Transit 45. Europäische Revue - Timothy Snyder - E-Book

Transit 45. Europäische Revue E-Book

Timothy Snyder

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Beschreibung

Ihre Unabhängigkeit war den Ukrainern 1991 zugefallen, erkämpft haben sie sie erst auf dem Maidan. Sie stürzten ihr korruptes Regime, doch nur, um sich mit einem weitaus mächtigeren Gegner konfrontiert zu sehen, der mit allen Mitteln versucht, ihnen die neu gewonnene Chance zu nehmen. Im Moment der tiefsten Krise der Europäischen Union werden wir Zeugen einer Bewegung, die Werte einfordert, die wir selbst mehr und mehr aus den Augen verloren haben.

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Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen

(IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Gründungsherausgeber: Krzysztof Michalski †

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Gastherausgeberin dieses Heftes: Tatiana Zhurzhenko (Wien)

Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Wien), János M. Kovács (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien).

Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Elemer Hankiss (Budapest), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern (New York).

Unverlangte Einsendungen können nicht in jedem Fall beantwortet werden.

Redaktionsanschrift: Transit c/o IWM, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-60, www.iwm.at

Website von Transit: Europäische Revue und Tr@nsit_online:www.iwm.at/transit

Anzeigenpreisliste wird auf Wunsch zugesandt.

Transiterscheint zweimal im Jahr. Jedes Heft kostet 14 Euro (D). Transit kann

im Abonnement zu 12 Euro (D) pro Heft (in D und A portofrei) über den Verlag bezogen werden.

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/

Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: [email protected]

 

 

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet. Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

 

© 2014 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

Die Printausgabe erschien 2014 im Verlag Neue Kritik

ISSN 0938

E-Book-Ausgaben 2015:

ISBN 978-3-8015-0513-4 (epub)

ISBN 978-3-8015-0514-1 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0515-8 (pdf)

Transit 45 (Sommer 2014)

Maidan: Die unerwartete Revolution(Gastherausgeberin: Tatiana Zhurzhenko)

 

Editorial

 

Timothy Snyder

Europa und die Ukraine: Vergangenheit und Zukunft

 

Kateryna Mishchenko

»Es gab keine Grenze mehr zwischen Traum und Wirklichkeit.«

Interview, geführt von Timothy Snyder und Tatiana Zhurzhenko

 

Oksana Forostyna

Land der Kinder

 

Mykhailo Minakov

Moses und Prometheus Die Ukraine zwischen Befreiung und Freiheit

 

Mykola Riabchuk

Hat der Maidan das Land gespalten?

 

Es gibt kein anderes ZuhausePhotoessay von Emine Ziyatdinova

 

Tatiana Zhurzhenko

Im Osten nichts Neues?

 

Serhii Leshchenko

Hinter den Kulissen

Eine Typologie der ukrainischen Oligarchen

 

Anton Shekhovtsov

Swoboda: Aufstieg und Fall einer Partei

 

Nikolay Mitrokhin

Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats

Zwischen Maidan und pro-russischem Separatismus

 

Cyril Hovorun

Die Kirche auf dem Maidan

 

Tanya Richardson

Zwei große Unterschiede und paar kleine

Das Leben in Odessa nach dem Maidan und dem 2. Mai

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Editorial

 

 

 

Nach dem Scheitern der Orangen Revolution von 2004 schien die Ukraine abgeschrieben – bei den eigenen Bürgern und in der Welt. Doch von Ende 2013 bis ins Frühjahr 2014 protestierten Hunderttausende Ukrainer auf dem Maidan in Kiew und anderswo im Land für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Es gelang ihnen, das korrupte Regime zu stürzen, doch nur, um sich mit einem weitaus mächtigeren Gegner konfrontiert zu sehen, der sie mit allen Mitteln daran zu hindern sucht, die gewonnene Freiheit zu nutzen und das Land zu einen.

Ihre Unabhängigkeit war der Ukraine 1991 zugefallen, sie war nicht erkämpft. Das geschah erst auf dem Maidan – er markiert die späte Geburt einer Nation. Im Moment der tiefsten Krise der Europäischen Union wurden wir hier, im Westen, Zeugen einer Bewegung an der Peripherie, die Werte einfordert, die wir selbst mehr und mehr aus den Augen verlieren.

*

Die Idee zu diesem Heft geht auf den Herbst 2013 zurück. Damals planten wir für die Frühjahrsausgabe 2014 einen Schwerpunkt »Zehn Jahre Orange Revolution«. Dieses Jubiläum einer vergessenen Revolution sollte zum Anlass genommen werden, eine schmerzhafte Frage zu stellen: Warum bewegt sich seit Jahren nichts mehr in der Ukraine? Haben wir vielleicht etwas übersehen? Ende November, als die ersten Artikel schon bestellt waren, begannen die Proteste in Kiew und wurden rasch zu einer Massenbewegung. Unser Schwerpunkt verschob sich nun auf das Phänomen des Euromaidan, wo neue Protestformen entstanden, die an andere Bewegungen wie Occupy, den Arabischen Frühling oder Gezi Park1 denken ließen.

Nach den ersten Zusammenstößen mit der Polizei Ende November gewannen die Proteste rapide an Zulauf und eskalierten schließlich zu einem gewaltsamen Konflikt, der sich nach dem Versuch des Regimes, die Lage durch eine drakonische Gesetzgebung unter Kontrolle zu bringen, weiter zuspitzte, bis zu dem Blutbad vom 18. Februar 2014 – eine Entwicklung, die in der jungen Geschichte der unabhängigen Ukraine unvorstellbar schien.

Es war schwer, zu diesem dramatischen Geschehen Distanz zu halten, zumal zur selben Zeit einige ukrainische Fellows am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, an dem diese Zeitschrift herausgegeben wird, zu Gast waren und die Ereignisse täglich mit den übrigen Fellows diskutierten. Viele Überlegungen und Ideen aus dieser Zeit sind in das vorliegende Heft eingegangen und haben den Fokus abermals verschoben.

Nachdem Wiktor Janukowytsch geflohen war, beschleunigte sich die Geschichte ein weiteres Mal: Russland annektierte die Krim, im Osten der Ukraine entstand ein pro-russischer Separatismus, der in einen bewaffneten Konflikt umschlug und den Westen in eine Konfrontation mit Russland brachte.

Wir haben weiterhin versucht, mit der Entwicklung Schritt zu halten und thematisieren im vorliegenden Heft einige der mit dem Krieg im Osten entstandenen Probleme. Doch besonders wichtig erscheint es uns, die Erinnerung an den Maidan wachzuhalten – bevor die Energie und Faszination dieses revolutionären Moments ganz von den Schrecken des Krieges überschrieben sein wird (was im Übrigen eines seiner Ziele ist). So liefert eine Reihe von Beiträgen Momentaufnahmen der postrevolutionären Situation mit ihrem Potential für einen neuen Anlauf, die Ukraine zu europäisieren – zehn Jahre nach der Orangen Revolution.

Zu den Inspirationsquellen dieses Heftes gehört auch die Konferenz Ukraine: Thinking Together, die von Timothy Snyder und Leon Wieselthier initiiert wurde und vom 15. bis 19. Mai in Kiew stattfand – eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen.2 Dieses Treffen brachte führende Intellektuelle aus dem Westen mit ihren ukrainischen Kollegen am »interessantesten Ort der Welt« (Der Spiegel) zusammen. Es steht in der langen Tradition des IWM, Europa als Idee zu begreifen, die politische Teilungen und Grenzen zu überwinden vermag, und Solidarität mit all jenen zu beweisen, die unter persönlichem Einsatz für diese Idee einstehen.

Wir können auf den folgenden Seiten nur einige Zeugnisse und erste Reflexionen anbieten – viel wird noch geforscht und geschrieben werden über diese wenigen Monate, mit denen eine Epoche zu Ende geht, die uns vielleicht bald als glückliches Intermezzo zwischen zwei Kalten Kriegen erscheinen wird. Die Beiträge bewegen sich auf verschiedenen Ebenen: persönliche Beobachtungen zu den Formen und der Entwicklung der Proteste auf dem Maidan und zur Polarisierung des gesellschaftlichen Klimas in Odessa; Aspekte der Übergangsprozesse nach 1991, wie die Appropriation des politischen Systems durch die Oligarchen oder die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche; die Ost-West-Teilung des Landes, die Chancen zu ihrer Überwindung und zur Bildung einer politischen Nation; das Verhältnis zwischen der Ukraine und Europa.

Besonders hinweisen möchten wir auf den Photoessay von Emine Ziyatdinova. In den 1990er Jahren, nach einem halben Jahrhundert der Deportation, durften die Krimtataren, darunter auch ihre Familie, auf die Krim zurückkehren. Nach der Annexion der Halbinsel durch Russland ist die Kultur der Krimtataren einer neuerlichen Bedrohung ausgesetzt. Die Bilder zeigen Geschichten aus dem Alltag von Verwandten und Freunden, die versuchen, sich auf die neue Situation einzustellen.

Eine Reihe von Fragestellungen in diesem Heft korrespondiert mit Forschungsschwerpunkten am IWM bzw. mit Themen der letzten Hefte: die globale Krise der Demokratie und neue Protestbewegungen; Aufstieg von Populismus und Autoritarismus (insbesondere in Russland); Religion und Politik. Wie immer sind ergänzende Beiträge zur Thematik dieses Heftes in Tr@nsit_online (www.iwm.at/transit-online) nachzulesen. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Kommentare zur Ukraine-Krise in Ukraine in Focus (www.iwm.at/ukraine-in-focus) sowie, unter demselben Titel, in Eurozine (www.eurozine.com/comp/focalpoints/ukraine.html).

 

Wien, im August 2014

Gastherausgeberin und Redaktion

1 Vgl. Nilüfer Göle, »Gezi Park und die Politik des öffentlichen Raums«, in: Transit 44 (2013), S. 161-178.

2 Das Programm der Konferenz und weitere Informationen finden sich unter www.iwm.at/ukraine-thinking-together/.

Timothy Snyder

EUROPA UND DIE UKRAINE:

VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT1

 

 

 

Die Geschichte der Staatlichkeit auf dem Gebiet der Ukraine beginnt mit zwei archetypisch europäischen Begegnungen. Im Mittelalter fand, wie in Frankreich und England, eine Begegnung mit den Wikingern statt. Die Männer aus dem Norden wollten eine Handelsroute zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer schaffen und benutzten das am Dnjepr gelegene Kiew als Handelsstation. Ihre Ankunft fiel mit dem Zusammenbruch des Chasarenreichs zusammen, und ihre Führer heirateten Frauen aus der einheimischen slawischsprachigen Bevölkerung. So entstand das Gebilde, das als Kiewer Rus bekannt ist. Wie alle Staaten im mittelalterlichen Osteuropa war die Rus heidnisch. Sie schwankte zwischen Rom und Byzanz, bis ihre Herrscher sich für Letzteres entschieden und zum orthodoxen Glauben übertraten. Die Rus wurde durch Nachfolgestreitigkeiten geschwächt, bevor sie in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch die Ankunft der Mongolen zerstört wurde.

An diesem Punkt teilt sich die Geschichte der Rus. Die meisten Gebiete übernahm das Großfürstentum Litauen, ein riesiger Kriegerstaat mit der Hauptstadt Vilnius. Die litauischen Großfürsten stilisierten sich zu Erben der Rus und übernahmen zahlreiche kulturelle Errungenschaften, zum Beispiel Rechtstraditionen und das Slawische als Hofsprache. Die Großfürsten waren zwar heidnische Litauer, ihre Untertanen jedoch in der Mehrzahl Ostchristen. Als die Großfürsten von Litauen in Personalunion auch Könige von Polen wurden, gehörten die meisten Teile der Ukraine dem damals größten europäischen Staat an. Durch die Verfassungsreform von 1569 konstituierte sich dieser Staat zu einer Adelsrepublik, dem Doppelstaat Polen-Litauen. In dieser »Republik beider Völker« gehörten die ukrainischen Lande zur polnischen Krone, die weißrussischen zum Großfürstentum Litauen. So wurde innerhalb der alten Rus eine neue Trennungslinie geschaffen.

Das war die erste Epoche eines oligarchischen Pluralismus in der Ukraine. Ukrainische Adlige hatten Sitz und Stimme in den Vertretungsorganen der Republik, doch die große Mehrheit des Volkes war in riesigen Landgütern kolonisiert, die Getreide für den Export produzierten. Zu den örtlichen Kriegsherren gesellten sich polnische Adlige wie auch Juden, die halfen, eine Feudalordnung im Lande zu errichten. In dieser Zeit beteiligten sich Juden an der Schaffung von Kleinstädten, die als Schtetl in die Geschichte eingehen sollten.

Die politische Konstellation führte zum Kosakenaufstand von 1648, in dem Freie, die sich dem System entzogen hatten, dessen Ordnung in Frage stellten. Sie schlossen ein schicksalhaftes Bündnis mit einem rivalisierenden Staat, der gleichfalls seine Wurzeln in der alten Rus hatte, dem Großfürstentum Moskau. Die Stadt Moskau hatte an der Ostgrenze der Rus gelegen und anders als die meisten Teile der Rus blieb sie unter direkter mongolischer Herrschaft. Während die Gebiete des heutigen Weißrussland und der Ukraine über Vilnius und Warschau mit der Renaissance und der Reformation in Berührung kamen, erreichte keine dieser Entwicklungen Moskau. Die Loslösung Moskaus von der mongolischen Herrschaft wird herkömmlich auf das Jahr 1480 datiert. Ebenso wie die Großfürsten von Litauen stilisierten sich auch die Großfürsten von Moskau zu Erben der Kiewer Rus. Aber nach der Zerstörung dieses mittelalterlichen Staates übten sie fast ein halbes Jahrtausend lang keine Herrschaft über das Gebiet aus. Die meiste Zeit wurde Kiew von Vilnius und Warschau aus regiert.

Mit den Kosakenaufständen begann der Niedergang des Doppelstaates Polen-Litauen; sie schufen die Voraussetzungen dafür, dass die Herrschaft über Kiew von Polen auf das Moskauer Großfürstentum überging. 1667 wurde das Territorium der heutigen Ukraine zwischen Polen-Litauen und Moskau aufgeteilt, wobei Kiew an Moskau ging. Dadurch kam das Großfürstentum Moskau mit Europa in Berührung. Die gebildete Elite der Universität Kiew ging nach Norden, um als Beamte und Fachleute in dem wachsenden Reich zu arbeiten. Dasselbe Muster wiederholte sich, als Polen-Litauen Ende des 18. Jahrhunderts vollständig zwischen dem Großfürstentum Moskau (mittlerweile das Russische Reich), Preußen und der Habsburger Monarchie aufgeteilt wurde. Das Russische Reich, das auf dem Gebiet der höheren Bildung keine Tradition besaß, setzte die in Vilnius und Kiew Ausgebildeten für seine Zwecke ein.

Im 19. Jahrhundert folgte die ukrainische Nationalbewegung typisch europäischen Mustern. Einige Gebildete, Laien und Geistliche, begannen gegen ihre eigenen Biographien zu rebellieren und erklärten, nicht die Eliten, sondern die Massen seien das Subjekt der Geschichte. Diese Entwicklung begann in Charkiw und breitete sich von dort nach Kiew und über die russisch-habsburgische Grenze nach Lviv (Lemberg) aus. Ukrainische Historiker des 19. Jahrhunderts gehörten zu den führenden Vertretern der europaweiten Bewegung der Volkstümler, die das einfache Volk romantisierte. Sie ermöglichte die Vorstellung einer gemeinsamen ukrainischen Nation über die Grenze zwischen dem Russischen Reich und der Habsburger Monarchie hinweg (wo in einem kleinen, Ostgalizien genannten Gebiet Menschen lebten, die, wie wir heute sagen würden, ukrainisch sprachen).

Der Erste Weltkrieg brachte das Ende der großen Reiche und zugleich Bestrebungen, auf der Grundlage des Wilsonschen Prinzips der Selbstbestimmung Nationalstaaten zu schaffen. Was die Ukraine betrifft, so kam es gleich zu zwei Versuchen dieser Art, einem auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie und einem auf dem des Russischen Reiches. Der erste Versuch wurde von den Polen vereitelt, denen es gelang, Ostgalizien ihrem neuen Staat einzuverleiben. Der zweite hatte sowohl die Rote als auch die Weiße Armee gegen sich, die sich zwar bekämpften, aber darin übereinstimmten, dass die Ukraine Teil einer größeren politischen Einheit bleiben sollte. Obwohl die ukrainische Nationalbewegung mit denen in anderen osteuropäischen Regionen vergleichbar war und obwohl mehr Menschen für die Ukraine kämpften und starben als für die meisten anderen nach 1918 entstehenden Nationalstaaten, scheiterte der Versuch auf der ganze Linie. Nach einer komplizierten Serie von Ereignissen, in deren Verlauf Kiew ein Dutzend Mal besetzt wurde, trug die Rote Armee den Sieg davon. 1922 entstand die sowjetische Ukraine als Teil der neuen Sowjetunion.

Gerade weil die ukrainische Nationalbewegung so schwer zu unterdrücken war und weil die sowjetische Ukraine die westliche Grenzregion der Sowjetunion bildete, war die Frage ihrer europäischen Identität von Anfang an von zentraler Bedeutung für die sowjetische Geschichte. Die sowjetische Politik zeichnete sich durch eine ambivalente Einstellung gegenüber Europa aus: Die sowjetische Modernisierung sollte die kapitalistische Moderne Europas nachahmen – allerdings nur, um sie zu überflügeln. Dabei wurde Europa je nach Zeit, Perspektive und Stimmung der Führung als fortschrittlich oder als dekadent dargestellt. In den 1920er Jahren förderte die sowjetische Politik die Entwicklung einer intellektuellen und politischen Klasse in der Ukraine, weil man glaubte, dass aufgeklärte Ukrainer sich für die sowjetische Zukunft entscheiden würden. In den 1930er Jahren versuchte die sowjetische Politik, die ländlichen Regionen der Ukraine zu modernisieren, indem man den Boden in Kollektiveigentum überführte und die Bauern zu Angestellten des Staates machte. Das führte zu massivem Widerstand in der Bauernschaft, die an das Privateigentum glaubte, und zu sinkenden Ernteerträgen.

Josef Stalin verwandelte diese gescheiterten Bemühungen in einen Sieg, indem er die ukrainischen Nationalisten und ihre ausländischen Unterstützer für den Misserfolg verantwortlich machte. Er requirierte weiterhin Nahrungsmittel in der Ukraine, obwohl er genau wusste, dass er damit Millionen Menschen dem Hungertod auslieferte, und er vernichtete die ukrainische Intelligenz. Mehr als drei Millionen Menschen verhungerten in der sowjetischen Ukraine. Die Folge war ein neues Regime der Einschüchterung, in dem Europa nur noch als Bedrohung dargestellt wurde. Stalin stellte die absurde, aber wirkungsvolle Behauptung auf, die Ukrainer hungerten sich auf Befehl aus Warschau willentlich zu Tode. Später verkündete die sowjetische Propaganda, wer die Hungersnot erwähne, müsse ein Agent Nazideutschlands sein. So begann die Politik des Faschismus und Antifaschismus, in der Moskau der Verteidiger alles Guten war und seine Kritiker Faschisten sein mussten. Diese wirkungsvolle Rhetorik schloss das sowjetische Bündnis mit den Nazis 1939 keineswegs aus. Angesichts des aktuellen Rückgriffs der russischen Propaganda auf den Antifaschismus ist dies ein wichtiger Punkt, an den man sich erinnern sollte: Die Rhetorik des moralischen Manichäismus diente allein dem Staat und setzte ihm daher keine Grenzen. Der Einsatz des Antifaschismus als Strategie ist etwas ganz anderes als der Kampf gegen wirkliche Faschisten.

Die Ukraine stand im Zentrum der Politik, die Stalin als »innere Kolonisierung« bezeichnete; und sie stand im Zentrum der Hitler’schen Pläne für eine äußere Kolonisierung. Sein »Lebensraum« war in erster Linie die Ukraine, deren fruchtbare Böden von sowjetischer Macht gesäubert und für Deutschland ausgebeutet werden sollten. Man plante, Stalins kollektivierte Landwirtschaft beizubehalten, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse aber von Ost nach West umzuleiten. Deutsche Planer erwarteten, dass dabei etwa dreißig Millionen Einwohner der Sowjetunion verhungern würden. Nach dieser Denkweise waren die Ukrainer Untermenschen, unfähig zu einem normalen politischen Leben und einzig für die Kolonisierung einsetzbar. Kein europäisches Land wurde einer so intensiven Kolonisierung unterworfen wie die Ukraine, und kein europäisches Land musste derart leiden. Zwischen 1933 und 1945 war die Ukraine der tödlichste Ort der Erde.

Im heutigen Deutschland bleibt der Aspekt der Kolonisierung weitgehend unbeachtet. Die Deutschen denken an die Verbrechen gegen die Juden und gegen die (fälschlich mit Russland gleichgesetzte) Sowjetunion, aber fast niemand in Deutschland erkennt an, dass der Hauptgegenstand des kolonialen Denkens und Tuns Deutschlands die Ukraine war. So prominente deutsche Politiker wie Helmut Schmidt zögern selbst heute nicht, die Ukrainer von den geltenden Regeln des Völkerrechts auszuschließen. Der Gedanke, wonach die Ukrainer mindere Menschen sind, besteht fort, jetzt mit der böswilligen Wendung, dass die Ukrainer für Verbrechen in der Ukraine verantwortlich gemacht werden, die in Wirklichkeit deutsche Politik waren und zu denen es ohne einen deutschen Krieg und ohne eine deutsche Kolonisierungspolitik niemals gekommen wäre.

Obwohl Hitlers Hauptziel die Vernichtung der Sowjetunion war, ging er von der Notwendigkeit eines Bündnisses mit der Sowjetunion aus, um den bewaffneten Konflikt beginnen zu können. Als klar war, dass Polen kämpfen würde, gewann Hitler Stalin 1939 für eine doppelte Invasion. Stalin hatte seit Jahren auf solch eine Einladung gehofft, denn die sowjetische Politik zielte schon lange auf eine Zerschlagung Polens. Außerdem sah Stalin in einem Bündnis mit Hitler, also einer Kooperation mit der extremen europäischen Rechten, den Schlüssel zur Zerstörung Europas. Ein deutsch-sowjetisches Bündnis, so hoffte er, werde Deutschland gegen seine europäischen Nachbarn stellen und zu einer Schwächung oder gar zur Vernichtung des europäischen Kapitalismus führen. Diese Vorstellung unterscheidet sich, wie wir noch sehen werden, gar nicht so sehr von Berechnungen, die Wladimir Putin heute anstellt.

Die Folgen der deutsch-sowjetischen Invasion waren die Niederlage Polens und die Zerschlagung des polnischen Staates, aber es kam auch zu einer wichtigen Entwicklung innerhalb des ukrainischen Nationalismus. In den 1930er Jahren hatte es in der Sowjetunion keine ukrainische Nationalbewegung gegeben; das wäre ganz unmöglich gewesen. In Polen gab es jedoch eine terroristische Untergrundbewegung namens Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). In friedlichen Zeiten war sie kaum mehr als ein Ärgernis, aber mit dem Krieg wuchs ihre Bedeutung. Die OUN wehrte sich gleichermaßen gegen die polnische und die sowjetische Herrschaft über die in ihren Augen ukrainischen Gebiete und sah daher in einer deutschen Besetzung des Ostens die einzige Möglichkeit, die Bildung eines ukrainischen Staates zu betreiben. So unterstützte die OUN Deutschland 1939 bei der Invasion Polens und dann erneut 1941, als Deutschland seinen Verbündeten verriet und die UdSSR angriff.

Auch die sowjetische Besetzung Ostpolens von 1939 bis 1941 begünstigte den ukrainischen Nationalismus. Die herrschende Klasse Polens und die Führer der ukrainischen politischen Parteien wurden deportiert oder ermordet. Die ukrainischen Nationalisten, die es gewohnt waren, im Untergrund zu leben, kamen besser weg. Viele linksgerichtete ukrainische Revolutionäre, die vor dem Krieg recht zahlreich waren, gingen nach den Erfahrungen mit der sowjetischen Herrschaft zur radikalen Rechten über. Außerdem ermordeten die Sowjets den Führer der OUN, was wiederum zu einem Machtkampf zwischen zwei jüngeren Männern, Stepan Bandera und Andrij Melnyk, führte.

1941 erprobten ukrainische Nationalisten eine politische Kollaboration mit Deutschland und scheiterten. Hunderte von ihnen beteiligten sich als Kundschafter und Dolmetscher am deutschen Angriff auf die Sowjet​union, und einige von ihnen halfen den Deutschen bei der Organisation von Pogromen. Ukrainisch-nationalistische Politiker versuchten, den Lohn für diese Kollaboration einzustreichen, indem sie im Juni 1941 eine unabhängige Ukraine ausriefen. Hitler war an einem solchen Gebilde überhaupt nicht interessiert. Viele Nationalistenführer wurden getötet oder inhaftiert, Stepan Bandera verbrachte den Rest des Krieges in Sachsenhausen. Manche Ukrainer kollaborierten weiterhin mit den Deutschen, um militärische Erfahrung zu sammeln, oder in der Hoffnung auf eine politische Wende und den Fall, dass die Deutschen sie doch einmal brauchen sollten. Aber wie überall in Europa hatte auch hier die praktische Kollaboration kaum etwas mit Politik zu tun.

Im Laufe des Krieges bereiteten sich viele ukrainische Nationalisten auf einen Aufstand vor für den Zeitpunkt, da die deutsche durch die sowjetische Macht ersetzt würde. Sie sahen in der UdSSR ihren Hauptgegner, teilweise aus ideologischen Gründen, aber vor allem, weil sie im Begriff war, den Krieg zu gewinnen. In Wolhynien schufen ukrainische Nationalisten die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), deren Aufgabe es war, die Sowjets zu besiegen, nachdem diese die Deutschen besiegt hatten. 1943 unternahm die UPA eine massive ethnische Säuberung unter den Polen und tötete zugleich Juden, die sich bei Polen versteckt hielten. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Kollaboration mit den Deutschen, sondern um den mörderischen Teil einer, wie ihre Führer es verstanden, nationalen Revolution. Danach bekämpften die ukrainischen Nationalisten die Sowjets in einem Partisanenkrieg, in dem beide Seiten die grausamsten Mittel einsetzten. Es war Chruschtschow, der den Befehl gab, die Sowjets sollten die Nationalisten noch an Brutalität übertreffen, um die einheimische Bevölkerung einzuschüchtern.

Die politische Kollaboration und der Aufstand der ukrainischen Nationalisten stellten in der Geschichte der deutschen Okkupation letztlich nur Faktoren von untergeordneter Bedeutung dar. Infolge des Krieges wurden auf dem Gebiet der heutigen Ukraine etwa sechs Millionen Menschen getötet, darunter etwa 1,5 Millionen Juden. Die Deutschen erprobten ihre Techniken der Massenvernichtung in Kamenez-Podolsk und Babyn Jar, wo mehr als 20000 bzw. 30000 Juden in Massenerschießungen ermordet wurden. In der gesamten besetzten sowjetischen Ukraine kollaborierten Einheimische mit den Deutschen, wie sie es auch in der besetzten Sowjetunion und im ganzen besetzten Europa taten.

Aber in der Ukraine wurden sehr viel mehr Menschen von den Deutschen ermordet, als mit ihnen kollaborierten, und das gilt für kein anderes besetztes Land in Westeuropa. Deshalb kämpften weit mehr Menschen aus der Ukraine gegen die Deutschen als auf ihrer Seite, und auch das gilt für kein anderes besetztes westeuropäisches Land. Die große Mehrheit der Ukrainer, die im Krieg kämpften, tat dies in der Uniform der Roten Armee. Im Kampf gegen die Wehrmacht kamen mehr Ukrainer ums Leben als amerikanische, britische und französische Soldaten zusammengenommen. In Deutschland ist man bis heute für diese Tatsachen blind, weil die Rote Armee fälschlich als russische Armee angesehen wird – eine Gleichsetzung, die auch von der Propaganda im heutigen Russland praktiziert wird. Wenn die Rote Armee eine russische Armee ist, müssen die Ukrainer Feinde gewesen sein. Diese Denkweise erfand Stalin selbst am Ende des Krieges. Die Idee des Großen Vaterländischen Krieges diente drei Zielen: Sie ließ die Handlung 1941 statt 1939 beginnen, so dass das deutsch-sowjetische Bündnis in Vergessenheit geriet; sie stellte Russland in den Mittelpunkt des Geschehens, obwohl die Ukraine in viel höherem Maße im Zentrum des Krieges stand; und sie ignorierte vollkommen das Leid der Juden.

Die heutige Gedächtnispolitik wird weitaus stärker von der Nachkriegspropaganda geprägt als von der Erfahrung des Krieges. Keiner der heutigen Machthaber erinnert sich noch an den Zweiten Weltkrieg, auch wenn manche führenden russischen Politiker die Geschichtsversion zu glauben scheinen, die man sie in der Schule gelehrt hat. Die gegenwärtigen politischen Führer Russlands sind Kinder der 1970er Jahre und damit von Breschnews Kriegskult. Der Große Vaterländische Krieg wurde zu einer Sache der Russen, die Ukrainer und Juden kommen darin nicht vor. Die Juden litten mehr als jede andere sowjetische Bevölkerungsgruppe, aber der Holocaust als solcher hatte keinen Platz in der sowjetischen Geschichte. Er erschien allenfalls in der antiwestlichen Propaganda, in der man das Leid der Juden gänzlich ukrainischen und anderen Nationalisten in die Schuhe schob – Menschen, die in Gebieten lebten, die Stalin im Krieg als Hitlers Verbündeter erobert hatte, und Menschen, die Widerstand gegen die Sowjetmacht geleistet hatten, als sie 1945 zurückkehrte. An diese Tradition knüpfen die russischen Propagandisten in der gegenwärtigen Ukraine-Krise an: vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust, soweit sie ihn nicht als politisches Instrument zur Manipulation der Menschen im Westen benutzen können.

In den 1970er Jahren wurde die Sowjetunion russifiziert, und zwar auf eine ganz besondere Weise. Man gelangte zu dem ideologischen Schluss, dass nur innerhalb der Sowjetunion selbst, nicht aber innerhalb der einzelnen Nationen Klassen existierten. So brauchte die Sowjetunion nur eine einzige denkende Klasse und nicht mehrere nationale Klassen dieser Art. In der Folge wurde die ukrainische Sprache aus den Schulen und insbesondere aus der höheren Bildung verbannt. Sie behielt ihre Bedeutung als eine Sprache niederer und paradoxerweise zugleich hoher Kultur, denn damals bestritt in der Sowjetunion niemand die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Tradition in der Kunst und in den Geisteswissenschaften. In dieser Atmosphäre entwickelten ukrainische Patrioten und selbst ukrainische Nationalisten ein zivilgesellschaftliches Verständnis der ukrainischen Identität. Unterstützt wurden sie darin von emigrierten polnischen Intellektuellen, die in den 1970er und 1980er Jahren eine Außenpolitik für die Zeit nach dem Kommunismus konzipierten.

Diese um Jerzy Giedroyc und die Zeitschrift Kultura in Paris versammelten Intellektuellen erklärten, die Ukraine sei im selben Sinne eine Nation wie Polen, und ein zukünftiges unabhängiges Polen solle eine zukünftige unabhängige Ukraine anerkennen – ohne die Grenzen in Frage zu stellen. Das war damals umstritten, weil Polen im Gefolge des Krieges die heute als Westukraine bezeichneten Gebiete verloren hatte. Im Rückblick war dies der erste Schritt der Ukraine wie auch Polens in die Richtung der rechtlichen und institutionellen Normen Nachkriegseuropas. Die vorweggenommene Anerkennung der Ukraine innerhalb der bestehenden Grenzen wurde 1989 zur Grundlage einer polnischen Außenpolitik nach »europäischen Standards«. In der entscheidenden Phase zwischen 1989 und 1991 und zum ersten Mal in der Geschichte hatten die ukrainischen Aktivisten nur einen Gegner: die Sowjetunion. Im Dezember 1991 stimmten mehr als 90% der Einwohner der sowjetischen Ukraine (mit Mehrheit in allen Regionen) für die Unabhängigkeit.

*

Danach gingen Russland und die Ukraine getrennte Wege. Privatisierung und Gesetzlosigkeit führten in beiden Ländern zu einer Oligarchie. In Russland wurden die Oligarchen durch einen zentralisierten Staat kontrolliert, während sie in der Ukraine eine eigene, merkwürdige Form von Pluralismus schufen. Bis in die allerjüngste Zeit pendelten alle ukrainischen Präsidenten in der Außenpolitik zwischen Ost und West und in der Innenpolitik zwischen verschiedenen Oligarchen-Clans.

Ungewöhnlich an Viktor Janukowytsch war, dass er jeglichem Pluralismus ein Ende zu setzen versuchte. In der Innenpolitik schuf er eine Scheindemokratie, in der sein Lieblingsgegner die weit rechts stehende Swoboda-Partei war. In dieser Konstellation konnte er Wahlen gewinnen und ausländischen Beobachtern erklären, er sei immerhin besser als die nationalistische Alternative. In der Außenpolitik sah er sich nolens volens zu Wladimir Putins Russland hingedrängt. Janukowytsch war so korrupt, dass eine ernsthafte Zusammenarbeit mit der Europäischen Union – und das impliziert die Anerkennung bestimmter rechtlicher Normen – seine wirtschaftliche Macht untergraben hätte. Er scheint so viel aus der Staatskasse gestohlen zu haben, dass der Staat 2013 kurz vor dem Bankrott stand, was Janukowytsch gefügig für russischen Druck machte. Moskau war bereit, seine Praktiken zu ignorieren und ihm einen Kredit für die Bedienung der dringendsten Schulden zu gewähren, allerdings zu einem politischen Preis.

Auch aus einem weiteren Grund war es ab 2013 nicht länger möglich, zwischen Russland und dem Westen zu pendeln. Denn Moskau steht seit Kurzem nicht mehr für einen russischen Staat mit mehr oder weniger berechenbaren Interessen, sondern für das weitaus grandiosere Projekt einer eurasischen Integration. Das eurasische Projekt besteht aus zwei Teilen: der Schaffung einer Freihandelszone zwischen Russland, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan und der Zerstörung der Europäischen Union durch die Unterstützung der extremen Rechten in Europa. Putins Ziel war und ist höchst einfach. Sein Regime ist abhängig vom Verkauf von Erdöl und Erdgas an Westeuropa. Ein einiges Europa könnte unter dem Druck der Unberechenbarkeit Russlands oder der globalen Erwärmung oder beider Faktoren zu einer gemeinsamen Energiepolitik finden, die es von Russland unabhängig machen würde. Ein uneiniges Europa bliebe dagegen auf die russischen Energielieferungen angewiesen.

Doch kaum formuliert, zerschellte Putins stolzer Plan an der Realität der ukrainischen Gesellschaft. Der Versuch, die Ukraine in den eurasischen Machtbereich hereinzuholen, führte zum genau entgegengesetzten Ergebnis: Im November 2013 brachte Russland Janukowytsch mit politischen Mitteln davon ab, das über Jahre vorbereitete Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das führte zu Protesten in der Ukraine, für deren Zerschlagung Russland einen großen Kredit und günstige Gaspreise anbot. Im Januar 2014 machten nach russischem Vorbild eingeführte drakonische Gesetze den Protest zu einer Massenbewegung. Millionen von Menschen, die sich zu friedlichen Demonstrationen versammelt hatten, sollten plötzlich zu Kriminellen gestempelt werden. Ein Teil der Protestierenden begann, sich gegen die Polizeigewalt zu wehren. Schließlich machte Russland deutlich, dass Janukowytsch Kiew von Demonstranten säubern müsse, wenn er das Geld erhalten wolle. Im Februar folgte dann das Scharfschützenmassaker, das einen eindeutigen moralischen und politischen Sieg für die Revolutionäre brachte und Janukowytsch zur Flucht nach Russland zwang. Der Versuch, in der Ukraine eine Diktatur zu errichten, bewirkte genau das Gegenteil: die Rückkehr zu parlamentarischer Herrschaft, die Ankündigung von Präsidentschaftswahlen und eine auf Europa ausgerichtete Außenpolitik.

Dieser Erfolg machte die Revolution in der Ukraine nicht nur zu einem Desaster für die russische Außenpolitik, sondern auch zu einer Gefahr für das russische Regime zu Hause. Die Schwäche der Putin’schen Politik liegt darin, dass sie mit dem Handeln freier Menschen, die sich als Reaktion auf unvorhersehbare historische Ereignisse selbst organisieren, nichts anzufangen weiß. Die russische Propaganda stellte die ukrainische Revolution als Nazi-Putsch dar und warf den Westeuropäern vor, diese angeblichen Nazis zu unterstützen. Diese Version war zwar lächerlich, aber in Putins mentaler Welt weitaus komfortabler, weil sie das Debakel der russischen Außenpolitik aus dem Blickfeld rückte und die spontane Aktion der Ukrainer durch eine ausländische Verschwörung ersetzte.

In der Folge kam es zur Annexion der Krim und einer schleichenden Invasion von Donezk und Luhansk. Dies stellt eine enorme Herausforderung der europäischen Sicherheitsordnung und des ukrainischen Staates dar. Was hier geschehen ist und noch geschieht, hat nichts mit dem Volkswillen oder dem Schutz von Minderheitenrechten zu tun: Meinungsumfragen auf der Krim haben niemals eine Mehrheit für den Anschluss an Russland ausgewiesen, und russophone Ukrainer genießen im ganzen Land weit mehr Freiheiten als Russen in Russland. Bei der Annexion der Krim bediente Putin sich bezeichnenderweise der Hilfe seiner extremistischen Verbündeten in ganz Europa. Keine angesehene Organisation durfte die Wahlfarce beobachten, bei der angeblich 97% der Krim-Einwohner für die Annexion stimmten. Aber eine bunt zusammengewürfelte Delegation aus rechtsgerichteten Populisten, Neonazis und Mitgliedern der deutschen Partei Die Linke war gerne bereit zu kommen und die Ergebnisse zu bestätigen. Die deutsche Vertretung auf der Krim bestand aus vier Mitgliedern der Linken und einem Mitglied der Neuen Rechten – eine aufschlussreiche Kombination.

Die Partei Die Linke agiert im Rahmen einer von der russischen Propaganda geschaffenen virtuellen Realität, die der europäischen Linken aus Moskauer Sicht die Aufgabe zuweist, die ukrainische, nicht aber die europäische und ganz gewiss nicht die russische Rechte zu kritisieren. Nun entbehrt solch eine Kritik keineswegs jeglicher Grundlage. Die Ukraine besitzt eine extreme Rechte. Swoboda, Janukowytschs hauseigene Opposition, stellt drei von zwanzig Ministern in der Regierung Jazenjuk. Angesichts einer Wählerunterstützung von 3% ist sie damit überrepräsentiert. Von denen, die während der Revolution gegen die Polizei kämpften, gehörten einige – wenn auch keineswegs die Mehrheit – einer neuen Gruppe namens Rechter Sektor an, die laut einer Umfrage vom April 2014 bei einer Parlamentswahl lediglich 1,8% der Stimmen bekommen würde. Die Präsidentschaftswahlen im Mai haben schließlich bestätigt, wie wenig populär und wie schwach die extreme Rechte in der Ukraine ist – deshalb war Moskau gegen diese Wahlen. Wenn also die extreme Rechte eine gewisse Unterstützung in der Ukraine findet, so doch weit weniger als in den meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Revolutionäre Situationen begünstigen stets Extremisten, und gewiss ist hier Wachsamkeit geboten. Es ist erstaunlich, dass Kiew und die Ukraine unmittelbar nach der Revolution zur Ordnung zurückkehrten und dass die neue Regierung angesichts der russischen Invasion eine nahezu unglaubliche Ruhe bewahrt hat. Es gibt tiefe Meinungsverschiedenheiten im Lande, aber zu Gewalt kommt es nur in den Gebieten, die von pro-russischen Separatisten kontrolliert werden.

Beobachter, die die ukrainische Rechte kritisieren, übersehen häufig zwei wesentliche Dinge. Erstens ging die ukrainische Revolution von der Linken aus. Sie war eine Massenbewegung, wie sie Europäer und Amerikaner nur noch aus Geschichtsbüchern kennen. Ihr Gegner war ein autoritärer Kleptokrat, und ihre zentralen Forderungen waren soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit. Initiiert wurde sie von einem Journalisten afghanischer Herkunft, ihre ersten beiden Todesopfer waren ein Armenier und ein Weißrusse, und sie wurde sowohl von muslimischen Krimtataren als auch von zahlreichen ukrainischen Juden unterstützt. Ein jüdischer Veteran der Roten Armee gehörte zu den von Scharfschützen Getöteten, und zahlreiche Veteranen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte kämpften für die Freiheit in der Ukraine.

Der Maidan war zweisprachig, ukrainisch und russisch, denn Kiew ist eine zweisprachige Stadt, die Ukraine ist ein zweisprachiges Land und die Ukrainer sind ein zweisprachiges Volk. Der Motor der Revolution war die russischsprachige Kiewer Mittelklasse. Die gegenwärtige Regierung ist ganz selbstverständlich multiethnisch und multilingual. Die Ukraine ist ein kosmopolitisches Land, in dem Sprache und ethnische Zugehörigkeit weniger Bedeutung haben, als viele glauben. Tatsächlich beherbergt die Ukraine heute die größten und wichtigsten freien Medien in russischer Sprache, da diese auch auf Russisch erscheinen und Meinungsfreiheit herrscht. Putins Behauptung, er wolle die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine schützen, ist in mehrfacher Hinsicht absurd, und in einer Hinsicht ganz besonders: In der Ukraine können die Menschen auf Russisch sagen, was sie wollen – in Russland können sie das nicht. Die Separatisten im Osten des Landes, die nach Umfragen nur eine Minderheit der Bevölkerung repräsentieren, protestieren für das Recht, sich einem Land anzuschließen, in dem Proteste unterdrückt werden. Sie haben Wahlen blockiert, in denen sich die legitimen Interessen der im Osten lebenden Ukrainer artikulieren sollten. Wenn sich diese Regionen Russland anschließen, werden ihre Bewohner in der Zukunft keine Chancen mehr auf freie Wahlen haben.

Der zweite Punkt, der gerne übersehen wird, ist, dass die autoritäre extreme Rechte in Russland unendlich gefährlicher ist als die in der Ukraine. Zum einen, weil sie an der Macht ist, zum anderen, weil sie keine ernstzunehmenden Rivalen hat. Darüber hinaus braucht sie sich keinen Wahlen zu stellen und keine Rücksicht auf internationale Erwartungen zu nehmen. Und sie verfolgt heute eine Außenpolitik, die offen auf eine Ethnisierung der Welt setzt: Es spielt keine Rolle, was ein Bürger in rechtlicher Hinsicht oder nach seinen eigenen Präferenzen ist. Die Tatsache, dass er russisch spricht, macht ihn zu einem »Volksgenossen«, der den Schutz Russlands braucht und eine Invasion legitimiert.

Das russische Parlament hat Putin autorisiert, die gesamte Ukraine zu besetzen und deren soziale und politische Strukturen zu verändern: ein extrem radikales Ziel. Es hat auch ein Schreiben an den polnischen Außenminister geschickt mit dem Vorschlag, die Ukraine zwischen Polen und Russland aufzuteilen. Im populären russischen Fernsehen werden Juden für den Holocaust verantwortlich gemacht; in der großen Tageszeitung Iswestija wird Hitler als vernünftiger Staatsmann rehabilitiert, der auf westlichen Druck reagierte. Am Jahrestag des Kriegsendes marschieren russische Neonazis durch die Straßen.