Tragen und getragen werden - Ursula Hofer - E-Book

Tragen und getragen werden E-Book

Ursula Hofer

0,0

Beschreibung

Bücher von Betroffenen zum Thema Magersucht oder Autismus finden Sie in Hülle und Fülle. Aber was erleben Eltern oder Angehörige der erkrankten Person? In diesem Buch beschreibt eine Mutter hautnah, was sie mit ihrer Tochter alles durchmachte, welche Täler sie durchschritt, wie sie immer wieder Hoffnung schöpfen konnte, was sie im Umgang mit Fachleuten (ambulant und stationär) erlebte und wie sie lernte mit der Diagnose des Asperger Syndroms ihrer Tochter umzugehen. Sonja Bonin: "Sie sind eine fröhliche sechsköpfige Familie und meistern ihren Alltag mit Humor, Zusammenhalt und ihrem christlichen Glauben. Da bricht das Unheil wie ein Tsunami über sie herein: Die jüngste Tochter Andrina wird mit nur 11 Jahren magersüchtig. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, die dasselbe erlebt hatte, kann sie die tödliche Sucht nicht innert kurzer Zeit besiegen. Andrina scheint in einer Spirale gefangen, die sie tiefer und tiefer ins Unglück treibt. Mutter Ursula hält diese Leidenszeit in einem Tagebuch fest - die Ängste und Selbstanklagen, die Verzweiflung, die Hoffnung, den Mut und das Gottvertrauen einer Mutter, deren Kind sein Leben nicht ertragen kann. Am Ende bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 348

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Ursula Hofer ist eine 58-jährige Frau, verheiratet und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Nach Stationen im Südtirol und im Zürcher Weinland lebt sie nun seit vier Jahren mit ihrem Mann in Bern. Im ersten Buch „Täghüfeli und Madäneli“ verarbeitete sie die Lebensgeschichte ihrer Mutter.

Bis auf den der Autorin sind alle Namen im Buch anonymisiert.

Inhalt

Vorwort

Das zweite Mal

Zwischenhalt: Martina erinnert sich an ihre Magersucht

Mutter ist an allem schuld

Vater ist an allem schuld

Zwischenhalt: Naemi: Warum wurden meine Schwestern magersüchtig und ich nicht?

Station 1

Immer noch Station 1

Tunnel ohne Ende

Zwischenhalt: Unsere Tochter lebt

Andrina lacht wieder

Das erste Mal zu Hause

Schuldig oder nicht schuldig?

Nach Littenheid, Bern oder nach Hause?

Endlich Zu Hause

Zwischenhalt: Waren wir so blauäugig?

Neubeginn in Bern

Ein einschneidender Entscheid

Zwischenhalt: Das Leben siegt

Ein zweites Leben

Die Türen öffnen sich immer weiter

Aspergersyndrom?

Zwischenhalt: Asperger

Aussenstation Tremola

Unser Leben kommt in ruhigere Bahnen

Ein Hin und Her

Ein Auf und Ab

Nächste Runde in Bern

Es geht vorwärts

Zwischenhalt: Unsere Läuferin

Wieder im Licht

Nachwort Januar 2016

Danke

Vorwort

Es war einmal ... so beginnen alle Märchen. Doch dieses Buch, das Sie in den Händen halten, ist kein Märchen, sondern lässt Sie an einem Stück Familiengeschichte teilhaben. Stellen Sie sich ein Dorf vor, das von Äckern, Reben, Wiesen und Wäldern umgeben ist. Ein kleines Dorf, mit knapp tausend Einwohnern, wo sich mehr oder weniger alle kennen. Auf der Strasse wird gegrüsst und die Nachbarschaftshilfe funktioniert. Das Jahr hat seinen gewohnten Ablauf mit diversen Höhepunkten: Fastnachtsfeuer, Grümpelturnier, Erster August, Gewerbeausstellung und Herbstmarkt.

Hier lebten wir, eine sechsköpfige Familie mit Hasen, Katzen, Meerschweinchen, Mäusen und Hamstern.

Bis ins Jahr 2001 verlief der Alltag der Familie im üblichen Rahmen, mit den üblichen Ereignissen, den üblichen Freuden und den üblichen Problemen, die ein Leben mit vier Kindern so mit sich bringt. Aber in diesem Jahr brach die Erkrankung Martinas wie ein Sturm über uns herein. Sie wurde magersüchtig. Ende April musste sie notfallmässig ins Spital, weil ihr Gewicht lebensbedrohlich tief war. Nach drei Monaten konnte sie zwar wieder nach Hause kommen; doch die Sucht war immer noch stark, so dass sie wieder in diese tödliche Abwärtsspirale von „zu wenig essen und immer mehr abnehmen“ geriet. Während des zweiten Spitalaufenthaltes entschied sich Martina, nach dem Beenden der Schulzeit als Au-pair ins Tessin zu gehen. Als sie nach einem Jahr wieder nach Hause kam, hatte sie die Magersucht so in den Griff bekommen, dass sie sich wieder einigermassen normal ernähren konnte.

Im Jahr 2005 hatte Martina die Ausbildung zur Pflegefachfrau begonnen. Naemi war für ein Austauschjahr in Amerika; Marco bereitete sich auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium vor und Andrina besuchte die fünfte Primarschulklasse. David arbeitete als Sozialarbeiter und ich war hauptberuflich als Mutter und Hausfrau beschäftigt. Nebenbei unterrichtete ich noch zwei Nachmittage.

Und hier beginnt die Geschichte, die in diesem Buch aufgeschrieben ist.

Das zweite Mal

DONNERSTAG, DEN 28. APRIL 05

Es ist Abend. Marco und Andrina sind in ihrem Zimmer. David ist unterwegs. Ich freue mich auf eine gemütliche Zeit mit dem neuen Krimi von Donna Leon. Kaum habe ich mich hingesetzt, ertönt Andrinas Stimme. „Mami, kommst du bitte rasch zu mir?“ Widerwillig lege ich das Buch zur Seite und steige die Treppe hoch. Was will sie wohl? Ich betrete ihr Zimmer. Andrina sitzt im Bett mit einem vor Angst verzerrten Gesicht. Sie schluchzt: „Mami, in mir ist eine Stimme, die sagt mir, dass ich heute viel zu viel gegessen habe und dass ich zu dick bin. Jetzt habe ich so ein schlechtes Gewissen.“ Mein Herz krampft sich zusammen. In mir schreit es: „Nein, nein, nein!“ Ich weiss doch aus Erfahrung, dass jemand schon mitten in einer Magersucht steckt, wenn er diese Gedanken äussert. So erlebten wir es auch bei Martina. Zu Andrina sage ich nur: „Nein, du hast nicht zu viel gegessen, diese Stimme lügt und dick bist du sowieso nicht.“ Zweifelnd schaut sie mich an. Erst nach längerem Gespräch beruhigt sie sich. Nachdem wir zusammen gebetet haben, schläft sie endlich ein. Ich schleppe mich die Treppe hoch in unser Schlafzimmer, falle aufs Bett und die Tränen laufen über mein Gesicht. „Nein, Gott, nicht diese Krankheit! Ich will nicht noch einmal solch eine Zeit erleben. Warum ist auch Andrina magersüchtig geworden? Sie ist doch erst elf Jahre alt! Warum lässt du das zu?“, klage ich ihn an.

Diese Nacht schlafe ich unruhig. Meine Gedanken drehen und drehen. Wird Andrina so krank werden wie Martina? Haben wir Anzeichen der Magersucht übersehen? Oder haben wir sie nicht wahrgenommen, aus Angst, nochmals solch eine schwierige Zeit wie mit Martina zu erleben?

FREITAG, DEN 29. APRIL 05

Ich erzähle David beim Frühstück vom nächtlichen Gespräch mit Andrina. Er ist genauso geschockt und will es fast nicht glauben. Aber auch ihm ist klar, dass wir sofort Hilfe organisieren müssen. Wir hoffen, dass wir mit schnellem Eingreifen die Katastrophe verhindern können. Ich rufe die Psychologin an, die uns auch während Martinas Magersucht begleitet hat. Wie bin ich erleichtert, dass wir schon nächste Woche zu einem Gespräch gehen können.

FREITAG, DEN 6. MAI 05

Seit dem nächtlichen Gespräch habe ich Andrina beobachtet und musste tatsächlich feststellen, dass sie schon noch isst, aber konsequent zu wenig. Vieles lässt sie weg. Vor allem fettige Sachen, wie Wurst oder Saucen. Mein Herz wurde von Tag zu Tag schwerer. Heute können wir endlich zur Psychologin gehen. Die erste Viertelstunde bin ich auch dabei, um aus meiner Sicht zu erzählen, weshalb wir Hilfe brauchen. Doch dann werde ich ins Wartezimmer verbannt. Wie ich mich nach Lektüre umschaue, fällt mein Blick auf einen Spruch an der Wand. „Es isch, wies isch!“ Ja, das ist einfach gesagt. Eine tolle Wahrheit. In mir sträubt sich alles dagegen, die Situation so anzunehmen, wie sie ist. Vorsichtshalber schreibe ich mir den Spruch aber trotzdem ab. Kann ja nicht schaden! Zum Abschluss werde ich noch einmal ins Besprechungszimmer gebeten. Die Psychologin erzählt, wie sie sich unsere Zusammenarbeit vorstellt: „Andrina ist einverstanden damit, dass sie regelmässig zu mir kommen wird. Aber ich werde auch mit eurem Hausarzt Kontakt aufnehmen, damit er Andrinas Gewicht und ihren Gesundheitszustand regelmässig kontrolliert. So können wir vielleicht das Allerschlimmste – einen körperlichen Zusammenbruch oder einen Spitalaufenthalt – vermeiden!“ Das beruhigt mich einigermassen.

MONTAG, DEN 16. MAI 05

Zehn Tage sind seit dem Gespräch bei der Psychologin vergangen. Andrinas Essverhalten hat sich verschlechtert. Zum Frühstück Konfitürenbrötchen, zum Nachtessen Konfitürenbrötchen. Natürlich ohne Butter und die Konfitüre muss man mit der Lupe suchen. Auch beim Mittagessen werden die Portionen kleiner. Ich schaffe es nicht, mit Andrina zu streiten, um keinen Bissen mag ich kämpfen. Das habe ich zur Genüge bei Martina gemacht, und was hat es gebracht? Nichts! Andrinas regelmässige Kontrollen beim Arzt zeigen einen alarmierenden Gewichtsverlust. David und ich haben zusammen mit der Psychologin, dem Arzt und Andrina ein Gewicht von 36 Kilogramm festgesetzt. Wenn sie diese Grenze unterschreitet, muss Andrina ins Spital, da es lebensgefährlich werden kann. Dieser Punkt kommt näher und näher. Das Thema Magersucht nimmt mich erneut gefangen und beherrscht meine Gedanken.

Von den anderen Kindern ist nur Marco zu Hause. Der muss jetzt einfach funktionieren. Er bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor und ist am Abend häufig mit seinen Kollegen unterwegs. Naemi ist immer noch in Amerika und mit dem Abschluss ihres Aufenthaltes beschäftigt. Sie hat uns von der Maturfeier ein Foto geschickt. Alle Frauen tragen Ballkleider. Diese elegante junge Frau soll unser Mädchen sein? Martina ist ausgezogen und wohnt seit einem Monat bei einer Freundin.

Zu Andrinas Gewichtsverlust kommt eine immer grösser werdende Erschöpfung. Am Morgen steht sie wohl auf, frühstückt, aber wenn es ums Losmarschieren geht, brechen die Dämme. „Mami, ich will nicht in die Schule gehen, ich schaffe es nicht. Ich bin so müde!“, jammert sie. Manchmal bringe ich sie mit Zureden dazu, die Schuhe anzuziehen und zu gehen. Manchmal hilft alles nichts und sie bleibt zu Hause. Heute hat sie es geschafft, aber gegen zehn Uhr – ich bin gerade beim Staubsaugen – schlägt die Türe auf und eine tränenüberströmte Andrina stürmt herein.

„Mami, ich werde von den Buben geplagt. Vor allem einer will immer mit mir kämpfen. Das halte ich nicht mehr aus!“

„Ja, bist du einfach weggerannt?“, frage ich sie.

„Ja, s hät mi verchlöpft.“

Ich rufe die Lehrerin an, damit sie weiss, wo Andrina ist. Am Nachmittag begleite ich unsere Tochter in die Schule, damit wir mit der Lehrerin über das Vorgefallene reden können.

Sie begrüsst uns knapp, schickt Andrina ins Schulzimmer und meint: „Am besten beachten wir das Geschehene gar nicht. Sonst bauschen wir es nur unnötig auf.“ Diese Worte erschlagen mich buchstäblich. Ich bin unfähig, darauf zu reagieren. Auf dem Heimweg dreht vor allem ein Gedanke in meinem Kopf: Warum habe ich nicht auf einem Gespräch beharrt? Das wäre doch so wichtig gewesen, um zusammen herauszufinden, was genau abgelaufen ist und warum unsere Tochter so reagiert hat. Da kommt mir wieder einmal meine Doppelrolle als Mutter und Schulpflegerin im Schulhaus in den Weg. Schon einmal habe ich den Vorwurf kassiert, ich würde meine Stellung zu Gunsten unserer Kinder missbrauchen. Gebranntes Kind scheut das Feuer.

MITTWOCH, DEN 18. MAI 05

Heute kann Andrina an einem Fussballturnier teilnehmen. Eigentlich macht sie das sehr gern. Aber irgendetwas mit den Schuhen stimmt nicht und die Turnhose – die einzige, die sie noch anziehen will – ist nass. Als ihre Freundinnen sie abholen wollen, müssen sie unverrichteter Dinge weiterziehen. „Mach dich jetzt bereit! Sie brauchen dich in der Mannschaft!“, sporne ich Andrina an. Ich versuche es mit Strenge, mit Zureden, mit Güte, mit Toben; aber die Schuhe passen immer noch nicht. Andrina liegt auf dem Boden und heult nur noch. Erst Martina, die zu Besuch kommt, bringt es fertig, dass sie sich anzieht. Zu zweit gehen sie endlich los. Eine bis aufs Mark erschöpfte Mutter lassen sie zurück. Ich hole mir Rat bei der Psychologin von Andrina. Nachdem ich ihr die Situation geschildert habe, sagt sie: „Ursula, du musst streng sein mit Andrina und dich durchsetzen. Sie braucht das. Das gibt ihr Halt!“ Ich könnte sie umbringen, diese gescheite Frau. Das lässt sich am Telefon so einfach sagen. In mir tönt es: „Du genügst nicht, Ursula, du bist eine Versagerin. Mit einer strengeren Mutter wären Martina und Andrina nicht erkrankt!“ Schuldgefühle übermannen mich und erdrücken mich fast. Es ist zum Verzweifeln! Trotz allem gibt es noch einen Aufsteller: Andrina schiesst das entscheidende Tor, das ihrer Mannschaft zum Sieg verhilft!

DONNERSTAG, DEN 19. MAI 05

Marco hat vor einer Woche die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gemacht. Ob er wohl heute das Ergebnis bekommt? Um zwölf Uhr wirft der Pöstler meistens die Post ein. Also, Mutter, du musst dich noch gedulden!

Endlich! Ich renne hinaus und reisse dem Pöstler alles aus der Hand. Ja, es ist ein Brief für Marco dabei. Soll ich wirklich warten, bis er von der Schule nach Hause kommt? Die Versuchung ist gross … Zehn nach zwölf Uhr trudelt er ein. Gemütlich öffnet er den Brief und beginnt zu strahlen! Geschafft! Knapp, aber geschafft! Das werden wir heute Abend feiern!

Am Nachmittag fahren Andrina und ich zu einem Gespräch mit der Psychologin. Ich geniesse die Zeit im Wartezimmer mit einem Buch in der Hand. Nach dem Gespräch darf ich Andrinas Sandkastenbild bewundern. Spannend, wie sie unsere Familie mit verschiedenen Tieren dargestellt hat. Ich bin eine Affenmutter mit einem Affenbaby auf dem Rücken. Ich frage Andrina: „Wer ist dieses Baby?“

„Das bin ich“, gibt sie zur Antwort.

Ich muss leer schlucken. Nein, so nahe, so verbunden, so abhängig von mir? Aber das will ich doch gar nicht.

FREITAG, DEN 10. JUNI 05

Andrina bleibt immer häufiger zu Hause. Mich laugen diese Tage aus. Sie sind durchzogen von Kämpfen, Spannungen und Streitereien. Heute habe ich alle Verwandten und Freunde angerufen und sie gebeten, für Andrina zu beten. Ich will, dass Gott eingreift und ein Wunder geschieht. Ich will eine gesunde Tochter. Damit ich mich ein wenig erholen kann, ging Martina heute mit Andrina zelten. Hält sie das aus, so direkt mit dem Thema Magersucht konfrontiert zu werden? Ich bin überzeugt, dass sie am Abend schon wieder zu Hause sein werden.

Eine Nacht haben die beiden geschafft! David und ich haben den freien Abend mit allen Fasern genossen. Als ich gemütlich am Tisch sitze und meinen „Znünikafi“ trinke, läutet das Telefon:

„Mami, chumm mi go hole! D Martina isch dävo glaufe“, weint Andrina.

„Sie wird sicher wieder zurückkommen. Du musst einfach warten.“

„Aber sonst kommst du mich holen!“

Beim nächsten Telefon habe ich eine verzweifelte Martina am Apparat:

„Mami, diä isst ja nüüt! Ich halte das nüme uus.“

Da bleibt nur noch eines: „Packt alles ein und kommt nach Hause!“

Wo bleibt das Wunder, für das wir alle beten?

DIENSTAG, DEN 21. JUNI 05

Auch wenn die letzten Wochen von Andrinas Krankheit überschattet waren, den heutigen Freudentag kann mir niemand nehmen! Naemi kommt nach Hause! Die elf Monate als Austauschschülerin in Amerika sind endlich vorbei. Wie wird sie zurückkommen? Hat sie sich verändert? Ich kann es kaum erwarten, bis ich sie in die Arme schliessen darf. Ich bin so nervös und versuche, mich mit Gartenarbeit abzulenken.

Die ganze Familie, Freundinnen und Verwandte kommen mit zum Flughafen. Ob Naemi uns überhaupt noch erkennt? Davids Haar haben wir grau gefärbt, um ihr vorzumachen, dass er sehr gealtert sei. Ich bin jung geblieben, darum sind meine weissen Haare unter einer Tönung verschwunden. Marco hat plötzlich grüne anstatt blaue Augen. Martina ist zu einer Tussi mutiert. Sie trägt hohe Absätze, Sonnenbrille und einen Minirock. Andrina hat sich sowieso verändert, so dünn und schmal ist sie geworden.

Das Flugzeug ist schon lange gelandet, das Gepäck ausgeladen. Wo bleibt sie, unsere Tochter? Die Schiebetüre öffnet und schliesst sich, öffnet und schliesst sich. Aber keine Naemi erscheint. Ich halte es fast nicht mehr aus. Da! Das muss sie sein. Zuerst sehen wir den Gepäckwagen mit dem riesigen Koffer und dahinter taucht ein Gesicht auf, das strahlt wie die aufgehende Sonne. Ich renne auf sie zu und halte sie ganz fest an mich gedrückt, bis eine Stimme sagt: „He, lass uns auch mal Grüezi sagen!“ Reihum wird sie umarmt und geküsst. Auf dem Heimweg redet sie wie ein Buch. Ja, das ist unsere Naemi! Und doch ist sie verändert, selbstsicherer und gelassener geworden. Erst jetzt, da sie wieder zurück ist, spüre ich das Loch, das sie vor elf Monaten hinterlassen hatte.

MITTWOCH, DEN 6. JULI 05

Zwei Wochen ist Naemi bereits zu Hause und geniesst die vertraute Umgebung. Nur ein wenig klein und eng komme ihr die Schweiz vor, sagt sie öfters.

Das Telefon klingelt. „Ursula“, meldet sich Andrinas Arzt. „Das Gewicht ist wieder um ein ganzes Kilo gesunken. Andrina hat die kritische Grenze erreicht. Sie wiegt nur noch 36 Kilo. Können du und David möglichst bald zu einem Gespräch kommen?“ Wie habe ich mich vor diesem Anruf gefürchtet! Ich lege den Hörer auf und sinke auf einen Stuhl. Warum sie auch? Warum? Insgeheim habe ich schon damit gerechnet, dass es so weit kommt. Andrina isst schon noch, aber einfach viel zu wenig. Jede Mahlzeit ist genau berechnet: Zum Frühstück isst sie eine halbe Brotschnitte mit einem Hauch von Konfitüre, dazu trinkt sie eine halbe Tasse Milch; zum Znüni nimmt sie einen halben Apfel mit oder einen Getreideriegel – ob sie ihn isst, weiss niemand –, zum Zmittag einen Löffel Nudeln oder Kartoffeln, dazu etwas Gemüse und Salat; zum Zvieri wieder eine Frucht und beim Abendessen nimmt sie einen, höchstens zwei Löffel von dem, was ich gekocht habe, oder isst wieder eine halbe Scheibe Brot. Fleisch isst sie schon lange keines mehr; an den Salat kommt keine Sauce und wenn sie merkt, dass ich Butter ans Gemüse getan habe, streikt sie. Hie und da verweigert sie das Essen ganz.

FREITAG, DEN 8. JULI 05

Am nächsten Montag muss Andrina ins Spital. Der Arzt wird alles Notwendige veranlassen. Wir sagen Andrina noch nichts, da in der Schule eine Projektwoche zum Thema Zirkus stattfindet, und daran soll sie bis zum Schluss teilnehmen können.

Heute ist die Abschlussvorstellung der Projektwoche. Wir kommen in den Genuss einer Zirkusgala! David und ich geniessen die Show. Die dunkle Wolke haben wir zu Hause gelassen. Jetzt ist unsere Tochter an der Reihe! Sie macht als einzige einen Salto auf dem Minitramp. Super gestanden! Hinter uns tuscheln zwei Frauen: „Nein, das ist ja schrecklich! Dieses Mädchen ist ja brandmager! Dass die Eltern da nichts unternehmen!“ Ihre vorwurfsvollen Worte treffen mich tief ins Herz. Diese Frauen haben keine Ahnung, welche Anstrengungen wir schon unternommen haben. Doch fehlt mir der Mut, mich umzudrehen und ihnen ins Gesicht zu sagen, dass dieses schrecklich dünne Mädchen nächsten Montag im Krankenhaus liegen wird.

MONTAG, DEN 11. JULI 05

Der Eintrittstag ist da. Um neun Uhr müssen wir im Spital eintreffen. Oh, wie hat Andrina geschluchzt, als wir ihr eröffneten, was ihr bevorsteht.

„Andrina, komm, es ist Zeit!“, rufe ich. Keine Antwort. Kurze Zeit später versuche ich es erneut: „Andrina, wir müssen gehen!“ Immer noch keine Antwort. „Andrina!“, tönt jetzt meine Stimme energischer. Kein Pieps ist zu hören. Wo bleibt sie denn? Ich stapfe die Treppe hoch, will bei ihr eintreten und stehe vor einer verschlossenen Tür. „Ich gane nöd, Mami, chasch vergesse!“, schreit sie. Mit allem, was mir zur Verfügung steht, versuche ich sie zu überreden, die Tür zu öffnen. Nichts! Unterdessen ist der Termin im Spital vorbei. Ich rufe an und entschuldige uns. Ist die Stimme der zuständigen Person vorwurfsvoll oder kommt mir das nur so vor? Ich versuche es nochmals bei Andrina, zum hundertsten Mal! Sie weigert sich immer noch. Es wächst mir alles über den Kopf. Ich habe keine Kraft mehr, meine Beine geben nach und ich gleite der Wand nach zu Boden. Da sitze ich und kann nur noch heulen. Ein Schlüssel wird gedreht, die Türe öffnet sich und Andrina kauert sich mit verquollenem Gesicht neben mich. „Hör uf brüälä, ich chume ja.“

Mit dreistündiger Verspätung erreichen wir das Spital. Nach der Aufnahmeprozedur muss ich Abschied nehmen und unsere elfjährige Tochter zurücklassen. Mein Herz schmerzt und doch bin ich erleichtert, dass nun andere die Verantwortung übernehmen. Was werden Martina, Naemi und Marco sagen? Für Naemi muss es ein Schock sein. Da kommt sie aus Amerika zurück und ihre kleine Schwester ist magersüchtig und muss ins Spital! Marco erlebte Andrinas Erkrankung hautnah mit und bekam auch unsere Not und Ohnmacht zu spüren. Für ihn ist es vielleicht eine Erleichterung, dass sie nun versorgt ist. Für Martina muss es ein einziger Stress sein. Sie weiss ganz genau, was bei Andrina abgeht und was ihr bevorsteht, um wieder gesund zu werden. David wird sicher auf dem Heimweg von der Arbeit noch rasch bei Andrina vorbeischauen. Er muss sie sehen. Er vermisst sie schon nach einem Tag.

Zwischenhalt: Martina erinnert sich an ihre Magersucht

Was war die Magersucht für mich? Eine Beschäftigung? Eine Ablenkung? Vielleicht vor meiner eigenen Unsicherheit der Gesellschaft gegenüber? Mit 14 begann ich abzunehmen. Es war ein Trend in der Schule, alle Mädchen redeten davon. Auch die Zeitschriften waren voll damit. So wollte ich einfach wissen, ob ich auch fähig war, mich dermassen zu disziplinieren. Ich war in der Schule ein unsicheres Kind, dafür zu Hause umso lauter. Mit dieser „Abnehmgeschichte“ lag der Fokus plötzlich auf etwas Externem, dem Essen. Das gab mir Halt und Sicherheit. Die Waage war mein Barometer für meine Zufriedenheit. Je tiefer das Gewicht, umso besser. Die Bestätigung, doch etwas erreichen zu können, gefiel mir. Ja, diese Glasglocke schien eine „angenehme“ Art der Flucht vor der Realität zu sein. Solange, bis die Spirale sich verselbstständigte und sich ein fremdes „Wesen“ einschlich: die Sucht! Sie beeinflusste und beherrschte meine Gedanken. „Du bist nur gut, wenn du wenig isst, dich viel bewegst, Kalorien verbrennst, Gewicht verlierst.“ Ein Leben mit Tunnelblick.

Nach einer Weile steckte ich total im Nebel fest. Ich merkte, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Alles schien in die Brüche zu gehen. Die Familie zerriss es beinahe. Der Tod war nahe. Ich brauchte die Hilfe von aussen. Meine Eltern drängten mich dazu. Doch ich wehrte mich dagegen. Aber tief in meinem Innersten wusste ich genau, dass es der einzige Weg war, wieder gesund zu werden. Als mein Gewicht auf 42 Kilogramm gesunken war und mein Körper mit Herzrhythmusstörungen reagierte, wurde ich in eine Kinderklinik eingeliefert. Dort gab es geregeltes Essen. Fix vorgegeben. Denn die Fähigkeit, mir genügend Nahrung zuzuführen, hatte ich verlernt und musste ich neu erarbeiten. Auch wenn ich es nicht zugab, war ich für die erhaltene Hilfe sehr dankbar! Sucht ist etwas Starkes! Sie wieder zu verabschieden, etwas sehr Schwieriges.

Ich war froh, abgeben zu können und geführt zu werden. So weit hatte ich mich heruntergewirtschaftet. Mir dies einzugestehen, war ziemlich hart. Und vor allem: Ich brauchte ein neues Ja zum Leben. Wie froh war ich, dass dieses Ja – zwar verschüttet unter Staub und Dreck – doch langsam, langsam wieder zum Vorschein kam. Das Gesundwerden war ein steiniger Weg. Die Disziplin, welche ich benutzt hatte, um dermassen kontrolliert zu essen und dünn zu werden, dieselbe Disziplin musste ich umpolen, um wieder gesund zu werden. Das kostete mich und meine Eltern viel Nerven und Zeit. Zweimal war ich im Spital, kurz in der Psychiatrie und im Kriseninterventionszentrum.

Mit 16 Jahren, nach meinem zweiten Aufenthalt im Spital, ging ich als Au-pair ins Tessin.

Da war wieder dieses starke Ja, welches mich antrieb. Ich riss mich los und war auf mich alleine gestellt.

Die Kontrolle über das Essen herzugeben, verlangte nach einer neuen Kontrolle als Ersatz, damit ich nicht „haltlos“ dastand. So kam ich in einen „Reinigungszwang“. Auch das war sehr anstrengend und brauchte erneut grosse Kraft, um diesen Zwang wieder abzubauen.

Während manchem Jahr hatte ich tagsüber nicht viel gegessen und erlebte dann am Abend regelrechte Essattacken. Dann konnte die Spannung des Tages von mir abfallen. Viele Jahre habe ich meinen Bauch jeden Abend überfüllt und am Morgen kam dann das schlechte Gewissen. So vermieste ich mir regelmässig den kommenden Tag. Die Folge war, dass ich den Tag durch wieder wenig ass, am Abend viel und so weiter. Eine neue anstrengende Spirale. Ich war nicht mehr am Rande des Zusammenbruches und doch sehr eingeschränkt in meiner Lebensqualität und Lebensfreude. Diese Spirale konnte ich erst durchbrechen, als ich dem „schlechten Gewissen danach“ keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Ich versuchte, mein Essverhalten weniger ernst zu nehmen.

Heute verstehe ich das Ganze so: Das Wesen Sucht verlangt nach Energie. Gedanken sind Energie. Mit meinem schlechten Gewissen fütterte ich die Sucht ständig und stärkte sie durch Aufmerksamkeit. Erst, als ich die Sucht oder meine Gedanken weniger fütterte, wurden sie schwächer. Auch jetzt kommt es vor, dass ich manchmal am Abend zu viel esse. Das ist der Moment des „Loslassens“. Doch nicht mehr so häufig. Und wenn es doch mal wieder geschieht? Dann geht das Leben weiter. Es ist kein Drama mehr. Gegessen und Vergessen.

Ich bin dankbar für diese Erfahrung. Und doch verstehe ich nicht, weshalb ich mir und meiner Familie so viel Leid und Schmerzen zufügen musste. Auch meinem Körper sieht man die Auswirkungen der Magersucht an. Denn ich war genau in dem Alter, in dem ich zur Frau werden sollte. Die Menstruation blieb aus und beim Wachstum der Brüste wurde sichtlich eingespart. Jetzt, mit 29 Jahren, mag ich kein Drama mehr und geniesse das Leben, so stark ich kann. Ich brauche meine ganze Kraft, um meine vielen Interessen zu befriedigen, vorwärts zu schreiten, den Weg meines Herzens zu finden und zu gehen.

Mutter ist an allem schuld

MITTWOCH, DEN 12. JULI 05

Andrina ist bereits seit fünf Tagen im Spital. Für mich ist das eine Erleichterung. Die letzten Wochen waren unheimlich anstrengend. Andrinas Stimmungsschwankungen, ihre Panikattacken, das Verweigern des Essens und die ewigen Kämpfe haben mich ausgelaugt. Heute haben wir das erste Elterngespräch, denn wir werden auch in die Behandlung einbezogen. Ich gehe mit gemischten Gefühlen an dieses Treffen, da wir die gleiche Psychologin haben werden, die auch Martina während ihres Klinikaufenthaltes vor vier Jahren betreute. Was wird sie denken? Jetzt kommt diese Familie schon mit der zweiten magersüchtigen Tochter! Was ist wohl schiefgelaufen? Hat die Mutter versagt?

Doch meine Angst war unnötig. Bei der Begrüssung drückt die Psychologin fest meine Hand und sagt: „Das tut mir so leid, dass Sie nochmals solch eine Geschichte erleben müssen!“ Mir kommen die Tränen. Der Oberarzt stellt sich vor und eröffnet das Gespräch. Wir sollen erzählen, wie es zur Klinikeinweisung gekommen ist. Vor allem David und ich berichten. Andrina spricht kaum. Sie ist mit den Gedanken wohl immer noch beim Mittagessen. Vor dem Gespräch hat sie mir zugeflüstert: „Mami, ich ha söttig Hüüfe ufem Täller gha!“ Mit den Händen hat sie mir den Berg vor die Augen gemalt.

Die Psychologin stellt uns den Therapieplan vor. Sobald Andrina 36 Kilo erreicht hat, darf sie am Samstag und/oder Sonntag von 12 bis 17 Uhr nach Hause kommen. Jeweils am Morgen kann sie in den Treff gehen, um zu malen, zu basteln oder Hausaufgaben zu machen. Sie wird Einzeltherapie, Gruppentherapie und Physiotherapie erhalten. Damit sie den Anschluss an ihre Klasse nicht verpasst, wird die Spitallehrerin mit Andrinas Lehrerin Kontakt aufnehmen und ihr den Stoff in Einzelstunden weitergeben. Pro Woche muss sie 500 g zunehmen. Ihre Mahlzeiten werden von einer Ernährungsberaterin zusammengestellt. Drei Hauptmahlzeiten und drei Zwischenmahlzeiten muss Andrina zu sich nehmen. Wenn sie zu wenig zunimmt, erhält sie zusätzliche Energiedrinks. Zweimal in der Woche wird das Gewicht kontrolliert und der Therapieplan jeweils am Donnerstag neu angepasst. Sie darf sich auf der Abteilung frei bewegen, aber nur für eine Stunde hinausgehen und das nur in Begleitung von Erwachsenen. Besuchszeiten sind fix und alle Behandlungen haben Vorrang. Uns erwarten sie jede Woche zu einem Elterngespräch, damit wir am Ball bleiben. Nach dem Erreichen von 39 Kilo folgt die Übergangsphase, in der sie wieder zu Hause die Schule besuchen kann. Zuerst stundenweise, mit der Zeit den ganzen Tag. Mit dem Zielgewicht von 42 Kilo kann sie wieder nach Hause kommen.

Auch wenn mir alles von Martina her bekannt ist, brummt mir nach diesen vielen Mitteilungen der Kopf. Das wird eine herausfordernde und anstrengende Zeit für Andrina. Ich bin froh, dass andere den Kampf gegen diese Krankheit aufnehmen.

David bringt noch das Thema der Sommerferien, zwei Wochen Urlaub auf Sardinien, ins Gespräch ein. Wir sind zuversichtlich, dass Andrina mitkommen kann. Da sich die Magersucht innert kürzester Zeit entwickelt hat, wird sie auch schnell wieder weg sein, denken wir. Doch der Oberarzt dämpft unsere Hoffnung abrupt. „Wir glauben nicht, dass das möglich sein wird. Stellen Sie sich besser auf Ferien ohne Ihre Tochter ein!“

MITTWOCH, DEN 20. JULI 05

Der Arzt hat recht behalten: Es hat wirklich nicht geklappt mit den Ferien. Andrinas Gewichtszunahme bewegte sich im Mikrobereich. Wir haben hin und her diskutiert, was wir mit den Ferien machen sollen. Schweren Herzens entschieden wir uns, dass David mit Marco und Naemi nach Sardinien reist und ich bei Andrina bleiben werde. Letzten Samstag sind sie losgefahren.

Der Verzicht fiel mir nicht leicht und ich klagte einer Freundin meine Not. Ihre Antwort tröstete mich sehr: „Es tut mir so leid für euch alle und für dich, dass du nicht mit in die Ferien gehen kannst. Aber wir halten an der Hoffnung fest, dass das Leben und die Kraft von Jesus stärker sind als diese mörderische Krankheit. Versuch, möglichst gut zu dir zu schauen!“

Jeden Tag fahre ich zu Andrina ins Spital. Wir schwatzen zusammen, machen einen Besuch in der Cafeteria oder spielen Würfel- und Kartenspiele. Seit ein paar Tagen liegt gegenüber im Bett ein Mädchen mit der gleichen Krankheit. Ihre Mutter kämpft mit ihr nicht nur um jeden Bissen, sondern auch um jeden Schluck Wasser. Ich erschrecke über die Macht, die dieses Mädchen über ihre Eltern hat. Ist das bei uns auch so? Sicher nicht, versuche ich mich zu beruhigen.

„Mami, die bekommt jedes Mal etwas geschenkt, wenn die Mama oder der Papa kommen. Das finde ich schon etwas übertrieben“, vertraut mir Andrina an und verrät sich doch durch ihre neidischen Blicke zum geschmückten Bett hinüber.

FREITAG, DEN 29. JULI 05

Als Andrina vor zwei Tagen gewogen wurde, hatte sie kein Gramm zugenommen, sondern sogar Gewicht verloren. Sie wog nur noch 35,5 Kilogramm. Ich wurde zu einem Krisengespräch beordert. Der Arzt wollte Andrina eine Sonde stecken, damit sie ihr zweimal am Tag zusätzliche Kalorien zuführen können. Meine Tochter wehrte sich mit Händen und Füssen. Für sie ist das der pure Horror. So verliert sie total die Kontrolle über das Essen, da ihr die Nahrung direkt in den Magen verfrachtet wird. In ihrer Vorstellung sah sie sich schon als dickes Monster. Da ich aber auch meine Zustimmung gab, musste Andrina sich fügen und die Sonde wurde ihr gesteckt. Immer wieder heisst es für mich, die Spannung zwischen Andrinas Not und den Wünschen der Ärzte auszuhalten. Würde ich nur auf meine Gefühle achten, bekäme Andrina recht. Doch die Vernunft hält mich davon ab.

Als ich heute ins Spitalzimmer trete, sitzt Andrina weinend im Bett. Sie wirft sich mir an den Hals und klagt: „Mami, die glauben mir einfach nicht! Ich wollte gestern Abend einen Klebstreifen an der Sonde entfernen und irgendwie habe ich in den Schlauch geschnitten. Heute Nacht war plötzlich alles nass und der Pfleger schimpfte mit mir und behauptete, ich hätte es extra gemacht! Aber ich lüge nicht, gäll Mami!“ „Ja“, beruhige ich sie, „ich weiss, dass du die Wahrheit gesagt hast.“

Um vier Uhr findet das Elterngespräch statt. Das Thema Sonde wird auch angesprochen. Ich sage, dass Andrina nicht lügt. Mir kommt es vor, als würden die Blicke der Psychologin Bände sprechen: „Typisch Mutter! Kriecht ihrer magersüchtigen Tochter voll auf den Leim!“ In mir steigt eine Wut hoch! Wer lebt schon bald zwölf Jahre mit diesem Mädchen zusammen und kennt sie in- und auswendig? Die Fachpersonen oder ich? Ich wünsche mir, David wäre hier. Ich fühle mich so allein. Völlig erschöpft kehre ich nach Hause zurück und weine nur noch. Als meine Freundin anruft, merkt sie bald, dass gar nichts mehr geht. Sie holt mich ab und schleppt mich auf einen Spaziergang. Ihre Gegenwart, ihr geduldiges Zuhören, die frische Luft und der Sonnenuntergang sind Balsam für meine Seele.

SAMSTAG, DEN 30. JULI 05

Mein Kopf rebelliert. Gestern, nach dem Spaziergang, habe ich mir noch einen schönen Abend gemacht: Zuerst einen halben Liter Weisswein der Marke Amour, nachher einen zünftigen Amaretto und feine Guetsli habe ich mir gegönnt. Ich weiss gar nicht mehr, wie ich ins Bett gekommen bin!

Heute kommen die Sardinier nach Hause. Andrina und ich erwarten sie am Nachmittag gegen vier Uhr. Zuerst erledigen wir den halbstündigen Spaziergang. Da wir uns nur auf dem Spitalgelände bewegen dürfen, umrunden wir einfach das Gebäude, und das dreimal in einem Höllentempo. Eine immense Spannung peitscht Andrina voran. Ich könnte mich ja widersetzen, aber das braucht so viel Kraft, und die habe ich heute einfach nicht. Wenn uns die Pflegerinnen sehen würden, gäbe es sicher eine gesalzene Strafpredigt!

Endlich biegt das Urlaubsgefährt auf den Parkplatz ein. David, Naemi und Marco steigen aus. Braungebrannt, die Arme beladen mit Geschenken. Zuerst wird zünftig umarmt und dann ausgepackt. Ich freue mich, dass meine bessere Hälfte wieder da ist. Zu zweit ist alles einfacher!

DONNERSTAG, DEN 4. AUGUST 05

Nach den zwei anstrengenden Wochen kann ich heute für einen Tag auf den Sternenberg gehen. Ich nehme an einem „Stillen Tag“ teil. Das „still“ bedeutet Schweigen. Jeder der zwanzig Teilnehmer ist einfach für sich da. Es ist ruhig. Das tut mir nach den vergangenen Tagen gut. Ich muss keine Lebensgeschichten und Probleme von anderen Menschen vernehmen und mittragen. Meine eigenen genügen mir vollends. Die Leiterin gibt uns einige Gedanken mit. Eine Stelle aus der Bibel spricht mich besonders an: „Du wirst erfahren, dass ich der Herr bin. Niemand wird enttäuscht, der mir vertraut.“ (Jes. 49.23)

Schaffe ich das? Ehrlich gesagt, fällt mir das im Moment schwer. Kann ich einem Gott vertrauen, der zugelassen hat, dass auch noch eine zweite Tochter an Magersucht erkrankt?

MONTAG, DEN 22. AUGUST 05

Heute habe ich Geburtstag. Eigentlich habe ich nur einen Wunsch: Ich möchte gerne wieder einmal bei Andrina bleiben und sie ins Bett bringen. Da wir am Nachmittag sowieso ein Gespräch haben, werde ich fragen. Das wäre ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk.

Nachdem wir die üblichen Punkte abgehakt haben – Gewichtsverlauf, Belohnungen, zusätzliche Bewegung und so weiter –, getraue ich mich zu fragen, ob ich am Sonntagabend länger bei Andrina bleiben könne. Auch David unterstützt mein Vorhaben. Die Psychologin schaut mich an und meint zögernd: „Nein, das finde ich keine gute Idee.“ Verdutzt frage ich: „Warum nicht? Jetzt ist Andrina schon so lange hier und ich möchte doch gerne wieder einmal einen Abend mit ihr verbringen, mit ihr beten und sie zudecken.“ Doch die Psychologin lässt sich nicht erweichen. Ihre Antwort verstehe ich so, dass sie es nicht gut findet, wenn die Mutter zu viel mit der Tochter zusammen ist. Das könnte sie in ihrer Entwicklung bremsen. Das ist zu viel für mich, die Schleusen öffnen sich und ich kann nur noch weinen: „Andere Mütter dürfen Tag für Tag bei ihren Kindern sein und ich nicht mal einen Abend! Andrina ist doch erst zwölf Jahre alt!“ Zuerst herrscht peinliche Stille, dann kommt doch noch ein Ja. Aber es hinterlässt komische Gefühle bei mir. Bin ich eine Versagerin? Sind Andrina und ich zu eng verbunden? Behindere ich sie wirklich in ihrer Entwicklung? Mein gesunder Menschenverstand schaltet sich ein: Ursula, hör auf, dir solche Gedanken zu machen! Ein einziger Abend nach zwei Monaten kann doch keinen Schaden hinterlassen! Am nächsten Sonntag ist es so weit. Langsam kann ich mich freuen.

FREITAG, DEN 9. SEPTEMBER 05

Der Abend mit Andrina war einfach herrlich. Mir kommen jetzt noch wohlige Gefühle hoch, wenn ich daran denke. Wir haben gespielt, geredet und einen Film geschaut, eng aneinander gekuschelt. Zum Schluss konnte ich mit ihr beten, sie zudecken und ihr einen Gutnachtkuss geben. David ist gerade von einem seiner häufigen Besuche bei Andrina nach Hause gekommen. Er strahlt übers ganze Gesicht. Wie schafft er das nur, neben seiner Arbeit auch noch zigmal nach Winterthur zu fahren?

„Warum strahlst du so?“, frage ich ihn. Er lacht: „Stell dir vor, als ich das Zimmer betrat, fand ich Andrina zuerst gar nicht. In ihrem Bett sassen zwei komische Gesellen mit Windeln auf dem Kopf und aufgemalten Gesichtern. Andrina hat eine neue Bettnachbarin erhalten, Judith, eine quitschfidele Bohne. Nachher, als sie genug von ihrem Spiel mit den Windeln hatten, kamen sie auf die Idee, im Gang um die ganze Abteilung ein Wettrennen zu machen. Gesagt, getan! Sie schnappten sich zwei Rollstühle und ich musste das Startzeichen geben. Die erste Runde gewann Andrina. Nach dem zweiten Rennstart dauerte es aber lange, bis sie wieder auftauchten. Sie kamen zu Fuss, mit einem Pfleger im Schlepptau. Er hat auch mit mir geschimpft, dass ich mitgemacht habe. Aber das war mir so egal. Das war es mir wert! Es ist lange her, dass ich Andrina so fröhlich erlebt habe!“

Es geht auch sonst vorwärts. Andrina hat bereits ein Gewicht von 38 Kilo erreicht. Jetzt darf sie am Wochenende für einen halben Tag nach Hause kommen. Morgen ist es so weit.

SAMSTAG, DEN 10. SEPTEMBER 05

David hat Andrina im Spital abgeholt. Sie hat jede Minute zu Hause ausgekostet. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle Tiere begrüsst und im Haus die Runde gemacht hatte. Zum Nachtessen musste sie wieder im Spital sein. In den zwei Monaten, die sie nun schon dort verbracht hat, hat sie sich eine gemütliche Ecke im Zimmer eingerichtet. Am Infusionshaken baumeln schon einige Plüschtierchen. Darüber hat sie eine farbige Girlande drapiert. An der Wand kleben Plakate vom Disneyfilm „Madagaskar“. Daneben hängen Sterne, die in der Nacht leuchten, und verschiedene Karten, die sie erhalten hat. Auf dem Bett liegt ein Affe, dem sie vorsichtshalber eine Windel angezogen hat. Auf dem Fenstersims stehen viele kleine Töpfchen. Hie und da hat sie die Samen aus den Früchten, die es zum Essen gab, geklaubt und eingepflanzt. Aber leider sind nur die Kaktusfrüchte gewachsen. Daneben stapeln sich Medikamentenbecherlein. Alles bewahrt sie auf. Ihre Sammlerwut war auch schon Gesprächsthema bei der Psychologin: „Hat Andrina auch schon zu Hause Gegenstände angehäuft?“, fragte sie einmal. Andrina und ich schauten uns an und schmunzelten. Klar hat sie auch zu Hause gesammelt: Papiertaschentücher, „Chläberli“, Briefmarken, Muscheln, Steine, Münzen und alles, was rot und mit einem Schweizerkreuz versehen war. Die Psychiaterin schien beruhigt. Gut, dass wir ihr nicht erzählt haben, dass Andrina auch Hundekot-Säckchen gesammelt hat …

FREITAG, DEN 14. OKTOBER 05

Schon wieder ein Monat vorbei. Ich bin sehr häufig im Spital. Manchmal habe ich Naemi und Marco gegenüber ein schlechtes Gewissen. Kommen sie zu kurz?

Jede Woche haben wir ein Familiengespräch im Spital. Da sind meistens die Psychologin, Andrina und wir dabei. Heute wird sogar gefilmt. Ich komme mir vor wie im Zoo: ausgestellt und beobachtet!

Die Gespräche sind oft sehr herausfordernd. Heute geht es um das Thema Loslassen. Die Psychologin fragt uns unter anderem: „Wie wirkt die Vorstellung auf Sie, dass Andrina in ungefähr vier Jahren beginnen wird, ihren eigenen Weg zu gehen? Sie ist ja das jüngste Kind.“ Sofort gehe ich in Abwehrstellung und überlege mir, was sie mit dieser Frage bezweckt. Denkt sie, dass wir Mühe haben, Andrina loszulassen? Eigentlich muss ich nicht lange überlegen. Theoretisch freue ich mich sogar darauf, wenn wir als Ehepaar oder jeder für sich mehr Zeit haben werden. Auch David bestätigt das. Klar wird dann eine neue Ära beginnen. Seit zwanzig Jahren haben die Kinder unser Leben mitbestimmt. Darum darf nun auch bald mal etwas Neues kommen. Ist das nicht die Antwort, die die Psychologin erwartet hat? Hat sie den Eindruck bekommen, dass Andrina mein Leben und Inhalt ist und ich mich an sie klammere? Verunsicherung und Schuldgefühle machen sich in mir breit. Ich fühle mich in Bezug auf die Kinder und unsere Erziehung sehr schnell angegriffen. Es braucht so wenig, nur eine Bemerkung, und schon beginnt sich das Karussell der Schuldgefühle in meinem Kopf zu drehen. Warum ist das so? Was löst diese Unsicherheit aus? Ist mein Selbstbewusstsein so klein?

SONNTAG, DEN 30. OKTOBER 05

Heute ist Herbst-Markt. Der Höhepunkt im Leben eines jeden Kindes in unserem Tal. Möglichst viel Geld haben sie zusammengespart, damit sie nun in all den Köstlichkeiten schwelgen können. Für die Grösseren wurden die „Schifflischaukel“ und die „Tütschibahn“ aufgebaut. Für die Kleinen dreht sich ein Karussell auf dem Lindenplatz. Auch Andrina hat die Erlaubnis erhalten, den Markt zu besuchen.

Gegen Mittag fahre ich zu ihr, um sie abzuholen. Kaum bin ich bei ihr, sagt sie: „Mami, ich habe seit heute Morgen so komische Bauchschmerzen, darum wollen sie mich nochmals untersuchen. Wir können noch nicht gehen.“

Jetzt ist es bereits zwei Stunden später. Ich habe meinen Hunger mit einem Sandwich aus der Cafeteria gestillt und Andrina hat ihr Mittagsessen runtergewürgt. Sie musste einfach. Die Pflegenden haben es verlangt, da Bauchschmerzen von Magersüchtigen immer wieder als Vorwand gebraucht werden, um sich um Mahlzeiten zu drücken. Andrina wird bleicher und bleicher. Sie klagt über immer grössere Schmerzen.

Endlich betritt die Ärztin das Zimmer.

„Wie geht es dir?“

„Es tut mir sehr weh.“

Die Ärztin untersucht Andrina. Als sie auf der rechten Seite auf den Bauch drückt, stöhnt Andrina auf. „Das ist nicht gut“, meint die Ärztin und ordnet einen Ultraschalluntersuch an.

Nachher ist alles klar: Blinddarmentzündung! Operation!

Auch David ist unterdessen gekommen. Gemeinsam warten wir im Zimmer, bis sie Andrina von der Operation zurückbringen. Total beduselt schaut sie uns aus kleinen Augen an und bald schläft sie wieder tief und fest. Es habe nicht mehr viel gefehlt und der Blinddarm wäre geplatzt, erzählt uns die Ärztin.

Wir bleiben noch eine Weile und gehen dann nach Hause. Unsere Tochter ist ja bestens aufgehoben.

Als ich am nächsten Morgen im Spital anrufe, erzählt mir der Pflegefachmann, dass es Andrina gut gehe. Aber in der Nacht sei sie öfters erwacht und habe nach mir verlangt. Das ist wie ein Schlag in den Magen: Meine Tochter hätte mich gebraucht und ich war nicht da! Ich bestehe nur noch aus schlechtem Gewissen. Aber warum diese vorwurfsvolle Stimme des Pflegers? Sie sind es doch, die mir immer vermitteln, dass ich nicht zu viel bei Andrina sein sollte! Aber mein schlechtes Gewissen lässt sich durch diese Ausrede nicht zum Schweigen bringen. Da bleibt nur eines: ins Auto steigen und ins Spital fahren. Andrina freut sich sehr und umarmt mich lange. Langsam entspanne ich mich wieder.

Naemi und Marco schauen nach der Schule bei Andrina vorbei. Stolz zeigt sie ihnen das grosse Pflaster.

Marco hat letzthin einmal angedeutet, dass er die regelmässigen gemeinsamen Abendessen schon vermisse. Er sagt sonst nicht viel, umso mehr trifft mich seine Aussage. Manchmal bin ich innerlich zerrissen. Auf der einen Seite unsere Jüngste, die sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit braucht. Auf der anderen Seite die drei Grossen. Ich versuche wohl, möglichst viel zu Hause zu sein, wenn Marco und Naemi da sind, oder ich treffe mich mit Martina, die zurzeit bei einer Freundin wohnt. Ich versuche mich damit zu trösten, dass es ja nur eine Frage von Wochen ist, bis sich die Situation wieder beruhigt hat und wir wieder unter einem Dach zusammenwohnen werden.

FREITAG, DEN 11. NOVEMBER 05

Nach vier Monaten im Spital hat Andrina genügend zugenommen, um extern die Schule zu besuchen. Bis jetzt hatte sie im Spital Unterricht erhalten. Jede Woche holte ich bei ihrer Lehrerin die nötigen Unterlagen, damit Andrina den Anschluss an die Klasse nicht verpasst. David oder ich werden sie wohl einige Male abholen und bringen müssen, bis sie sich die halbstündige Zugfahrt alleine zutraut.

Als ich nach dem Gespräch noch bei Andrina zu Besuch bin, erzählt sie mir, dass sie im Treff am Morgen einen Film über Magersucht und Bulimie gesehen habe.