Der Weg in die Unfreiheit - Timothy Snyder - E-Book

Der Weg in die Unfreiheit E-Book

Timothy Snyder

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Beschreibung

Der Autor des Weltbestsellers Über Tyrannei schreibt die Chronik einer über uns hereinbrechenden politischen Katastrophe – der Aufstieg autoritärer Regime in Russland, Europa und den USA. Timothy Snyder zeigt in seinem furchtlosen Buch, wie Putins Russland freie Wahlen manipuliert, Fake News verbreitet, Cyberangriffe startet, Schwule verfolgt und rechtsradikale Parteien finanziert – und warum es das tut. Er schildert die beängstigenden Kontakte zwischen russischen Oligarchen und Donald Trump, und er warnt uns vor den Konsequenzen: Wenn wir nicht endlich aufwachen, dann wird die freie Welt vielleicht schon bald Vergangenheit sein.

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Timothy Snyder

DER WEG IN DIEUNFREIHEIT

RUSSLAND EUROPA AMERIKA

Aus dem Englischen übersetzt von Ulla Höber und Werner Roller

C.H.BECK

ZUM BUCH

«Jeder, der die politische Krise verstehen will, die gegenwärtig die Welt erfasst hat, sollte diese brillante und beunruhigende Analyse lesen.»

Yuval Noah Harari

Der Autor des Weltbestsellers Über Tyrannei schreibt die Chronik einer über uns hereinbrechenden politischen Katastrophe – der Aufstieg autoritärer Regime in Russland, Europa und den USA. Timothy Snyder zeigt in seinem furchtlosen Buch, wie Putins Russland freie Wahlen manipuliert, Fake News verbreitet, Cyberangriffe startet, Schwule verfolgt und rechtsradikale Parteien finanziert – und warum es das tut. Er schildert die beängstigenden Kontakte zwischen russischen Oligarchen und Donald Trump, und er warnt uns vor den Konsequenzen: Wenn wir nicht endlich aufwachen, dann wird die freie Welt vielleicht schon bald Vergangenheit sein.

ÜBER DEN AUTOR

Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und Autor der Bücher «Über Tyrannei» (52018), «Black Earth» (2015) und «Bloodlands» (52015). Er hat u.a. den Hannah-Arendt-Preis und den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhalten. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt.

INHALT

VORWORT (2010)

KAPITEL 1: INDIVIDUALISMUS ODER TOTALITARISMUS (2011)

KAPITEL 2: NACHFOLGE ODER SCHEITERN (2012)

KAPITEL 3: INTEGRATION ODER IMPERIUM (2013)

KAPITEL 4:NEUERUNG ODER EWIGKEIT (2014)

KAPITEL 5: WAHRHEIT ODER LÜGEN (2015)

KAPITEL 6: GLEICHHEIT ODER OLIGARCHIE (2016)

EPILOG (20––)

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

BILDNACHWEIS

REGISTER

Für die Journalisten, die Helden unserer Zeit

VORWORT (2010)

Mein Sohn kam in Wien zur Welt. Es war eine schwierige Geburt, und die erste Sorge des österreichischen Geburtshelfers und der polnischen Hebamme galt dem Neugeborenen. Er atmete, seine Mutter hielt ihn für einen kurzen Moment in den Armen, dann wurde sie in einen Operationssaal gebracht. Ewa, die Hebamme, gab mir das Kind. Mein Sohn und ich fühlten uns in dem nun folgenden Geschehen ein wenig hilflos. Aber wir hielten zusammen. Er schaute zu mir auf mit seinen veilchenblauen Augen, die noch nicht fokussieren konnten, während Ärzte im Sprint an uns vorbeirannten. Schritte, das schnappende Geräusch von Masken, ein verschwommenes Bild grüner OP-Kittel. Am nächsten Tag hatte sich alles zum Guten gewendet. Die Krankenschwestern gaben mir zu verstehen, ich solle mich wie üblich ab fünf Uhr nachmittags nicht mehr in der Station aufhalten, sondern Mutter und Kind bis zum Morgen ihrer Fürsorge überlassen. So konnte ich nun, ein wenig verspätet, per Mail eine Geburtsanzeige verschicken. Einige Freunde erhielten die frohe Nachricht gerade in dem Moment, in dem sie von einer Katastrophe erfuhren, die andere das Leben kostete. Einer dieser Freunde, ein Kollege, den ich noch im alten Jahrhundert in Wien kennengelernt hatte, war in Warschau in aller Eile ins Flugzeug gestiegen. Meine Nachricht ging fast in Lichtgeschwindigkeit hinaus, und doch erreichte sie ihn nicht mehr.

DAS JAHR 2010 war eine Zeit der Reflexion. Zwei Jahre zuvor hatte die Finanzkrise einen beträchtlichen Teil des Reichtums der Welt vernichtet, der zögerliche Aufschwung begünstigte die Reichen. Ein Afroamerikaner war Präsident der USA. Das große Wagnis Europas im ersten Jahrzehnt nach 2000, die Osterweiterung der Europäischen Union, schien vollendet. Nach den ersten zehn Jahren im neuen Jahrtausend, zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus in Europa, sieben Jahrzehnte nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs schien 2010 das Jahr zu sein, um Bilanz zu ziehen.

In jenem Jahr arbeitete ich an einer solchen Bilanz, gemeinsam mit einem Historiker, der im Sterben lag. Ich schätzte Tony Judt sehr, vor allem wegen seiner Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, die 2005 erschienen war. Das Buch erzählt die fantastische Erfolgsgeschichte der Europäischen Union. Sie hatte die Fragmente der ehemaligen Weltreiche neu zusammengefügt, so dass daraus der größte Wirtschaftsraum und die wichtigste demokratische Region der Welt entstanden. Der letzte Absatz des Buches gilt dem Gedenken an den Holocaust. Im 21. Jahrhundert, schrieb er, würde das übliche Prozedere bzw. Geld nicht ausreichen. Der politische Anstand gebiete, dass eine Geschichte der Gräuel geschrieben werde.

2008 hatte man bei Tony Judt amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert, eine nicht heilbare Krankheit des Nervensystems. Es stand fest, dass er daran sterben würde. Er war in einem Körper gefangen, der seinem Geist den Dienst versagte. Als seine Hände schon gelähmt waren, machten wir Mitschnitte unserer Diskussionen zu Themen des 20. Jahrhunderts. 2009 sprachen wir über die amerikanischen Axiome, dass der Kapitalismus alternativlos und die Demokratie unvermeidlich seien. Beide waren wir besorgt. Tony hatte über die verantwortungslosen Intellektuellen geschrieben, die im 20. Jahrhundert den Totalitarismus unterstützt hatten. Jetzt beschäftigte ihn eine neue Form der Verantwortungslosigkeit im 21. Jahrhundert: eine totale Abkehr von Ideen, die Diskussionen verflachen lässt, Politik ihrer Möglichkeiten beraubt und Ungleichheit als normal hinnimmt.

Zur gleichen Zeit schrieb ich an einer Geschichte der politischen Massenmorde, die das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren in Europa begangen hatten. Das Buch begann mit den Menschen und ihrer Heimat. Im Besonderen ging es um die Juden, Weißrussen, Ukrainer, Russen, Balten und Polen, die beide Regime erlebt hatten, in den Regionen, wo sich die nationalsozialistischen und die sowjetischen Machtbereiche überschnitten. Obwohl in diesen Kapiteln Entsetzliches dargestellt wurde, geplanter Hungertod, Todesgruben und Gaskammern, war die Grundannahme optimistisch: Die Ursachen für den Massenmord konnten bestimmt werden, die Worte der Toten blieben lebendig. Die Wahrheit konnte ausgesprochen werden, ein Lernprozess war möglich.

Ein Kapitel des Buches beschäftigte sich mit einem Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts: dem deutsch-sowjetischen Bündnis, mit dem der Zweite Weltkrieg in Europa begann. Im September 1939 überfielen Deutschland und die Sowjetunion Polen, beide mit dem Ziel, den polnischen Staat und die politische Klasse Polens zu vernichten. Im April 1940 ermordete die sowjetische Geheimpolizei 21.892 polnische Kriegsgefangene, die meisten waren Reserveoffiziere mit Hochschulabschluss. Diese Männer und eine Frau wurden an fünf Hinrichtungsorten durch Genickschuss getötet. Einer von diesen Orten war der Wald bei Katyn in der Nähe von Smolensk in der Russischen Republik der Sowjetunion. Für die Polen wurde das Massaker von Katyn zum Sinnbild für die Repression der Sowjetunion im Allgemeinen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Polen eine kommunistische Regierung. Polen war ein sowjetischer Satellitenstaat, und Katyn durfte nicht zur Sprache gebracht werden. Erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, konnten Historiker aufdecken, was geschehen war. Die sowjetischen Dokumente ließen keinen Zweifel, dass der Massenmord politisch geplant und von Stalin persönlich befürwortet worden war. Seit dem Ende der Sowjetunion hatte die neue Russische Föderation mit der Frage gerungen, ob das Erbe des stalinistischen Terrors thematisiert werden sollte. Kurz vor der Beendigung meines Buches machte am 3. Februar 2010 der russische Ministerpräsident seinem polnischen Kollegen einen überraschenden Vorschlag: eine gemeinsame Veranstaltung zum Gedenken an Katyn, im April, am 70. Jahrestag des Verbrechens. Am 1. April, dem voraussichtlichen Geburtstermin meines Sohnes, schickte ich um Mitternacht mein Manuskript an den Verlag. Am 7. April kam der polnische Premierminister mit einer Delegation der polnischen Regierung in Russland an. Am nächsten Tag wurde mein Sohn geboren.

Zwei Tage später machte sich eine zweite polnische Delegation auf den Weg nach Russland. Darunter waren der polnische Präsident mit seiner Frau, Befehlshaber der polnischen Streitkräfte, Parlamentsabgeordnete, Aktivisten der Zivilgesellschaft, Priester und Angehörige derjenigen, die 1940 in Katyn ermordet worden waren. Ein Mitglied der Delegation war mein Freund Tomek Merta, ein hochangesehener Spezialist für politische Theorie, zugleich stellvertretender Kulturminister und für Gedenkfeiern zuständig. Am Samstag, den 10. April 2010, ging Tomek in den frühen Morgenstunden an Bord. Um 8.41 Uhr stürzte das Flugzeug kurz vor der Landebahn des russischen Militärflughafens von Smolensk ab. Es gab keine Überlebenden. In einer Entbindungsstation in Wien klingelte ein Mobiltelefon, und eine Frau, die erst vor kurzem Mutter geworden war, rief etwas, laut und auf Polnisch.

Am nächsten Abend las ich die Antworten auf meine Geburtsanzeige. Ein Freund fragte sich, ob ich die Tragödie angesichts meiner Glücksgefühle überhaupt begreifen könne: «Damit du nicht in eine schwierige Situation gerätst, muss ich dir mitteilen, dass Tomek Merta tot ist.» Ein anderer Freund, dessen Name auf der Passagierliste stand, schrieb, er wolle mich informieren, dass er seine Meinung geändert habe und zu Hause geblieben sei. Seine Frau sollte in ein paar Wochen ihr Kind zur Welt bringen.

Seine Schlussworte waren: «Von jetzt an wird alles anders sein.»

IN ÖSTERREICH bleiben die Mütter vier Tage lang in der Entbindungsstation, damit die Schwestern ihnen alles über das Füttern, Baden und Pflegen beibringen können. Die Familien haben Zeit, einander kennenzulernen. Man erfährt, wer welche Sprache spricht, und kommt ins Gespräch. Die polnischen Gespräche drehten sich tags darauf um Verschwörung. Die Gerüchte verdichteten sich: Die Russen hätten das Flugzeug abgeschossen, die polnische Regierung sei eingeweiht gewesen und habe den Präsidenten töten wollen, der einer anderen Partei angehörte als der Premierminister. Eine Mutter fragte mich nach meiner Meinung. Ich erwiderte, dies sei alles sehr unwahrscheinlich.

Tags darauf durfte meine Familie nach Hause gehen. Während das Baby in seinem Körbchen schlief, schrieb ich zwei Artikel über Tomek: einen Nachruf auf Polnisch und einen Bericht über das Unglück auf Englisch, dem ich einen hoffnungsvollen Gedanken über Russland als Schlussformulierung anfügte. Ein polnischer Präsident war auf dem Weg zur Gedenkfeier eines Verbrechens gestorben, das auf russischem Boden verübt worden war. Ich schrieb von der Hoffnung, der russische Premierminister Wladimir Putin werde die Gelegenheit ergreifen, die Geschichte des Stalinismus umfassender in den Blick zu nehmen. Im April 2010 war das angesichts der Trauer vielleicht ein sinnvoller Appell, als Prophezeiung hätte es nicht falscher sein können.

Von jetzt an war alles anders. Putin hatte bereits zwei Amtsperioden als Präsident hinter sich, bevor er Premierminister wurde. Im September 2011 gab er bekannt, dass er erneut die Präsidentschaft anstrebe. In jenem November schnitt seine Partei bei den Parlamentswahlen schlecht ab, behielt jedoch die Mehrheit. Im Mai 2012 war Putin wieder Präsident, wiederum nach einer Wahl, die nicht makellos schien. Gleich sorgte er dafür, dass Diskussionen über die sowjetische Vergangenheit wie etwa die von ihm selbst initiierte über Katyn als Straftaten zu betrachten seien. In Polen führte die Katastrophe von Smolensk die Gesellschaft für einen Tag zusammen, spaltete sie dann aber nachhaltig. Die Obsession mit der Katastrophe von 2010 wuchs im Laufe der Zeit. Sie verdrängte das Massaker von Katyn, dessen die Opfer der Flugzeugkatastrophe doch hatten gedenken wollen, ja sie verdrängte all die Stationen der Leidensgeschichte der Polen. Polen und Russland hatten aufgehört, über Geschichte zu reflektieren. Die Zeiten änderten sich. Oder möglicherweise änderte sich unsere Wahrnehmung der Zeiten.

Ein Schatten fiel auf Europa. Unsere Entbindungsstation in Wien, in der durch eine preiswerte Versicherung alle Kosten abgedeckt waren, ließ an den Erfolg des europäischen Projekts denken. Sie war ein Beispiel für die in weiten Teilen von Europa selbstverständlichen sozialen Leistungen, die in den Vereinigten Staaten undenkbar wären. Dasselbe könnte man über die U-Bahn sagen, die mich ins Krankenhaus brachte: normal in Europa, für Amerikaner außer Reichweite. 2010 wandte sich Russland von der Europäischen Union ab, verurteilte sie als dekadent und aggressiv. Deren Erfolg hätte die russische Bevölkerung auf den Gedanken bringen können, dass ehemalige Imperien womöglich wohlhabende Demokratien werden; damit ging es plötzlich um die Existenz der Europäischen Union.

Als die Ukraine, Russlands Nachbar, näher an die Europäische Union heranrückte, überfiel Russland 2014 das Land und annektierte Teile seines Territoriums. 2015 hatte Russland, mit Unterstützung zahlreicher Europäer und Amerikaner, eine außergewöhnliche Cyberkriegs-Operation über die Ukraine hinaus nach Europa und in die Vereinigten Staaten ausgeweitet. 2016 entschieden sich die Briten in einem Referendum, die Europäische Union zu verlassen, was Moskau schon lange propagiert hatte. Die Amerikaner wählten Donald Trump zu ihrem Präsidenten, ein Ergebnis, auf das Russland hingearbeitet hatte. Dieser neue amerikanische Präsident ist, um nur einen seiner vielen Fehler zu benennen, völlig unfähig, über Geschichte nachzudenken: Er war nicht in der Lage, des Holocaust zu gedenken, als der Augenblick dafür gekommen war. Er war auch nicht imstande, sich klar von den Nationalsozialisten in seinem eigenen Land abzugrenzen.

Das 20. Jahrhundert war nun ganz und gar vorbei, und man hatte nichts daraus gelernt. In Russland, Europa und Amerika entstand eine neue Art der Politik, eine neue Unfreiheit, die zu einer neuen Zeit passen sollte.

ICH SCHRIEB die beiden Artikel über die Katastrophe von Smolensk, nachdem ich jahrelang über die Politik des Lebens und des Todes nachgedacht hatte, in einer Nacht, in der zwischen beiden nur eine dünne Membran zu sein schien. «Dein Glück inmitten des Unglücks», hatte der Freund geschrieben, und das erste war so unverdient wie das zweite. Ende und Anfang waren zu nah beieinander oder in der falschen Reihenfolge, das Sterben vor dem Leben. Die Zeit war aus den Fugen geraten.

Im April 2010, oder ungefähr um diese Zeit, änderte sich der menschliche Charakter. Als ich die Geburtsanzeige für mein erstes Kind schrieb, musste ich ins Büro an meinen Computer. Smartphones waren noch nicht verbreitet. Ich rechnete frühestens in ein paar Tagen oder Wochen mit einer Antwort, nicht sofort. Als meine Tochter zwei Jahre darauf zur Welt kam, hatte sich das alles geändert. Smartphones waren das Normale, Antworten kamen sofort oder blieben aus. Zwei Kinder zu haben ist etwas ganz anderes als nur eines. Aber ich glaube trotzdem, dass für uns alle in den ersten Jahren nach 2010 die Zeit brüchiger wurde und schwerer zu fassen war.

Maschinen sollten uns mehr Zeit verschaffen, und stattdessen kosten sie uns Zeit. Da wir die Fähigkeit zur Konzentration und das Erinnerungsvermögen verloren hatten, schien alles neu zu sein. Nach Tonys Tod ging ich im August 2010 mit unserem gemeinsamen Buch, dem wir den Titel Nachdenken über das 20. Jahrhundert gegeben hatten, auf Lesereise. Als ich durch die USA fuhr, wurde mir klar, dass man das Thema längst gründlich vergessen hatte. Im Hotelzimmer sah ich im russischen Fernsehen, wie man mit dem amerikanischen Trauma des Rassismus sein Spiel trieb: Man behauptete, Barack Obama sei in Afrika geboren. Ich fand es sehr bemerkenswert, dass der amerikanische Entertainer Donald Trump kurz darauf das Thema aufgriff.

Die Amerikaner und die Europäer ließen sich durch das anbrechende Jahrhundert von der Erzählung vom ‹Ende der Geschichte› lenken, die ich die Politik der Unausweichlichkeit nennen möchte: die Vorstellung, dass die Zukunft nichts anderes sei als eine Mehrung des Gegenwärtigen, dass die Gesetze des Fortschritts bekannt seien, dass es keine Alternativen gebe, dass man deshalb eigentlich nichts tun müsse. Die kapitalistische Version der Amerikaner lautete: Die Natur brachte den Markt hervor, der Markt die Demokratie und diese das Glück. In der europäischen Version brachte die Geschichte die Nation hervor, die aus dem Krieg die Lehre gezogen hatte, dass der Frieden etwas Gutes sei, und sich deshalb für Integration und Wohlstand entschied.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 hatte der Kommunismus dort seine eigene Politik der Unausweichlichkeit: Die Natur ermöglicht Technologie, Technologie führt zu sozialem Wandel, sozialer Wandel zur Revolution, durch die Revolution wird die Utopie zur Realität. Als sich das als unwahr herausstellte, triumphierten die amerikanischen und europäischen Politiker der Unausweichlichkeit. Die Europäer waren 1992 damit beschäftigt, die Europäische Union zu vollenden. Die Amerikaner zogen den Schluss, dass durch das Scheitern der kommunistischen Erzählung die Wahrheit der kapitalistischen bewiesen sei. Die Amerikaner und die Europäer redeten sich ein Vierteljahrhundert lang ihre Erzählungen der Unausweichlichkeit ein. Auf diese Weise schufen sie im neuen Jahrtausend eine geschichtsvergessene Generation.

Die amerikanische Politik der Unausweichlichkeit war, wie alle diese Erzählungen, faktenresistent. Das Schicksal Russlands, der Ukraine und Weißrusslands führte hinreichend vor Augen, dass der Fall eines Systems keine Tabula rasa schafft, auf der die Natur Märkte und die Märkte den Rechtsstaat hervorbringen. 2003 hätte der Irak diese Lektion bestätigen können, wenn die Initiatoren des illegalen amerikanischen Kriegs über die katastrophalen Folgen nachgedacht hätten. Die Finanzkrise von 2008 und die Deregulierung der Wahlkampfspenden in den Vereinigten Staaten im Jahr 2010 multiplizierten den Einfluss der Reichen und reduzierten den der Wähler. Während die ökonomische Ungleichheit wuchs, schrumpfte der Zeithorizont. Nur wenige Amerikaner glaubten noch, die Zukunft werde eine bessere Version der Gegenwart sein. Es mangelte an einem funktionierenden Staat, der grundlegende soziale Dienstleistungen sicherstellte, die andernorts selbstverständlich waren: Bildung, Rente, Gesundheitsfürsorge, öffentlicher Verkehr, Elternzeit, Urlaub. Deshalb konnte ein Amerikaner von einem Tag auf den anderen vor dem Nichts stehen und jedes Vertrauen in die Zukunft verlieren.

Der Zusammenbruch der Politik der Unausweichlichkeit leitet eine andere Zeitwahrnehmung ein: die Politik der Ewigkeit. Während die Unausweichlichkeit eine bessere Zukunft für jeden verspricht, rückt der Politiker der Ewigkeit die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wiederkehrenden Opfers. Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt. Im Rahmen der Unausweichlichkeit ist keiner verantwortlich, weil wir alle wissen, dass sich alle Details ohne unser Zutun zusammenfügen und zum Besten wenden werden. Im Rahmen der Ewigkeit ist keiner verantwortlich, weil wir alle wissen, dass der Feind kommen wird, was auch immer wir tun mögen. Die Politiker der Ewigkeit verbreiten die Überzeugung, dass die Regierung der Gesellschaft als Ganzer nicht helfen, sondern uns nur vor Bedrohungen schützen kann. Der Fortschritt weicht zurück und macht den Weg frei für das Verhängnis.

Wenn Ewigkeitspolitiker an der Macht sind, produzieren sie Krisen und manipulieren die damit verbundenen Emotionen. Um von der Tatsache abzulenken, dass sie unfähig oder nicht willens sind, Reformen einzuleiten, lehren sie ihre Bürger, immer wieder Hochgefühl und Empörung zu durchleben, so dass die Zukunft in der Gegenwart versinkt. Außenpolitisch würdigen sie die Errungenschaften der Länder herab, die als Erfolgsmodell für ihre eigenen Bürger dienen könnten, oder sie stellen diese Errungenschaften gänzlich in Abrede. Durch den Einsatz moderner Technologie verbreiten die Politiker der Ewigkeit politische Fiktionen, im eigenen Land wie auch im Ausland, und verleugnen die Wahrheit. Sie versuchen, das Leben auf Spektakel und Gefühle zu reduzieren.

VIELLEICHT GESCHAH in der zweiten Dekade des zweiten Jahrtausends mehr, als wir begriffen haben. Vielleicht war die überstürzte Folge von Momenten zwischen der Katastrophe von Smolensk und der Präsidentschaft von Trump eine Epoche der Transformation, und es ist uns nicht gelungen, sie als solche wahrzunehmen. Vielleicht gleiten wir von einem Zeitgefühl in das nächste, weil wir nicht erkennen, wie die Geschichte uns macht und wie wir die Geschichte machen.

Unausweichlichkeit und Ewigkeit verwandeln Fakten in Narrative. Wer sich von der Unausweichlichkeit getragen fühlt, sieht in jeder Tatsache ein kurzzeitiges Phänomen, das die Erzählung vom Fortschritt nicht grundsätzlich verändert. Wer zur Ewigkeit überwechselt, definiert jedes neue Ereignis als ein weiteres Moment einer zeitlosen Bedrohung. Beide geben sich den Anschein von Geschichte, beide schaffen Geschichte ab. Unausweichlichkeitspolitiker lehren, dass die Spezifika der Vergangenheit irrelevant seien, da alles, was geschieht, nur Wasser auf die Mühlen des Fortschritts ist. Ewigkeitspolitiker springen von einem Zeitpunkt zum nächsten, über Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte, um einen Mythos von Unschuld und Gefahr aufzubauen. Sie imaginieren Zyklen der Bedrohung in der Vergangenheit. Sie erschaffen ein imaginäres Muster, das sie in der Gegenwart Realität werden lassen, indem sie künstliche Krisen und tägliche Aufregergeschichten produzieren.

Unausweichlichkeit und Ewigkeit haben ihre je eigenen Propagandastile. Politiker der Unausweichlichkeit verschönern Fakten zu einem Kokon des Wohlgefühls. Politiker der Ewigkeit unterdrücken Fakten, um auszublenden, dass Menschen in anderen Ländern freier und wohlhabender sind, und sie unterdrücken die Idee, dass die Konzeption von Reformen auf Wissen basieren könnte. In den 2010er Jahren war vieles von dem, was geschah, im Rahmen einer politischen Fiktion inszeniert worden. Es waren spektakuläre Geschichten, die Aufmerksamkeit beanspruchten und auch den Raum, den man eigentlich gebraucht hätte, um nachzudenken. Aber wie auch immer die Propaganda auf die Zeitgenossen wirken mag, das endgültige Urteil der Geschichte ist damit nicht gesprochen. Es besteht eine Differenz zwischen der Erinnerung, den Eindrücken, die auf uns einwirken, und der Geschichte, den Zusammenhängen, die wir herausarbeiten – vorausgesetzt, der Wille dazu ist da.

In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Gegenwart für die Geschichte und damit die Geschichte für die Politik zurückzugewinnen. Es geht darum, eine Reihe von miteinander in Beziehung stehenden Geschehnissen unserer gegenwärtigen weltgeschichtlichen Lage zu verstehen, wobei die Spanne von Russland bis zu den Vereinigten Staaten reicht, und das zu einer Zeit, in der die Faktizität als solche infrage gestellt wird. Russlands Invasion der Ukraine im Jahre 2014 war ein Test für den Realitätssinn der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten. Viele Europäer und Amerikaner fanden es einfacher, die Propagandaphantome der Russen zu akzeptieren, als die Rechtsordnung zu verteidigen. Europäer und Amerikaner vergeudeten viel Zeit mit der Frage, ob eine Invasion stattgefunden habe, ob die Ukraine ein Land sei und ob sie nicht irgendwie und überhaupt überfallen werden musste. Hier wurde eine umfassende Schwachstelle sichtbar, die Russland bald in Europa und in den Vereinigten Staaten ausnutzte.

Geschichtsschreibung entstand als wissenschaftliche Disziplin in der Konfrontation mit der Kriegspropaganda. In seinem Buch über den Peloponnesischen Krieg, einem der frühesten Werke der europäischen Geschichtsschreibung, unterschied Thukydides genau zwischen den Berichten der Befehlshaber und den tatsächlichen Gründen für ihre Entscheidungen. Heutzutage wird der investigative Journalismus immer unersetzlicher, weil wachsende Ungleichheit die politische Fiktion befördert. Seine Renaissance erlebte er während der russischen Invasion der Ukraine, als mutige Reporter aus der Gefahrenzone berichteten. In Russland und in der Ukraine waren journalistische Initiativen zu den Themen Kleptokratie und Korruption entstanden, dann berichteten Journalisten, die Erfahrungen auf diesen Feldern gesammelt hatten, über den Krieg.

WAS IN RUSSLAND bereits eingetreten ist, geschieht vielleicht auch in Amerika und Europa: die Etablierung massiver Ungleichheit, die Ersetzung von Politik durch Propaganda, der Übergang von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit. Das russische Führungspersonal konnte Amerika und Europa in die Ewigkeit einladen, weil Russland zuerst dort angekommen war. Man beobachtete bei Amerikanern und Europäern die Schwächen, die man im eigenen Land bereits erkannt und ausgebeutet hatte.

Auf die Ereignisse der 2010er Jahre waren viele Amerikaner und Europäer nicht vorbereitet: das Aufkommen antidemokratischer Politik, die Abwendung Russlands von Europa und die Invasion der Ukraine, das Brexit-Referendum, die Wahl Trumps. Die Amerikaner neigen bei Überraschungen zu zwei Reaktionen. Entweder reden sie sich ein, das unerwartete Ereignis gebe es in Wirklichkeit gar nicht, oder sie behaupten, es sei so vollkommen neu, dass es sich dem historischen Verständnis entziehe. Entweder wird alles irgendwie gut, oder es ist so schrecklich, dass man nichts dagegen unternehmen kann. Die erste Reaktion ist der Verteidigungsmechanismus der Politik der Unausweichlichkeit. Die zweite kommt mit dem ächzenden Geräusch, das kurz vor dem Zusammenbruch der Unausweichlichkeit entsteht, wenn sie den Weg für die Ewigkeit freigibt. Die Politik der Unausweichlichkeit erodiert das Verantwortungsbewusstsein der Bürger, und falls eine ernste Herausforderung kommt, mutiert sie zur Politik der Ewigkeit. Die Amerikaner zeigten beide Reaktionen, als Russlands Wunschkandidat Präsident der Vereinigten Staaten wurde.

In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts und in der ersten Dekade des 21. ging der Einfluss von West nach Ost: mit der Übernahme von ökonomischen und politischen Vorbildern, der Verbreitung der englischen Sprache, der Erweiterung der Europäischen Union und der NATO. Inzwischen haben deregulierte Sphären des amerikanischen und europäischen Kapitalismus wohlhabende Russen in ein Reich gelockt, in dem es keine Ost-West-Geographie gibt, sondern Offshore-Bankkonten, Briefkastenfirmen und anonyme Deals, bei denen das Vermögen gewaschen wird, das dem russischen Volk gestohlen wurde. Auch aus diesem Grund driftete der Einfluss in den 2010er Jahren von Ost nach West, als die Ausnahme des Offshore zur Regel und die russische politische Fiktion außerhalb von Russland wirkmächtig wurde. Im Peloponnesischen Krieg definierte Thukydides «Oligarchie» als ‹Herrschaft von Wenigen› im Gegensatz zur ‹Demokratie›. Aristoteles verstand unter ‹Oligarchie› die ‹Herrschaft der Wenigen, die reich sind›. In dieser Bedeutungsvariante erlebte das Wort Oligarchie in den 1990er Jahren in der russischen Sprache seine Renaissance – und die Erklärung von der «Herrschaft der wenigen, die reich sind», the rule of the wealthy few, in den 2010er Jahren dann, aus gutem Grund, im Englischen.

Begriffe und Verfahrensweisen wanderten vom Osten in den Westen. Zum Beispiel das Wort «Fake» wie in «Fake News»: Das klingt wie eine amerikanische Erfindung, und Donald Trump reklamiert sie für sich, aber der Ausdruck wurde in Russland und in der Ukraine schon lange benutzt, bevor er seinen Siegeszug in den Vereinigten Staaten antrat. Er bedeutet, dass sich ein fiktionaler Text als journalistischer ausgibt, und zwar sowohl um Verwirrung über ein bestimmtes Geschehen zu stiften, als auch um den Journalismus als solchen zu diskreditieren. Politiker der Ewigkeit verbreiten zunächst selbst Fake News, dann behaupten sie, alle Nachrichten seien Fake, und schließlich, dass allein ihre eigenen Spektakel wahr seien. Die russische Kampagne, die die internationale Öffentlichkeit mit Fiktionen überschwemmen sollte, begann 2014 in der Ukraine und griff 2015 auf die Vereinigten Staaten über, wo sie 2016 dazu beitrug, den Präsidenten zu wählen. Die Technik war überall dieselbe, allerdings wurde sie mit der Zeit immer raffinierter.

Russland war in den 2010er Jahren ein kleptokratisches Regime, das entschlossen war, die Politik der Ewigkeit zu exportieren: Faktizität zu vernichten, Ungleichheit zu zementieren und ähnliche Tendenzen in Europa und in den Vereinigten Staaten zu beschleunigen. Das wird gut an der Ukraine sichtbar, wo Russland einen regelrechten Krieg führte, während es die Kampagnen zur Zerrüttung der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten verstärkte. Der Berater des ersten prorussischen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten war der Berater des letzten prorussischen Präsidenten der Ukraine gewesen. Russische Taktiken, die in der Ukraine scheiterten, waren nun in den Vereinigten Staaten erfolgreich. Russische und ukrainische Oligarchen versteckten ihr Geld so, dass der Aufstieg eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten davon profitierte. Das alles ist eine einzige, zusammengehörende Geschichte, die Geschichte unserer Gegenwart und unserer Entscheidungen.

KANN GESCHICHTE so gegenwartsnah sein? Der Peloponnesische Krieg gehört für uns zur Alten Geschichte, die Athener kämpften vor mehr als zweitausend Jahren gegen die Spartaner. Doch ihr Geschichtsschreiber Thukydides beschrieb, was er selbst erfahren hatte. Er bezog die Vergangenheit in dem Maße ein, wie es für die Erklärung der zentralen Probleme der Gegenwart notwendig war. Mein Buch versucht in aller Bescheidenheit, diesem Ansatz gerecht zu werden. Der Weg in die Unfreiheit taucht so weit in die russische, ukrainische, europäische und amerikanische Geschichte ein, wie es notwendig ist, um die politischen Probleme der Gegenwart zu definieren und einige Mythen auszuräumen, die sie verhüllen. Das Buch bezieht sich auf Primärquellen der betreffenden Länder und bemüht sich, Strukturen und Begriffe zu finden, die dazu beitragen können, unsere Zeit zu begreifen. Die Sprachen der Quellen, Russisch, Ukrainisch, Polnisch, Deutsch, Französisch und Englisch, gehören zum wissenschaftlichen Handwerkszeug, sie sind aber auch Quellen der Erfahrung. Ich las und sah in diesen Jahren die russischen, ukrainischen, europäischen und amerikanischen Medien und reiste an viele der betreffenden Orte. Manchmal konnte ich Berichte über die Ereignisse mit meinen eigenen Erfahrungen oder denen von Menschen, die ich kannte, vergleichen. Jedes Kapitel konzentriert sich auf ein bestimmtes Ereignis in einem bestimmten Jahr: die Wiederkehr der totalitären Denkweise (2011), der Zerfall der demokratischen Politik in Russland (2012), der russische Angriff auf die Europäische Union (2013), die Revolution in der Ukraine und die darauf folgende russische Invasion (2014), die Verbreitung der politischen Fiktion in Russland, Europa und Amerika (2015) und die Wahl von Donald Trump (2016).

Mit der Behauptung, dass die politischen Grundlagen unveränderbar seien, verbreitete die Politik der Unausweichlichkeit Unsicherheit über die Beschaffenheit dieser Grundlagen. Wenn wir glauben, dass die Zukunft nur eine automatische Fortsetzung der guten politischen Ordnung ist, brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, wie diese Ordnung beschaffen ist, warum sie gut ist, wie man sie bewahren und verbessern kann. Geschichtsschreibung ist eine Form der politischen Reflexion, und sie muss es sein, insofern sie eine Zäsur zwischen der Unausweichlichkeit und der Ewigkeit ermöglicht, die uns daran hindert, von einem ins andere zu gleiten, und die uns hilft, den Moment zu erkennen, in dem wir vielleicht etwas ändern können.

Da wir gerade aus der Unausweichlichkeit herauskommen und mit der Ewigkeit kämpfen, kann eine Geschichte des Zerfalls ein Leitfaden der Wiederherstellung sein. Die Erosion legt bloß, wo es Widerstand gibt, was gestärkt werden kann, was wiederherstellbar ist und was neu bewertet werden muss. Weil Verstehen auch Befähigung bedeutet, haben die Kapitelüberschriften dieses Buchs die Form von Alternativen: Individualismus oder Totalitarismus; Nachfolge oder Scheitern; Integration oder Imperium, Neuerung oder Ewigkeit; Wahrheit oder Lügen; Gleichheit oder Oligarchie. Individualität, Beständigkeit, Kooperation, Offenheit gegenüber dem Neuen, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit stellen deshalb politische Tugenden dar. Diese Eigenschaften sind nicht bloße Phrasen oder Vorlieben, sondern sie gehören zu den historischen Fakten und vielleicht nicht weniger als materielle Wirkkräfte. Tugenden sind untrennbar verbunden mit Institutionen, die sie inspirieren und aufrechterhalten.

Eine Institution entwickelt vielleicht Ideen darüber, was das Gute sei, aber sie ist auch von diesen Ideen abhängig. Wenn Institutionen funktionieren sollen, dann brauchen sie diese Tugenden. Wenn Tugenden gefördert werden sollen, brauchen sie Institutionen. Die moralische Frage nach Gut und Böse im öffentlichen Leben kann niemals von der historischen Aufarbeitung des Rahmens getrennt werden. Es ist die Politik der Unausweichlichkeit beziehungsweise der Ewigkeit, die den Anschein erweckt, dass Tugenden irrelevant oder gar lächerlich seien: die Unausweichlichkeit, indem sie verspricht, das Gute existiere bereits und müsse nur planvoll vermehrt werden, die Ewigkeit, indem sie versichert, das Böse komme immer von außen und wir seien immer nur unschuldige Opfer.

Wollen wir zu einer genaueren Definition von Gut und Böse kommen, werden wir die Geschichtsschreibung wiederaufleben lassen müssen.

KAPITEL 1

INDIVIDUALISMUS ODER TOTALITARISMUS (2011)

Mit Gesetzen wird unser Land blühen, doch Gesetzlosigkeit wird es zerstören.

Die Geschichte vom weisen Njal, um 1280

Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Carl Schmitt, 1922

Die Politik der Unausweichlichkeit beruht auf der Idee, dass es keine Ideen gibt. Wer sich sklavisch der Unausweichlichkeit unterwirft, leugnet, dass Ideen von zentraler Bedeutung sind, und zeigt damit nur, dass er seinerseits dem Einfluss einer mächtigen Idee unterliegt. Der Leitspruch der Politik der Unausweichlichkeit lautet: «Es gibt keine Alternativen.» Wer das akzeptiert, leugnet, dass er als Individuum Verantwortung dafür trägt, geschichtliche Entwicklungen zu erkennen und verändernd einzugreifen. Er wird zum Schlafwandler, der seinem bereits markierten, vorab gekauften Grab entgegenwankt.

Die Ewigkeit entsteigt der Unausweichlichkeit wie ein Gespenst dem Leichnam. Die kapitalistische Version einer Politik der Unausweichlichkeit, in der der Markt an die Stelle der Politik tritt, schafft eine ökonomische Ungleichheit, die jeden Glauben an Fortschritt unterminiert. Wenn soziale Mobilität zum Stillstand kommt, wird aus Unausweichlichkeit Ewigkeit und aus Demokratie Oligarchie. Der Oligarch erfindet das Märchen einer unschuldigen Vergangenheit, etwa unter Zuhilfenahme faschistischer Ideen, und bietet so Menschen in realer Not scheinbaren Schutz. Der Glaube, Technologie stehe im Dienst der Freiheit, ebnet seinem Auftritt den Weg. Zerstreuung ersetzt Konzentration, Zukunft wird von den Frustrationen über die Gegenwart aufgesogen, Ewigkeit wird zum täglichen Leben. Der Oligarch springt aus der Welt der Fiktion in die der realen Politik und herrscht durch die Beschwörung von Mythen und die Inszenierung von Krisen. In den 2010er Jahren geleitete eine solche Person, Wladimir Putin, eine andere, Donald Trump, von der Fiktion zur Macht.

In Russland kam die Politik der Ewigkeit zuerst zum Einsatz, und die russischen Machthaber wussten sich und ihren Reichtum durch den Export dieser Politik zu schützen. Der Oligarch an der Spitze, Wladimir Putin, erwählte den faschistischen Philosophen Iwan Iljin zur ideologischen Leitfigur. 1953 schrieb der Dichter Czeslaw Milosz, «erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde in vielen Ländern Europas verstanden, meist auf schmerzliche Art und Weise, dass komplexe und schwierige philosophische Bücher direkten Einfluss auf ihr Schicksal nehmen.» Iljin verfasste einige dieser heute relevanten philosophischen Texte. Ein Jahr, nachdem Milosz diese Zeilen geschrieben hatte, starb Iljin.

Iljins Renaissance in den 1990er und in den 2000er Jahren durch die russische Regierung verschaffte seinem Werk eine Wiederauferstehung: als adaptierter Faschismus, um der Oligarchie den Boden zu bereiten, und als besonderes Ideengebäude, das den Machthabern dabei half, von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit überzugehen.

Zur Zeit Iljins, in den 1920er und 1930er Jahren, kennzeichneten den Faschismus drei Merkmale: Er feierte Wille und Gewalt statt Vernunft und Recht, er propagierte einen Führer, der auf geheimnisvolle Weise mit seinem Volk verbunden ist, und er betrachtete die Globalisierung als eine Verschwörung und nicht als ein Konglomerat von Problemen. Der heute als Politik der Ewigkeit in Zeiten der Ungleichheit wiederbelebte Faschismus dient den Oligarchen als Katalysator für den Übergang von öffentlicher Debatte zu politischer Fiktion, von einer Wahl, die diesen Namen verdient, zur Scheindemokratie und von Herrschaft des Rechts zum autoritären Regime.

Geschichte geht immer weiter, und stets bieten sich Alternativen an. Iljin stellt eine dieser Alternativen dar. Er ist nicht der einzige faschistische Theoretiker, der in unserem Jahrhundert eine Renaissance erfuhr, aber der wichtigste. Er ist ein Führer auf dem immer dunkler werdenden Weg in die Unfreiheit, der von der Unausweichlichkeit in die Ewigkeit führt. Wenn wir uns mit seinen Ideen und Wirkungen vertraut machen, können wir den Weg ins Dunkel überblicken, während wir auf der Suche sind nach Licht und Auswegen. Das heißt also, wir müssen historisch denken. Wir müssen herausfinden, wodurch Ideen der Vergangenheit in der Gegenwart wirkmächtig werden können, wir müssen die Globalisierung der Epoche Iljins mit der Globalisierung unserer Zeit vergleichen, wir müssen uns klar darüber werden, dass es damals wie heute reale Alternativen gab und gibt, und zwar mehr als nur zwei. Nach der Verschleierung durch die Unausweichlichkeit kommt, scheinbar von selbst, das Leichentuch der Ewigkeit, aber es gibt Alternativen, und die müssen gefunden werden, bevor das Leichentuch alles unter sich begräbt. Wenn wir die Ewigkeit akzeptieren, opfern wir die Individualität und werden keine Handlungsoptionen mehr erkennen. Die Idee der Ewigkeit besagt, dass es keine Ideen gibt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 verkündeten amerikanische Politiker der Unausweichlichkeit das Ende der Geschichte, während russische in der imperialen Vergangenheit des Landes nach neuen Autoritäten suchten. Als die Sowjetunion 1922 gegründet wurde, übernahm sie den größten Teil des alten russischen Reiches. Das Herrschaftsgebiet des Zaren war das größte der Welt gewesen, es erstreckte sich von Mitteleuropa bis an die Pazifikküste, von der Arktis bis nach Zentralasien. Es war vor allem ein Land der Bauern und Nomaden, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Intellektuellen und die Mittelschicht Russlands darüber nachzudenken, wie das autokratisch regierte Reich moderner und gerechter werden könnte.

Iwan Iljin kam 1883 als Sohn einer aristokratischen Familie zur Welt. Der junge Mann war typisch für seine Generation. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts hoffte er, Russland könnte sich zu einem Rechtsstaat entwickeln. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und der Erfahrung der bolschewistischen Revolution von 1917 wurde Iljin dann zum Konterrevolutionär. Er propagierte den bewaffneten Kampf und wurde schließlich zum Begründer eines christlichen Faschismus, der den Bolschewismus überwinden sollte. 1922, ein paar Monate vor Gründung der Sowjetunion, wurde er mit einem der sogenannten «Philosophenschiffe» außer Landes geschafft. Er arbeitete als Schriftsteller in Berlin und lieferte den Gegnern der neuen Sowjetunion, den «Weißen», ein Programm. Diese Männer hatten im langen und blutigen russischen Bürgerkrieg gegen die Rote Armee der Bolschewiki gekämpft. Sie waren dann, wie Iljin, aus politischen Gründen in den Westen emigriert. Später formulierte Iljin seine Schriften als Orientierungshilfe für das russische Führungspersonal, das nach dem Ende der Sowjetunion an die Macht kommen sollte.

Nachdem aus der zusammengebrochenen Sowjetunion 1991 die Russische Föderation hervorgegangen war, kamen neue russische Ausgaben von Iljins kleinem Buch «Unsere Aufgaben» in Umlauf, die Gesammelten Werke wurden veröffentlicht, und seine Ideen fanden Anhänger im Machtapparat. Völlig vergessen war er in der Schweiz gestorben. Doch 2005 inszenierte Putin die Überführung des Leichnams Iljins nach Russland und dessen Beisetzung in Moskau. Iljins persönliche Unterlagen waren in der Michigan State University gelandet, 2006 schickte Putin einen Gesandten, um sie nach Russland zu holen. Seither hat Putin Iljin bei seinen jährlichen Ansprachen in der Generalversammlung des russischen Parlaments regelmäßig zitiert. Es waren wichtige, von ihm selbst verfasste Reden. 2010 berief er sich auf Iljins Thesen, um zu erklären, warum Russland die Europäische Union schwächen und in die Ukraine einmarschieren müsse. Nach einem für ihn wichtigen Historiker befragt, nannte er Iljin als Autorität in Fragen der Vergangenheit.

Die politische Klasse Russlands folgte Putins Beispiel. Sein Propagandachef Wladislaw Surkow adaptierte Iljins Ideen für die Welt der modernen Medien. (Er orchestrierte Putins Weg zur Macht und sorgte für die Gleichschaltung der Medien, die Putins Regierungszeit offensichtlich für immer und ewig absichern soll.) Dmitri Medwedew, der Vorsitzende von Putins Partei, empfahl der russischen Jugend Iljin zur Lektüre. Iljins Name wurde sowohl von den Vorsitzenden der Parteien der Pseudoopposition genannt als auch von den Kommunisten und den (extrem rechten) Liberalen Demokraten, die ihren Teil dazu beitrugen, jenes Scheingebilde von Demokratie zu erzeugen, das Iljin anempfohlen hatte. Iljin wurde vom Vorsitzenden des Verfassungsgerichts zitiert, ungeachtet der Vorstellung Iljins, dass Recht sich in nichts anderem verwirkliche als in der Liebe zu dem von Gott gesandten Führer. Er wurde von den Gouverneuren der Regionen genannt, als Russland zu dem zentralisierten Staat wurde, den Iljin propagiert hatte. Anfang 2014 erhielten alle Mitglieder der Regierungspartei Russlands und alle Angestellten im öffentlichen Dienst vom Kreml eine Auswahl von Iljins politischen Schriften. 2017 sendete das russische Fernsehen zum 100. Jahrestag der bolschewistischen Revolution einen Film, in dem Iljin als moralische Autorität dargestellt wurde.

Iljin war ein Politiker der Ewigkeit. Sein Gedankengebäude wurde wirkmächtig, als die kapitalistische Version der Politik der Unausweichlichkeit im Russland der 1990er und 2000er Jahre kollabierte. Als Russland in den 2010er Jahren zur organisierten Kleptokratie wurde, als die Ungleichheit im Land ungeheure Ausmaße annahm, erreichte sein Einfluss den Höhepunkt. Der russische Angriff auf die Europäische Union und die Vereinigten Staaten machte uns bestimmte politische Tugenden bewusst, weil sie zur Zielscheibe geworden waren. Es sind die Tugenden, die der Philosoph Iljin ignorierte oder verachtete: Individualismus, Wechsel im Amt, Integration, Neuerung, Wahrheit, Gleichheit.

ILJIN PROPAGIERTE seine Ideen in Russland vor hundert Jahren, nach der russischen Revolution. Und doch wurde er ein Philosoph unserer Zeit. Kein anderer Denker des 20. Jahrhunderts ist im 21. Jahrhundert in so großem Ausmaß rehabilitiert worden, keiner bekam so großen Einfluss auf die Weltpolitik. Wenn das unbemerkt blieb, dann lediglich, weil wir uns selber im Bann der Unausweichlichkeit befinden: Wir glauben, dass Ideen keine Rolle spielen. Wer jedoch historisch denkt, der akzeptiert, dass etwas bedeutend sein kann, das nicht allgemein bekannt ist, und arbeitet daran, das noch Unbekannte bekannt zu machen.

In der Politik der Unausweichlichkeit unserer Tage wiederholt sich jene aus Iljins Zeiten. Der Zeitraum von den späten 1980er Jahren bis in die frühen 2010er Jahre war eine Epoche der Globalisierung wie der Zeitraum von den späten 1880er Jahren bis in die frühen 1910er Jahre. Gängige Meinung über beide Zeitspannen war, dass auf Export basierendes Wachstum aufgeklärte Politik mit sich bringen und den Trend zum Fanatismus beenden werde. Dieser Optimismus brach im Ersten Weltkrieg und den darauf folgenden Revolutionen und Konterrevolutionen in sich zusammen. Iljin ist selbst ein Beispiel für diese Entwicklung. Als junger Mann setzte er sich für Rechtsstaatlichkeit ein. Dann wechselte er zur extremen Rechten, schätzte allerdings immer noch bestimmte Taktiken, die er bei der extremen Linken beobachtet hatte. Benito Mussolini, der ehemalige Linke, ging seinen Faschisten beim Marsch auf Rom voran, kurz nachdem Iljin aus Russland vertrieben worden war. Der Philosoph sah im Duce die Hoffnung für eine verdorbene Welt.

Iljin betrachtete den Faschismus als Politik für die Welt der Zukunft. Im Exil der 1920er Jahre litt er daran, dass die Italiener den Russen mit dem Faschismus zuvorgekommen waren. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sich Mussolini für seinen Coup von den russischen Weißen hatte inspirieren lassen: «Die russische Weiße Bewegung ist tiefgründiger und umfassender als der [italienische] Faschismus.» Diese Tiefe und Komplexität, erklärte Iljin, rühre von einer bestimmten Deutung des Christentums, die diese Bewegung sich zu eigen gemacht habe, nämlich eines Christentums, das Blutopfer von den Feinden Gottes fordere. In den 1920er Jahren glaubte er noch, dass die Exilierten der Weißen an die Macht kommen könnten. Er nannte sie «meine weißen Brüder, die Faschisten».

Von Adolf Hitler war Iljin ähnlich beeindruckt. Er besuchte Italien und machte Urlaub in der Schweiz, doch zwischen 1922 und 1938 hatte er seinen festen Wohnsitz in Berlin, wo er an einem staatlich geförderten wissenschaftlichen Institut arbeitete. Iljins Mutter war Deutsche, er hatte sich bei Sigmund Freud in deutscher Sprache einer Psychoanalyse unterzogen und studierte deutsche Philosophie. Deutsch schrieb er gut und ebenso häufig wie russisch. In seiner Haupttätigkeit gab er kritische Untersuchungen zur sowjetischen Politik heraus und verfasste sie auch selbst, zum Beispiel Welt vor dem Abgrund auf Deutsch, Gift, Geist und Wesen des Bolschewismus 1931 auf Russisch. Iljin sah in Hitler den Helden, der die Zivilisation vor dem Bolschewismus gerettet habe. Der «Führer» habe «ganz Europa einen großartigen Dienst erwiesen», schrieb er, weil er weitere Revolutionen nach russischem Vorbild verhindert habe. Voller Anerkennung stellt Iljin fest, Hitlers Antisemitismus sei eine Weiterentwicklung der Ideologie der russischen Weißen Bewegung. «Europa versteht die nationalsozialistische Bewegung nicht», klagte er. In erster Linie sei der Nationalsozialismus ein «Geist», eine «Tatkraft», woran sich die Russen beteiligen müssten.

1938 verließ Iljin Deutschland und ging in die Schweiz, wo er bis zu seinem Tod lebte. In der Schweiz wurde er von der Frau eines deutsch-amerikanischen Geschäftsmanns finanziell unterstützt. Ein zusätzliches Einkommen hatte er durch öffentliche Vorlesungen in deutscher Sprache. Ein Schweizer Historiker schrieb, die Kernaussage dieser Vorlesungen sei gewesen, dass Russland nicht als kommunistische Gefahr der Gegenwart wahrgenommen werden sollte, sondern als christliches Heilsversprechen der Zukunft. Iljin sei überzeugt, dass der dekadente Westen dem unschuldigen Russland den Kommunismus aufgebürdet habe. Eines Tages werde Russland sich selbst und auch andere durch den christlichen Faschismus befreien. Ein Schweizer schrieb in einer Besprechung der Schriften Iljins, sein Werk sei «national in dem Sinn, dass es sich gegen den gesamten Westen richtet».

Iljins politische Anschauungen änderten sich nicht mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Seine Kontakte in der Schweiz kamen aus dem rechtsextremen Lager: Rudolf Grob glaubte, die Schweiz müsse dem Beispiel NS-Deutschlands folgen; Theophil Spoerri gehörte zu einer Gruppierung, die Juden und Freimaurer ächten wollte. Albert Riedweg war ein rechter Anwalt, sein Bruder Franz war der prominenteste Schweizer im Vernichtungsapparat der Nazis. Franz Riedweg heiratete die Tochter des deutschen Kriegsministers von Blomberg, wurde SS-Mitglied und nahm an den deutschen Kriegszügen gegen Polen, Frankreich und die Sowjetunion teil. Letztere betrachtete Iljin als eine Schicksalsprüfung für den Bolschewismus, mit der die Nationalsozialisten die Russen befreien könnten.

Als die Sowjetunion den Krieg gewann und 1945 ihr Imperium nach Westen ausdehnte, schrieb Iljin für zukünftige Generationen von Russen. Er selbst charakterisierte sein Werk als den Widerschein einer kleinen Flamme in großer Dunkelheit. Damit haben die russischen Machthaber der 2010er Jahre einen Flächenbrand entfacht.

ILJIN BLIEB SICH TREU. Sein erstes philosophisches Hauptwerk auf Russisch (1916) war zugleich sein letztes philosophisches Hauptwerk, es war die deutsche Ausgabe des ersten (1946).

Im Universum, so Iljin, habe es nur eines gegeben, was gut gewesen sei, die Totalität Gottes vor dem Schöpfungsakt. Als Gott die Welt erschuf, zerstörte er die eine und absolute Wahrheit, die er selbst war. Iljin unterteilte die Welt in die der «Kategorien», das verlorene Reich der einen vollkommenen Idee, und in jene des «Historischen», das menschliche Leben mit seinen Realitäten und Leidenschaften. Seiner Ansicht nach bestand das Tragische der Existenz darin, dass sich die Fakten nicht in Gottes Totalität zurückführen ließen und die Leidenschaften nicht in Gottes Zwecksetzung. E.M.Cioran, selbst ein Vertreter des christlichen Faschismus, erklärte dies so: Vor der Geschichte ist Gott vollkommen und ewig. Mit dem Eintritt in die Geschichtlichkeit scheint er «frenetisch, begeht einen Fehler nach dem anderen». Wie Iljin es ausdrückte: «Die Versenkung Gottes in die empirische Existenz benahm seinem Leben die harmonische Einheit, die logische Vernünftigkeit und die organische Zweckmäßigkeit.»

Für Iljin ist die Welt der Menschen mit ihren Fakten und Leidenschaften ohne Sinn. Er fand es unmoralisch, Fakten über ihren historischen Kontext verstehen zu wollen: «die Welt der empirischen Existenz ließ sich theologisch nicht rechtfertigen.» Leidenschaften sind frevelhaft. Gott beging einen Fehler, als er «die böse Natur des Sinnlichen» freisetzte. Er gab einem romantischen Impuls nach, als er den Menschen schuf, Wesen, die vom Sex angetrieben werden. «Der romantische Inhalt der Welt überwindet die rationalistische Form des Denkens und das Denken tritt seine Priorität der nichtdenkenden Zweckmäßigkeit ab», der physischen Liebe. Gott ließ uns zurück in «partielle[r] und relative[r] Zweckmäßigkeit.»

Mit seiner Gotteskritik verschaffte Iljin der Philosophie eine herausragende Stellung oder doch zumindest einem Philosophen, sich selbst. Er hielt an der Vision einer göttlichen Totalität fest, die vor der Erschaffung der Welt existierte, aber übernahm selbst die Rolle desjenigen, der verkündet, wie sie wiedergewonnen werden könne. Nachdem Gott die Bühne geräumt hatte, konnte Iljin nun selbst Urteile darüber fällen, was ist und was sein sollte. Es gibt eine göttliche Welt, und sie muss auf irgendeine Weise erlöst werden. Dieses heilige Werk ist die Aufgabe derjenigen, die ihr Dilemma verstehen – dank Iljin und seinem Werk.

Es war eine totalitäre Vision. Wir sollen uns nach einem Zustand sehnen, in dem alle dasselbe denken und fühlen, was bedeutet, dass wir gar nicht mehr denken oder fühlen. Wir müssten aufhören, als Individuen zu existieren. «Das Böse beginnt, wo der Einzelne beginnt», schrieb Iljin. Es ist gerade unsere Individualität, die die Fehlerhaftigkeit der Welt beweist. Auch Hegel habe eingesehen, dass die «empirische Zersplitterung der Einzelexistenzen – einen unrichtigen, vorübergehenden, einen metaphysisch-unwahren Zustand der Welt darstellt». Iljin verachtete die Mittelschicht. Die bürgerliche Gesellschaft und das Privatleben verlängerten, so glaubte er, den zerrütteten Zustand der Welt und hielten Gott fern. Wer zu einer Gesellschaftsschicht gehöre, die dem Einzelnen sozialen Aufstieg ermögliche, zähle zu der schlimmsten Variante des Menschen: «So aber bildet dieser Stand die unterste Stufe des sozialen Daseins.»

WIE ALLE AMORALITÄT beginnt die Politik der Ewigkeit mit der Ausnahme in eigener Sache. Alles andere in der Schöpfung mag böse sein, nur ich und meine Gruppe sind gut, weil ich ich bin und meine Gruppe zu mir gehört. Andere sind vielleicht fehlgeleitet und verhext von Fakten und Leidenschaften der Geschichte, aber wir, ich und meine Nation, haben uns die vorgeschichtliche Unschuld bewahrt. Diese Eigenschaft ist das eine, einzig Gute. Sie ist nicht sichtbar, aber gehört zu unserem Wesen. Deshalb besteht Politik in der Verteidigung dieser Unschuld, koste es, was es wolle. Wer die Politik der Ewigkeit akzeptiert, erwartet nicht, dass er länger, glücklicher oder erfolgreicher lebt. Er akzeptiert Leiden als Beweis seiner Rechtschaffenheit, solange er davon überzeugt ist, dass die anderen, die Schuldigen, mehr leiden. Das Leben ist hässlich, brutal und kurz; angenehmer ist es, wenn man es für andere noch hässlicher, brutaler und kürzer machen kann.

Iljin billigte Russland und den Russen eine Ausnahme zu. Die von ihm behauptete russische Unschuld sei nicht ohne weiteres sichtbar. Iljin wandte sich mit einem Glaubensappell an seine Landsleute: Die Erlösung verlange, dass Russland anders wahrgenommen werde, als es scheine. Da die Fakten der Welt nur die verderbten Fragmente der misslungenen Schöpfung Gottes seien, bestehe wahres Sehen im Nachsinnen über das Unsichtbare. Corneliu Codreanu, Begründer des rumänischen Faschismus, hatte im Gefängnis eine Vision des Erzengels Michael und hielt sie in einigen Zeilen fest. Iljin blähte seine Vorstellung von dieser Kontemplation zu einigen Büchern auf, aber es war tatsächlich nicht mehr als das: In seinen Augen war seine Nation rechtschaffen, und die Reinheit dieser Vision war bedeutsamer als alles, was die Russen wirklich taten. Die «reine und objektive» Nation wurde für den Philosophen sichtbar, wenn er sich blind stellte.

Die Unschuld nahm eine konkrete biologische Form an. Was Iljin sah, war ein unberührter russischer Körper. Wie die Faschisten und andere, die zu seiner Zeit auf autoritäre Strukturen setzten, bestand Iljin darauf, dass seine Nation ein lebendiges Wesen sei, «ein natürlicher und beseelter Organismus», ein Lebewesen aus dem Garten Eden, ohne durch die Erbsünde belastet zu sein. Wer zum Innenleben dieses russischen Organismus gehöre, entscheide nicht der Einzelne. Eine Zelle habe auch keine Entscheidungsbefugnis darüber, ob sie zu einem Körper gehöre oder nicht. Die russische Kultur bringe automatisch eine «brüderliche Einheit» hervor, wohin auch immer Russlands Macht reiche. Iljin sprach von den «Ukrainern» in Anführungszeichen, weil er ihnen eine eigenständige Existenz außerhalb des russischen Organismus absprach. Wer von der Ukraine sprach, konnte nur ein Todfeind Russlands sein. Iljin nahm als selbstverständlich an, dass das nach-sowjetische Russland die Ukraine einschloss.

Iljin war überzeugt, dass die Sowjetmacht die ganze satanische Energie von Faktizität und Leidenschaft in sich konzentriere. Und doch sei der Triumph des Kommunismus kein Beweis für die Schuld, sondern im Gegenteil für die Unschuld Russlands. Seiner Ansicht nach sei der Kommunismus durch Ausländer und entwurzelte Russen, die Iljin «Tarzane» nannte, ins Land gekommen. Es habe sich um eine Verführung gehandelt. Sie gierten danach, das unberührte Russland zu vergewaltigen, gerade weil es ohne Fehl und ohne Schutz sei. 1917 seien die Russen einfach zu arglos gewesen, um der geballten Ladung von Sündhaftigkeit zu widerstehen, die aus dem Westen hereinbrach. Trotz der Verwüstung durch die sowjetischen Machthaber hätten sich die Russen eine unsichtbare Reinheit bewahrt. Im Unterschied zu Europa und Amerika, die akzeptierten, dass Fakten und Leidenschaften das Leben bestimmten, bewahre Russland einen hinter allem stehenden «Geist», der Gottes Totalität ins Gedächtnis rufe. «Die Nation ist nicht Gott», schrieb Iljin, «aber ihre seelische Stärke kommt von Gott.»

Als Gott die Welt erschuf, sei Russland auf geheimnisvolle Weise der Geschichtlichkeit entgangen und in der Ewigkeit verblieben. Iljin glaubte, sein Heimatland sei deshalb dem vorwärts treibenden Fluss der Zeit und der Abfolge von Ereignis und Entscheidung, die er für so unerträglich hielt, enthoben. Russland erlebe stattdessen sich wiederholende Zyklen von Bedrohung und Verteidigung. Alles, was geschehe, sei ein Angriff der Außenwelt auf die russische Unschuld oder die angemessene russische Antwort auf eine derartige Bedrohung. Iljins Wissen über die russische Geschichte war lückenhaft, aber mit Hilfe dieses Schemas war es für ihn ein Leichtes, ganze Jahrhunderte klischeehaft zu erklären. Was der Historiker etwa als ein Vordringen der Macht Moskaus vom Norden Asiens bis zur Mitte Europas erkennt, war für Iljin nichts anderes als «Selbstverteidigung». Seiner Ansicht nach war jede einzelne Schlacht, die Russen je geschlagen hatten, ein Akt der Selbstverteidigung. Russland war immer Opfer einer «Kontinentalblockade» Europas: «die russische Nation kann seit dem vollendeten Übertritt zum Christentum tausend Jahre des Leidens in der Geschichte zählen.» Russland tut nichts Unrechtes, Russland kann nur Unrecht angetan werden. Fakten spielen keine Rolle, Verantwortung löst sich auf.

VOR DER BOLSCHEWISTISCHEN REVOLUTION hatte Iljin Jura studiert und an den Fortschritt geglaubt. Nach 1917 schien alles möglich und alles erlaubt. Die Missachtung von Recht und Gesetz durch die extreme Linke, meinte Iljin, müsse durch eine noch viel radikalere seitens der extremen Rechten übertroffen werden. In seinem späteren Werk bezeichnete Iljin die russische Gesetzlosigkeit als patriotische Tugend: «Es ist eine Tatsache, dass der Faschismus ein erlösender Exzess patriotischer Willkür ist.» Das russische Wort proizvol, Willkür, war immer das Schreckgespenst der russischen Reformer. Indem Iljin proizvol als patriotisch interpretierte, wandte er sich gegen Rechtsreformen und propagierte stattdessen, Politik müsse den Launen eines einzigen Herrschers folgen.

Iljins Gebrauch des russischen Wortes «spasitelnii» für «erlösend» übertrug dagegen eine tiefgründige religiöse Bedeutung in den Bereich der Politik. Wie andere Faschisten, darunter Adolf Hitler in Mein Kampf, stellte er christliche Ideen von Opfer und Erlösung in den Dienst neuer Ziele. Hitler behauptete, er erlöse die Welt im Namen eines fernen Gottes, indem er die Welt von den Juden befreie. «So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.» Das russische Wort «spasitelnii» wurde von orthodoxen Christen für die Erlösung der Gläubigen durch Christi Opfertod am Kalvarienberg benutzt. Iljin meinte, Russland brauche einen Erlöser, der das «ritterliche Opfer» bringe, das Blut anderer zu vergießen, damit er die Macht erlange. Ein faschistischer Putsch sei ein «Akt der Erlösung», der erste Schritt zur Rückkehr der Totalität ins Universum.

Die Menschen, die Gottes fehlerhafte Welt erlösten, mussten ignorieren, was Gott über die Liebe gesagt hatte. Jesus lehrte seine Schüler, dass nach der Liebe zu Gott das wichtigste Gebot die Liebe zum Nächsten sei. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 29– 37) ist der Nächste der, der sittlich richtig, nämlich barmherzig handelt, auch wenn er nicht zum eigenen Volk gehört wie der Samariter, der den Juden als Fremder und Ketzer erschien. Für Iljin aber gab es keinen Nächsten. Die Individualität ist verdorben und vergänglich, und allein die verlorene göttliche Totalität hat Bedeutung. Gott bedeutete den ununterbrochenen Kampf «gegen die Feinde der göttlichen Ordnung auf Erden». Wer etwas anderes tue, als an diesem Kampf teilzunehmen, mache sich zum Werkzeug des Bösen. «Wer sich gegen diesen ritterlichen Kampf gegen den Teufel stellt, ist selbst der Teufel.» Glaube heißt Krieg: «Möge euer Gebet zum Schwert werden und euer Schwert ein Gebet!»

Weil die Welt sündig und Gott fern ist, muss sein Sachwalter aus einem sündenfreien Reich jenseits der Geschichte kommen. «Die Macht», schrieb Iljin, «erwächst dem starken Mann ohne sein Zutun.» Er werde aus dem Nichts kommen. Die Russen würden ihren Erlöser erkennen: «Wir werden unsere Freiheit und unsere Gesetze von unserem russischen Patrioten erhalten, der Russland die Erlösung bringt.» Der Erlöser tritt aus der Fiktion hervor, schenkt den Fakten der Welt keine Beachtung und umgibt sich mit einem Mythos. Indem er die Last der russischen Leidenschaften auf sich nimmt, kanalisiert er «die böse Natur des Sinnlichen» und verwandelt sie in eine vollendete Harmonie. Der Führer werde «recht männlich» sein, wie Mussolini. Er werde «hart werden im gerechten und männlichen Dienst. Inspiriert ist er vom Geist der Totalität und nicht von einem bestimmten persönlichen Interesse oder dem einer Partei. Er steht allein und handelt allein, denn er kennt die politische Zukunft und weiß, was getan werden muss.» Die Russen werden «vor dem Leib gewordenen Wesen Russlands, dem Werkzeug seiner Selbstbefreiung» knien.

Der Erlöser schafft Faktizität ab, manipuliert Leidenschaften und erzeugt Mythen, indem er einen Angriff auf den identifizierten Feind anordnet. Der Faschist verachtet jede Politik, die an der Gesellschaft ansetzt – ihren Vorlieben, Interessen, Zukunftsvorstellungen. Der Faschismus beginnt nicht mit der Analyse, was im Inneren zu tun wäre, sondern reagiert mit der Abwehr dessen, was von außen angeblich droht. Die Außenwelt ist die literarische Quelle, das Material, woraus ein Diktator sein Feindbild konstruiert. Wie sein Vorbild Carl Schmitt, der Rechtstheoretiker der Nationalsozialisten, definierte Iljin Politik als «die Kunst, den Feind zu identifizieren und zu neutralisieren». Iljin begann deshalb seinen Aufsatz «Über den russischen Nationalismus» mit der schlichten Behauptung, «das national gesinnte Russland hat Feinde». Die mit Mängeln behaftete Welt müsse in Opposition zu Russland stehen, weil Russland die einzige Quelle göttlicher Totalität sei.

Der Erlöser habe die Pflicht, Kriege zu führen, und das Recht zu bestimmen, gegen wen. Iljin meinte, Krieg sei gerechtfertigt, wenn «die spirituellen Errungenschaften der Nation bedroht sind», was stets der Fall sei, solange der Individualismus nicht gänzlich vernichtet war. Im Krieg gegen die Feinde Gottes manifestiere sich Unschuld. Krieg führen, nicht Liebe machen, sei die angemessene Form, Leidenschaft auszuleben, weil die Jungfräulichkeit des nationalen Körpers dadurch nicht bedroht, sondern beschützt werde. In den 1930er Jahren sangen rumänische Faschisten von «eiserner Brust und lilienweißer Seele». Indem der Erlöser Russlands andere zu Blutvergießen anleite, werde er die sexuelle Energie ganz Russlands auf sich lenken und ihre Entladung dirigieren. Krieg war der einzige «Exzess», den Iljin billigte, da er die mystische Kommunion von jungfräulichem Organismus und außerweltlichem Erlöser sei. Wahre «Leidenschaft» sei faschistische Gewalt, das erhobene Schwert zugleich ein Gebet auf den Knien.

«ALLES BEGINNT in der Mystik und endet in der Politik», daran erinnert uns der Dichter Charles Péguy. Iljins Gedankengebäude begann 1916 mit Reflexionen über Gott, Sex und Wahrheit und endete ein Jahrhundert später als Orthodoxie des Kreml und Rechtfertigung des Kriegs gegen die Ukraine, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten. Zerstören ist immer einfacher als erschaffen. Iljin tat sich schwer mit der Definition der institutionellen Form, die das erlöste Russland annehmen sollte. Seine ungelösten Probleme verfolgen Russlands Führung noch heute. Das größte Problem ist die Frage der Beständigkeit des russischen Staats. Rechtsinstitutionen, die eine Machtablösung gestatten, erlauben Bürgern, sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Führung wechselt, der Staat selbst aber unangetastet bleibt. Im Faschismus geht es jedoch um die heilige und ewige Verbindung zwischen dem Erlöser und seinem Volk. Der Faschist macht aus Institutionen und Gesetzen störende Barrieren zwischen Führer und Volk, die umgangen oder abgeschafft werden müssen.

Iljin beabsichtigte, ein politisches System für Russland zu entwerfen, kam in seinen Skizzen aber nie über diese schwierige Frage hinaus. Er versuchte, das Problem semantisch zu lösen, indem er die Person des Erlösers zur Institution erhob. Der Erlöser sollte als «Führer» (gosudar´), «Staatsoberhaupt», «demokratischer Diktator» und «nationaler Diktator» betrachtet werden, ein Konglomerat von Titeln, die an die faschistischen Machthaber der 1920er und 1930er Jahre erinnern. Der Erlöser werde für alle Funktionen der Exekutive, Legislative und Judikative verantwortlich und auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte sein. Russland werde ein Zentralstaat ohne föderale Bestandteile, dabei kein Einparteienstaat wie die faschistischen Regime der 1930er Jahre. Eine Partei sei schon eine zu viel. Russland solle ein Nullparteienstaat und von einem einzigen Mann erlöst werden. Parteien hätten nur als Helfershelfer für rituelle Wahlen eine Existenzberechtigung.

Den Russen freie Wahlen zu ermöglichen, war für Iljin gleichbedeutend mit der Möglichkeit von Embryos, sich ihre Spezies selbst auszusuchen. Die Wahl mittels eines geheimen Wahlzettels erlaube den Bürgern, sich als Individuen zu verstehen, und das bestärke das Böse in der Welt. «Das verantwortungslose menschliche Atom ist das Prinzip der Demokratie», deshalb müsse Individualität durch politische Gewohnheiten überwunden werden, die die kollektive Liebe der Russen für ihren Erlöser weckten und erhielten. Deshalb «müssen wir das mechanistische und arithmetische Verständnis von Politik zurückweisen», ebenso wie «den blinden Glauben an die Zahl der abgegebenen Stimmen und ihre politische Bedeutung». Wahlen sollten die Nation in einem Unterwerfungsgestus vereinen, sie sollten öffentlich sein und die Wahlzettel persönlich unterschrieben werden.

Iljin stellte sich Gesellschaft als korporative Struktur vor, in der jeder Einzelne und jede Gruppe eine definierte Stellung innehätten. Zwischen Staat und Bevölkerung solle es keine Unterscheidung geben, sondern eine «organisch-spirituelle Einheit der Regierung mit dem Volk und des Volks mit der Regierung». Der Erlöser stehe allein an der Spitze, und die Mittelschichten lägen unten an der Basis, erdrückt vom Gewicht aller. Im normalen Sprachgebrauch ist die Mittelschicht die Mitte, da man von hier auf- oder absteigt. Sie ganz unten anzusiedeln bedeutet, Ungleichheit für gerecht zu erklären. Soziale Mobilität ist kategorisch ausgeschlossen.

Iljins Idee, als faschistische intendiert, erlaubt und rechtfertigt die Oligarchie, die Herrschaft der wenigen Wohlhabenden – und so funktionierte sie auch im Russland der 2010er Jahre. Wenn der Zweck des Staates darin besteht, den Reichtum des Erlösers und seiner Freunde sicherzustellen, dann kann dies kein Rechtsstaat sein. Wenn es keinen Rechtsstaat gibt, ist es schwer, ein Einkommen zu erzielen, mit dem sich ein höherer Lebensstandard finanzieren lässt. Wenn es keinen sozialen Aufstieg gibt, ist keine Erzählung von Zukunft mehr plausibel. Die Schwäche der staatlichen Politik erscheint dann in neuer Gestalt als mystische Verbindung von Führer und Volk. Statt zu regieren, produziert der Führer Krisen und Spektakel. Das Recht ist keine neutrale Norm, die soziale Mobilität ermöglicht, sondern verlangt nur Subordination unter den Status quo: das Recht fernzusehen und die Pflicht, sich unterhalten zu lassen.

Iljin benutzte das Wort «Recht», war aber kein Vertreter des Rechtsstaats. Unter «Gesetz» verstand er die Beziehung zwischen den Launen des Erlösers und dem Gehorsam aller anderen. Und auch hier zeigt sich, dass faschistische Ideen gut zur Etablierung der Oligarchie passen. Es sei die Liebespflicht der russischen Massen, jedweden Einfall des Erlösers als gesetzliche Verpflichtung ihrerseits zu interpretieren. Diese Verpflichtung sei natürlich nicht wechselseitig. Russen hätten eine «besondere Seelenverfassung», die es ihnen ermögliche, die eigene Vernunft zu unterdrücken und das «Gesetz der Herzen» zu akzeptieren. Iljin verstand darunter die Unterdrückung der eigenen Vernunft zugunsten der Unterwerfung unter die Idee der Nation. Habe Russland ein solches System und einen Erlöser an seiner Spitze, werde es «die eigene metaphysische Identität mit allen anderen Menschen desselben Volkes» entfalten.

Die russische Nation, die stets zum unverzüglichen Krieg gegen spirituelle Bedrohung bereit zu sein hatte, war zu einem göttlichen Wesen geworden, und zwar durch die Unterwerfung unter einen beliebigen Führer, der ein Produkt der Fiktion war. Der Erlöser würde die Bürde auf sich nehmen, Fakten und Leidenschaften aufzulösen. Er würde dadurch jede Bestrebung gleich welchen Individuums in Russland sinnlos werden lassen, die Welt zu erkennen, zu erfahren oder zu ändern. Der Platz eines jeden Russen in dieser korporativen Struktur wäre so unverrückbar wie eine Zelle in ihrem Organismus, und jeder Russe würde diese Immobilität als Freiheit interpretieren. Vereinigt durch ihren Erlöser, die Sünden durch das Blut der anderen weggespült – so würden die Russen Gott in seiner Schöpfung erneut willkommen heißen. Der christliche faschistische Totalitarismus – eine Einladung an Gott, in die Welt zurückzukehren und Russland dabei zu helfen, der Geschichte überall ein Ende zu bereiten.

Iljin gab einem Menschen die Rolle Jesu Christi und erwartete von ihm, dass er im Namen Gottes gegen das Gebot der Liebe verstoße.