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Das furiose Finale der Totenfrau-Trilogie.
Die Frau, die in das Büro eines Hamburger Zuhälters stürmt, ist verzweifelt. »Ich brauche Pässe für mich und meine zwei Kinder«, sagt sie. Und: »Wenn du mir hilfst, werde ich jemanden für dich töten.« Es wäre nicht das erste Mal ...
Brünhilde Blum. International gesuchte Mörderin. Liebevolle Mutter zweier Töchter. Seit Monaten auf der Flucht. In Hamburg will sie zur Ruhe kommen, einen Neuanfang wagen, und fast, so scheint es, gelingt es ihr auch. Ausgestattet mit einer neuen Identität und etwas Geld wohnt sie mit ihren Töchtern in einem wunderschönen Fischerhäuschen an der Elbe und arbeitet als Aushilfe in einem Bestattungsinstitut. Alles ist gut. Bis zu dem Tag, an dem sie für ihr neues Leben bezahlen muss – denn der Mann, dem sie das neue Glück zu verdanken hat, fordert ein, was sie ihm versprochen hat. Sie soll für ihn jemanden töten. Das Problem dabei ist nur, dass es sich um einen Menschen handelt, der ihr sehr ans Herz gewachsen ist ...
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Seitenzahl: 341
Zum Buch
Die Frau, die in das Büro eines Hamburger Zuhälters stürmt, ist verzweifelt. »Ich brauche Pässe für mich und meine zwei Kinder«, sagt sie. Und: »Wenn du mir hilfst, werde ich jemanden für dich töten.« Es wäre nicht das erste Mal …
Brünhilde Blum. International gesuchte Mörderin. Liebevolle Mutter zweier Töchter. Seit Monaten auf der Flucht. In Hamburg will sie zur Ruhe kommen, einen Neuanfang wagen, und fast, so scheint es, gelingt es ihr auch. Ausgestattet mit einer neuen Identität und etwas Geld wohnt sie mit ihren Töchtern in einem wunderschönen Fischerhäuschen an der Elbe und arbeitet als Aushilfe in einem Bestattungsinstitut. Alles ist gut. Bis zu dem Tag, an dem sie für ihr neues Leben bezahlen muss – denn der Mann, dem sie das neue Glück zu verdanken hat, fordert ein, was sie ihm versprochen hat. Sie soll jemanden für ihn töten. Das Problem dabei ist nur, dass es sich um einen Menschen handelt, der ihr sehr ans Herz gewachsen ist …
Zum Autor
BERNHARD AICHNER (geb. 1972) lebt als Schriftsteller und Fotograf in Innsbruck/Österreich. Aichner schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Für seine Arbeit wurde er mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet. »Totenrausch« ist nach »Totenfrau« und »Totenhaus« das große Finale der Trilogie, in deren Mittelpunkt die Bestatterin Brünhilde Blum steht. Die Bücher wurden weltweit verkauft, eine mehrteilige internationale Fernsehserie ist in Vorbereitung.
Bernhard Aichner
Thriller
Es war der einzige Weg. Sie hatte keine andere Wahl mehr, sie musste die Hilfe annehmen, die man ihr angeboten hatte. Dass jemand das Risiko einging, sie aus Deutschland wegzubringen, grenzte an ein Wunder. Mit ihr in Verbindung gebracht zu werden, könnte Fragen aufwerfen. Ihr zu helfen, Gefängnis bedeuten. Sie ist wie eine Krankheit, die man ausrotten will, ein Übel, das man sich vom Leib hält. Deshalb darf keiner sie sehen, deshalb hat sie ihre Kinder betäubt und fährt jetzt mit ihnen Richtung Norden.
Sie durfte sich nicht selbst ans Steuer eines Wagens setzen, auch öffentliche Verkehrsmittel waren keine Option. Eine simple Verkehrskontrolle hätte alles beenden können, ein Mitreisender, der sie zufällig erkannt, eine Kamera am Bahnhof, die sie aufgenommen hätte. Deshalb der Leichenwagen, der große Transportsarg auf der Ladefläche und die kleinen Luftlöcher, durch die sie atmen. Es ist einfach nur Nacht, es sind nur zwei schlafende Mädchen in der Dunkelheit. Niemand wird sie ihr wegnehmen, niemand außer ihr wird ihr Weinen hören, dieses leise Wimmern, noch bevor ihre Augen aufgehen.
Denn egal wie sehr sie es sich gewünscht hat, dass es nicht passieren wird, sie beginnen sich zu rühren. Zu reden. Wo sind wir, Mama?Bitte schalte das Licht ein, ich kann mich nicht bewegen, dich nicht sehen, Mama. Schnell begreifen sie, dass sie eingesperrt sind, dass es keinen Ausweg gibt. Wie ein Reflex ist es, sie treten mit ihren Füßen, hämmern mit den Fäusten gegen das Holz, sie wollen sich befreien. Doch nichts tut sich, die Sargwände geben nicht nach, Mamas Arme sind wie Schnüre, die um sie herumliegen, sie liebevoll festhalten, beschützen wollen. Da sind nur die Räder, die sich drehen, der Asphalt unter ihnen, und die Taschenlampe, die sie eingeschaltet hat. Ein lächerlicher Versuch, ihnen die Angst zu nehmen.
Uns wird nichts passieren, flüstert sie. Bald geht der Deckel auf, und wir werden das Meer sehen. Sie will daran glauben, darauf vertrauen, dass der Fahrer des Wagens tut, was er ihr versprochen hat. Dass er sie an Bord dieses Frachters bringen wird, ohne Umwege außer Landes, sie hat teuer dafür bezahlt. Sie hat alles zurückgelassen, was war, in ein paar Stunden ist da keine Vergangenheit mehr, niemand mehr, außer den Kindern. Alles, was sie noch hat, liegt in ihren Armen, nur noch verbrannter Boden ist es, über den sie fahren. Da ist keine Haustüre mehr, die sie aufsperren kann, kein Weg mehr zurück in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Nie mehr Heimat. Sie muss sich eine neue suchen. Weil sie ihr Gesicht nicht einfach ausziehen kann wie einen Schuh, weil man sie erkennen und sie einsperren würde. Deshalb.
Im Verborgenen bleiben. Auch wenn sie sich dafür hasst, dass sie den Kindern das antut, sie zweifelt nicht daran, dass es richtig ist. Bitte beruhigt euch wieder. Es ist alles in Ordnung. Ihr müsst mir vertrauen, sagt sie und schaltet die Taschenlampe wieder aus. Weil sie die Tränen in den Augen der Mädchen nicht mehr ertragen kann. Weil sie weiß, was sie ihnen zumutet. Das Eingesperrtsein. Die Angst. Mama passt auf euch auf,sagt sie nur. Ihr müsst keine Angst haben, meine Lieben. Kurz verstecken wir uns noch, dann fahren wir mit einem großen Boot. Über das Meer in ein anderes Leben. Weil das alte kaputt ist.
Brünhilde Blum. Liebevolle Mutter, erfolgreich in ihrem Beruf als Bestatterin, freundlich und ausgeglichen, niemand hätte je damit gerechnet, keiner hätte auch nur eine Sekunde lang angenommen, wozu sie fähig sein würde. Dass sie zur mehrfachen Mörderin werden könnte. Eiskalt und außer Kontrolle, Verbrechen ohne Motiv seien es gewesen, verrückt sei sie geworden, hieß es. Weil niemand wusste, warum das alles passiert ist, weil es offiziell kein Motiv gab. Sie habe die Männer gar nicht gekannt, die sie getötet habe, es habe keinerlei Berührungspunkte gegeben, wahllos habe sie zugeschlagen, einfach so habe sie auf grausamste Weise fünf Leben beendet. Die Tat einer Psychopathin, schrieben sie. Und lagen doch so falsch damit. Weil niemand wusste, wer diese Männer wirklich gewesen waren, was sie getan hatten. Dass sie verantwortlich waren für Marks Tod. Blums Mann, der einfach auf der Straße gelegen hatte an einem Morgen. Totgefahren. Vor ihren Augen.
Seine Lippen, an die sie jetzt denkt. Sie hatten sich nicht mehr bewegt. Papa ist im Himmel, hatte Blum gesagt. Papa ist tot, hatte Nela geantwortet, die Ältere. Sie hatte als Erste begriffen, dass er nicht wiederkommen, dass er sie nie wieder ins Bett bringen, sie nie wieder streicheln würde. Unser Papa ist jetzt auch eine Leiche, hatte sie zu ihrer kleinen Schwester gesagt. Uma, die es nicht begreifen wollte. Und Blum, die es nicht ertrug. Sie wollte sich nicht damit abfinden. Sie wehrte sich. Begann zu graben.
Laut Polizeibericht war es ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen, mehr nicht. Der Schuldige wurde offiziell nie gefunden, irgendwann hatten sie aufgehört, nach ihm zu fahnden. Doch Blum suchte weiter und spürte sie auf. Diese fünf Männer, die gewollt hatten, dass er stirbt. Weil er der Kriminalbeamte war, der herausgefunden hatte, was sie zu verbergen hatten. Es war das Letzte, an dem er gearbeitet hatte, er war überzeugt davon gewesen, dass diese fünf angesehenen Bürger ein Doppelleben führten, dass sie Vergewaltiger waren und Mörder. Ein Horrorfilm war es, in dem Blum aufgewacht war. Da waren nur noch diese wilden Tiere, tollwütige Bestien, die sie jagte und zur Strecke brachte. Zerlegte und ausnahm.
So nah noch alles. Der Grund für die Dunkelheit, dafür, dass sie davonlaufen, sich verstecken muss. Eingepfercht in dieser Kiste, die Verzweiflung der Kinder. Und ihre eigene Ohnmacht. Weil sie nichts tun kann, um die Mädchen zu erlösen und ihnen diese Angst zu nehmen. Nichts, außer immer weiterzureden, in ihre Ohren zu flüstern. Bald schon werden wir am Ufer sitzen und Steine ins Wasser werfen. Mit schönen Sätzen kämpft sie gegen ihre Panik an, in warmen, bunten Farben malt sie ihre Zukunft, sie nimmt die Kinder an den Händen und rennt mit ihnen über den Strand.
Schließt einfach die Augen und stellt es euch vor. Die kleinen Krebse, die über die Felsen klettern, die vielen bunten Fische. Und wenn ihr genau hinhört, könnt ihr auch das Rauschen des Meeres hören. Keine Räder mehr auf dem Asphalt, überall nur blaues Wasser und Sonne, die Kinder laufen herum und springen in die Luft. Mama ist bei euch, sagt sie. Alles wird gut. Immer wieder dieser eine Satz zwischen all den anderen. Dieser Satz, der die Kinder langsam beruhigt, ihnen Hoffnung macht. Alles wird gut, flüstert sie. Alles wird gut.
Die Lofoten. Als sie ankamen, waren da überall tote Fische ohne Köpfe. Dorsche, immer zwei Fische aneinandergebunden, drei bis vier Monate getrocknet, aufgehängt an Holzgerüsten, Stockfisch. Und das kleine rote Holzhaus am Meer, das ihnen der freundliche Fischer vermietete. Eine neue Welt, in die sie eintauchten, Menschen, die nichts ahnten, Vergangenheit, die einfach verschwand. Niemand stellte Fragen, es gab keinen Verdacht. Da war nur eine Mutter, die mit ihren zwei Kindern Urlaub machte.
Am Ende der Welt so etwas wie Glück. Es ist so schön hier, Mama.Die Berge sind so spitz. Wir wollen hierbleiben, Mama. Sie dachten nicht mehr daran, wie sie hergekommen waren, erinnerten sich nicht mehr an die Angst, die da gewesen war, an die Dunkelheit, die Enge. Weit weg war alles wieder, die Kinder blühten auf, genossen, dass Blum für sie da war. Wochenlang nur Wasser, Spaziergänge über die Insel, Fremdes wurde ihnen vertraut. Alles, was Blum ihnen versprochen hatte, wurde wahr. Niemand suchte sie hier, niemand nahm nur eine Sekunde lang an, dass etwas nicht stimmte. Uma und Nela waren glücklich.
Diese wunderschöne Landschaft hundert Kilometer nördlich des Polarkreises, ein Ort, an den sie immer schon hingewollt hatte. Gemeinsam mit Mark. Irgendwann fliegen wir nach Norwegen, meine Blume. Wir werden die Mitternachtssonne sehen. Ein lange ersehnter Wunsch wurde wahr. Ohne ihn.Mit Gewalt wollte Blum daran glauben, dass es für immer sein würde. Jeden Morgen, an dem sie aufwachten, malte sie ihr Leben schön und schwärmte, sie versuchte, die Kinder glücklich zu machen. Alltag am Ende der Welt war es. Der Fischer, der kam und sie mit Lebensmitteln versorgte, die Sonne, die nicht unterging, die Möwen, die kreisten. Wochenlang dieses Lachen, das sie sich abrang, auch wenn ihr nicht danach war.
Lügen waren es, die die Wunden der Kinder heilten. Die Wahrheit behielt Blum für sich, diese Sätze, die immer wiederkamen, in ihr laut waren. Eure Mama hat fünf Menschen umgebracht, meine Lieben. Sie hat euch euer Leben gestohlen. Aber Mama wird es wiedergutmachen. Die täglichen Versuche, eine heile Welt zu zimmern, alles zu tun, damit das Lächeln in den Gesichtern der Kinder nicht wieder verschwinden würde.
Drei unendlich lange Monate. Dann wurde der Stockfisch von den Holzgerüsten genommen, gestapelt und nach Italien exportiert, die Köpfe kamen nach Nigeria. Man kocht dort Suppe daraus, sagte der Fischer. Immer noch freundlich, doch neugierig irgendwann. Wie lange wollt ihr denn bleiben, fragte er. Bald ist Winter. Blum antwortete nicht. Müsst ihr nicht nach Hause, fragte er. Müssen die Kinder nicht zur Schule? Blum schwieg.
Auch wenn es ruhig um sie geworden war, auch wenn die Medien von dem Monster abgelassen hatten, sie wusste, dass sie nicht mehr zurückkonnten. Der wöchentliche Besuch im Internetcafé beruhigte sie zwar, doch es bot sich kein Ausweg. Die Fahndung nach ihr war erfolglos geblieben, es herrschte Ruhe, die Journalisten hatten die Geschichte fertigerzählt, es gab nichts Neues zu berichten. Die Bestatterin Brünhilde Blum, die ihre Opfer zerstückelt und in den Särgen irgendwelcher Verstorbenen entsorgt hatte, hatte sich mit ihren Kindern in Luft aufgelöst. Ein spektakulärer Kriminalfall war es gewesen, der das kleine Österreich erschüttert hatte, kurz hatte sogar halb Europa auf das beschauliche Innsbruck geschaut, jetzt aber war es wieder still geworden, das Meer zwischen den Bergen hatte sich beruhigt. Kurze Zeit Windstille.
Blum fuhr mit ihren Kindern in einem Ruderboot hinaus aufs Meer, sie angelten. Sie lachten und warfen die Fische wieder ins Wasser. Friedlich schien alles, und doch konnte sie nicht schlafen, lag wach neben den Kindern in der Nacht. Sie malte sich aus, was kommen würde, die Wirklichkeit war leer. Es gab keine Perspektive, keine Schule, keine Arbeit, keine Krankenversicherung, das Geld würde noch für einige Wochen reichen, dann aber würde alles ins Stocken geraten. Ihr neues Leben war wie ein Auto ohne Benzin am Straßenrand. Was sie noch besaß, fand in zwei Reisetaschen Platz. Nur ein schöner Traum war es, aus dem sie langsam wieder erwachte.
Blum hatte keine Kraft mehr. Den Kindern und sich selbst die Welt schönzumalen, ständig so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, zerrte an ihren Nerven. Sie zog die Bettdecke über den Kopf, die Tage wurden kürzer, die Sonne verschwand langsam. Verzweiflung und Einsamkeit machten sich breit. Das Bewusstsein, dass sie Fremde waren in diesem Land, nur Touristen zu einer Jahreszeit, in der normalerweise keine mehr da waren. Die kurze Sommersaison war vorüber, was sich in den ersten Wochen wie Glück angefühlt hatte, war nun nur noch Strafe und Qual. Die Fragen der Kinder brannten in ihr genauso wie die Antworten, die sie nicht geben konnte.
− Wann fahren wir zurück, Mama?
− Wohin?
− Nach Hause.
− Aber es ist doch schön hier, nicht wahr? Jetzt kommt der Winter, wir können Schneemänner bauen, mit dem Schlitten den Hügel hinunterfahren. Das wird ein Spaß, ihr werdet sehen. Wir werden uns an alles gewöhnen, irgendwann wird das alles hier ganz normal sein.
− Wir wollen auf unseren Kirschbaum klettern im Garten. So wie immer, Mama. Wir müssen die Kirschen pflücken, sonst kommen die Vögel und fressen sie alle auf.
− Wir können uns jederzeit welche kaufen, wenn wir wollen.
− Und was ist mit den Toten, Mama?
− Um die kümmert sich jetzt jemand anderer, macht euch keine Sorgen.
− Bist du jetzt keine Bestatterin mehr?
− Nein.
− Was willst du denn dann machen, Mama?
− Ich habe mir überlegt, dass ich in der Fischfabrik arbeiten könnte.
− Das geht nicht.
− Warum nicht?
− Weil wir nicht wollen, dass du den Fischen die Köpfe abschneidest. Wir können hier nicht bleiben, Mama.
− Aber warum denn nicht?
− Weil es keine Kinder hier gibt. Da ist niemand außer uns. Mit wem sollen wir denn spielen?
− Wir könnten ins Dorf ziehen.
− Wir verstehen die Sprache nicht.
− Eine Sprache kann man lernen. Ihr könntet hier in die Schule gehen, wir könnten für immer hier leben.
− Das wollen wir aber nicht.
− Wir schaffen das schon, ihr werdet sehen.
− Wir wollen zurück in unser altes Haus, wir wollen unsere Spielsachen wiederhaben, Opa wiedersehen.
− Wir können nicht zurück, meine Lieben.
− Warum nicht, Mama?
− Weil es nicht geht.
− Bitte.
− Es tut mir so leid.
− Was, Mama?
− Alles.
Wie es ihr das Herz zerriss. Sie wünschte sich, alles rückgängig machen zu können, sie verachtete sich dafür, dass nichts anderes mehr auf ihrer Zunge lag als dieser beschissene Satz, der zur Floskel verkam, der nur noch ein Versprechen war, das sie nicht einhalten konnte. Alles wird gut. Sie wollte es sagen, doch sie konnte es nicht mehr, die enttäuschten Gesichter der Kinder machten sie stumm. Sie hatte ihr Lachen verloren. Und ihre Zuversicht. Da waren nur noch Tränen. Viele.
Am frühen Morgen stehen sie an einer Tankstelle. Die zwei Reisetaschen neben ihnen auf dem Boden. Blum hat aus dem Bauch heraus entschieden. Hat alles abgebrochen, den Fischer gebeten, sie zurück aufs Festland zu bringen. Keinen Tag mehr länger wollte sie bleiben. Sie muss einen Weg finden, damit ihre Kinder bekommen, was sie sich wünschen. Eine Sprache, die sie sprechen können. Andere Kinder, eine Schule, einen vertrauten Baum, auf den sie klettern können. Sie wird alles dafür tun, egal, was es kostet, sie wird die Mädchen glücklich machen. Mama wird dafür sorgen, dass es euch gutgeht. Sie streichelt über ihre Haare. Wir müssen noch kurz warten, dann fahren wir los. Uma und Nela nicken nur. Sie vertrauen ihr, wie kleine Lemminge laufen sie hinter ihr her. Sie freuen sich über den Aufbruch, darüber, dass sich etwas bewegt, dass sie wieder weggehen von hier. Danke, Mama,sagen sie.
Und wieder sind sie unterwegs. Vor wenigen Monaten sind sie erst angekommen, jetzt gehen sie wieder. Wie mühsam und beschwerlich es war, hierherzukommen, wie viel Angst und Sorge damit verbunden war, wie sehr die Kinder gelitten hatten. Keine Kiste mehr, in der sie zusammengekauert liegen, keine Dunkelheit, die wehtut, keine Kinder, die schreien. Nie wieder wird sie ihnen so etwas antun. Es muss auch anders gehen, Blum wird einen Weg finden. Sie wird ihnen zurückgeben, was sie ihnen genommen hat. Sie werden nicht auf dieser kleinen norwegischen Insel verrotten, sie wird ihnen eine neue Heimat schenken, ein schönes Zuhause für sie aus dem Hut zaubern. Irgendwie werden sie es schaffen. Unterzutauchen, neu anzufangen. Sie will die Kontrolle über ihr Leben zurück, nicht länger ohnmächtig sein, einfach alles hinnehmen, nicht darauf warten müssen, bis ein Tourist am Strand sich an ihr Gesicht erinnert, bis ein neugieriger Nachbar die Polizei alarmiert. Blum will zurück. Weil sie nicht weiß, was sie hier soll. Weil es keine Garantie dafür gibt, dass sie in Norwegen weiterhin in Sicherheit sein werden. Weil ihre Chancen in Deutschland wahrscheinlich größer sind.
Deshalb wartet sie jetzt an dieser Tankstelle und hält Ausschau nach jemandem, der sie mitnimmt. Während die Kinder mit einer leeren Coladose Fußball spielen, wandert Blums Blick ununterbrochen umher, sie scannt den Parkplatz, die Fahrer, sie muss den Richtigen finden, geduldig sein, in den Gesichtern lesen. Es darf niemand sein, der aus Deutschland kommt oder aus Österreich. Er darf keine Fragen stellen, es muss jemand sein, der einfach nur Unterhaltung sucht auf einer langen Fahrt, jemand, der jünger ist als sie, schwächer. Sie muss sich wehren können, falls etwas passiert, sie muss mit allem rechnen, das Messer in ihrer Tasche griffbereit halten. Keine Fehler machen. Blum wird so lange warten, bis sie sich absolut sicher ist, dann erst wird sie fragen. Würden Sie uns mitnehmen? Mich und meine beiden Kinder? Sie würden uns damit einen großen Gefallen tun. Freundlich wird sie sein. Sobald ihr Bauch Ja sagt. Dann werden sie einsteigen und in einer Fahrerkabine verschwinden.
Mittag ist es. Ein junger Türke mit einem freundlichen Lächeln kommt aus der Raststation, vielleicht fünfundzwanzig ist er. Ein schmächtiger Kerl, der auf einen riesigen Sattelzug zugeht. Ich fahre bis Hamburg, sagt er. Er hat keine Ahnung, wer sie ist, was sie zu verbergen hat. Nur ein Fremder, dem sie das Blaue vom Himmel erzählt. Dass sie Streit mit ihrem Mann hätte, sagt sie. Dass sie weggelaufen sei. Sie müsse die Kinder in Sicherheit bringen, weil ihr Vater sie suche, sie ihr wegnehmen wolle. Eine rührende Geschichte kommt aus ihrem Mund, schutzbedürftig wirkt sie. Und der Türke nimmt sich ihrer an. Zeki heißt er. Und er glaubt ihr. Steigt ein,sagt er.
Dreißig Stunden lang geht es mit Zeki Richtung Süden. Auf der Ladefläche zwei Tonnen Stockfisch, aus dem Lautsprecher türkische Volksmusik. Blum und die Kinder neben ihm auf dem Beifahrersitz, alles fühlt sich gut und richtig an. Uma und Nela, wie sie lachen, weil Zeki ihnen lustige Geschichten erzählt, sie aufmuntern will. Landschaft, die vorbeizieht. Und ein Ziel, das da plötzlich wieder ist. Hamburg. Weil es das Schicksal so entschieden hat. Eine Stadt, groß genug, um dort nicht aufzufallen, um zu bekommen, was sie will. Reisepässe für sich und die Kinder, eine Wohnung, Arbeit. Sie werden ein ganz normales Leben führen, unter einem anderen Namen werden sie neu beginnen und alles hinter sich lassen. Blum träumt weiter, während sie die Kinder am Abend auf einer dreckigen Liege in den Schlaf streichelt. Die Finger ihrer rechten Hand streichen über Umas Rücken, die Finger ihrer linken über Nelas. In Zekis Fahrerhaus klingt alles nach Hoffnung. Wir haben dich lieb, Mama. Dann gehen die kleinen Augen zu. Und Blum setzt sich wieder nach vorne. Danke, sagt sie.
− Du musst dich nicht bedanken.
− Doch, das muss ich. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du uns nicht mitgenommen hättest.
− So schlimm?
− Ja.
− Du hast kein Geld, oder?
− Warum fragst du mich das?
− Du fährst per Anhalter. Fliegst nicht, reist nicht mit der Bahn. Mit den Kindern, das ist ungewöhnlich.
− Du hast Recht. Es ist nicht mehr viel da.
− Wo wollt ihr hin?
− Ich weiß es nicht. Aber Hamburg klingt gut.
− Ihr könnt nicht nach Hause?
− Leider nein.
− Was muss das für ein Arschloch sein.
− Wer?
− Dein Mann. Eine Frau wie dich sollte man behandeln wie einen Schatz.
− Flirtest du mit mir?
− Nein.
− Besser so.
− Aber ich könnte dir helfen.
− Wie?
− Ich kenne da jemanden in Hamburg. Eine gute Freundin von mir. Ihr könntet ein paar Tage bei ihr unterkommen.
− Warum solltest du uns helfen wollen?
− Warum nicht?
− Du kennst uns doch gar nicht.
− Ich habe gehört, was du zu deinen Kindern gesagt hast.
− Was?
− Zeki ist lieb. Das hat mir gefallen.
− Das reicht?
− Ich habe sieben Geschwister. Ich weiß, wie sich das anfühlt.
− Was?
− Nichts zu haben. Nicht zu wissen, was kommt.
− Erzähl mir davon.
Und Zeki erzählt. Lange und ernst über eine Kindheit in Kappadokien, über Armut und Sehnsucht. Liebenswert ist er. Kein Drängen, kein Wollen, nur ein junger Mann, der reden will, helfen will. Weil es ihm leichtfällt. Unbeschwert ist alles, nebeneinander sitzen sie und fahren durch die Nacht. Bist du müde, fragt Blum. Noch nicht, sagt Zeki und redet weiter. Blum genießt es. Seit drei Monaten zum ersten Mal wieder eine richtige Unterhaltung. Ein Gefühl, das guttut. Nur Zeki und das Meer, wenn sie aus dem Fenster schaut. Die Lichter der Fischerboote weit draußen.
Bei den Landungsbrücken verabschieden sie sich. Hamburg am Morgen. In ihrer Hand der Zettel mit der Adresse, die er ihr aufgeschrieben hat. Eine gute Freundin, hat er gesagt. Dankbar hat sie ihn umarmt. Zeki. Zwei Tage lang hat sie sich sicher gefühlt. Mit den Kindern irgendwo in Dänemark auf einem Parkplatz. Wir müssen pinkeln, Mama. Mit den Kindern in einem Autobahnrestaurant. Wir wollen Pommes, Mama. Und Eis. Sie waren zufrieden. Uma und Nela. Und Zeki, der ihnen ununterbrochen das Gefühl gab, dass alles in bester Ordnung war. Auf engstem Raum vertraut. Weil es Schicksal war vielleicht. Alles, was passiert ist, seit sie die Tür zugemacht hatte in Norwegen. Endlich jemand, der es gut mit ihnen meinte. Bis zum Schluss war da keine Angst, kein Argwohn, nur ein zuversichtliches Lächeln am Ende. Ein schneller Abschied, weil Zeki weitermusste, weil er das nächste Kapitel in seinem Buch aufschlagen würde. Pass gut auf die Mädchen auf, sagte er nur. Und auf dich. Dann war er weg.
Kurz ist da noch dieses schöne Gefühl. Aufgeladen mit dem, was war in den letzten zwei Tagen, steht sie da und schaut dem Lkw hinterher. Auch noch, als er längst schon nicht mehr zu sehen ist. Kommt er zurück, fragen die Kinder. Nein, sagt Blum. Die Vertrautheit ist weg, die Geborgenheit, es gibt keine Nacht mehr mit Zeki am Straßenrand, sie sind wieder allein. Alles ist wieder fremd. Da sind nur diese Treppen, die sie nach oben steigen, Hand in Hand Richtung St. Pauli. Einfach weitergehen, nicht zögern, die Mädchen sollen nicht merken, dass sie sich nicht auskennt an diesem Ort. Dass da nur der Zettel in ihrer Hand ist, ein Strohhalm, an den sie sich klammert, ein Name nur, eine Adresse irgendwo auf dem Kiez.
Blum schaut sich um. Dreht sich in alle Richtungen. Sie orientiert sich, sie muss schnell sein, von der Straße verschwinden, die Reisetaschen irgendwo abstellen. Eine Mutter mit ihren zwei Kindern auf der Flucht. Sie dürfen nicht zusammen gesehen werden, noch nicht. Nicht mit dem Gepäck, sie muss es loswerden, es irgendwo unterstellen und später holen. Sie könnten Blicke auf sich ziehen, Blum hat Angst davor. Auch wenn sich niemand nach ihnen umdreht, wenn keiner ihnen Aufmerksamkeit schenkt, sie zieht den Kindern die Kapuzen über den Kopf. Auch wenn es übertrieben ist, was sie tut, sie kann nicht anders, sie sorgt sich. Ganz langsam gehen sie. Wie Touristen auf dem Weg zu ihrem Hotel, eben in Hamburg angekommen, ohne Eile an der Davidwache vorbei. Polizei steht auf dem Schild. Blum ignoriert es. Tut so, als wären sie knapp vor dem Ziel. Bald werden wir frühstücken, meine Lieben, sagt sie. Und dann ab in die Badewannemit euch.
Blum wünscht es sich. Dass jemand da ist, der ihnen die Tür aufmacht. Zekis Freundin, die sie willkommen heißt, ihnen zeigt, wo sie schlafen können, ihnen tatsächlich Frühstück macht. Sie träumt davon. Neben einem Betrunkenen, der sich gerade übergibt. Gestank, Müll und die Straßenreinigung, die langsam alles, was in der Nacht passiert ist, wieder wegwischt. Leuchtreklamen, die zur Ruhe kommen, Clubs, Kneipen, Straßenecken, an denen bis gerade eben noch halbnackte Frauen standen. Laufhäuser, Freier, Dealer. Jetzt ist es still. Nur das Drängen der Kinder ist laut. Wir haben Hunger, Mama. Warum geht die Tür nicht auf? Wir sind müde, Mama. Blum klingelt. Minutenlang ihr Finger auf dem Knopf. In einer Seitengasse ein heruntergekommenes Mietshaus. Und eine Frau, die ihr entgegenkommt. Die Huren schlafen jetzt,sagt sie. Da können Sie lange warten.
Doch Blum lässt nicht locker. Sie will von der Straße weg, sie will hinter der Wohnungstür verschwinden, kurz ausruhen, den nächsten Schritt überlegen, die Kinder weiterhin in Sicherheit wiegen. Geduld, meine Lieben. Sie wacht bald auf und öffnet. Ina. Nur ein Name auf einem Zettel, die Chance, ungesehen die Nacht in einem Bett verbringen zu können. Weil sie nicht einfach in ein Hotel gehen kann, weil sie keine Papiere hat. Blum kann nirgendwohin, solange sie keine neuen Pässe hat, sie ist Freiwild, sie hat keine Rechte, sie ist illegal, jeder könnte sie zur Strecke bringen. Jemand, der von ihr wissen will, warum sie nicht aufhört zu klingeln, warum sie das ganze Haus terrorisiert. Ein Anruf bei der Polizei wegen Ruhestörung würde reichen und könnte alles beenden.
Trotzdem klingelt sie weiter. Zehn Sekunden noch, zwanzig. Dann wird sie sich umdrehen und verschwinden, weglaufen. Sie wird sich etwas anderes überlegen müssen, sie wird in einen Park gehen, die Reisetaschen im Buschwerk verstecken, so tun, als wäre sie eine ganz normale Mutter, die mit ihren Kindern ein paar ausgelassene Stunden im Freien verbringt. Sie wird Jause kaufen, Brot und Wurst, etwas Süßes. Und sie wird mit den Kindern schaukeln, bis ihr übel wird. Spätestens dann wird ihr etwas einfallen. Fünf Sekunden wird sie noch warten. Bis Ina endlich aufmacht. Drei Sekunden. Eine. Wir kommen später wieder, sagt sie zu den Kindern. Doch dann geht die Tür auf.
Verschmierte Wimperntusche, blonde Haare, vielleicht zwanzig ist sie. Verdammte Scheiße noch mal. Was wollt ihr von mir? Ina reibt sich die Augen, verwischt damit die Schminke in ihrem Gesicht noch mehr. Sie steht da mit offenem Mund und staunt, weil da zwei Kinder sind. Weil niemand ihr gesagt hat, dass sie Besuch bekommt. Wenn ihr weiter klingelt, rufe ich die Polizei.Habt ihr das verstanden, ihr Freaks? Sie will die Tür wieder ins Schloss drücken, doch Blum bleibt hartnäckig. Sie sagt ihr, wer sie hergeschickt hat, sie bittet Ina um Hilfe. Nur eine Nacht oder zwei, flüstert Blum. Nur so lange, bis sie weiß, wie es weitergeht. Heimlich fleht sie. Die Kinder sollen nicht merken, dass ihr Schicksal von einer Prostituierten abhängt, von ihrer Bereitschaft, sie in ihre Wohnung zu lassen. Von mir aus, sagt Ina. Aber seid leise, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Dann geht sie voraus, die Treppen nach oben. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwindet sie in ihrem Schlafzimmer und legt sich hin. Wenn ihr mich noch einmal weckt, seid ihr tot, sagt sie noch.
Die Kinder kichern. Die ist nett, sagen sie. Weil sie spüren, dass die junge Frau nicht ernst meint, was sie sagt. Weil sie die Wohnung lustig finden, in der sie gelandet sind. Unordnung überall. Und alles ist pink. Die Heimat von Hello Kitty, Mädchenträume gehen in Erfüllung. Am Boden liegen pinke Klamotten herum, Lackstiefel. Hier gefällt es uns,Mama. Blum lächelt. Und schaut zu, wie sie beinahe lautlos in Inas Schuhen durch die Wohnung stolzieren. Dürfen wir das, Mama? Blum nickt freundlich, dann legt sie sich auf die Couch. Es ist egal, dass der Wasserhahn tropft. Es ist egal, dass die Decke schmutzig ist, auf der sie liegt. Nur schön ist es, den Kindern beim Spielen zuzusehen. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereinkommen. Die pinke Welt, in der sie angekommen sind. Hamburg, Reeperbahn. Hier werden sie bleiben. Blum weiß es. Hier ist die Endstation.
Der Mann, der sie festhält, heißt Gonzo. Sie kann ihn riechen, zu nah ist er. Sein Schweiß, die fremden Hände auf ihr. Einen Moment lang steht alles still, weil der zweite Mann, der ihr gegenübersitzt, noch nicht entschieden hat, was mit ihr passieren wird. Ob es gut für sie ausgehen wird, oder nicht. Er sagt kein Wort, er lächelt nur, er raucht und starrt sie an. Die junge Frau, die an den Türstehern vorbeigerannt und in den Saunaclub gestürmt ist. Wir müssen reden, hat sie gesagt. Laut und ohne zu zögern. Sie hat nicht nachgedacht, da war keine Angst, nur er kann ihr noch helfen. Der schöne Mann in dem Bürostuhl. Egon Schiele.
Eine Zeichnung hinter ihm an der Wand. Gespreizte Beine, ein nackter, kantiger Körper. Ein übergroßer Kunstdruck. Ein Bild, das sie kennt, von einem Maler, den sie immer verehrt hat. Und ein schmieriger Zuhälter, der sich mit dem Namen des großen Künstlers schmückt. Schiele. Abschaum in einem schönen Anzug, bereit, seinem Schläger grünes Licht zu geben. Mach mit ihr, was du willst, wird er zu dem stinkenden Drecksack sagen, der hinter ihr steht. Oder er wird sich anhören, was sie zu sagen hat, und Gonzo weiter im Zaum halten. Er kennt die richtigen Leute, hat Ina gesagt. Schiele kann dir alles besorgen, was du willst. Der Zuhälter, der sich fragt, warum sie es wagt, hier hereinzuplatzen, warum sie keine Angst vor ihm hat. Wie heißt du, fragt er. Sie schweigt.
Brünhilde Blum. Ein Name, den sie nicht mehr tragen kann. Aus einem Leben, in das sie nicht mehr zurückkann. Ich brauche Reisepässe für mich und meine zwei Kinder, sagt sie. Und du wirst mir dabei helfen. Keine Frage ist es, sondern ein Fordern. Da ist kein Zittern, kein Gedanke daran, dass Schiele sie auslachen und davonjagen, dass der Bullterrier hinter ihr noch fester zudrücken könnte. Da sind nur ihre Augen, die klar und deutlich wiederholen, was sie von ihm will.
Schiele überlegt, Blum sieht es in seinem Gesicht. Jede andere hätte bereits am Boden gelegen, gedemütigt wieder aus dem Büro hinausgekrochen. Aber nicht diese Frau hier, die wirkt, als könnte sie nichts verletzen, als hätte sie nichts zu befürchten. Da ist keine Bewegung, kein Versuch, sich aus den Armen, die sie umschlingen, zu befreien. Da ist nur ihre Stimme. Ich brauche diese Pässe. Unbedingt. Blum spürt seine Neugier, sie hört ihn denken in der Stille. Der Zuhälter versucht zu begreifen, was da vor sich geht. Egon Schiele in einem Saunaclub im Industriegebiet. Weißes Hemd, kurze Haare, eine teure Uhr am Handgelenk. Er zieht an seiner Zigarette, scheint fasziniert von ihr zu sein. Noch immer zögert er.
Er ist einer von den ganz Großen, hatIna ihr erzählt. Schiele ist anders, Schiele hat Einfluss. Ehrfürchtig fast hat sie über ihn gesprochen. Dass sie gerne für ihn arbeiten würde, hat sie gesagt. Er sei der neue König in der Stadt, seit langem wieder ein Deutscher auf dem Kiez, der die Fäden in der Hand hält. Er ist charmant, hat sie gesagt. Aber sei trotzdem vorsichtig.In meiner Welt sind blaue Flecken normal. Doch Blum ließ sich nicht abhalten, sie bat Ina, auf die Kinder aufzupassen. Nur eine Stunde, oder zwei. Ich kann sie nicht mitnehmen. Blum bettelte so lange, bis Ina Ja sagte. Sie nahm das Geld, das Blum ihr in die Hand drückte, und schaltete den Mädchen den Fernseher ein. Ich hasse Kinder,sagte sie noch. Doch Uma und Nela waren einverstanden. Geh nur, Mama. Ina passt schon auf uns auf.
Eine völlig Fremde, die Spiegeleier für Uma und Nela machte. Ein Glücksfall für Blum. Sie musste keine unangenehmen Fragen beantworten, Ina interessierte sich nicht dafür, was sie machte, warum sie neue Pässe brauchte. In Inas Welt war alles erlaubt. Zekis Freunde sind meine Freunde,sagte sie. Mehr nicht. Nur dass Blum sich beeilen solle. Weil sie wieder auf die Straße müsse. Du hast zwei Stunden, Süße. Sonst verkaufe ich die Kleinen. Dann schob sie sich einen Kaugummi in den Mund und Blum aus der Wohnung.
Der gute Wille eines Zuhälters ist nun ihre letzte Hoffnung. Er entscheidet, ob Blum ein neues Leben beginnen wird oder nicht. Wie auf einer Bühne fühlt sie sich. Es ist ein billiger Film, in dem sie plötzlich mitspielt. Blum im Rotlicht. Und wie Schiele langsam seinen Kopf hebt. Nur ein kleines Nicken ist es, mit dem er Gonzo sagt, was er zu tun hat. Er soll ihr klarmachen, dass nur einer in diesem Raum das Sagen hat. Schiele will ihr zeigen, dass er es könnte, wenn er wollte. Ihr wehtun. Er lässt seinen Hund kurz von der Leine, Blum kann sich nicht wehren, es nicht verhindern. Dass Gonzo sie nach unten drückt und ihr die Bluse vom Leib reißt. Dass Schiele sie anstarrt mit geilen Augen.
− Du hast schöne Brüste.
− Er soll mich loslassen. Sofort.
− Brüste sind sehr wichtig in diesem Geschäft. Brüste sind das Verkaufsargument Nummer eins. Mit deinen könnte man gutes Geld verdienen, glaub mir.
− Wenn dieser Drecksack nicht sofort seine Finger von mir lässt, wird dir das noch sehr leidtun.
− Die kleine Wildkatze droht mir? Es wird ja immer besser, köstlich ist das. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, ein wenig Demut wäre angebracht. Du bist hier nicht in der Position, zu fordern. Verstehst du das? Wenn du mir nicht sofort sagst, wer du bist und was du tatsächlich von mir willst, wird Gonzo weitermachen. Er wird seinen Spaß mit dir haben. Du musst wissen, der gute Gonzo hat schon länger keine Frau mehr gehabt, die Damen im Haus sagen ihm leider nicht zu. Unser Gonzo ist heikel.
− Du wirst diesem Arschloch jetzt sagen, dass er mich loslassen soll.
− Werde ich nicht. Warum sollte ich auch?
− Ich brauche nur diese Pässe. Sonst will ich nichts von dir, nur Pässe für mich und meine beiden Kinder. Dann wirst du mich nie wiedersehen.
− Hast du Geld?
− Nein.
− Willst du mich verarschen? Ist das so was wie Versteckte Kamera? Weißt du eigentlich, wo du hier bist?
− Ich werde später bezahlen.
− Das hier ist ein Bordell und keine Bank.
− Bitte.
− Bitte reicht nicht. Gonzo, bring sie weg.
− Ich flehe dich an, ich werde alles für dich tun, wenn du mir hilfst.
− Von daher weht also der Wind. Du möchtest für mich arbeiten?
− Nein.
− Geht in Ordnung. Gonzo wird dich testen, dann reden wir weiter.
− Ich will nicht für dich arbeiten.
− Aber das wäre doch eine großartige Idee. Ich muss zugeben, du gefällst mir. Sehr sogar. Du würdest den anderen Weibern im Stall ganz schön die Show stehlen.
− Ich habe Nein gesagt.
− Aber warum denn? So wie ich die Situation einschätze, wäre das doch eine prächtige Idee. Du bist völlig am Ende, würde ich sagen. Keine Wohnung, oder? Kein Geld, keine Papiere, ein wunderbarer Grund also, um auf geschmeidige Art und Weise Geld zu verdienen.
− Du sollst mir nur diese verdammten Pässe besorgen, mehr nicht.
− Was um Himmels willen sollte mich dazu bringen, dir zu helfen? Abgesehen von deinen herrlichen Brüsten natürlich.
− Ich werde dir das Geld zurückgeben. Jeden Euro.
− Meine Zeit ist kostbar. Entweder du sagst mir jetzt, wie du dir das vorstellst, oder es wird ganz, ganz übel enden.
− Ich werde dir Zinsen bezahlen.
− Du musst schon etwas mehr bieten, wenn du hier wieder heil herauskommen willst. Viel mehr.
− Bitte.
− Du weißt doch, dass es illegal ist, Dokumente zu fälschen, oder?
− Ja.
− Du möchtest, dass ich etwas Verbotenes für dich mache, bist aber nicht bereit, mir entgegenzukommen, für mich auf die Straße zu gehen. Kein guter Deal für mich. Deshalb würde ich sagen, dass es jetzt reicht. So hübsch du auch bist, ich muss es leider sagen. Sie gehört dir, Gonzo.
− Bitte nicht. Hör mir zu. Wir finden eine Lösung.
− Ich würde sagen, deine Lage ist aussichtslos. Ficken willst du nicht. Also was dann? Sag es mir. Wenn du nicht möchtest, dass Gonzo gleich hier in meinem Büro über dich herfällt, dann mach endlich den Mund auf.
− Es gibt bestimmt etwas, das ich für dich tun kann.
− Was denn? Mir fällt nichts ein. Schade um dich. Von mir aus kannst du mit ihr machen, was du willst, Gonzo. Die Uhr tickt, schöne Frau. Fünf, vier, drei, zwei, eins. Und Ende. Raus aus meinem Büro jetzt.
− Ich kann jemanden für dich umbringen.
− Was kannst du?
− Jemanden für dich töten.
− Was sagst du da?
− Du hast mich schon richtig verstanden.
− Langsam, langsam. Sag das noch mal, laut und deutlich, ich möchte nicht, dass es Missverständnisse zwischen uns gibt.
− Ich werde jemanden für dich umbringen. Dafür besorgst du mir die Pässe. Das ist der Deal.
− Das ist ein Scherz, oder?
− Nein, das ist kein Scherz.
− Bist du irre? Was ist los mit dir?
− Ich habe zwei Kinder.
− Und das macht dich zur Mörderin, oder was?
− Diese beiden Kinder warten darauf, dass ihre Mutter wieder zu ihnen zurückkommt. Mit guten Nachrichten. Sie wollen hier zur Schule gehen, Freunde finden, in einem Park mit anderen Kindern spielen. Sie wollen ein ganz normales Leben führen. Deshalb bin ich hier.
− Rührend. Mama bringt Leute um, damit die Kinderchen glücklich sind.
− Wenn es sein muss, ja.
− Großartig. Aber so wie ich das einschätze, bist du dazu leider nicht imstande.
− Doch, das bin ich.
− Herrlich. Verzeih, dass ich lache. Aber du glaubst doch nicht wirklich, dass du jemanden töten könntest? Hast du eine Ahnung, wovon du da sprichst?
− Ja.
− Gonzo zum Beispiel? Würdest du ihn erschießen, wenn ich dir eine Waffe in die Hand drücken würde? Könntest du das? Diesen geilen Bock einfach abknallen?
− Ich werde dieses Arschloch erschießen, wenn es das ist, was ich tun muss, um diese verdammten Pässe zu bekommen.
− Das sind große Worte. Da muss ich doch tatsächlich in meine Schublade greifen und dir diese schöne Waffe hier geben. Habe ich von meinem Vater bekommen, ein Prachtstück. Aber Vorsicht, sie ist bereits entsichert.
− Er soll mich loslassen.
− O. k., das ist fair. Gonzo, lass das Fräulein los. Wenn du sie so nach unten drückst und bedrängst, kann sie dich ja nicht treffen, oder?
− Du wirst mir also helfen?
− Abwarten. Jetzt finden wir erst mal heraus, ob ich dich ernst nehmen kann oder nicht. Gonzo ist in Position. Mein bester Mitarbeiter übrigens, nicht der hellste Geist, aber absolut folgsam. Deshalb wird er nicht weglaufen und dich auch nicht daran hindern abzudrücken. Stimmt’s, Gonzo? Das junge Fräulein kann loslegen. Also, mach schon. Das ist deine letzte Chance.
− Wenn ich ihn töte, bekomme ich die Pässe?
− Geht in Ordnung.
Einen Moment lang ist alles weit weg. Schiele, Gonzo, die Waffe in ihrer Hand. Blum kann die Kinder hören, während sie auf ihn zielt. Uma und Nela, wie sie auf die pinke Ina einreden. Du darfst uns hier nicht allein lassen. Wir haben Angst. Bitte geh nicht weg, Ina. Doch Ina muss arbeiten, Ina wartet schon zu lange. Blum ist nicht zurückgekommen, niemand weiß, wie lange sie noch weg ist. Ina muss handeln, sie will Blums Problem nicht zu dem ihren machen, sie muss die zwei wildfremden Kinder auf ihrem Sofa so schnell wie möglich loswerden. Ina wird die Kinder wegbringen, wenn Blum sich nicht beeilt und endlich ihren Zeigefinger bewegt.
Blum sieht es vor sich. Ina wird zur Davidwache spazieren und sich von ihnen verabschieden. Uma und Nela werden hineingehen und den Polizisten erzählen, was passiert ist. Dass eine Frau im pinken Minirock sie hergebracht hat, dass sie in Norwegen waren und dass Mama Blum heißt. Brünhilde Blum. Dass sie Bestatterin ist und Leichen wäscht. Die Polizisten werden ihnen genau zuhören, sie werden den Kindern Saft geben und Süßes, sie werden Fragen stellen. Alles wird genau so enden, wenn Blum jetzt nicht abdrückt. Egal, warum Schiele es von ihr verlangt, warum er will, dass sie seinen Wachhund tötet, sie hat keine andere Wahl. Sie muss Schiele dazu bringen, ihr zu helfen, sie darf nicht darüber nachdenken. Ob es richtig ist oder falsch. Sie wird es tun. Jetzt.
Schiele erschrickt. Er will aufspringen, entschließt sich dann aber doch, sitzen zu bleiben. Wow, sagt er nur. Dann lehnt er sich in seinen Sessel zurück und schaut sie ungläubig an. Widerwillige Bewunderung in seinen Augen, er kann es nicht fassen, dass die schöne Fremde wirklich den Abzug gedrückt hat. Respekt, sagt er. Ich bin beeindruckt. Damit habe ich nicht gerechnet. Auch nicht damit, dass sie die Waffe immer noch in ihrer Hand hält, dass Blum sie nicht loslässt, nicht weglegt. Weil ihr alles egal ist in diesem Moment. Ob Gonzo lebt oder nicht, kümmert sie nicht. Wenn er stirbt, wird Schiele ihr helfen. Deshalb drückt sie noch einmal ab. Und noch einmal.