das ist das jährliche Sozialbudget und im Grunde der Preis für den Zusammenhalt. Es ist eine große finanzielle Bürde für den Staat, wenn die Grundlagen der Wettbewerbsfähigkeit des Landes bröckeln und eine angespannte Haushaltslage herrscht. Aber es ist auch eine fadenscheinige Methode, eine Gemeinschaft von Millionen Menschen zusammenzuhalten. Geld mag zwar die Welt regieren, aber zu einer Nation gehört mehr als das Eintreiben und Verteilen von Steuern. Ein Gemeinschaftsgefühl schweißt Menschen zusammen und kann sinnstiftend wirken. Das versetzt eine Gesellschaft in die Lage, turbulente Zeiten zu überstehen. Die USA sind trotz ihrer tiefen gesellschaftlichen Spaltung nach wie vor überzeugt, das großartigste Land der Welt zu sein. Die Briten bejubeln immer noch ihre Monarchen und können die Wirren des Brexits mit ihrem Sinn für Humor überbrücken, und die Franzosen würden wieder auf die Barrikaden gehen, um ihre Republik zu verteidigen. Aber was könnte die Deutschen vereinen, ohne wieder den Blut-und-Boden-Nationalismus aufkeimen zu lassen?
Naheliegenderweise war Nationenbildung nach dem Zweiten Weltkrieg unmöglich, weshalb die neue, zivile deutsche Identität vage blieb. Wegen weit in die Vergangenheit zurückreichender Spannungen zwischen einzelnen Landesteilen wie Preußen und Bayern war Deutschland auch schon vor den Weltkriegen immer auf »das andere« angewiesen, um sich selbst zu definieren. Während der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert diente, wie bereits erwähnt, ein Krieg gegen Frankreich dazu, das Land zusammenzuschweißen, und das Dritte Reich machte zu diesem Zweck Juden zur Zielscheibe. In der Nachkriegszeit befindet sich das »andere« oft innerhalb des Landes. Ganz grundsätzlich definiert sich das moderne Deutschland dadurch, nicht nationalsozialistisch zu sein (was nicht notwendigerweise rassistischen Nationalismus unter anderem Namen ausschließt). Aber der Krieg ist seit mehreren Generationen vorbei, und die Auffassung der Nazizeit als nationaler Schande verblasst zunehmend. Dadurch wachsen die Spielräume, Gruppen wie Zuwanderer und Muslime wieder zu »anderen« zu erklären.
Die deutsche Praxis, sich seiner selbst zu vergewissern, indem man feststellt, was man nicht ist, hängt mit kulturellen Faktoren zusammen, die das Überbrücken interner Spaltungen erschweren. Dazu gehören die subtilen Irritationen, die durch unpersönliche Interaktionen entstehen (nicht zuletzt durch den standardmäßigen Gebrauch der förmlichen Anrede »Sie«). Diese distanzierte Form der Kommunikation erschwert es, sich Landsleuten gegenüber solidarisch zu zeigen. Wie entwickelt man nationale Solidarität, wenn schon die Pfade zur Interaktion Hürden beinhalten? Stattdessen bricht sie alle paar Jahre bei großen Fußballturnieren hervor, oder wenn deutsche Reisende sich im Ausland zueinandergesellen – oft, um sich über die Qualität des Brots und des Biers zu beklagen. Im Allgemeinen ist gegenseitiges Misstrauen weiter verbreitet als Kameradschaft. Interaktionen in der Öffentlichkeit sind selten positiver Natur, und so reagieren Fremde oft defensiv, wenn man sie auf der Straße oder in der Schlange an der Supermarktkasse anspricht.
Gegenseitiges Misstrauen fördert wiederum einen verstärkten Rückgriff auf Strukturen, um zwischenmenschliche Beziehungen zu regeln. Dazu gehören zahlreiche Regeln zur Unterbindung unerwünschten Verhaltens. Wenn man zum Beispiel nach einem Picknick seinen Müll nicht einsammelt, kann das eine Geldbuße von bis zu 1500 Euro nach sich ziehen, und besonders schwere Fälle von »Wildpinkeln« können sogar mit bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet werden.[9] Eine weitere Manifestation der Besessenheit mit Struktur ist die Haftpflichtversicherung – eines der ersten komplexen deutschen Wörter, mit denen Ausländer wahrscheinlich konfrontiert werden, wenn sie das Land betreten. Die Policen sichern Schäden am Hab und Gut anderer ab, falls man zum Beispiel von einem Freund zum Abendessen eingeladen wird und dort eine Vase kaputtmacht. Die deutschen Behörden empfehlen eine Schadensdeckung von mindestens 10 Millionen Euro pro Person – und 50 Millionen Euro, um auf der sicheren Seite zu sein. Man ist also sogar abgesichert, wenn durch eine achtlos umgestoßene Kerze ein Mehrfamilienhaus niederbrennt. Obwohl Haftpflichtversicherungen nicht gesetzlich vorgeschrieben sind, haben die meisten Haushalte eine.[10] Weitverbreitete Versicherungen über die Haftpflicht hinaus zeugen von latentem Misstrauen, einer Besessenheit von Geld und auch einem tief verwurzelten Verlangen nach Sicherheit. Letzteres kann zu einer Schwäche für eine Nation werden, die auf eine Zeit großer Instabilität zusteuert, besonders wenn die Wirtschaft eine wichtige Rolle für das nationale Wohlbefinden spielt.
Im Zuge der Auferstehung Westdeutschlands als Enklave der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Wirtschaftswunder zum prägenden Element. Die durch geopolitische Umstände begünstigte Wiederbelebung des Wirtschaftslebens gab dem Land wieder ein Gefühl von Stolz auf das nach dem Krieg Geleistete (mit den historischen Wurzeln des modernen Deutschlands beschäftigen wir uns im nächsten Kapitel). Ludwig Erhards politischer Schlachtruf von 1957 bringt den Zeitgeist auf den Punkt: »Wohlstand für alle.« Deutschland ist tatsächlich gut im Herstellen von Dingen, und viele Jahrzehnte lang genügten technologische Errungenschaften – und einige sehr gute Fußballnationalmannschaften – dem Land, um sich als Nation zu betrachten. Solange es in Deutschland aufwärtsging, herrschte auch ein Gefühl des Zusammenhalts, gestützt durch ein umfangreiches und immer umfassenderes Sozialsystem. Das Land musste nicht wie die fanatischen Amerikaner Flaggen schwenken oder wie die Briten einer längst überholten Monarchie huldigen. Deutschland hatte schnelle Autos und Autobahnen und wachsende Bankkonten. Das genügte und sorgte jahrzehntelang für Stabilität, wenngleich diese mehrfach durch Phasen der extremistischen Gewalt infrage gestellt wurde.
Auch wenn Erhards Wohlstandsversprechen immer noch regelmäßig vorgetragen wird, scheint es für Millionen Deutsche unwiederbringlich gebrochen worden zu sein. Die soziale Ungleichheit ist eine der höchsten in Europa. Während wohlhabende Deutsche in den Großstädten in riesigen SUVs von Porsche oder Mercedes-Benz herumkurven, wächst bei anderen wegen steigender Mieten und Nebenkosten die Angst. Mit demagogischen Parolen gegen sozial Schwache wird vom wachsenden Reichtum der Elite abgelenkt, während auch normale Berufstätige zunehmend Probleme haben, finanziell zurechtzukommen. Trotz des Reichtums der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt sind immer mehr Menschen von Armut bedroht. Die Lage am Arbeitsmarkt verschlechtert sich, und die finanziellen Rücklagen schwinden dahin.
In Deutschland sind mehr Menschen von Wirtschaftskrisen und Sparmaßnahmen betroffen als in vielen anderen Ländern Europas. Es sind höchstwahrscheinlich mehr als die mit 14,2 Millionen angegebene Zahl der Armen. Das ist ein großer Bevölkerungsteil, der der geschätzten deutschen Stabilität entsagen kann, weil sie ihm nicht zugutekommt. Zu einem großen Teil liegt diese Schwachstelle des Landes in den hohen Kaufnebenkosten begründet, die eine Hürde zum Wohnungseigentum darstellen. Im Zusammenspiel mit der angestammten Risikoscheu, die viele Menschen vor der Verantwortung eines Hauseigentümers zurückschrecken lässt, hat das dazu geführt, dass die Mehrzahl der Deutschen Mieter ist, ohne Rücklagen – außer einem Auto, das rapide an Wert verliert. Wenn also die Wirtschaft stagniert, was vor allem die einst gut abgesicherten Industriearbeiter zu spüren bekommen, sieht sich ein großer Teil der Deutschen mit schwindenden Möglichkeiten und einem bedrohten Lebensstandard konfrontiert. Gleichzeitig kürzt die Regierung die Sozialausgaben, die ursprünglich die deutsche Gesellschaft zusammengehalten hatten.
Diese Kombination schafft eine toxische Mischung. In einem Land, in dem die Regierung eigentlich durch die Verfassung verpflichtet ist, für ihre Bürger zu sorgen, schürt das Wut auf die Eliten, die an den Grundfesten eines Landes rüttelt, das eigentlich ein Stabilitätsanker Europas sein sollte. Kurz gefasst spielt es im menschlichen Empfinden eine viel größere Rolle, in welche Richtung die Entwicklung vermeintlich geht, als wo man sich eigentlich befindet – und für viele in Deutschland geht es steil bergab. Das Gefühl, abzustürzen, löst den Reflex aus, sich an etwas festhalten zu wollen. Das ist in weiten Teilen des Westens mit dem Aufkeimen des Rechtspopulismus offensichtlich. Aber anders als andere Länder hat Deutschland keine starken bürgerlichen Traditionen, um diese Spannungen zu absorbieren. Dagegen ist der rassistische Nationalismus für die deutsche Identität etwas Altbekanntes, und die Wiederbelebung des verlockenden Mythos von Deutschlands wehrhafter Stärke findet zunehmend fruchtbaren Boden.
Die Zunahme von legalen und illegalen Zuwanderern im letzten Jahrzehnt hat zusammen mit dem Massenzustrom von Flüchtlingen das Gefühl hervorgerufen, in der eigenen Heimat zu Fremden zu werden. Zusammen mit der wirtschaftlichen Misere weckt das düstere Zukunftserwartungen und die Vorstellung, dass dringend etwas getan werden muss. Rechte Bewegungen unter Führung der gegen Zuwanderer und den Euro hetzenden AfD machen sich das zunutze und emotionalisieren die Situation mit einem neu verpackten »Blut und Boden«-Patriotismus.
Die Antwort des Establishments besteht bisher darin, an das gute Gewissen der Wähler zu appellieren, die Demokratie zu verteidigen. Aber mit welcher Motivation? Was bedeutet politische Freiheit noch, wenn die wirtschaftlichen Möglichkeiten ungerecht verteilt sind und die bisherige Lebensweise gefährdet ist? Wenn das System nicht im Sinne der Bevölkerung funktioniert, warum sollte ihm Loyalität entgegengebracht werden? Eine Offenheit für Regimewechsel passt zum Mythos, dass das deutsche Volk verschiedene Epochen und Regierungsformen überdauert hat. Einer messianischen Auslegung nach wartet das Land sogar auf die Wiederkehr eines legendären Königs, der es wieder zu Ruhm und Ehre führen soll.[11] Verglichen mit einer solchen Sage klingt das Credo des Mainstreams, alles beim Alten zu lassen, ziemlich fade. Es erschöpft sich letztendlich darin, zu sagen: »Wir haben eine tolle Verfassung und sind keine Nazis.«
Die Risse in der Gesellschaft drohen sich mit einer stagnierenden Wirtschaft zu vertiefen, durch die sich die Lage der Arbeiterschicht weiter verschlechtert. Deutschlands angestammte Führerschaft in der Metall verarbeitenden Industrie ist bedroht, was die Unsicherheit und den finanziellen Druck auf Arbeiterhaushalte noch verstärkt. Die Konkurrenz aus China ist stark und wird mittlerweile auch in der Automobilindustrie bedrohlich, wo Deutschland einst glaubte, einen uneinholbaren Vorsprung zu haben. Der Wert der deutschen Technik verblasst mittlerweile gegenüber den digitalen Technologien, die Deutschland jahrelang vernachlässigt hat. Das Energieversorgungssystem, die Lebensader des verarbeitenden Gewerbes, befindet sich wegen vieler fehlgeleiteter Entscheidungen inmitten eines beunruhigenden Wandels, der dem Land durch die russische Wandlung vom falschen Freund zum imperialistischen Aggressor plötzlich aufgezwungen wurde.
Der Umbau des Energiesystems ist nur eine der vielen »Wenden«, die das Land vollziehen will. Neben der Energiewende sind da die Wärmewende und die Verkehrswende, die in Zusammenhang mit der – Autobahnen und andere wirtschaftsrelevante Verbindungsglieder betreffenden – Infrastrukturwende stehen, sowie die Technologiewende für die stockende Digitalisierung des Landes. In den vielen unvollendeten Transformationen zeigt sich die Komplexität, mit der die deutsche Zukunft konfrontiert ist. Sie alle sind nach Jahren der zögerlichen Politik, häppchenweiser Reformen und knausriger Investitionen dringlich geworden. Für die Bevölkerung ist aber die Dimension dieser erforderlichen Transformationen und der mit ihnen verbundenen Ungewissheiten verwirrend – insbesondere angesichts dessen, dass den Deutschen Veränderungen im besten Fall nur unangenehm sind.
Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Umstellungen gibt es jetzt auch noch die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte »Zeitenwende«, mit der das deutsche Verlangen abgeschüttelt werden soll, sich aus der Geopolitik rauszuhalten. Konkret bedeutete das, 100 Milliarden Euro in die Modernisierung der maroden deutschen Streitkräfte zu investieren, aber diese Aussage beinhaltete auch die Einstimmung der Bevölkerung darauf, das Land zu einem durchsetzungsfähigeren Akteur auf der internationalen Bühne zu machen. Das ist ein drängendes Thema, da sich Europa – zumal in Anbetracht des offenen Krieges in der Ukraine – nicht mehr auf den US-Sicherheitsschirm verlassen kann und eine wachsende Unbeständigkeit die exportorientierte deutsche Wirtschaft bedroht. Aber der Widerstand gegen dieses Vorgehen ist im Land weitverbreitet und vereint den Nachkriegspazifismus, die linke Tradition der Beschwichtigung gegenüber Russland und den rechten Nationalismus. Es ist unklar, wie sich die deutsche Außenpolitik bestenfalls ausrichten sollte, und die Anpassung an die neuen Gegebenheiten erweist sich als schwierig. Leider war die Geschichte mit dem Fall der Berliner Mauer nicht an einen Endpunkt gelangt. Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt, dass sich die Machtpolitik erneut durchgesetzt und die stetige Expansion der Globalisierung abrupt zum Stillstand gebracht hat. Das sind schlechte Nachrichten für Deutschland, und die Zukunft des Landes wird dadurch noch unsicherer.
Das Land lebt vom Handel und war jahrelang stolzer Exportweltmeister, bevor es 2009 von China überholt wurde. Auch wenn dieser Titel verloren ging, ist Deutschland mehr denn je auf Handelsgeschäfte angewiesen. Es verfügt kaum über Bodenschätze und muss deshalb Rohstoffe und Treibstoff für seine Unternehmen importieren, deren Güter an Kunden rund um den Globus geliefert werden. Der Inlandsmarkt spielt nur eine untergeordnete Rolle. Laut Daten der Weltbank ist das Handelsvolumen stetig gewachsen und entsprach im Jahr 2022 exakt 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die mit dieser hohen Exportabhängigkeit verbundenen Risiken (z. B. Wechselkursschwankungen) sind im Vergleich zu China fast dreimal und im Vergleich zu den USA sogar viermal so hoch. Auch für Länder mit kleineren Inlandsmärkten stellen Handelsschwankungen ein geringeres Risiko dar. In Frankreich und Großbritannien beispielsweise entspricht der Handel nur 75 Prozent des BIP und in Japan weniger als der Hälfte der Wirtschaftsleistung.[12]
Deutschlands Stärke hat sich in eine Schwachstelle verwandelt. Das blauäugige Vertrauen auf ausländische Partner führte im Winter des Jahres 2022 beinahe zu einem Desaster, als Russland als Vergeltung für Sanktionen wegen der Ukraine-Invasion die Gaslieferungen einstellte. Der Kreml hatte diesen Schachzug sorgfältig vorbereitet, indem er dafür sorgte, dass die deutschen Gasreserven langsam geleert wurden, die zu einem großen Teil in der Hand des russischen Staatskonzerns Gazprom sind. Dank eines geschickten Krisenmanagements, eines relativ warmen Winters und eines Rückgangs der Industrieproduktion, der auf absehbare Zeit wohl nicht wieder aufgeholt werden kann, hat das Land diese Gefahr abgewendet. Deutschland wäre aber fast zum Stillstand gekommen, weil es einer autokratischen Regierung beträchtliche Einflussmöglichkeiten eingeräumt hatte.
Das war nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal bleiben. Trotz der gerühmten Selbstbeherrschung Deutschlands wird alle Vorsicht über Bord geworfen, wenn es eine Gelegenheit zum Geldverdienen gibt. Der Grund dafür ist die merkantilistische Herangehensweise an die Außenpolitik, die als »Wandel durch Handel« bezeichnet wird und letztlich nur eine kaum verhüllte Beschönigung für Geschäfte mit Despoten und Autokraten ist. Die eigennützige Theorie besagt, dass mit einem Austausch von Gütern auch freiheitliche Werte transportiert werden. Dieses Konzept ist gescheitert. Deutschland konnte sich zwar aus seiner Energieabhängigkeit von Moskau herauswinden, doch China stellt das größere Risiko dar.
Die asiatische Supermacht stellt viele der Produkte her, die einst Deutschlands Spezialgebiet waren, aber zu einem niedrigeren – möglicherweise künstlich gedrückten – Preis. China bezog einst Inspiration und Fachwissen aus Deutschland, aber der Lehrling wurde zum Meister. Das führte in den letzten Jahren zu großen Handelsbilanzdefiziten. Pro Kopf kaufte 2023 jeder Deutsche Waren und Dienstleistungen im Wert von 1900 Euro von China, erzielte aber weniger als 1200 Euro durch den Verkauf derselben an den größten Handelspartner des Landes – eine subtile, aber nicht unbedeutende Belastung für den Geldbeutel und die nationale Psyche. Seit sich der »Wandel durch Handel« als Mythos entpuppt hat und gescheitert ist, versucht sich Deutschland vorsichtig von China zu distanzieren, um die wirtschaftlichen Risiken zu mindern (»De-Risking«). Eine drastischere Maßnahme, die Entkopplung der Volkswirtschaften (»De-Coupling«), könnte angesichts der ausgeprägten Handelsverflechtungen, besonders in der Automobilbranche, katastrophale Folgen haben. Diese semantische Feinheit mag das Land beruhigen, hat aber darüber hinaus keine Bedeutung. In Anbetracht des gewaltigen Handelsdefizits und der engen Verbindungen von Unternehmen wie Volkswagen und BASF mit China hat Deutschland jeglichen Einfluss verloren, den es einst gehabt haben mag. Unterdessen versucht Peking schon längst nicht mehr, den Schein freier Märkte und fairer Wettbewerbsbedingungen zu wahren. Gesuche, von wettbewerbswidrigen Dumpingpreisen abzusehen und die Menschenrechte zu schützen, treffen bestenfalls auf höfliche Gleichgültigkeit.
Deutschlands Exekutive ist nicht dafür geschaffen, China oder auch fast jedem anderen starken Land die Stirn zu bieten, und das liegt nicht nur an den politischen Führungskräften. Es ist beabsichtigt, dass die Bundesregierung nur über wenig Macht verfügt. Als sich der Kalte Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg abzuzeichnen begann, wollten die Alliierten Deutschland in das freiheitlich-demokratische Lager integrieren, hegten aber noch Misstrauen gegenüber dem Land. Deshalb stellten sie sicher, dass die Macht dezentralisiert wurde. So entstand die Bundesrepublik Deutschland, in der die Macht zwischen Bund und Ländern aufgeteilt ist. Das Grundgesetz erklärt eine Abkehr vom föderalen System für »unzulässig«.[13] In der Praxis sind daher Dinge wie Raumordnung, Gesundheitspolitik und öffentliche Sicherheit Ländersache, aber die Macht der Bundesländer geht darüber hinaus, denn im Zweifelsfall werden Befugnisse auf sie übertragen. Artikel 30 besagt: »Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.« Die Trennung zwischen Bund und Ländern bedeutet auch, dass die Bundestagsabgeordneten von der komplexen Umsetzung der von ihnen verabschiedeten Gesetze entbunden sind. Ein Stück weit ist es, wie wenn ein Ingenieur ohne Rücksprache mit den Fließbandarbeitern ein Auto entwirft. Es besteht das Risiko, dass bei der Montage Schwierigkeiten auftreten. Diese Entkopplung hat zur aufgeblähten Bürokratie in der Bundesrepublik beigetragen.
Die Stärkung der Landesregierungen und die Machtbeschränkung der Bundesregierung mögen mit guten Absichten erfolgt sein, aber das Ergebnis des deutschen Föderalismus ist ein überregulierter und undurchschaubarer Staatsapparat. Anstatt Probleme zu lösen, bleiben Entscheidungen in einem Gewirr konkurrierender Zuständigkeiten und Behörden stecken, und die Institutionen sind eher darauf bedacht, Fehler zu vermeiden, als Dinge zu erledigen. So werden Verfahrensweisen und Prozesse unnötig verkompliziert, womit sich Deutschland in seiner Handlungsfähigkeit selbst behindert und die Bedürfnisse der Bevölkerung aus dem Blick verliert. Kurz gesagt: Die für alle gesellschaftlichen Aufgaben notwendige Bürokratie ist zu schwerfällig geworden. Dabei bleibt nicht nur die hochgelobte deutsche Effizienz auf der Strecke, sondern auch die Fähigkeit zur engeren sozialen Bindung.
Eine weitere deutsche Besonderheit ist neben dem Föderalismus das Grundgesetz, das den Sozialstaat gesetzlich verankert, der Menschen ein Leben in Würde bieten soll. Die wachsende Zahl der Deutschen, die mit Armut und prekären Lebensumständen konfrontiert sind, lässt er in vielerlei Hinsicht im Stich, vor allem bezüglich des Grundbedürfnisses nach Wohnen. Wie die meisten westlichen Länder hat Deutschland den Wohnungsbau Investoren überlassen. Der Markt soll dort das Angebot schaffen, wo es Nachfrage gibt. In der streng regulierten Welt der Immobilien funktioniert das jedoch nicht so. Für Immobilienbesitzer ist Knappheit eine gute Sache, weil sie die Preise in die Höhe treibt, aber davon profitiert in Deutschland nur eine Minderheit. Beim Wohnungsbau besteht der Anreiz, den Grundstückswert zu maximieren, weshalb mehr teure als günstige Wohnungen gebaut werden. Folglich ist das Angebot an Mietwohnungen knapp, und die Preise schießen in die Höhe. In Deutschland hat das schlimmere Auswirkungen als in anderen Ländern, da die bereits erwähnten hohen Kaufnebenkosten eine große Hürde für einkommensschwache Familien darstellen. Daher hat Deutschland eine der niedrigsten Wohneigentumsquoten der westlichen Welt, und der deutschen Mittelschicht fehlt anders als in den USA somit häufig ein finanzielles Sicherheitspolster. Die Möglichkeiten zum Erklimmen der sozioökonomischen Leiter sind in Deutschland also sehr beschränkt, und gleichzeitig sind viele nur eine Kündigung vom Abrutschen in die Armut entfernt.[14]
Darüber hinaus steht das staatliche Rentensystem vor einer wachsenden Finanzierungslücke, was einen weiteren Keil in die Gesellschaft treibt. Statt durch einen Kapitalstock wird das System durch die Beiträge der aktuellen Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre in den Ruhestand gehen, fällt das zahlenmäßige Verhältnis von Beschäftigten zu Rentnern stark ab. In den Niederlanden wird zum Beispiel ein größerer Anteil der Rentenbeiträge am Kapitalmarkt investiert, sodass ihr Wert steigen kann und weniger von den Beiträgen der aktuell Beschäftigten abhängt. In Frankreich funktioniert das System zwar ähnlich wie in Deutschland, doch es wird erwartet, dass die Zahl der Einwohner im arbeitsfähigen Alter in den kommenden Jahrzehnten wächst. Im Gegensatz dazu soll Deutschland bis 2035 rund fünf Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter verlieren (das ist fast die Einwohnerzahl von Berlin und München zusammengenommen).[15]
Renten spielen auch wegen der großen Zahl von Mietern eine wichtige Rolle. In Italien ist die Wohneigentumsrate deutlich höher, weshalb alte Menschen vergleichsweise weniger auf ihre Rente angewiesen sind, um ein Dach über dem Kopf zu behalten. Niedrige Renten können in Deutschland buchstäblich dazu führen, dass ältere Menschen auf der Straße landen. Im Jahr 2023 wurde zum Beispiel dem 84-jährigen Manfred Moslehner die Räumung angedroht – aus dem Haus, in dem der Berliner geboren wurde. Die neuen Eigentümer wollten das Haus modernisieren, doch von seiner mageren Rente hätte der Mieter die gestiegene Miete nicht finanzieren können, also kündigten sie seinen Mietvertrag und drohten ihm mit Geldstrafen und sogar Gefängnis.[16]
Die deutsche Rentenkrise verängstigt die Alten und belastet die jungen Menschen, die ohnehin schon mit vielen Unwägbarkeiten wie der sich wandelnden Arbeitswelt und der sich verschärfenden Klimakrise zu kämpfen haben. Mit Rentenkürzungen gewinnt man keine Wahlen, deshalb bleibt es bei oberflächlichen, kurzfristigen Behelfslösungen, die wenig dazu beitragen, die Ängste bei Jung und Alt abzubauen. So wird die Sozialstruktur immer brüchiger.
Systemische Probleme verstärken die bestehende Identitätskrise in Deutschland, was sich an dem steinigen Weg zur Akzeptanz der Migration gezeigt hat. Zu Beginn der 1950er-Jahre wuchs die Wirtschaft so schnell, dass helfende Hände benötigt wurden. 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte mit Italien unterzeichnet, gefolgt von entsprechenden Vereinbarungen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien. Millionen Hilfsarbeiter kamen, um den Wirtschaftsboom zu unterstützen, aber sie wurden nur deshalb willkommen geheißen, weil sie Wohlstandszuwachs repräsentierten. Einer von ihnen war Armando Rodrigues de Sá.
Der portugiesische Schreiner traf am 10. September 1964 in Deutschland ein, ohne zu wissen, dass ihm ein Platz in der deutschen Nachkriegsgeschichte als millionster Gastarbeiter zuteilwerden sollte. Ohne Vorankündigung wurde der verdutzte 38-Jährige am Kölner Hauptbahnhof empfangen und bekam ein Zertifikat, einen Strauß Nelken und ein Zündapp-Moped überreicht.[17] Deutschland feierte ihn einen kurzen Moment lang als Meilenstein und vergaß ihn dann rasch. Er arbeitete in verschiedenen Städten, hatte aber Schwierigkeiten mit der Sprache und der Bürokratie (so wie heute noch viele Ausländer). So entrichtete er jahrelang einen zu hohen Steuersatz, weil ihm Dokumente zum Nachweis seiner Ehe in Portugal fehlten. Als er 1970 seinen Heimatort besuchte, wurde er krank, woraufhin bei ihm Krebs diagnostiziert wurde. Er kehrte nie nach Deutschland zurück. Da er nicht wusste, dass er bei der deutschen Krankenversicherung versichert war, ließ er sich seine deutsche Rente vorzeitig auszahlen und brauchte das meiste Geld auf, das er während seiner jahrelangen Tätigkeit als Gastarbeiter angespart hatte, um für die Behandlungskosten aufzukommen. Deutschland ließ ihn im Stich, und er starb 1979.
Im selben Jahr forderte Heinz Kühn, der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, in einem Memorandum Maßnahmen zur Integration der von Deutschland angeworbenen Arbeitskräfte. »Es muß anerkannt werden, daß hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist«, schrieb der Sozialdemokrat im September 1979 und forderte das Optionsrecht auf Einbürgerung für in der Bundesrepublik geborene und aufgewachsene Kinder, das Wahlrecht sowie das Ende der Segregation in Schulen.[18] Dem Establishment ging das einen Schritt zu weit. 1981 veröffentlichte eine Gruppe von 15 Universitätsprofessoren das sogenannte Heidelberger Manifest, das die »Unterwanderung des deutschen Volkes« und die »Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums« durch »Ausländer« anprangerte.[19] Diese Fremdenfeindlichkeit wurde 1982 in der Koalitionsvereinbarung zwischen der CDU/CSU und der FDP offiziell zum politischen Kurs des Landes erklärt. Die Regierungsparteien konstatierten unverblümt, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei und »daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen [seien], um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden«. Das war der Wortlaut des Dokuments, das die Grundlage für Helmut Kohls erste Amtszeit als Bundeskanzler bildete.[20]
Es dauerte zwei Jahrzehnte, bis Deutschland diese Haltung offiziell änderte. 2001 erkannte die Regierung von Gerhard Schröder an, dass Millionen von Migranten, die angeworben worden waren und anschließend im Land Familien gegründet hatten, tatsächlich zu Deutschland gehörten.[21] Vier Jahre später, im Jahr 2005, wurden erstmals offizielle Statistiken über Menschen mit »Migrationshintergrund« geführt. Dieser weit gefasste Begriff umgeht absichtlich unbequeme ethnische und religiöse Kategorien. Genau ein halbes Jahrhundert zuvor war das erste Abkommen zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte verabschiedet worden.
Neben den Herausforderungen, die sich durch die Zuwanderung ergeben, hat auch die deutsche Wiedervereinigung die Bildung einer geeinten, solidarischen Nation erschwert. Die ost- und westdeutschen Nachkriegserfahrungen unterschieden sich erheblich. Der Osten litt unter einem autoritären Polizeistaat, den das Volk schließlich stürzen konnte. Doch dieser Sieg wurde durch die darauffolgenden gewaltigen Umwälzungen praktisch zunichtegemacht. Das Leben fast aller Ostdeutschen wurde durch die Wiedervereinigung gründlich umgekrempelt – viele verloren ihren Arbeitsplatz, und die Einwohnerzahl vieler Städte im Osten sank, weil die jungen Leute auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen fortzogen. Das damit verbundene Leid wird im wohlhabenden Westen nicht wirklich anerkannt – hier war die Wiedervereinigung kaum zu spüren.[22] Im Gegensatz dazu wurde der Weg des Westens zu Freiheit und Wohlstand durch die alliierten Mächte geebnet, denen ein blühendes Westdeutschland als Bollwerk gegen die Ausbreitung des sowjetischen Einflusses wichtig war. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurden die Verwaltung und die Wirtschaft des Landes zusammengelegt, aber die Bildung einer gemeinsamen Identität wurde vernachlässigt. Ostdeutschland war in vielerlei Hinsicht das »andere«, durch das sich der Westen definierte und »gut« fühlte. So war der Westen nicht in der Lage, dem Osten ein Solidaritätsgefühl zu vermitteln, das sich in Westdeutschland ohnehin nie wirklich eingestellt hatte.
Bei einem Stadtrundgang durch das moderne Berlin lassen sich Anzeichen für komplexe Unterströmungen finden, die mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung im heutigen Deutschland bestehen. Entlang der Prachtstraße Unter den Linden – der stattlichen, von Bäumen gesäumten Allee, die die von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannte Museumsinsel mit dem symbolträchtigen Brandenburger Tor verbindet – verkaufen Kioske immer noch kleine Stücke der Berliner Mauer sowie Postkarten, T-Shirts und Kaffeebecher, die vom ikonischen Ostberliner Fernsehturm und dem Hut tragenden ostdeutschen Ampelmännchen geziert sind. Die Wiedervereinigung wird hier als freudiges Ereignis präsentiert. Neben dem Berliner Dom zeigt das DDR-Museum mit mehr als einem Hauch von Ostalgie den Alltag im früheren kommunistischen Polizeistaat und das allgegenwärtige Überwachungsgefühl. Zudem gibt es einen Fahrsimulator für den liebenswerten, aber schmutzigen Trabi. Diese Kombination erweckt den falschen Eindruck, dass die Kultur und die Menschen der zwei deutschen Staaten nach der Wiedervereinigung einen gleichberechtigten Platz nebeneinander eingenommen hätten.
In Wirklichkeit ist das Land jedoch gespalten. Angela Merkel selbst hat einmal gesagt, dass ihr ostdeutscher Hintergrund als »Ballast« angesehen wurde, der nach dem Mauerfall zugunsten ihrer politischen Karriere über Bord geworfen werden musste. Die abschätzige Haltung gegenüber dem Osten wurde auch an der Entscheidung deutlich, den Palast der Republik, das frühere Parlamentsgebäude des Ein-Parteien-Staates, zugunsten einer 700 Millionen Euro teuren Huldigung an das deutsche Kaiserreich einfach abzureißen. Der Abriss steht symbolisch für die verpasste Gelegenheit, sich auf Ostdeutschland und das Leben seiner 16 Millionen Bürger differenzierter einzulassen. Die Spaltungen zwischen Ost und West sind mit der Zeit immer komplexer geworden, aber die unzufriedenen Deutschen vereint zumindest die Orientierungslosigkeit.
Ohne eine positive Vorstellung von nationaler Einheit besteht die intuitive Reaktion vieler Deutscher immer noch darin, am Konzept des Volkes festzuhalten, selbst nach den Schrecken der NS-Todesmaschinerie. Fortbestehender Rassismus und strukturelle Hürden für Minderheiten lassen Zweifel daran aufkommen, ob Deutschland seine problematische Vergangenheit wirklich hinter sich gelassen hat.
Es besteht jedoch noch Hoffnung. Wenn Deutschlands wissenschaftliche und technische Fähigkeiten mit Energie und Kreativität kombiniert werden, entstehen daraus weltverändernde Innovationen. Dafür ist BioNTech ein leuchtendes Beispiel aus jüngster Zeit. Das von türkischen Einwanderern gegründete Mainzer Unternehmen hat mit dem ersten mRNA-Impfstoff der Welt dazu beigetragen, die Bedrohung durch Covid-19 zu entschärfen – ein technologischer Durchbruch, der die Zellen lehrt, wie sie Krankheiten abwehren können. Und während die politische Klasse zunehmend den Kontakt zur Wählerschaft verliert, gibt es kaum ein anderes Land mit ausgeprägterem bürgerschaftlichem Engagement. Sei es, die Regierung für die Verfehlung der Klimaziele zur Rechenschaft zu ziehen, die Kaution für Menschen zu bezahlen, die wegen Schwarzfahrens im Gefängnis sitzen, Lücken im sozialen Netz zu schließen oder ukrainische Kriegsflüchtlinge zu beherbergen – die Deutschen engagieren sich. Das ist eine mächtige Ressource, die für die Erneuerung genutzt werden könnte, wenn die deutschen Institutionen sie mehr zulassen und ermutigen würden. Das bürgerschaftliche Engagement ist ein Zeichen, dass der soziale Wille vorhanden ist, während in vielen anderen westlichen Ländern Apathie herrscht.