Transit 45. Europäische Revue - Timothy Snyder - E-Book

Transit 45. Europäische Revue E-Book

Timothy Snyder

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Beschreibung

Ihre Unabhängigkeit war den Ukrainern 1991 zugefallen, erkämpft haben sie sie erst auf dem Maidan. Sie stürzten ihr korruptes Regime, doch nur, um sich mit einem weitaus mächtigeren Gegner konfrontiert zu sehen, der mit allen Mitteln versucht, ihnen die neu gewonnene Chance zu nehmen. Im Moment der tiefsten Krise der Europäischen Union werden wir Zeugen einer Bewegung, die Werte einfordert, die wir selbst mehr und mehr aus den Augen verloren haben.

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Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen

(IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Gründungsherausgeber: Krzysztof Michalski †

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Gastherausgeberin dieses Heftes: Tatiana Zhurzhenko (Wien)

Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Wien), János M. Kovács (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien).

Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Elemer Hankiss (Budapest), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern (New York).

Unverlangte Einsendungen können nicht in jedem Fall beantwortet werden.

Redaktionsanschrift: Transit c/o IWM, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-60, www.iwm.at

Website von Transit: Europäische Revue und Tr@nsit_online:www.iwm.at/transit

Anzeigenpreisliste wird auf Wunsch zugesandt.

Transiterscheint zweimal im Jahr. Jedes Heft kostet 14 Euro (D). Transit kann

im Abonnement zu 12 Euro (D) pro Heft (in D und A portofrei) über den Verlag bezogen werden.

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/

Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: [email protected]

 

 

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet. Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

 

© 2014 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

Die Printausgabe erschien 2014 im Verlag Neue Kritik

ISSN 0938

E-Book-Ausgaben 2015:

ISBN 978-3-8015-0513-4 (epub)

ISBN 978-3-8015-0514-1 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0515-8 (pdf)

Transit 45 (Sommer 2014)

Maidan: Die unerwartete Revolution(Gastherausgeberin: Tatiana Zhurzhenko)

 

Editorial

 

Timothy Snyder

Europa und die Ukraine: Vergangenheit und Zukunft

 

Kateryna Mishchenko

»Es gab keine Grenze mehr zwischen Traum und Wirklichkeit.«

Interview, geführt von Timothy Snyder und Tatiana Zhurzhenko

 

Oksana Forostyna

Land der Kinder

 

Mykhailo Minakov

Moses und Prometheus Die Ukraine zwischen Befreiung und Freiheit

 

Mykola Riabchuk

Hat der Maidan das Land gespalten?

 

Es gibt kein anderes ZuhausePhotoessay von Emine Ziyatdinova

 

Tatiana Zhurzhenko

Im Osten nichts Neues?

 

Serhii Leshchenko

Hinter den Kulissen

Eine Typologie der ukrainischen Oligarchen

 

Anton Shekhovtsov

Swoboda: Aufstieg und Fall einer Partei

 

Nikolay Mitrokhin

Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats

Zwischen Maidan und pro-russischem Separatismus

 

Cyril Hovorun

Die Kirche auf dem Maidan

 

Tanya Richardson

Zwei große Unterschiede und paar kleine

Das Leben in Odessa nach dem Maidan und dem 2. Mai

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Editorial

 

 

 

Nach dem Scheitern der Orangen Revolution von 2004 schien die Ukraine abgeschrieben – bei den eigenen Bürgern und in der Welt. Doch von Ende 2013 bis ins Frühjahr 2014 protestierten Hunderttausende Ukrainer auf dem Maidan in Kiew und anderswo im Land für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Es gelang ihnen, das korrupte Regime zu stürzen, doch nur, um sich mit einem weitaus mächtigeren Gegner konfrontiert zu sehen, der sie mit allen Mitteln daran zu hindern sucht, die gewonnene Freiheit zu nutzen und das Land zu einen.

Ihre Unabhängigkeit war der Ukraine 1991 zugefallen, sie war nicht erkämpft. Das geschah erst auf dem Maidan – er markiert die späte Geburt einer Nation. Im Moment der tiefsten Krise der Europäischen Union wurden wir hier, im Westen, Zeugen einer Bewegung an der Peripherie, die Werte einfordert, die wir selbst mehr und mehr aus den Augen verlieren.

*

Die Idee zu diesem Heft geht auf den Herbst 2013 zurück. Damals planten wir für die Frühjahrsausgabe 2014 einen Schwerpunkt »Zehn Jahre Orange Revolution«. Dieses Jubiläum einer vergessenen Revolution sollte zum Anlass genommen werden, eine schmerzhafte Frage zu stellen: Warum bewegt sich seit Jahren nichts mehr in der Ukraine? Haben wir vielleicht etwas übersehen? Ende November, als die ersten Artikel schon bestellt waren, begannen die Proteste in Kiew und wurden rasch zu einer Massenbewegung. Unser Schwerpunkt verschob sich nun auf das Phänomen des Euromaidan, wo neue Protestformen entstanden, die an andere Bewegungen wie Occupy, den Arabischen Frühling oder Gezi Park1 denken ließen.

Nach den ersten Zusammenstößen mit der Polizei Ende November gewannen die Proteste rapide an Zulauf und eskalierten schließlich zu einem gewaltsamen Konflikt, der sich nach dem Versuch des Regimes, die Lage durch eine drakonische Gesetzgebung unter Kontrolle zu bringen, weiter zuspitzte, bis zu dem Blutbad vom 18. Februar 2014 – eine Entwicklung, die in der jungen Geschichte der unabhängigen Ukraine unvorstellbar schien.

Es war schwer, zu diesem dramatischen Geschehen Distanz zu halten, zumal zur selben Zeit einige ukrainische Fellows am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, an dem diese Zeitschrift herausgegeben wird, zu Gast waren und die Ereignisse täglich mit den übrigen Fellows diskutierten. Viele Überlegungen und Ideen aus dieser Zeit sind in das vorliegende Heft eingegangen und haben den Fokus abermals verschoben.

Nachdem Wiktor Janukowytsch geflohen war, beschleunigte sich die Geschichte ein weiteres Mal: Russland annektierte die Krim, im Osten der Ukraine entstand ein pro-russischer Separatismus, der in einen bewaffneten Konflikt umschlug und den Westen in eine Konfrontation mit Russland brachte.

Wir haben weiterhin versucht, mit der Entwicklung Schritt zu halten und thematisieren im vorliegenden Heft einige der mit dem Krieg im Osten entstandenen Probleme. Doch besonders wichtig erscheint es uns, die Erinnerung an den Maidan wachzuhalten – bevor die Energie und Faszination dieses revolutionären Moments ganz von den Schrecken des Krieges überschrieben sein wird (was im Übrigen eines seiner Ziele ist). So liefert eine Reihe von Beiträgen Momentaufnahmen der postrevolutionären Situation mit ihrem Potential für einen neuen Anlauf, die Ukraine zu europäisieren – zehn Jahre nach der Orangen Revolution.

Zu den Inspirationsquellen dieses Heftes gehört auch die Konferenz Ukraine: Thinking Together, die von Timothy Snyder und Leon Wieselthier initiiert wurde und vom 15. bis 19. Mai in Kiew stattfand – eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen.2 Dieses Treffen brachte führende Intellektuelle aus dem Westen mit ihren ukrainischen Kollegen am »interessantesten Ort der Welt« (Der Spiegel) zusammen. Es steht in der langen Tradition des IWM, Europa als Idee zu begreifen, die politische Teilungen und Grenzen zu überwinden vermag, und Solidarität mit all jenen zu beweisen, die unter persönlichem Einsatz für diese Idee einstehen.

Wir können auf den folgenden Seiten nur einige Zeugnisse und erste Reflexionen anbieten – viel wird noch geforscht und geschrieben werden über diese wenigen Monate, mit denen eine Epoche zu Ende geht, die uns vielleicht bald als glückliches Intermezzo zwischen zwei Kalten Kriegen erscheinen wird. Die Beiträge bewegen sich auf verschiedenen Ebenen: persönliche Beobachtungen zu den Formen und der Entwicklung der Proteste auf dem Maidan und zur Polarisierung des gesellschaftlichen Klimas in Odessa; Aspekte der Übergangsprozesse nach 1991, wie die Appropriation des politischen Systems durch die Oligarchen oder die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche; die Ost-West-Teilung des Landes, die Chancen zu ihrer Überwindung und zur Bildung einer politischen Nation; das Verhältnis zwischen der Ukraine und Europa.

Besonders hinweisen möchten wir auf den Photoessay von Emine Ziyatdinova. In den 1990er Jahren, nach einem halben Jahrhundert der Deportation, durften die Krimtataren, darunter auch ihre Familie, auf die Krim zurückkehren. Nach der Annexion der Halbinsel durch Russland ist die Kultur der Krimtataren einer neuerlichen Bedrohung ausgesetzt. Die Bilder zeigen Geschichten aus dem Alltag von Verwandten und Freunden, die versuchen, sich auf die neue Situation einzustellen.

Eine Reihe von Fragestellungen in diesem Heft korrespondiert mit Forschungsschwerpunkten am IWM bzw. mit Themen der letzten Hefte: die globale Krise der Demokratie und neue Protestbewegungen; Aufstieg von Populismus und Autoritarismus (insbesondere in Russland); Religion und Politik. Wie immer sind ergänzende Beiträge zur Thematik dieses Heftes in Tr@nsit_online (www.iwm.at/transit-online) nachzulesen. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Kommentare zur Ukraine-Krise in Ukraine in Focus (www.iwm.at/ukraine-in-focus) sowie, unter demselben Titel, in Eurozine (www.eurozine.com/comp/focalpoints/ukraine.html).

 

Wien, im August 2014

Gastherausgeberin und Redaktion

1 Vgl. Nilüfer Göle, »Gezi Park und die Politik des öffentlichen Raums«, in: Transit 44 (2013), S. 161-178.

2 Das Programm der Konferenz und weitere Informationen finden sich unter www.iwm.at/ukraine-thinking-together/.

Timothy Snyder

EUROPA UND DIE UKRAINE:

VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT1

Die Geschichte der Staatlichkeit auf dem Gebiet der Ukraine beginnt mit zwei archetypisch europäischen Begegnungen. Im Mittelalter fand, wie in Frankreich und England, eine Begegnung mit den Wikingern statt. Die Männer aus dem Norden wollten eine Handelsroute zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer schaffen und benutzten das am Dnjepr gelegene Kiew als Handelsstation. Ihre Ankunft fiel mit dem Zusammenbruch des Chasarenreichs zusammen, und ihre Führer heirateten Frauen aus der einheimischen slawischsprachigen Bevölkerung. So entstand das Gebilde, das als Kiewer Rus bekannt ist. Wie alle Staaten im mittelalterlichen Osteuropa war die Rus heidnisch. Sie schwankte zwischen Rom und Byzanz, bis ihre Herrscher sich für Letzteres entschieden und zum orthodoxen Glauben übertraten. Die Rus wurde durch Nachfolgestreitigkeiten geschwächt, bevor sie in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch die Ankunft der Mongolen zerstört wurde.

An diesem Punkt teilt sich die Geschichte der Rus. Die meisten Gebiete übernahm das Großfürstentum Litauen, ein riesiger Kriegerstaat mit der Hauptstadt Vilnius. Die litauischen Großfürsten stilisierten sich zu Erben der Rus und übernahmen zahlreiche kulturelle Errungenschaften, zum Beispiel Rechtstraditionen und das Slawische als Hofsprache. Die Großfürsten waren zwar heidnische Litauer, ihre Untertanen jedoch in der Mehrzahl Ostchristen. Als die Großfürsten von Litauen in Personalunion auch Könige von Polen wurden, gehörten die meisten Teile der Ukraine dem damals größten europäischen Staat an. Durch die Verfassungsreform von 1569 konstituierte sich dieser Staat zu einer Adelsrepublik, dem Doppelstaat Polen-Litauen. In dieser »Republik beider Völker« gehörten die ukrainischen Lande zur polnischen Krone, die weißrussischen zum Großfürstentum Litauen. So wurde innerhalb der alten Rus eine neue Trennungslinie geschaffen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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