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«Bloodlands» ist eines jener seltenen Bücher, die mit einem Schlag den Blick auf die Geschichte verändern. Weltweit in mehr als vierzig Sprachen übersetzt, hat sein Titel sogar Eingang in die Alltagssprache gefunden. Timothy Snyder führt darin zusammen, was bis dahin getrennt betrachtet worden war und wenig miteinander zu tun zu haben schien: die Ermordung von 14 Millionen Menschen, die im Namen unterschiedlicher Ideologien sterben mussten, deren gewaltsamer Tod aber eine auffallende Gemeinsamkeit hatte: Sie starben alle im selben Zeitraum in derselben Region.
Diese Region besteht aus einem historischen Raum, zu dem Westrussland, Belarus, Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine gehören. Auch heute wieder wird in genau dieser Region ein äußerst brutaler Krieg geführt, wie ihn Europa seit 1945 nicht mehr gesehen hat. Russland führt im Namen von Putins Ideologie Krieg gegen die Ukraine, dabei von Belarus unterstützt. Wer versuchen will zu verstehen, warum diese vielfach blutgetränkte Erde, die «Bloodlands», bis in die Gegenwart Schauplatz von Gewaltverbrechen größten Ausmaßes sind und warum jedes Land die Geschichte dieser Verbrechen bis heute anders erzählt, der muss dieses brillante Buch lesen, dessen Autor seit vielen Jahren den Kurs Putins vorausgesagt hat.
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Bloodlands ist eines jener seltenen Bücher, die mit einem Schlag den Blick auf die Geschichte verändern. Weltweit in mehr als vierzig Sprachen übersetzt, hat sein Titel sogar Eingang in die Alltagssprache gefunden. Timothy Snyder führt darin zusammen, was bis dahin getrennt betrachtet worden war und wenig miteinander zu tun zu haben schien: die Ermordung von 14 Millionen Menschen, die im Namen unterschiedlicher Ideologien sterben mussten, deren gewaltsamer Tod aber eine auffallende Gemeinsamkeit hatte: Sie starben alle im selben Zeitraum in derselben Region – jener Region, in der auch in unseren Tagen wieder ein äußerst brutaler Krieg geführt wird.
„Wenn Sie die wirkliche Geschichte verstehen wollen, was zwischen der Ukraine, Russland und dem Westen vor sich geht, dann müssen Sie dieses erschütternde Buch lesen.“
Fareed Zakaria
„Bloodlands wird für Jahrzehnte das wichtigste Buch zum Thema sein.“
Tony Judt
„Bloodlands ist kein Buch, dessen Zeit gekommen ist. Es ist ein Buch, dessen Zeit längst überfällig war.“
The Moscow News
Timothy Snyder ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Yale University und wurde u. a. mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm gemeinsam mit Nora Krug eine illustrierte Ausgabe seines internationalen Bestsellers „Über Tyrannei“. In seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ (3
Timothy Snyder
BLOODLANDS
Europa zwischen Hitler und Stalin
Aus dem Englischen von Martin Richter
C.H.Beck
dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith
Paul Celan, «Todesfuge»
Ja, alles fließt, alles ändert sich, man steigt nicht zweimal in denselben Transport.
Wassili Grossman, «Alles fließt»
Ein Fremder ertrank im Schwarzen Meer allein, Und seine Gebete um Vergebung verhallten ungehört.
«Sturm auf dem Schwarzen Meer», Ukrainisches Volkslied
Die Städte schwinden. Doch anstelle der Natur Bleibt dieser weiße Schild, der alles Nichtsein trägt.
Tomas Venclova, «Der Schild des Achill»
Vorwort: Europa
Einleitung: Hitler und Stalin
Kapitel 1: Die sowjetischen Hungersnöte
Kapitel 2: Klassenterror
Kapitel 3: Nationalitätenterror
Kapitel 4: Molotow-Ribbentrop-Europa
Kapitel 5: Ökonomie der Apokalypse
Kapitel 6: Endlösung
Kapitel 7: Holocaust und Rache
Kapitel 8: Todesfabriken
Kapitel 9: Widerstand und Einäscherung
Kapitel 10: Ethnische Säuberungen
Kapitel 11: Stalinistischer Antisemitismus
Schluss: Menschlichkeit
Nachwort zur 6. Auflage
Anhang
Zusammenfassung
Zahlen und Begriffe
Danksagung
Anmerkungen
Bibliographie
Register
Vorwort
«Jetzt werden wir leben!» Das sagte der hungrige Junge, als er den einsamen Straßenrand entlang wanderte und durch die abgeernteten Felder. Doch die Nahrung, die er sah, gab es nur in seiner Phantasie. Aller Weizen war weggebracht worden, als Teil eines kaltherzigen Requirierungsprogramms, mit dem das Zeitalter des europäischen Massenmords begann. Man schrieb das Jahr 1933, und Josef Stalin hungerte bewusst die ukrainische Sowjetrepublik aus. Der Junge starb und mit ihm über drei Millionen andere Menschen. «Ich werde sie unter der Erde wiederfinden», sagte ein junger Mann von seiner Frau. Er hatte Recht; er wurde nach ihr erschossen, und beide wurden mit den 700 000 übrigen Opfern des stalinistischen Terrors von 1937–38 begraben. «Sie wollten meinen Ehering, den ich …» Das Tagebuch des polnischen Offiziers bricht kurz vor seiner Hinrichtung durch die sowjetische Geheimpolizei 1940 ab. Er war einer von rund 200 000 polnischen Bürgern, die von Sowjets und Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erschossen wurden, während das Deutsche Reich und die Sowjetunion gemeinsam ihr Land besetzt hielten. Ende 1941 schloss ein elfjähriges Mädchen in Leningrad sein bescheidenes Tagebuch mit den Worten: «Nur Tanja ist übrig.» Hitler hatte Stalin überrumpelt, ihre Heimatstadt wurde von den Deutschen belagert und ausgehungert, und ihre Familie gehörte zu den vier Millionen Sowjetbürgern, die verhungerten. Im Sommer darauf schrieb ein zwölfjähriges Mädchen in Weißrussland in einem letzten Brief an seinen Vater: «Ich möchte dir Lebewohl sagen, bevor ich sterbe. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn die kleinen Kinder werden lebend in die Grube geworfen.» Sie gehörte zu den über fünf Millionen Juden, die von den Deutschen vergast oder erschossen wurden.
Mitten in Europa ermordeten das NS- und das Sowjet-Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts vierzehn Millionen Menschen. Der Ort, wo alle Opfer starben, die Bloodlands, erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten. Während der Konsolidierung von Nationalsozialismus und Stalinismus (1933–1938), der deutsch-sowjetischen Besatzung Polens (1939–1941) und des deutsch-sowjetischen Kriegs (1941–1945) erlebte diese Region Massengewalt in einem historisch beispiellosen Ausmaß. Die Opfer waren vor allem Juden, Weißrussen, Ukrainer, Polen, Russen und Balten, die Bewohner dieser Länder. Die vierzehn Millionen Opfer wurden in nur zwölf Jahren ermordet, zwischen 1933 und 1945, als Hitler und Stalin gleichzeitig an der Macht waren. Obwohl ihre Heimatländer in der Mitte dieser Epoche zu Schlachtfeldern wurden, waren sie alle Opfer einer mörderischen Politik, keine Kriegsopfer. Der Zweite Weltkrieg war der mörderischste Krieg der Geschichte, und etwa die Hälfte aller gefallenen Soldaten dieses Weltkrieges starben in derselben Region, den Bloodlands. Unter den vierzehn Millionen Opfern war aber kein einziger aktiver Soldat. Die meisten waren Frauen, Kinder und Alte, allesamt unbewaffnet. Viele hatten alle Habe verloren, auch ihre Kleider.
Auschwitz ist der bekannteste Ort des Massenmords auf dem Boden der Bloodlands. Heute steht Auschwitz für den Holocaust und der Holocaust für das Böse eines Jahrhunderts. Doch die als Arbeiter in Auschwitz registrierten Menschen hatten eine Chance des Überlebens: dank der Memoiren und Romane der Überlebenden ist sein Name bekannt. Weit mehr Juden, die meisten aus Polen, wurden in anderen deutschen Todesfabriken vergast, wo fast alle starben und deren Namen weniger bekannt sind: Treblinka, Chełmno, Sobibór, Bełżec. Noch mehr Juden aus Polen, der UdSSR oder dem Baltikum wurden neben Gräben und Gruben erschossen. Die meisten von ihnen starben in der Nähe ihrer Wohnorte im besetzten Polen, Litauen, Lettland, der Ukraine und Weißrussland. Die Deutschen brachten auch Juden aus anderen Ländern hierher, um sie zu ermorden. Juden wurden mit Zügen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Frankreich, Holland, Griechenland, Belgien, Jugoslawien, Italien und Norwegen nach Auschwitz gebracht. Deutsche Juden wurden in die Großstädte der Bloodlands deportiert, nach Łódź, Kaunas (Kowno), Minsk oder Warschau, bevor man sie erschoss oder vergaste. Die Menschen, die in dem Häuserblock wohnten, wo ich gerade schreibe, im 9. Bezirk von Wien, wurden nach Auschwitz, Sobibór, Treblinka und Riga verfrachtet, alles Orte auf der Blutigen Erde.
Der deutsche Massenmord an den Juden fand im besetzten Polen, Litauen, Lettland und der Sowjetunion statt, nicht in Deutschland. Hitler war ein antisemitischer Politiker in einem Land, wo nur eine kleine jüdische Gemeinschaft lebte. Als er 1933 Reichskanzler wurde, machten die Juden weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung aus, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war es noch etwa ein Viertelprozent. In den ersten sechs Jahren der NS-Herrschaft durften deutsche Juden emigrieren (wenn auch gedemütigt und beraubt). Die meisten deutschen Juden, die Hitlers Wahlsieg 1933 erlebt hatten, starben eines natürlichen Todes. Die Ermordung von 165 000 deutschen Juden war ein schreckliches Verbrechen, aber nur ein kleiner Teil der Tragödie der europäischen Juden, sie machten weniger als drei Prozent der Opfer des Holocaust aus. Erst als Deutschland 1939 Polen und 1941 die Sowjetunion angriff, traf Hitlers Vision einer Vernichtung der europäischen Juden auf die beiden größten jüdischen Gemeinschaften in Europa. Sein Vernichtungswille ließ sich nur in den Teilen Europas verwirklichen, wo Juden lebten.
Der Holocaust überschattet deutsche Pläne, die zu noch größerem Blutvergießen geführt hätten. Hitler wollte nicht nur die Juden auslöschen; er wollte auch Polen und die Sowjetunion als Staaten vernichten, ihre Führungsschichten liquidieren und viele Millionen Slawen (Russen, Ukrainer, Weißrussen, Polen) umbringen. Wäre der Krieg gegen die UdSSR wie geplant verlaufen, so wären 30 Millionen Zivilisten im ersten Winter verhungert und danach viele weitere Millionen vertrieben, ermordet, assimiliert oder versklavt worden. Obwohl diese Pläne nie verwirklicht wurden, waren sie der gedankliche Rahmen für die deutsche Besatzungspolitik im Osten. Während des Krieges ermordeten die Deutschen ebenso viele Nichtjuden wie Juden, vor allem durch das Verhungernlassen sowjetischer Kriegsgefangener (über drei Millionen) und der Einwohner belagerter Städte (über eine Million) oder durch die Erschießung von Zivilisten bei «Vergeltungsmaßnahmen» (fast eine Million, vor allem Weißrussen und Polen).
Die Sowjetunion besiegte das Deutsche Reich an der Ostfront, was Stalin die Dankbarkeit von Millionen von Menschen und eine zentrale Rolle in der Etablierung einer europäischen Nachkriegsordnung einbrachte. Doch Stalins eigenes Massenmordregister war fast ebenso lang wie das Hitlers. In Friedenszeiten war es sogar länger. Im Namen der Verteidigung und Modernisierung der Sowjetunion war Stalin für den Hungertod von Millionen und die Erschießung einer Dreiviertelmillion Menschen in den dreißiger Jahren verantwortlich. Stalin tötete seine eigenen Bürger nicht weniger effizient als Hitler die Bürger anderer Staaten. Von den vierzehn Millionen Menschen, die zwischen 1933 und 1945 in den Bloodlands mit Bedacht ermordet wurden, geht ein Drittel auf die Rechnung der Sowjetunion.
Dies ist eine Geschichte politischer Massenmorde. Die vierzehn Millionen waren alle Opfer einer sowjetischen oder nationalsozialistischen Mordpolitik, oft in Zusammenarbeit beider Länder, aber keine Kriegsopfer. Ein Viertel von ihnen wurde noch vor Kriegsbeginn ermordet. Weitere 200 000 starben zwischen 1939 und 1941, während Deutschland und die Sowjetunion Europa als Verbündete neu formten. Der Tod der vierzehn Millionen wurde teilweise in Wirtschaftsplänen projiziert oder durch wirtschaftliche Überlegungen beschleunigt, aber nicht durch eine wie auch immer geartete ökonomische Notwendigkeit verursacht. Stalin wusste, was geschehen würde, als er den hungernden Bauern der Ukraine 1933 die Nahrung wegnahm, genau wie Hitler wusste, was geschehen würde, als er acht Jahre später den sowjetischen Kriegsgefangenen die Versorgung mit Lebensmitteln vorenthielt. In beiden Fällen starben über drei Millionen Menschen. Die Hunderttausenden erschossenen sowjetischen Bauern und Arbeiter während des Großen Terrors 1937/38 waren Opfer von ausdrücklichen Befehlen Stalins, genau wie die zwischen 1941 und 1945 vergasten und erschossenen Millionen Juden einer expliziten Politik Hitlers zum Opfer fielen.
Der Krieg veränderte das Gleichgewicht des Mordens. In den dreißiger Jahren war die Sowjetunion das einzige Land in Europa gewesen, das politische Massenmorde durchführte. In den sechseinhalb Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ermordete das NS-Regime nicht mehr als etwa 10 000 Menschen. Stalins Regime hatte 1939 bereits Millionen verhungern lassen und fast eine Million Menschen erschossen. Zwischen 1939 und 1941, nachdem der Pakt mit Stalin Hitler den Angriff auf Polen erlaubt hatte, näherten sich die deutschen Massenmorde den sowjetischen an. Im September 1939 griffen die Wehrmacht und die Rote Armee Polen an. Deutsche und sowjetische Diplomaten unterzeichneten einen Freundschafts- und Grenzvertrag, und ihre Truppen hielten das Land fast zwei Jahre lang besetzt. Nachdem die Deutschen 1940 durch die Invasion Norwegens, Dänemarks, der Niederlande und Frankreichs ihr Imperium nach Westen ausgedehnt hatten, besetzten und annektierten die Sowjets Litauen, Lettland, Estland und Nordostrumänien. Beide Regime erschossen gebildete polnische Bürger zu Zehntausenden und deportierten sie zu Hunderttausenden. Für Stalin war solche Massenunterdrückung die Fortsetzung der alten Politik in einem neuen Land, für Hitler war sie ein Durchbruch.
Das schlimmste Morden begann, als Hitler Stalin überrumpelte und im Juni 1941 in die vor kurzem vergrößerte Sowjetunion einmarschierte. Obwohl der Zweite Weltkrieg im September 1939 mit der gemeinsamen deutsch-sowjetischen Invasion Polens seinen Anfang nahm, folgte der größte Teil der Massenmorde der späteren Invasion. In der Ukraine, Weißrussland und dem Bezirk Leningrad, wo das Sowjetregime seit 1933 etwa vier Millionen Menschen hatte verhungern oder erschießen lassen, gelang es den deutschen Truppen in der halben Zeit, doppelt so viele Menschen zu erschießen oder verhungern zu lassen. Bald nach Beginn der Invasion setzte die Wehrmacht sowjetische Kriegsgefangene dem Hungertod aus, und Einsatzgruppen zogen mit der Erschießung von politischen Gegnern und Juden eine blutige Spur durch die Länder. Im Zusammenspiel mit Ordnungspolizei, Waffen-SS und Wehrmacht sowie unterstützt von einheimischer Hilfspolizei und Milizen begannen die Einsatzgruppen im Sommer 1941 mit der gezielten Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.
In den Bloodlands lebten die meisten europäischen Juden. Hier überschnitten sich Hitlers und Stalins imperiale Pläne, hier kämpften Wehrmacht und Rote Armee miteinander, und hier konzentrierten SS und NKWD ihre Kräfte. Hier lagen die meisten Mordschauplätze: In der politischen Geographie der dreißiger und frühen vierziger Jahre betraf das Polen, die baltischen Staaten, Weißrussland, die Ukraine und den Westrand Russlands. Stalins Verbrechen werden oft mit Russland assoziiert und die Hitlers mit Deutschland, aber der mörderischste Teil der UdSSR war ihre nichtrussische Peripherie, und die Nazis mordeten vor allem außerhalb Deutschlands. Die Lager gelten als Inbegriff der Schrecken des 20. Jahrhunderts, aber die meisten Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus starben nicht in Konzentrationslagern. Diese Missverständnisse über Orte und Methoden des Massenmords hindern uns daran, den Schrecken des 20. Jahrhunderts zu verstehen.
Deutschland war der Standort jener KZs, die Amerikaner und Briten 1945 befreiten; das russische Sibirien war bekanntlich der Hauptstandort des Gulag, den Alexander Solschenizyn im Westen bekannt machte. Die Bilder dieser Lager, auf Fotografien oder in Prosa, deuten aber die Geschichte deutscher und sowjetischer Gewalt nur an. Etwa eine Million Menschen starben als Zwangsarbeiter in deutschen Lagern – dagegen starben in deutschen Gaskammern und in den deutschen Todes- und Hungerzonen zehn Millionen Menschen. Über eine Million Menschen starben zwischen 1933 und 1945 im sowjetischen Gulag an Erschöpfung und Krankheiten – in den sowjetischen Todeszonen und Hungergebieten starben aber ungefähr sechs Millionen, davon vier Millionen in den Bloodlands. 90 Prozent der Gulag-Häftlinge überlebten. Die meisten Häftlinge der deutschen Konzentrationslager (im Unterschied zu den deutschen Todeslagern, Erschießungsgruben und Kriegsgefangenenlagern) überlebten ebenfalls. Das Schicksal der KZ-Häftlinge, so schrecklich es war, unterscheidet sich von dem der vielen Millionen, die vergast, erschossen oder dem Hungertod überantwortet wurden.
Der Unterschied zwischen Konzentrationslagern und Todeszonen lässt sich nicht sauber ziehen: Auch in den Lagern wurden Menschen hingerichtet und verhungerten. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen einer Lagerstrafe und einem Todesurteil, zwischen Arbeit und Gas, zwischen Sklaverei und einer Kugel. Die überwältigende Mehrheit der Mordopfer von NS- und Sowjet-Regime sah niemals ein Konzentrationslager. Auschwitz war zwei Dinge zugleich, ein Arbeits- und ein Todeslager, und das Schicksal der nichtjüdischen Zwangsarbeiter und zur Arbeit bestimmten Juden unterschied sich von dem der für die Gaskammer selektierten Juden. Es gehört darum zu zwei miteinander verbundenen, aber unterschiedlichen Geschichten. Auschwitz als Arbeitslager ist repräsentativer für die Erfahrung der großen Zahl von Menschen, die deutsche (oder sowjetische) Inhaftierungsmaßnahmen erlitten, während Auschwitz als Todeslager typischer für das Schicksal jener Menschen steht, die bewusst ermordet wurden. Die meisten Juden, die nach Auschwitz kamen, wurden einfach vergast. Wie fast alle der vierzehn Millionen Menschen, die in den Bloodlands starben, waren sie nie in einem Konzentrationslager inhaftiert.
Die deutschen und sowjetischen Konzentrationslager umgeben die Bloodlands von Westen und Osten und vermischen ihre Grautöne mit dem totalen Schwarz. Am Ende des Zweiten Weltkriegs befreiten amerikanische und britische Truppen deutsche KZs wie Bergen-Belsen und Dachau, aber die westlichen Alliierten befreiten keines der großen Todeslager. Die Deutschen führten alle großen Mordkampagnen in Regionen durch, die danach von den Sowjets besetzt wurden. Die Rote Armee befreite Auschwitz und auch die Standorte von Treblinka, Sobibór, Bełżec, Chełmno und Majdanek. Amerikanische und britische Soldaten betraten die Bloodlands nicht und sahen keinen der großen Mordschauplätze. Sie sahen nicht nur keinen der Orte, wo die Sowjets Morde begingen, wodurch die Verbrechen des Stalinismus erst nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Öffnung der Archive dokumentiert werden konnten, sie sahen auch nie die Orte, wo die Deutschen mordeten, weshalb auch ein wirkliches Begreifen der nationalsozialistischen Verbrechen ebenso lange auf sich warten ließ. Die Fotografien und Filme von deutschen Konzentrationslagern waren das, was die meisten Menschen im Westen jemals vom Massenmord sahen. So schrecklich sie auch sind, waren sie doch nur eine Andeutung der Geschichte der Bloodlands. Sie sind nicht die ganze Geschichte; sie sind nicht einmal eine Einführung.
Der Massenmord in Europa wird meist mit dem Holocaust assoziiert, und der Holocaust mit schnellem industrialisiertem Töten. Dieses Bild ist zu einfach und zu sauber. An den Schauplätzen der deutschen und sowjetischen Morde waren die Methoden eher primitiv. Von den vierzehn Millionen Zivilisten und Kriegsgefangenen, die zwischen 1933 und 1945 in den Bloodlands ermordet wurden, starb über die Hälfte, weil man ihnen die Nahrung verweigerte. Mitten im 20. Jahrhundert ließen Europäer andere Europäer in gewaltiger Zahl verhungern. Die nach der Opferzahl größten Massenvernichtungen nach dem Holocaust – Stalins geplante Hungersnöte der frühen dreißiger Jahre und Hitlers Verhungernlassen der sowjetischen Kriegsgefangenen Anfang der vierziger Jahre – benutzten diese Mordmethode. In einem Hungerplan kalkulierte das NS-Regime den Tod von vielen Millionen Slawen und Juden im Winter 1941/42 ein.
Bei der Opferzahl folgt nach dem Hungertod die Erschießung, danach die Vergasung. In Stalins großer Terrorkampagne von 1937/38 wurden fast 700 000 Sowjetbürger erschossen. Die etwa 200 000 polnischen Bürger, die Deutsche und Sowjets während ihrer gemeinsamen Besetzung Polens ermordeten, wurden erschossen, ebenso die über 300 000 Weißrussen und ebenso vielen Polen, die durch deutsche «Vergeltungsmaßnahmen» starben. Als Todesursache für die im Holocaust ermordeten Juden waren Erschießung und Vergasung gleich wahrscheinlich.
Auch die Vergasung war keine sehr moderne Methode. Die rund eine Million Juden, die in den Gaskammern von Auschwitz erstickten, wurden durch Blausäure ermordet, eine seit dem 18. Jahrhundert bekannte Verbindung. Die etwa 1,6 Millionen in Treblinka, Chełmno, Bełżec und Sobibór ermordeten Juden erstickten an Kohlenmonoxid, dessen tödliche Wirkung schon die alten Griechen kannten. In den vierziger Jahren wurde Blausäure als Pestizid benutzt, Kohlenmonoxid wurde von Verbrennungsmotoren abgegeben. Sowjets und Deutsche bedienten sich also Technologien, die selbst in den dreißiger und vierziger Jahren kaum neuartig waren: Verbrennungsmotoren, Eisenbahnen, Schusswaffen, Pestizide, Stacheldraht.
Egal welche Technologie benutzt wurde, das Töten war persönlich. Verhungernde Menschen wurden (häufig von Wachtürmen aus) von denen beobachtet, die ihnen Nahrung verweigerten. Menschen, die erschossen werden sollten, wurden über Gewehrläufe anvisiert oder von zwei Männern festgehalten, während ein dritter ihnen eine Pistole ins Genick presste. Menschen, die vergast werden sollten, wurden zusammengetrieben, in Züge gepfercht und dann in die Gaskammern getrieben. Sie verloren ihre Habe, dann ihre Kleider und wenn sie Frauen waren, auch ihr Haar. Jeder Mensch starb einen anderen Tod, denn jeder hatte ein anderes Leben geführt.
Die bloße Zahl der Opfer kann unser Gefühl für die Individualität jedes einzelnen betäuben. «Ich wollte sie alle mit Namen nennen,/Doch man nahm mir die Liste, wer kennt sie noch», schrieb die russische Dichterin Anna Achmatowa in ihrem Requiem. Dank der mühsamen Arbeit der Historiker besitzen wir einige der Listen; dank der Öffnung der osteuropäischen Archive wissen wir, wo wir suchen sollen. Wir besitzen eine überraschende Zahl von Stimmen der Opfer: beispielsweise die Erinnerungen einer jungen jüdischen Frau, die sich aus dem Massengrab in Babi Jar bei Kiew hervorgrub, und die einer anderen, der dasselbe in Ponary bei Vilnius (Wilna) gelang. Wir besitzen die Memoiren einiger der wenigen Dutzend Überlebenden aus Treblinka. Wir besitzen ein Archiv des Warschauer Ghettos, das sorgfältig gesammelt, vergraben und dann zum größten Teil wiedergefunden wurde. Wir besitzen die mit den Leichen ausgegrabenen Tagebücher polnischer Offiziere, die 1940 vom NKWD im Wald von Katyn erschossen wurden. Wir besitzen Notizzettel, die von Polen aus den Bussen geworfen wurden, als man sie bei den deutschen Mordaktionen desselben Jahres zu Massengräbern fuhr. Wir besitzen die Wörter, die in die Wand der Synagoge von Kowel geritzt wurden, und die an der Wand des Gestapo-Gefängnisses von Warschau. Wir besitzen die Erinnerungen von Überlebenden der ukrainischen Hungersnot 1933, von sowjetischen Kriegsgefangenen, die 1941 die deutsche Hungerkampagne überlebten, und von Überlebenden der Belagerung von Leningrad 1941–44.
Wir besitzen auch Dokumente der Täter, von den Deutschen, weil sie den Krieg verloren, und von den Sowjets, weil sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 russische, ukrainische, weißrussische, polnische und baltische Archive öffneten. Wir besitzen Berichte und Briefe von deutschen Polizisten und Soldaten, die Juden erschossen, und von deutschen Antipartisaneneinheiten, die weißrussische und polnische Zivilisten erschossen. Wir besitzen die Eingaben, die KP-Funktionäre schickten, bevor sie 1932/33 die Hungersnot in der Ukraine erzwangen. Wir besitzen die Todesquoten von Bauern und nationalen Minderheiten, die 1937/38 aus Moskau an die örtlichen NKWD-Büros gingen, und die Antworten, die um eine Erhöhung dieser Quoten bitten. Wir besitzen die Vernehmungsprotokolle sowjetischer Bürger vor ihrer Verurteilung und Erschießung. Wir besitzen die deutschen Zählungen erschossener und vergaster Juden. Wir besitzen sowjetische Zählungen der Erschießungen während des Großen Terrors und in Katyn. Wir haben gute Schätzungen der Zahl jüdischer Opfer an den großen Mordschauplätzen auf der Basis deutscher Dokumente und Mitteilungen, Aussagen von Überlebenden und sowjetischer Dokumente. Wir können begründete Schätzungen der Zahl der Hungertoten in der Sowjetunion abgeben, von denen nicht alle registriert wurden. Wir besitzen Stalins Briefe an seine engsten Genossen, Hitlers Tischgespräche, Himmlers Dienstkalender und vieles mehr. Soweit ein Buch wie dieses überhaupt möglich ist, ist es das nur dank der Arbeit anderer Historiker, ihrer Sichtung dieser und zahlloser anderer Quellen. Obwohl bestimmte Diskussionen in diesem Buch auf eigener Archivarbeit beruhen, geht meine gewaltige Schuld gegenüber heutigen Kollegen und früheren Historikern aus seinen Seiten und den Anmerkungen klar hervor.
Im ganzen Buch werden die Stimmen der Opfer und ihrer Freunde und Angehörigen zu hören sein. Es wird auch die Täter zitieren, die Ausführenden wie die Planer. Dazu ruft es eine kleine Zahl europäischer Schriftsteller als Zeugen auf: Anna Achmatowa, Hannah Arendt, Józef Czapski, Günter Grass, Wassili Grossman, Gareth Jones, Arthur Koestler, George Orwell und Alexander Weissberg. (Es wird auch den Weg zweier Diplomaten verfolgen: des amerikanischen Russlandspezialisten George Kennan, der entscheidende Momente in Moskau erlebte, und des japanischen Spions Chiune Sugihara, der an den Aktivitäten teilnahm, die Stalin als Rechtfertigung für Massenterror ansah, und später Juden vor Hitlers Holocaust rettete.) Manche dieser Autoren berichteten über eine Kampagne des Massenmords, andere über zwei oder noch mehr. Manche liefern luzide Analysen, andere schiefe Vergleiche, wieder andere unvergessliche Bilder. Was sie gemeinsam haben, ist der unermüdliche Versuch, ein Bild Europas zwischen Hitler und Stalin zu geben, oft gegen die Tabus ihrer Zeit.
Bei ihrem Vergleich von Sowjet- und NS-Regime schrieb die politische Theoretikerin Hannah Arendt 1951, die Faktizität selbst hänge «von der Existenz einer nichttotalitären Welt ab». Der amerikanische Diplomat George Kennan drückte den gleichen Gedanken 1944 in Moskau einfacher aus: «Hier entscheiden Menschen, was wahr und was falsch ist».[1]
Ist Wahrheit nicht mehr als eine Konvention der Macht, oder können wahrheitsgemäße historische Berichte den politischen Interessen widerstehen? Das Dritte Reich und die UdSSR versuchten sogar die Geschichte zu beherrschen. Die Sowjetunion war ein marxistischer Staat, dessen Führer behaupteten, Wissenschaftler der Geschichte zu sein. Der Nationalsozialismus war eine apokalyptische Vision totaler Umwälzung, und sie sollte von Menschen verwirklicht werden, die daran glaubten, dass Wille und Rasse die Last der Vergangenheit abschütteln könnten. Die zwölf Jahre des Dritten Reichs und die 74 Jahre des Sowjet-Regimes lasten gewiss schwer auf unserer Fähigkeit, die Welt zu verstehen. Viele meinen, die Verbrechen des Nationalsozialismus seien so groß, dass sie außerhalb der Geschichte stehen. Das ist ein besorgniserregendes Echo von Hitlers Glauben, der Wille triumphiere über die Tatsachen. Andere behaupten, Stalins Verbrechen, so schrecklich sie waren, seien durch die Notwendigkeit legitimiert, einen modernen Staat zu schaffen oder zu verteidigen. Das erinnert an Stalins Überzeugung, die Geschichte habe eine Richtung, die nur er verstehe und die seine Politik nachträglich rechtfertige.
Ohne eine Geschichte, die auf einer ganz anderen Grundlage aufgebaut und verteidigt wird, werden Hitler und Stalin weiterhin selbst ihre Taten für uns definieren. Was könnte eine solche Grundlage sein? Obwohl das vorliegende Buch militärische, politische, ökonomische, Sozial-, Kultur- und Geistesgeschichte einbezieht, sind seine drei fundamentalen Methoden einfach: das Beharren, dass kein vergangenes Ereignis jenseits des historischen Verstehens oder Erforschens liegt; die Reflexion, dass alternative Entscheidungen möglich sind und es bei menschlichen Handlungen eine Wahl gibt; schließlich die geordnete chronologische Betrachtung aller stalinistischen und nationalsozialistischen Maßnahmen, durch die eine große Zahl von Zivilisten und Kriegsgefangenen getötet wurde. Die Form des Buchs erwächst nicht aus der politischen Geographie der Imperien, sondern aus der menschlichen Geographie der Opfer. Die Bloodlands waren kein echtes oder imaginiertes politisches Territorium, sie waren einfach der Schauplatz, wo Europas brutalste Regime ihre Morde verübten.
Jahrzehntelang hat die nationale Geschichtsschreibung – jüdisch, polnisch, ukrainisch, weißrussisch, russisch, litauisch, estnisch und lettisch – sich gegen die NS- und Sowjet-Konzepte der Gräueltaten gerichtet. Die Geschichte der Bloodlands wurde bewahrt, indem man die Vergangenheit (häufig auf intelligente und mutige Weise) in nationale Teile aufteilte und diese Teile getrennt voneinander hielt. Doch die Betrachtung nur einer verfolgten Gruppe muss als Bericht über das, was zwischen 1933 und 1945 in Europa geschah, scheitern, so groß die Qualität dieses Berichts auch sein mag. Ein umfassendes Wissen über die ukrainische Vergangenheit erklärt nicht die Ursachen der Hungersnot. Die Geschichte Polens ist nicht der beste Weg, um zu verstehen, warum so viele Polen durch Stalins Großen Terror ermordet wurden. So viel man auch über Weißrussland wissen mag, nichts davon erklärt die Kriegsgefangenenlager und Antipartisanenkampagnen, denen so viele Weißrussen zum Opfer fielen. Eine Beschreibung des jüdischen Lebens kann den Holocaust einbeziehen, aber nicht erklären. Oft ist das, was einer Gruppe geschieht, nur im Lichte dessen verständlich, was einer anderen geschieht. Doch das ist nur der Beginn der Verbindungen. Auch NS- und Sowjet-Regime müssen im Lichte dessen verstanden werden, wie ihre Führer diese Länder beherrschen wollten und diese Gruppen sowie ihre Beziehungen untereinander sahen.
Heute besteht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die Massenmorde des 20. Jahrhunderts von größter moralischer Bedeutung für das 21. Jahrhundert sind. Daher verblüfft es, dass es noch keine Geschichte der Bloodlands gibt. Der Massenmord trennte die jüdische Geschichte von der europäischen und die osteuropäische von der westeuropäischen. Mord erschuf keine Nationen, aber er bewirkt Jahrzehnte nach dem Ende des Zeitalters der Massenmorde immer noch ihre geistige Separierung. Diese Studie bringt das Nazi- und das Sowjet-Regime zusammen, die jüdische und die europäische Geschichte zusammen und die Nationalgeschichten zusammen. Sie beschreibt die Opfer und die Täter. Sie erörtert die Ideologien und Pläne, die Systeme und Gesellschaften. Dies ist eine Geschichte von Menschen, die durch die Politik ferner Machthaber getötet wurden. Die Heimatländer der Opfer lagen zwischen Berlin und Moskau; sie wurden zu den Bloodlands nach dem Aufstieg Hitlers und Stalins.
Einleitung
Die Ursprünge des NS- und des Sowjet-Regimes und ihres Zusammentreffens in den Bloodlands liegen im Ersten Weltkrieg. Der Krieg zerbrach die alten europäischen Landreiche und inspirierte Träume von neuen. An die Stelle des dynastischen Prinzips der Fürstenherrschaft setzte er die zerbrechliche Idee der Volkssouveränität. Sie zeigte, dass Millionen von Menschen dem Befehl gehorchen würden, zu kämpfen und zu sterben – für abstrakte und ferne Ziele und im Namen von Heimatländern, die bereits im Verschwinden begriffen waren oder neu entstanden. Neue Staaten wurden fast aus dem Nichts geschaffen und große Gruppen von Zivilisten durch einfache Techniken vertrieben oder vernichtet. Über eine Million Armenier wurden von den osmanischen Machthabern ermordet, Deutsche und Juden durch das Russische Reich deportiert, Bulgaren, Griechen und Türken nach dem Krieg zwischen Nationalstaaten ausgetauscht. Ebenso wichtig war die Zerstörung der integrierten Weltwirtschaft durch den Krieg. Kein erwachsener Europäer, der das Jahr 1914 erlebte, sollte die Wiederherstellung eines vergleichbaren Freihandels erleben; die meisten erwachsenen Europäer des Jahres 1914 genossen für den Rest ihres Lebens keinen vergleichbaren Wohlstand mehr.
Im Zentrum des Ersten Weltkriegs stand der bewaffnete Konflikt zwischen dem Deutschen Reich, der Habsburger-Monarchie, dem Osmanischen Reich und Bulgarien (den «Mittelmächten») auf der einen Seite und Frankreich, dem Russischen Reich, England, Italien, Serbien und den USA (der «Entente») auf der anderen. Der Sieg der Entente 1918 bedeutete das Ende der drei europäischen Landmächte: Österreich-Ungarn, Deutsches und Osmanisches Reich. Durch die Nachkriegsverträge von Versailles, St. Germain, Sèvres und Trianon traten Nationalstaaten an die Stelle multinationaler Reiche und demokratische Republiken an die von Monarchien. Die nicht vom Krieg zerstörten europäischen Großmächte, England und vor allem Frankreich, waren stark geschwächt. Unter den Siegern herrschte nach 1918 die Illusion, das Leben könne irgendwie zur Situation vor 1914 zurückkehren. Unter den Revolutionären, die hofften, sich an die Spitze der Besiegten zu setzen, herrschte der Traum, das Blutvergießen könne weitere radikale Veränderungen rechtfertigen, die dem Krieg eine Bedeutung geben und seinen Schaden wettmachen würden.
Die wichtigste politische Vision war die kommunistische Utopie. Bei Kriegsende war es 70 Jahre her, dass Karl Marx und Friedrich Engels ihre berühmtesten Zeilen geschrieben hatten: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Der Marxismus hatte Generationen von Revolutionären durch eine Vision politischer und moralischer Umwälzung inspiriert: ein Ende des Kapitalismus und der Konflikte, die der Privatbesitz mit sich zu bringen schien, und ihre Ersetzung durch einen Sozialismus, der die arbeitenden Massen befreien und die gesamte Menschheit seelisch erneuern würde. Für Marxisten folgte historischer Fortschritt aus dem Kampf zwischen aufsteigenden und niedergehenden Klassen, d. h. Gruppen, die aus Veränderungen der Produktionsweise entstanden waren. Jede herrschende Ordnung wurde durch neue soziale Gruppen bedroht, die von neuen Produktionsweisen hervorgebracht wurden. Der moderne Klassenkampf tobte zwischen denen, die Fabriken besaßen, und denen, die darin arbeiteten. Aus diesem Grund glaubten Marx und Engels, die Revolution werde in den fortgeschritteneren Industrieländern mit großer Arbeiterklasse wie Deutschland und Großbritannien beginnen.
Durch die Störung der kapitalistischen Ordnung und die Schwächung der großen Reiche eröffnete der Erste Weltkrieg den Revolutionären eine offensichtliche Gelegenheit. Die meisten Marxisten hatten sich jedoch daran gewöhnt, innerhalb der nationalen politischen Systeme zu arbeiten, und unterstützten während des Krieges ihre Regierungen. Nicht so Wladimir Iljitsch Lenin, der Untertan des Zarenreichs und Führer der Bolschewiki. Sein voluntaristisches Marxismusverständnis, der Glaube, die Geschichte lasse sich aufs richtige Gleis stoßen, ließ ihn den Krieg als seine große Chance ansehen. Für einen Voluntaristen wie Lenin verlieh die Zustimmung der Marxisten zum Urteilsspruch der Geschichte ihnen die Macht, ihn selbst zu sprechen. Marx sah die künftige Geschichte nicht als festgelegt an, sondern als Werk von Gruppen und Einzelnen, die ihre Prinzipien erkannten. Lenin stammte aus einem weitgehend agrarischen Land, dem aus marxistischer Sicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution fehlten. Auch hier entwickelte er aber eine revolutionäre Theorie, um seinen revolutionären Impuls zu untermauern. Er glaubte, die Kolonialreiche hätten dem Kapitalismus eine längere Lebensdauer verliehen, doch ein Krieg zwischen den Kolonialmächten werde eine allgemeine Revolution herbeiführen. Das Russische Reich brach als erstes zusammen, und Lenin ergriff die Initiative.
Die leidenden Soldaten und verarmten Bauern des Zarenreichs waren Anfang 1917 im Aufstand. Nachdem im Februar ein Volksaufstand die Monarchie gestürzt hatte, versuchte eine neue liberale Regierung den Krieg durch eine neue Offensive gegen das Deutsche Reich und die K.u.K.-Monarchie zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt wurde Lenin zur Geheimwaffe Deutschlands. Im April schickten die Deutschen Lenin aus seinem Schweizer Exil in die russische Hauptstadt Petrograd, um eine Revolution durchzuführen, durch die Russland aus dem Krieg ausscheiden sollte. Mit Hilfe seines charismatischen Verbündeten Leo Trotzki und seiner disziplinierten Bolschewiki gelang Lenin im Oktober (nach westlicher Zeitrechnung im November) ein Staatsstreich mit einiger Unterstützung der Bevölkerung. Anfang 1918 unterzeichnete Lenins neue Regierung einen Friedensvertrag mit Deutschland, durch den Weißrussland, die Ukraine, das Baltikum und Polen unter deutsche Kontrolle kamen. Zum Teil dank Lenin gewannen die Deutschen so den Krieg an der Ostfront und besaßen für kurze Zeit ein Imperium im Osten.
Lenins Friedensschluss hatte den Preis einer deutschen Kolonialherrschaft in den früheren Westgebieten des Zarenreichs. Für die Bolschewiki war aber klar, dass das Deutsche Reich bald ebenso zusammenbrechen würde wie der Rest des kapitalistischen Unterdrückersystems. Russische oder andere Revolutionäre würden ihre neue Ordnung dorthin und weiter nach Westen tragen. Nach Lenins und Trotzkis Auffassung würde der Krieg zwangsläufig die deutsche Niederlage an der Westfront und dann eine Arbeiterrevolution in Deutschland herbeiführen. Sie rechtfertigten ihre Revolution gegenüber sich selbst und anderen Marxisten mit der Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden proletarischen Umsturzes in den Industriestaaten Mittel- und Westeuropas. 1918/19 schien es, als könne Lenin Recht behalten. Die Deutschen wurden tatsächlich im Herbst 1918 von Franzosen, Engländern und Amerikanern an der Westfront geschlagen und mussten sich – unbesiegt – aus ihrem neuen Reich im Osten zurückziehen. Deutsche Revolutionäre machten vereinzelte Versuche, an die Macht zu kommen. Die Bolschewiki übernahmen die Macht in der Ukraine und Weißrussland.
Der Kollaps des Zarenreichs und die deutsche Niederlage schufen ein Machtvakuum in Osteuropa, das die Bolschewiki trotz aller Versuche nicht ausfüllen konnten. Während Lenin und Trotzki ihre neue Rote Armee in Bürgerkriegen in Russland und der Ukraine einsetzten, wurden fünf Länder an der Ostsee zu unabhängigen Republiken: Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Nach diesen Gebietsverlusten war das Russland der Bolschewiki weiter vom Westen entfernt als das der Zaren. Unter den neuen unabhängigen Staaten besaß Polen eine größere Bevölkerung als alle anderen zusammen und war strategisch am wichtigsten. Stärker als alle anderen neuen Staaten veränderte Polen das Machtgleichgewicht in Osteuropa. Es war zu klein für eine Großmacht, aber groß genug, um für jede expansionistische Großmacht ein Problem darzustellen. Zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert trennte es Russland von Deutschland. Polens bloße Existenz schuf einen Puffer für die deutsche wie für die russische Macht und wurde in Moskau und Berlin mit wenig Sympathie gesehen.
Polens Ideologie war seine Unabhängigkeit. Seit dem späten 18. Jahrhundert, als die polnisch-litauische Adelsrepublik von ihren Nachbarn aufgeteilt wurde, hatte es keinen polnischen Staat gegeben. Die polnische Politik hatte unter der Fremdherrschaft im 19. Jahrhundert weiter existiert, und die Idee der polnischen Nation war eher noch lebendiger geworden. Die polnische Unabhängigkeitserklärung im November 1918 war nur möglich, weil alle drei beteiligten Mächte – Hohenzollern-, Habsburger- und Zarenreich – nach Krieg und Revolution verschwunden waren. Diese große historische Gelegenheit ließ der polnische Revolutionär Józef Piłsudski nicht ungenutzt vorübergehen. Der ehemalige Sozialist war zu einem Pragmatiker geworden, der ein Reich gegen die anderen ausspielen konnte. Als alle drei Reiche zusammenbrachen, waren Piłsudski und seine Anhänger, die sich schon während des Krieges militärisch organisiert hatten, in der besten Lage, einen polnischen Staat auszurufen und zu verteidigen. Sein großer politischer Rivale, Roman Dmowski, vertrat Polen bei den Siegermächten in Paris. Das neue Polen wurde als demokratische Republik gegründet. Mit Unterstützung der Ententemächte konnte Warschau auf eine mehr oder weniger vorteilhafte Westgrenze mit Deutschland rechnen. Die Frage der polnischen Ostgrenze war dagegen offen. Weil die Entente keinen Krieg an der Ostfront gewonnen hatte, konnte sie in Osteuropa keine Lösung durchsetzen.
1919/20 führten Polen und Bolschewiki einen Krieg um die Grenzregionen zwischen Russland und Polen, der für die europäische Ordnung entscheidend war. Die Rote Armee war beim Rückzug der Deutschen in der Ukraine und Weißrussland einmarschiert, aber die polnische Führung hatte diese Gebietsgewinne nicht anerkannt. Piłsudski sah diese Gebiete als unabhängige historische Gebilde, deren Geschichte mit der Polens verbunden war und deren Führer eine erneuerte Version der alten Adelsrepublik in Weißrussland und der Ukraine anstreben sollten. Er hoffte, polnische Truppen könnten mit Unterstützung ukrainischer Verbündeter die Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates befördern. Nachdem aber die Bolschewiki 1919 die Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht und im Frühjahr 1920 eine polnische Offensive gestoppt hatten, glaubten Lenin und Trotzki ihre eigene Revolution nach Polen tragen zu können, um den Arbeitern die Übernahme ihrer historischen Rolle mit dem Bajonett nahe zu legen. Nach dem Fall Polens würden dann deutsche Genossen mit Hilfe der neuen Roten Armee die gewaltigen Ressourcen Deutschlands dafür einsetzen, die Russische Revolution zu retten. Doch den sowjetischen Truppen wurde der Weg nach Berlin im August 1920 bei Warschau verlegt.
Piłsudskis Gegenoffensive trieb die Rote Armee zurück auf weißrussisches und ukrainisches Gebiet. Unter den Besiegten war auch Stalin, ein Politoffizier der Roten Armee in der Ukraine. Seine Fehleinschätzungen verhinderten eine bessere Koordinierung der sowjetischen Truppen und machten die Rote Armee verletzlich für Piłsudskis Manöver. Der militärische Sieg der Polen beendete aber nicht die Macht der Bolschewiki. Die Truppen waren zu erschöpft, um auf Moskau zu marschieren, und die polnische Gesellschaft zu gespalten, um ein solches Abenteuer zu unterstützen. Schließlich wurden die von Weißrussen und Ukrainern bewohnten Gebiete zwischen dem bolschewistischen Russland und Polen aufgeteilt. Polen wurde so ein multinationaler Staat, dessen Bevölkerung zu vielleicht zwei Dritteln polnisch sprach, aber auch fünf Millionen Ukrainer, drei Millionen Juden, eine Million Weißrussen und zwischen einer halben und einer Million Deutsche umfasste. Polen war seiner Verfassung nach ein Staat «des polnischen Volkes», aber es besaß die größte jüdische Gemeinschaft in Europa und die zweitgrößte ukrainische und weißrussische (nach dem bolschewistischen Russland). Seine drei größten Minderheiten – Juden, Ukrainer und Weißrussen – teilte es mit seinem östlichen Nachbarn.
Während über die osteuropäischen Grenzen auf den Schlachtfeldern der Ukraine, Weißrusslands und Polens entschieden wurde, diktierten die Siegermächte des Weltkriegs ihre Bedingungen für Mittel- und Westeuropa. Polen und Bolschewiki kämpften dort, wo die Ostfront des Ersten Weltkriegs verlaufen war, doch das besiegte Deutschland präsentierte sich den Siegern friedfertig. Deutschland erklärte sich zur Republik, um bessere Friedensbedingungen von Franzosen, Briten und Amerikanern zu erhalten. Seine größte linke Partei, die SPD, lehnte das bolschewistische Beispiel ab und strebte keine Revolution in Deutschland an. Die meisten Sozialdemokraten hatten während des Krieges loyal zum Reich gestanden und sahen die Ausrufung der Republik nun als Fortschritt. Doch diese moderaten Entscheidungen halfen Deutschland wenig. Die Friedensbedingungen wurden eher diktiert als diskutiert; entgegen einer langen europäischen Tradition verweigerte man den Besiegten einen Platz am Verhandlungstisch. Die deutsche Regierung hatte keine Wahl, als den Versailler Vertrag im Juni 1919 zu unterschreiben, aber nur wenige deutsche Politiker wollten seine Bedingungen verteidigen.
Weil der Vertrag von moralisierenden Siegern entworfen worden war, ließ er sich leicht als heuchlerisch ablehnen. Während des Krieges hatten sich die Ententemächte zu Unterstützern der Befreiung der mitteleuropäischen Völker erklärt. Vor allem die Amerikaner definierten ihre Kriegsteilnahme als Kreuzzug für die nationale Selbstbestimmung. Doch die Franzosen, die mehr gelitten hatten als jedes andere Land, wollten eine Bestrafung der Deutschen und eine Belohnung der eigenen Verbündeten. Tatsächlich widersprach der Versailler Vertrag gerade dem Prinzip, für das die Entente angeblich gekämpft hatte: der nationalen Selbstbestimmung. In Versailles ebenso wie in Trianon (Juni 1920) und Sèvres (August 1920) erhielten die Völker, die als Verbündete der Entente galten (Polen, Tschechen und Rumänen), mehr Territorium und infolgedessen größere ethnische Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen. Die als Feinde betrachteten Völker (Deutsche, Ungarn und Bulgaren) verloren Territorium, dadurch entstanden größere Minderheiten ihrer Völker auf dem Gebiet anderer Staaten.
Der polnisch-sowjetische Krieg fand zwischen der Eröffnung der Verhandlungen in Versailles und der Vertragsunterzeichnung in Sèvres statt. Weil Europa sich immer noch im Krieg befand, während diese Verträge im Westen ausgehandelt und unterzeichnet wurden, war die neue Nachkriegsordnung ein wenig unwirklich. Sie wirkte verletzlich gegenüber einer Revolution von links, die von den Bolschewiki inspiriert oder sogar angeführt wurde. Solange der Krieg zwischen Polen und Bolschewiki andauerte, konnten Revolutionäre in Deutschland hoffen, die Rote Armee werde ihnen zu Hilfe kommen. Gleichzeitig war die junge deutsche Republik durch einen Umsturz von rechts gefährdet. Soldaten, die siegreich von der Ostfront heimkehrten, sahen keinen Grund, etwas zu akzeptieren, was ihnen als Demütigung des Vaterlands durch die neue Republik und den von ihr unterzeichneten Versailler Vertrag erschien. Viele Veteranen schlossen sich Freikorps an, die gegen linke Revolutionäre kämpften. Die SPD-Regierung glaubte keine Alternative zu haben, als einige der Freikorps gegen kommunistische Revolutionsversuche einzusetzen.
Der polnische Sieg über die Rote Armee bei Warschau beendete im August 1920 die Hoffnungen auf eine sozialistische Revolution in Europa. Der im März 1921 in Riga unterzeichnete Vertrag zwischen Polen und dem bolschewistischen Russland war der wahre Abschluss der Neuordnung nach dem Krieg. Er legte Polens Ostgrenze fest, stellte sicher, dass das geteilte ukrainische und weißrussische Territorium für viele Jahre ein Zankapfel bleiben würde, und verwandelte den Bolschewismus von der bewaffneten Revolution zur Staatsideologie. Die im folgenden Jahr gegründete Sowjetunion war ein Land mit festen Grenzen – in dieser Hinsicht ein politisches Gebilde wie jedes andere. Mit den großen bewaffneten Konflikten endete auch die Hoffnung der Rechten, auf die Revolution könne eine Gegenrevolution folgen. Wer auf einen Umsturz der neuen deutschen Republik hoffte, ob von ganz rechts oder ganz links, musste auf seine eigenen Kräfte bauen. Die SPD unterstützte weiterhin die Republik, während die deutschen Kommunisten das sowjetische Modell priesen und der sowjetischen Parteilinie folgten. Sie erhielten ihre Anweisungen von der Kommunistischen Internationale, die Lenin 1919 gegründet hatte. Auch die extreme Rechte musste ihre Vorstellungen ändern: das Ende der Nachkriegsordnung ließ sich nur durch Deutschland allein erreichen, sobald es wiederaufgebaut und verändert war.
Der Wiederaufbau Deutschlands erschien schwieriger, als er tatsächlich war. Das für den Krieg allein verantwortlich gemachte Land verlor nicht nur Gebiete und einen Teil seiner Bevölkerung, sondern auch das Recht auf eine normale Armee. Anfang der zwanziger Jahre litt es unter Hyperinflation und politischem Chaos. Dennoch blieb es, zumindest potenziell, der mächtigste Staat Europas. Seine Bevölkerungszahl wurde nur von der Sowjetunion übertroffen, sein industrielles Potenzial von keinem anderen Staat, es war während des Krieges nicht besetzt gewesen, und seine Möglichkeiten zur Expansion waren in der Logik der Friedensverträge implizit enthalten. Sobald die Kampfhandlungen in Europa beendet waren, fand die deutsche Regierung rasch Übereinstimmungen mit der Sowjetunion. Schließlich wollte Berlin ebenso wie Moskau die Nachkriegsordnung auf Kosten Polens verändern. Beide wollten in der internationalen Politik weniger isoliert sein, daher unterzeichnete eine demokratische deutsche Regierung 1922 mit der Sowjetunion den Vertrag von Rapallo, der diplomatische Beziehungen wiederherstellte, den Handel erleichterte und eine geheime militärische Zusammenarbeit in Gang setzte.
Für viele Deutsche bedeutete Selbstbestimmung zugleich Bedrohung und Versprechen. Ungefähr zehn Millionen deutschsprachige Menschen, frühere Untertanen der Habsburger, lebten außerhalb Deutschlands, drei Millionen von ihnen am Nordwestrand der Tschechoslowakei nahe der deutschen Grenze. In der Tschechoslowakei gab es mehr Deutsche als Slowaken. Fast die gesamte Bevölkerung Österreichs war ebenfalls deutschsprachig, dennoch sollte das Land nach dem Vertrag von St. Germain ein selbstständiger Staat sein, obwohl ein großer Teil seiner Bevölkerung die Vereinigung mit Deutschland vorgezogen hätte. Adolf Hitler, der Führer der 1920 gegründeten NSDAP, war Österreicher und für einen Anschluss. Solche Ziele der nationalen Einheit, so dramatisch sie waren, verhüllten aber das volle Ausmaß von Hitlers Ambitionen.
Später sollte Hitler als deutscher Kanzler den Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnen, durch den Polen geteilt wurde. Durch diesen Schritt führte er eine Idee an ihren Endpunkt, die viele Deutsche teilten: Polens Grenzen seien illegitim, und sein Volk verdiene keinen Staat. Von anderen deutschen Nationalisten unterschied sich Hitler aber durch seine Überzeugung, welcher Schritt nach der Vereinigung aller Deutschen in Deutschland und der Beherrschung Polens als nächstes kommen müsse: die Vernichtung der europäischen Juden und die Zerschlagung der Sowjetunion. Auf dem Weg dorthin würde Hitler Polen wie der UdSSR seine Freundschaft anbieten und seine radikaleren Absichten vor den Deutschen verbergen, bis es zu spät war. Die katastrophischen Visionen waren aber von Anfang an im Nationalsozialismus angelegt.
Als 1921 schließlich das Chaos des Krieges in Osteuropa endete, mussten sich die leninistischen Revolutionäre neu sammeln und nachdenken. Von den Polen um ihren europäischen Triumph gebracht, hatten die Bolschewiki keine Wahl, als das revolutionäre Feuer zu löschen und einen sozialistischen Staat aufzubauen. Lenin und seine Anhänger setzten voraus, dass sie die Macht innehaben sollten; tatsächlich wurde das Scheitern der europäischen Revolutionen zur Rechtfertigung für außergewöhnliche Ansprüche auf politische Kontrolle. Die Macht musste zentralisiert werden, um die Revolution vollenden und gegen ihre kapitalistischen Feinde verteidigen zu können. Sie verboten rasch alle anderen Parteien und terrorisierten politische Rivalen, die sie als Reaktionäre beschimpften. Sie verloren die einzigen freien Wahlen und hielten darum keine weiteren mehr ab. Die Rote Armee war zwar in Polen geschlagen worden, aber mehr als stark genug, um auf dem Gebiet des alten Reichs alle bewaffneten Rivalen zu besiegen. Der als Tscheka bekannte Geheimdienst der Bolschewiki ermordete Tausende von Menschen im Dienste einer Konsolidierung des neuen Sowjetstaats.
Es war aber leichter, durch Gewalt zu triumphieren, als eine neue Ordnung aufzubauen. Als Programm für ein multikulturelles Land von Bauern und Nomaden war der Marxismus nur begrenzt tauglich. Marx hatte angenommen, die Revolution werde zuerst die Industrieländer erfassen, und der Bauern- wie der nationalen Frage nur sporadische Beachtung geschenkt. Nun mussten die Bauern Russlands, Weißrusslands und der Ukraine und die Nomaden Mittelasiens irgendwie dazu gebracht werden, den Sozialismus für eine russische Arbeiterklasse aufzubauen, die sich in den russischsprachigen Großstädten konzentrierte. Die Bolschewiki mussten die vorindustrielle Gesellschaft, die sie geerbt hatten, umformen, um die industrielle Gesellschaft aufzubauen, die die Geschichte noch nicht gebracht hatte; erst dann konnten sie die industrielle Gesellschaft so verändern, dass sie den Arbeitern zugute kam.
Zunächst mussten die Bolschewiki den Aufbau des Kapitalismus betreiben, bevor sie mit dem Umbau zum Sozialismus beginnen konnten. Während der Staat die Industrie aufbaute, sollte er nach ihrem Entschluss Mitglieder der zahllosen Völkerschaften der UdSSR zu einer höheren politischen Loyalität erziehen, die jeden nationalen Unterschied überwand. Die Beherrschung von Bauern und Nationalitäten war eine gewaltige Ambition, und die Bolschewiki verbargen deren wichtigste Implikation: dass sie die Feinde ihrer eigenen Völker waren, ob diese nun durch Klassen oder Nationalitäten definiert wurden. Sie glaubten, die Gesellschaft, die sie regierten, sei historisch überholt, ein Lesezeichen, das man entfernen müsse, bevor eine neue Seite aufgeschlagen werde.
Um ihre Macht nach dem Krieg zu konsolidieren und loyale Kader für die kommende ökonomische Revolution zu gewinnen, mussten die Sowjets gewisse Kompromisse eingehen. Die Völker unter ihrer Kontrolle durften natürlich keine unabhängigen Staaten bekommen, wurden aber auch nicht dem Vergessen überantwortet. Obwohl Marxisten meist annahmen, die Anziehungskraft des Nationalismus werde mit zunehmender Modernisierung zurückgehen, beschlossen die Sowjets, die Nationalitäten oder zumindest deren Eliten für ihre Kampagne zur Industrialisierung der UdSSR zu rekrutieren. Lenin unterstützte die nationale Identität der nichtrussischen Völker. Die Sowjetunion war scheinbar eine Föderation Russlands mit seinen Nachbarn. Quoten für Bildungssystem und Arbeitsplätze sollten die Loyalität und das Vertrauen der Nichtrussen gewinnen. Als Untertanen und dann Beherrscher eines multinationalen Staats waren die Bolschewiki zu subtilem Denken und Takt in der Nationalitätenfrage fähig. Die führenden Revolutionäre waren keineswegs nur Russen. Lenin, der als Russe angesehen wurde und wird, hatte auch schwedische, deutsche, jüdische und kalmückische Vorfahren. Trotzki war Jude, Stalin Georgier.
Die Nationalitäten sollten nach einem neuen kommunistischen Muster geformt, die Bauern bis zu ihrer späteren Entmachtung beschwichtigt werden. Die Sowjets schlossen einen Kompromiss mit der Landbevölkerung, von dem sie wussten, und die Bauern befürchteten, er werde nur vorübergehend sein. Das neue Regime erlaubte den Bauern, das Land zu behalten, das sie den Großgrundbesitzern abgenommen hatten, und ihre Produkte auf dem Markt zu verkaufen. Die Verwerfungen von Krieg und Revolution hatten schreckliche Nahrungsknappheit gebracht; die Bolschewiki hatten Getreide für sich und die ihnen loyalen Kräfte beschlagnahmt. Mehrere Millionen starben 1921 und 1922 an Hunger und damit verbundenen Krankheiten. Hieraus lernten die Bolschewiki, dass Nahrung eine Waffe war. Sobald der Konflikt aber vorbei war und sie gewonnen hatten, brauchten sie eine zuverlässige Versorgung. Sie hatten dem Volk Frieden und Brot versprochen und mussten ein Minimum von beidem liefern, zumindest vorübergehend.
Lenins Staat war eine politische Hinhalteaktion für eine zukünftige ökonomische Revolution. Der Sowjetstaat erkannte Nationalitäten an, obwohl der Marxismus eine Welt ohne sie versprach, und seine Sowjetwirtschaft erlaubte einen Markt, obwohl der Kommunismus Kollektiveigentum versprach. Als Lenin im Januar 1924 starb, waren bereits Debatten im Gange, wann und wie diese Übergangskompromisse einer zweiten Revolution Platz machen müssten. Und genau diese Diskussion in der neuen Sowjetordnung entschied das Schicksal der sowjetischen Bevölkerung. Von Lenin hatten die Bolschewiki das Prinzip des «demokratischen Zentralismus» geerbt, eine Übersetzung der marxistischen Geschichtsphilosophie in die bürokratische Realität. Die Arbeiter repräsentierten den Fortschritt der Geschichte, die disziplinierte Kommunistische Partei repräsentierte die Arbeiter, das Zentralkomitee repräsentierte die Partei, und das Politbüro, nur wenige Mitglieder stark, repräsentierte das Zentralkomitee. Die Gesellschaft wurde von einem Staat beherrscht, den eine Partei kontrollierte, die in der Praxis von wenigen Personen gelenkt wurde. Debatten zwischen den Mitgliedern dieser kleinen Gruppe verkörperten keine Politik, sondern die Geschichte selbst, und ihre Entscheidungen galten als deren Urteilsspruch.
Stalins Interpretation des Vermächtnisses von Lenin sollte sich durchsetzen. Als Stalin 1924 vom «Sozialismus in einem Land» sprach, meinte er, die Sowjetunion müsse ihr Arbeiterparadies ohne große Hilfe von den übrigen Proletariern der Welt aufbauen, die sich nicht vereinigt hatten. Obwohl die Kommunisten über die Prioritäten der Agrarpolitik uneins waren, stimmten alle überein, das traditionelle Landleben in der Sowjetunion müsse bald seine eigene Zerstörung finanzieren. Wo aber war das Anfangskapital für den traumatischen Übergang von einer agrarischen zu einer industriellen Wirtschaft zu finden? Irgendwie musste man von den Bauern einen «Mehrwert» bekommen, der sich gegen Devisen exportieren ließ, um Maschinen zu importieren, und der auch die wachsende Arbeiterklasse ernähren konnte. Als 1927 die staatlichen Investitionen entschieden auf die Industrie gerichtet wurden, trat diese Diskussion in ihre entscheidende Phase.
Die Modernisierungsdebatte war vor allem ein Duell zwischen Trotzki und Stalin. Trotzki war der fähigste von Lenins Genossen, Stalin allerdings leitete als Generalsekretär der KPdSU die Parteibürokratie. Stalins Kontrolle des Personals und sein praktisches Genie bei Gremiumssitzungen brachten ihn an die Spitze. Er glänzte nicht in theoretischen Diskussionen, aber er wusste, wie man eine Koalition schmiedete. Innerhalb des Politbüros paktierte er zuerst mit denen, die für eine langsamere ökonomische Umwandlung eintraten, und eliminierte die Radikalen. Dann radikalisierte er seine eigene Haltung und stürzte seine früheren Verbündeten. Ende 1927 waren seine früheren Rivalen der Linken – Trotzki, Grigorij Sinowjew und Lev Kamenew – aus der Partei ausgeschlossen worden. Bis Ende 1929 hatte Stalin die Politik seiner verdrängten Rivalen übernommen und sich seines Hauptrivalen auf der Rechten, Nikolaj Bucharin, entledigt. Wie Sinowjew und Kamenew blieb Bucharin in der Sowjetunion, verlor aber seine frühere Macht. Stalin fand loyale Anhänger im Politbüro, vor allem Lazar Kaganowitsch und Vjačeslav Molotow. Trotzki verließ das Land.
So geschickt er in der Leitung der sowjetischen Politik war, musste Stalin nun auch sicherstellen, dass sie ihr Versprechen erfüllte. Ab 1928 wollte er laut dem ersten Fünfjahresplan das Land verstaatlichen, die Bauern zur Schichtarbeit unter staatlicher Kontrolle zwingen und das Getreide als Staatseigentum behandeln – eine Politik der «Kollektivierung». Land, Maschinen und Menschen würden denselben Kolchosen angehören, großen Einheiten, die effizienter produzieren würden, wie man hoffte. Diese Kolchosen sollten um Maschinen-Traktoren-Stationen herum organisiert sein, die moderne Ausrüstung bereitstellen und die politischen Agitatoren beherbergen würden. Durch die Kollektivierung konnte der Staat die Agrarproduktion kontrollieren, seine Arbeiter ernähren und sich ihre Unterstützung sichern, sowie ins Ausland exportieren, um Devisen für industrielle Investitionen zu bekommen. Damit die Kollektivierung unausweichlich erschien, musste Stalin den freien Markt schwächen und durch staatliche Planung ersetzen. Sein Verbündeter Kaganowitsch erklärte im Juli 1928, die Bauern seien im «Getreidestreik» und die Beschlagnahmung ihrer Erzeugnisse die einzige Lösung. Als die Bauern sahen, dass ihre Produkte beschlagnahmt wurden, versteckten sie sie lieber, als sie zu verkaufen. So erschien der Markt noch unzuverlässiger – obwohl in Wirklichkeit der Staat die Schuld trug. Nun konnte Stalin also argumentieren, die Ungeplantheit des Marktes sei das grundlegende Problem, und der Staat müsse die Lebensmittelversorgung kontrollieren.
Die Weltwirtschaftskrise schien Stalin in der Unzuverlässigkeit der Märkte Recht zu geben. Am Schwarzen Donnerstag, dem 24. Oktober 1929, brach der amerikanische Aktienmarkt zusammen. Am 7. November, dem zwölften Jahrestag der bolschewistischen Revolution, beschrieb Stalin die sozialistische Alternative zum Markt, die seine Politik rasch in der Sowjetunion einführen sollte. Er versprach, 1930 werde «das Jahr der großen Umwälzung» werden und die Kollektivierung Sicherheit und Wohlstand bringen. Das alte Landleben würde verschwinden. Dann würde die Revolution in den Städten vollendet, wo das Proletariat durch Nahrung blühen werde, die von einer befriedeten Bauernschaft produziert würde. Diese Arbeiter würden die erste sozialistische Gesellschaft der Geschichte aufbauen und einen machtvollen Staat, der sich gegen äußere Feinde verteidigen könne. Indem Stalin die Modernisierung verteidigte, erhob er zugleich Anspruch auf die Macht.
Während Stalin arbeitete, inspirierte Hitler seine Anhänger. Stalin institutionalisierte eine Revolution und sicherte sich dadurch einen Platz an der Spitze eines Einparteienstaats. Hitler dagegen machte politisch Karriere durch die Ablehnung der bestehenden Institutionen. Die Bolschewiki erbten aus den Jahren der Untergrundarbeit im zaristischen Russland eine Tradition von Debatte und disziplinierter Umsetzung. Die Nationalsozialisten besaßen keine Traditionen von Disziplin oder Konspiration. Wie die Bolschewiki lehnten sie die Demokratie ab, allerdings im Namen eines Führers, der den Willen seiner Rasse verkörperte, nicht im Namen einer Partei, die die Gesetze der Geschichte erkannte. Die Weltordnung sahen sie statt von kapitalistischen Imperialisten von einer jüdischen Weltverschwörung beherrscht. Das Problem der modernen Gesellschaft lag für sie nicht in der Dominanz einer Klasse durch die Akkumulation des Kapitals, sondern darin, dass die Juden nicht nur den Finanzkapitalismus, sondern auch den Kommunismus kontrollierten, und damit die USA, Großbritannien und die Sowjetunion. Der Kommunismus sei bloß ein Märchen von unmöglicher Gleichheit, um naive Europäer unter jüdische Herrschaft zu bringen. Die Antwort auf den gefühllosen jüdischen Kapitalismus und Kommunismus könne nur der Nationalsozialismus sein, der Gerechtigkeit für die Deutschen auf Kosten anderer bedeutete.
Während der Weimarer Republik betonten die Nazis eher, was sie mit den anderen Deutschen verband. Die NSDAP teilte den Abscheu der meisten übrigen Parteien für den Versailler Vertrag. Sie war von ihrer zukünftigen Bestimmung im Osten besessen. Hier hatten deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg siegreich gekämpft, und Deutschland hatte 1918 eine große Besatzungszone in Polen, Weißrussland, der Ukraine und dem Baltikum regiert. Im Gegensatz zu europäischen Rivalen wie Frankreich und England besaß Deutschland kein großes Kolonialreich, seine bescheidenen Besitzungen in Übersee hatte es nach dem Krieg verloren. Umso mehr wuchs die Bedeutung der Ostgrenze. Die Sowjetunion, für die Nazis ein illegitimes jüdisches Unterdrückerregime, musste fallen. Polen, das Deutschland den Weg nach Osten versperrte, musste ebenfalls besiegt werden. Es konnte kein Puffer gegen die deutsche Macht sein: Es musste in den kommenden Kriegen entweder ein schwacher Verbündeter oder ein besiegter Feind sein.
Im November 1923 zettelte Hitler in München einen Putschversuch an, der zu einer kurzen Haftstrafe führte. Obwohl die Substanz des Nationalsozialismus sein eigenes Werk war, orientierte sich dieser Versuch am Erfolg der von ihm bewunderten italienischen Faschisten. Benito Mussolini hatte im Jahr zuvor die Macht nach seinem «Marsch auf Rom» übernommen, den Hitler in München erfolglos imitierte. Ebenso wie Hitler und seine Partei boten die italienischen Faschisten eine Glorifizierung des nationalen Willens jenseits der Langeweile politischer Kompromisse. Mussolini und in seiner Nachfolge Hitler nutzten die Existenz der Sowjetunion in der Innenpolitik aus. Beide bewunderten die Disziplin Lenins und das Modell des Einparteienstaats, benutzten aber die Drohung einer kommunistischen Revolution als Argument für die eigene Herrschaft. Trotz vieler Unterschiede verkörperten sie eine neue Art der europäischen Rechten, die den Kommunismus als großen Feind beschwor, während sie zugleich bestimmte Aspekte seiner Politik nachahmte. Wie Mussolini war Hitler ein begabter Redner und die einzige dominierende Persönlichkeit seiner Bewegung. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Dezember 1924 hatte Hitler wenig Mühe, wieder an die Spitze der NSDAP zu treten.
Stalin kam in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vor allem deshalb an die Macht, weil er auf die Parteikader vertrauen konnte, die er selbst ernannt hatte. Hitler profitierte von seinem persönlichen Charisma und erwartete, dass seine Mitstreiter und Unterstützer Maßnahmen und Argumente ausarbeiteten, die seiner Rhetorik und Weltsicht entsprachen. Stalin interpretierte den Marxismus als notwendig, um seinen Aufstieg zu beschleunigen und seine Maßnahmen zu rechtfertigen, aber zumindest bis 1933 war er noch nicht so frei, den Marxismus ganz nach eigenem Ermessen zu interpretieren. Hitler dagegen inspirierte andere dazu, eine Ideologie zu entwerfen. Im Gefängnis hatte er den ersten Band seines biographischen Manifests Mein Kampf geschrieben. Diese und andere Schriften (vor allem sein sogenanntes Zweites Buch) brachten seine Pläne klar zum Ausdruck, waren aber nicht Teil eines Kanons. Stalin war zunächst noch durch die Handlungen seiner Genossen eingeschränkt und später über ihre Äußerungen besorgt, Hitler brauchte seit der Bamberger Führertagung von 1926 nie auch nur den Anschein von Dialog oder konsistentem Denken aufrechtzuerhalten.
Nach seiner Haftentlassung schloss Hitler einen gewissen Kompromiss mit der deutschen Republik. Er praktizierte als Führer der NSDAP parlamentarische Politik, wenn auch nur als Mittel, um Propaganda zu verbreiten, Feinde zu identifizieren und sich den Machtinstitutionen zu nähern. Er versuchte, nicht mehr selbst ins Gefängnis zu kommen, während sich gleichzeitig SA-Trupps mit ihren Gegnern der Linken schlugen. 1928 gewannen die Nazis bei den Wahlen nach mehreren Jahren des Wirtschaftswachstums nur 2,6 % der Wählerstimmen und 12 Sitze im Parlament. Dann kam die Weltwirtschaftskrise, die Hitler noch mehr nützte als Stalin. Der Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft beschwor das Gespenst der kommunistischen Revolution herauf, und beides half Hitler an die Macht. Die internationale Wirtschaftskrise schien radikalen Wandel zu rechtfertigen, und die scheinbare Möglichkeit einer Revolution unter Führung der starken KPD förderte Ängste, die Hitler für den Nationalismus ausnutzen konnte. Im September 1930 errang die NSDAP 18 % der Stimmen und 107 Sitze, im Juli 1932 gewann sie die Wahlen dann mit nicht weniger als 37 %.
1932 waren Parlamentswahlen in Deutschland schon eher eine Demonstration der Massenunterstützung als ein direkter Weg zur Macht, da die Demokratie nur noch formal existierte. In den vergangenen beiden Jahren hatte der Reichspräsident auf Betreiben der Kanzler Notverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. 1932 trat der Reichstag nur dreizehnmal zusammen. Im Januar 1933 wurde Hitler mit Hilfe der Konservativen und Nationalisten zum Reichskanzler ernannt. Sie meinten ihn benutzen zu können, um die starke Linke von der Macht fernzuhalten. Hitler setzte rasch Neuwahlen an und nutzte seine neue Stellung, um die Hegemonie seiner Partei über die deutsche Gesellschaft in Gang zu bringen. Als die Ergebnisse am 5. März 1933 verkündet wurden, hatte die NSDAP Sozialdemokraten wie Kommunisten dramatisch geschlagen: 43,9 % der Wählerstimmen brachten ihr 288 von 647 Sitzen im Reichstag.
Im Frühjahr 1933 baute Hitler das politische System Deutschlands um – zur gleichen Zeit, als Stalin seine persönliche Autorität in der Sowjetunion festigte.
Im Jahr 1933 teilten Sowjet- und NS-Regime scheinbar die Fähigkeit, auf die Weltwirtschaftskrise zu reagieren. Beide strahlten Dynamik zu einem Zeitpunkt aus, als die liberale Demokratie unfähig schien, die Menschen vor Armut zu bewahren. Die meisten europäischen Regierungen, auch die deutsche vor 1933, hatten geglaubt, nur wenige Mittel gegen die Wirtschaftskrise zur Verfügung zu haben. Nach vorherrschender Meinung sollten die Haushalte ausgeglichen und die Geldmenge verknappt werden. Wie wir heute wissen, machte das die Lage nur schlimmer. Die Weltwirtschaftskrise schien die politischen Antworten auf das Ende des Ersten Weltkriegs zu diskreditieren: freie Märkte, Parlamente, Nationalstaaten. Der Markt hatte eine Katastrophe gebracht, kein Parlament fand anscheinend eine Antwort darauf, und den Nationalstaaten fehlten die Instrumente, um ihre Bürger vor Verarmung zu schützen.
Nationalsozialisten und Sowjets hatten eine machtvolle ideologische Antwort, wer an der Krise schuld sei (jüdische Kapitalisten oder Kapitalisten als solche), und authentisch radikale Positionen zur politischen Ökonomie. Beide lehnten nicht nur die juristische und politische Form der Nachkriegsordnung ab, sondern stellten auch ihre wirtschaftliche und soziale Basis in Frage. Sie gingen zurück zu den wirtschaftlichen und sozialen Wurzeln Europas nach 1918 und betrachteten die Lebensweise der Männer und Frauen, die auf dem Land arbeiteten. Im Europa der dreißiger Jahre stellten in den meisten Ländern die Bauern immer noch die Mehrheit, und Ackerland war eine wertvolle Ressource für Volkswirtschaften, die noch von Tieren und Menschen angetrieben waren. Kalorien wurden gezählt, aber aus anderen Gründen als heute: Die Wirtschaftsplaner mussten sicherstellen, dass die Bevölkerung ernährt und produktiv erhalten werden konnte.
Die meisten europäischen Staaten hatten keine Aussicht auf soziale Transformation und konnten daher Nationalsozialisten und Sowjets wenig entgegensetzen. Polen und einige andere neue Staaten in Osteuropa hatten in den zwanziger Jahren eine Landreform versucht, doch ihre Anstrengungen hatten sich als unzureichend erwiesen. Großgrundbesitzer betrieben Lobbyismus, um ihren Besitz zu behalten, und Banken und Staatsbehörden gaben Bauern nur widerwillig Kredite. Das Ende der Demokratie in der ganzen Region (außer in der Tschechoslowakei) brachte wenig neues Denken in ökonomischen Fragen. Autoritäre Regime in Polen, Ungarn und Rumänien zögerten weniger, ihre Gegner einzusperren, und hielten mehr schöne Reden über die Nation. Nichts davon versprach aber eine neue Wirtschaftspolitik in der großen Krise.
Die von Nazis und Sowjets im Jahr 1933 gebotenen Alternativen zur Demokratie hingen von ihrer Ablehnung einer einfachen Landreform ab, die inzwischen das diskreditierte Heilmittel der gescheiterten Demokratien war. Trotz all ihrer Gegensätze waren Hitler wie Stalin überzeugt, eine Wurzel des Problems sei der Agrarsektor und die Lösung eine drastische staatliche Intervention. Wenn der Staat eine radikale ökonomische Umwälzung durchführen konnte, würde das eine neue Art von politischem System stützen. Die seit dem Beginn von Stalins Fünfjahresplan 1928 bekannte Lösung war die Kollektivierung. Sowjetische Führer erlaubten den Bauern in den zwanziger Jahren Wohlstand, nahmen ihnen aber Anfang der dreißiger Jahre das Land weg, um Kolchosen zu errichten, wo sie für den Staat arbeiten sollten.
Hitlers Antwort auf die Bauernfrage war ebenso einfallsreich und ebenso gut getarnt. Vor 1933 und sogar noch einige Jahre danach schien es, als gehe es Hitler vor allem um die deutsche Arbeiterklasse und als wolle er Deutschlands Nahrungsmittelversorgung durch Importe sichern. Eine Politik der raschen (und illegalen) Aufrüstung holte Arbeitslose von der Straße und steckte sie in Kasernen oder Rüstungsfabriken. Staatliche Beschäftigungsprogramme begannen wenige Monate nach Hitlers Machtübernahme. Es schien sogar, als wollten die Nazis weniger für die deutschen Bauern tun, als sie angekündigt hatten. Obwohl das Parteiprogramm der NSDAP die Neuverteilung des Landes von reichen an arme Bauern versprach, verschwand diese traditionelle Version der Landreform stillschweigend in der Schublade, nachdem Hitler Kanzler geworden war. Er suchte eher internationale Übereinkünfte als umverteilende Agrarpolitik und strebte besondere Handelsabkommen mit den osteuropäischen Nachbarländern an, durch die Deutschland praktisch Industriegüter gegen Nahrungsmittel tauschte. Hitlers Agrarpolitik der dreißiger Jahre ähnelte ein wenig der Lenins in den Zwanzigern: sie war die politische Vorbereitung der Vision einer fast unvorstellbaren wirtschaftlichen Umwälzung. Nationalsozialismus wie Sowjetsozialismus köderten die Bauern mit der Illusion einer Landreform, hatten aber für deren Zukunft viel radikalere Pläne.
Die wahre NS