Transithandel - Lea Haller - E-Book

Transithandel E-Book

Lea Haller

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Beschreibung

Kaffee, Baumwolle, Kautschuk: kaum eine Ware, die nicht quer über die Weltmeere verschifft wird. Treibende Kraft dabei sind nicht die Abnehmer, sondern Zwischenhändler. Lea Haller legt nun erstmals eine detaillierte Geschichte des Transithandels vor, der einen gewaltigen Teil der globalen Wirtschaft ausmacht. Am Beispiel der Schweiz, über die heute ein Fünftel des weltweiten Rohstoffhandels abgewickelt wird, zeigt Haller, wie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zentrale Techniken und Institutionen der Globalisierung herausbildeten: von Terminbörsen über internationale Schiedsgerichte bis hin zu Steuerprivilegien für multinationale Konzerne. Das Ergebnis ist nichts Geringeres als eine Geschichte der Entstehung des Weltmarktes.

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Seitenzahl: 661

Veröffentlichungsjahr: 2019

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3Lea Haller

Transithandel

Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

1. Wohin die Reise führt

Politische und wirtschaftliche Räume

Follow the money

Historiografische Unsichtbarkeit

Globale Schweiz – transnationale Geschichte

Die Geschichte nicht rückwärts schreiben

2. Kaufleute und Investoren

Profite im Transatlantikhandel

Vom Handel zur Industrie

Die Welthandelsfirmen

3. Auswanderung ohne Kolonien

Bürgerliche Elite

Handlungsbrüder und Missionsbräute

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung

Freie Schifffahrt

Globale Rohstoffkrise

4. Techniken der Globalisierung

Schiffe, Frachtbriefe und Ladescheine

Das Problem der Gerichtsbarkeit

Die Kontinente werden verkabelt

Amateurspekulanten

Geld verschieben

5. Die große Illusion

Die Prosperität der Kleinen

Im Kräftefeld der Großmächte

Liquiditätsprobleme

Die Definition des Feindes

Kriegsgewinnler

6. Profite in einer instabilen Zeit

Neue Märkte in Asien und Amerika

Gewinnbeteiligung und Krisendiskurs

Kapitalflucht in die Schweiz

Neutralität als Geschäftsmodell

Das Ende des Goldstandards

7. Die Transithändler organisieren sich

Schwierige Verhandlungen

Eine Branche tritt aus dem Schatten

Nationale Sichtbarkeit

Kriegswirtschaft

Notfallpläne und Neuorganisation

8. Der Umbau der Weltmärkte

Land of Peace and Liberty

Abseitsstehen im Multilateralismus

Rekonversionsscheine und Nachkriegsboom

Dreiecksgeschäfte

Die Firmen werden mobil

Finanzkapitalismus

9. Eine Branche wächst inkognito

Ein ambivalentes Transparenzbedürfnis

Die Lücke in der Welthandelsmatrix

Der mathematische Blick

10. Inventur und Bilanz

Epilog

Quellen- und Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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71. Wohin die Reise führt

Der Handel mit Massengütern ist bis heute ein äußerst wichtiger Teil des Welthandels und des internationalen Wirtschaftssystems, und dieser Warenhandel im großen Maßstab bleibt vielleicht der zentrale Schauplatz, an dem die Widersprüche des globalen Kapitalismus beobachtet werden können.

Arjun Appadurai1

Dieses Buch beleuchtet den Aufstieg des Welthandels. Es untersucht den Wandel des Geschäfts im Zuge technologischer Entwicklungen und politischer Krisen. Und es erzählt die Geschichte einer kapitalistischen Wirtschaft, in der Verkäufer und Käufer nicht auf wundersame Weise im wertfreien Raum eines sich selbst regulierenden Marktes zueinanderfinden, sondern erst durch Vermittlung überhaupt in Erscheinung treten. Zwischenhändler organisieren die globale Warenwirtschaft. Sie kaufen Waren, bezahlen sie, versichern sie, verschiffen sie, verkaufen sie wieder und schlagen daraus Profit. Haben sie ihren Firmensitz in einem Drittstaat, handelt es sich um einen chronisch unterbelichteten Bereich der globalen Wirtschaft: Transithandel.

Schätzungsweise ein Fünftel bis ein Viertel des gesamten weltweiten Rohstoffhandels wird heute über die Schweiz abgewickelt. Eine im Auftrag des Bundesamts für Umwelt durchgeführte Pilotstudie berechnete für das Jahr 2017 für 15 Rohstoffe gar einen Anteil von 42 Prozent.2 Bereits im 19. Jahrhundert hatte der Kleinstaat einen gigantischen Transithandel; er übertraf den Import und Export der Schweiz um ein Vielfaches. Als Vermittler zwischen Produzenten und Abnehmern in verschiedenen Weltregionen organisierten die Schweizer 8Handelsfirmen den Warenhandel völlig unabhängig von ihrem Domizilland. Sie lieferten japanische Seide, indische Baumwolle, westafrikanischen Kakao und zahlreiche andere Rohstoffe in alle Welt – nach Europa, Russland, Amerika und Asien. Hier lässt sich also über einen langen Zeitraum beobachten, was im ausgehenden 20. Jahrhundert allgemeine Praxis geworden ist: dass Unternehmen ihren Firmensitz und ihr Geschäft trennen.

Auf den ersten Blick scheint eine solche Trennung von Nachteil zu sein. Wenn das Management und der rechtliche Sitz einer Firma weit entfernt vom Einkauf und Verkauf der gehandelten Waren liegen, vervielfachen sich die Kontroll- und Übersetzungsprobleme. Man braucht Personal und Lagerhäuser im Ausland. Die Währungsrisiken und Zahlungsmodalitäten, ja die ganze Logistik werden komplizierter. Die multinationalen Unternehmensstrukturen hatten aber auch Vorteile. Unter sich verändernden rechtlichen, technologischen und geopolitischen Bedingungen entstanden gerade im stark mit der Weltwirtschaft verflochtenen Kleinstaat immer wieder ideale Bedingungen für ein kapitalintensives Geschäft im Weltmaßstab. Die Schweiz war nicht nur eine Globalisierungsgewinnerin im Kräftespiel der Großmächte. Sie war ein Motor der weltwirtschaftlichen Expansion. Und sie ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Geld- und Warenströme dieser Welt nicht parallel verlaufen.

Auch beim von nationalstaatlichen Interessen völlig losgelösten globalen Warenhandel waren die wirtschaftlichen Verhältnisse immer politisch bedingt. Um einen vorteilhaften Rechtsrahmen zu schaffen, scheuten Regierung, Diplomaten, Kaufleute und Juristen weder Kosten noch Mühen. Als am 20. Dezember 1862 in Marseille der britische Dampfer Euxine in See stach, befand sich unter den 45 Passagieren auch eine Schweizer Delegation mit Reiseziel Yokohama. Ai9mé Humbert, der für die Mission verantwortliche Gesandte, hatte von der Regierung den Auftrag gefasst, für die Schweiz einen Freundschafts- und Handelsvertrag mit dem japanischen Kaiserreich abzuschließen – als siebtes Land nach einer Reihe von Großmächten.3 Die Japanmission müsse »mit namhaften Geschenken ausgerüstet auftreten«, hieß es vorab in einem Kreisschreiben an die Kantone. Für Bücher, Karten, Waffen, Kleider, Häuser- und Schiffsmodelle, Naturalien und Erzeugnisse »des schweizerischen Gewerbsfleißes« rechnete man mit einem Aufwand von 40 ‌000 Schweizer Franken, die Kosten für die ganze diplomatische Mission wurden mit 100 ‌000 Franken veranschlagt (teuerungsbereinigt wären das heute etwa 1,3 Millionen Franken oder 1,1 Millionen Euro).4 Drei plombierte Kisten wurden direkt nach Singapur verschifft. Den für den Kaiser bestimmten Chronomètre de marine hatten die Reisenden im Handgepäck dabei.5

Als Sekretär mit an Bord war der junge Kaufmann Caspar Brennwald; er gründete später in Yokohama mit einem Compagnon die Handelsfirma Siber & Brennwald. Der Delegierte Aimé Humbert, der mit diplomatischer Unterstützung Hollands die fast ein Jahr dauernden Verhandlungen mit dem Taikun und den japanischen Honoratioren führen würde, war seinerseits Sohn eines Uhrmachers aus La Chaux-de-Fonds und Mitglied der staatsgesinnten Radikalen Partei, er saß im Ständerat (der kleinen Kammer des Parlaments) und war Präsident des Uhren-Exportverbands Union Horlogère. Humbert war überzeugt, dass man die staatlichen Institutionen den wirtschaftlichen Interessen anpassen müsse und nicht umgekehrt. Die Bestimmungen in Artikel 41 der Schweizer Bundesverfassung, die festlegten, dass bei Abschluss von Verträgen mit nichtchristlichen Staaten den Vertragspartnern nicht volles Gegenrecht in Bezug auf die Niederlassung eingeräumt 10werden könne (eine Einschränkung, an der ein Handelsvertrag mit Persien gescheitert war), seien obsolet und gehörten abgeschafft. In Bezug auf Japan seien sie ohnehin »gänzlich ohne praktische Bedeutung, da voraussichtlich niemals Japanesen sich in der Schweiz niederlassen werden«.6

Japan, das seine Grenzen nach Jahrhunderten der Isolation auf militärischen Druck der USA zögerlich öffnete, erlaubte seinen Vertragspartnern die Eröffnung von Handels-Comptoirs in den Hafenstädten. Alle anderen blieben vom japanischen Markt ausgeschlossen oder mussten ihre Interessen von einer akkreditierten Firma vertreten lassen. Es war die Zeit der »ungleichen Verträge«, wie sie später genannt wurden, da die Beamten des Shōgunats den westlichen Großmächten mit Blick auf die drohende Kulisse amerikanischer Kriegsschiffe in der Bucht von Edo (dem heutigen Tokio) eine Reihe von Sonderrechten einräumten. So unterstanden die Ausländer nicht japanischem Recht, sondern der Gerichtsbarkeit ihrer Konsulate, sie profitieren von niedrigen Importzöllen, und sie erhielten das Recht, in Japan zu missionieren, ohne dass entsprechende Gegenrechte eingeräumt worden wären.

Humbert, der die große Bedeutung der japanischen Handelskonzessionen erkannte, hatte deshalb an einer beratenden Sitzung im Dezember 1860 für ein Engagement des jungen Schweizer Bundesstaates in Fernost plädiert. »Japan ist nämlich ein an einer Menge werthvoller Produkte sehr reiches Land«, hatte er argumentiert. »Edle und unedle Metalle (namentlich Silber und Kupfer), Steinkohlen, Thee, Seide, Häute, etc. etc. bilden seine hauptsächlichsten Ausfuhrartikel; dann liefert es einige Fabrikate, z. ‌B. Lakwaaren, Porzellan, usf., die für Europa passen.« Zuweilen fänden dort sogar europäische Industrieprodukte einen Markt, der in Zukunft noch »einer außerordentlichen Ausdehnung« fähig sei. Wegen des großen kulturellen Unterschieds zwischen Japan 11und Europa deckten die Europäer in Japan ihren Lebensbedarf zum Teil mit Waren aus China, zum Teil sogar aus Europa, »an welche Verhältnisse sich dann wieder, wie überhaupt in ganz Ost-Asien, ein lebhaftes Handelsgeschäft knüpft«.7

Was Humbert 1860 skizzierte, war eine rigorose Umgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zuvor relativ kleinräumig organisierte wirtschaftliche Netzwerke zunehmend in einen globalen Warenhandel integriert. Die Levante, Afrika, Indien, Japan und Südostasien wurden Absatzmärkte für europäische Industrieprodukte. Und wo Schiffe beladen mit Textilien, Papier, Tapeten, Uhren, Werkzeugen, Metallwaren und Maschinen hinfuhren, kamen sie bald mit Rohstoffen zurück – mit Edelmetallen, Baumwolle, Wolle, Seide, Kautschuk, Palmöl, Grafit, Kakaobohnen, Getreide, Saaten, Tee und Kaffee. Ein neuer Begriff kam auf: die »internationale Arbeitsteilung«.

Politische und wirtschaftliche Räume

Dass industrialisierte Länder durch Tausch ihrer Fabrikate auf dem Weltmarkt in den Besitz von Rohstoffen aus nichtindustrialisierten Ländern kommen sollten (und umgekehrt), dass dieser Gütertausch der natürlichen Disposition der verschiedenen Völker entspreche, und dass der freie Warenhandel dem Wohl aller diene, darüber herrschte im 19. Jahrhundert weitgehend Konsens. Die »internationale Arbeitsteilung« sei die »nothwendige Voraussetzung unserer heutigen Weltcultur«, hieß es etwa beim deutschen Verein für Socialpolitik.8 Auch aufseiten der Industriellen fand man: »Je rascher und vollkommener ein Staat sich in diese internationale Arbeitsteilung hineinfügt, […] desto vorteilhafter wird sich 12der internationale Wirtschaftsverkehr für ihn gestalten, desto grösser wird seine wirtschaftliche Übermacht in der Weltwirtschaft werden.«9 Der Austausch von Rohstoffen und Gütern ermögliche ein Wohlstand generierendes System gegenseitiger Abhängigkeit, oder wie der deutsche Wirtschaftstheoretiker Friedrich List schrieb: »Aus dem Tausch von Manufacturproducten der gemäßigten gegen die Agriculturproducte der heißen Zone (Colonialwaaren) entsteht hauptsächlich die kosmopolitische Theilung der Arbeit und Kräfte-Conföderation, der großartige internationale Handel.«10

Differenzen gab es nur bei der Wirtschaftspolitik. Adam Smith, der Doyen der klassischen Nationalökonomie, hatte argumentiert, dass sich ein Land von vornherein auf die Herstellung jener Güter beschränken soll, die es am besten und günstigsten produzieren kann, und jene Güter importieren soll, die in anderen Ländern am günstigsten hergestellt werden. Einfuhrzölle und Ausfuhrprämien behinderten nach seinem Verständnis eine wohlstandsfördernde Arbeitsteilung und schadeten nicht nur dem Land mit einem Exportüberschuss, sondern auch jenem mit einem Importüberschuss.11 Das Geschäftskapital eines Landes suche sich »sozusagen von selbst den Einsatz, der am vorteilhaftesten für das Land ist«.12

Friedrich List hingegen argumentierte 1841, Schutzzölle seien durchaus legitim, bis die Industrialisierung in einem Land derart fortgeschritten sei, dass die Güterproduktion im freien Spiel der Kräfte mit der Industrie hochentwickelter Länder konkurrieren könne. Er wehrte sich gegen den »Kosmopolitismus« britischer Prägung und forderte eine lenkend eingreifende Wirtschafts- und Zollpolitik.13 Schutzzölle verteuerten zwar zu Beginn die Industriegüter, im Laufe der Zeit ermöglichten sie allerdings den Aufbau einer funktionierenden inländischen Industrie.14 Der Vorsprung, den Eng13land in Industrie und Handel erlangt habe, dürfe keine »durch geeigneten Territorialbesitz, Nationalkraft und Intelligenz zur Manufacturproduction berufene Nation« davon abschrecken, die »Manufactur-Suprematie« Englands in die Schranken zu weisen.15

List hatte mit dem Recht auf Schutz und Förderung der inländischen Industrie selbstredend die nachholenden westlichen Nationalstaaten im Sinn und nicht etwa die Länder der südlichen Hemisphäre. Länder, die agrarische Rohstoffe exportierten, standen für ihn auf der untersten Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung. Durch Ausfuhr von Rohstoffen könne eine arme Nation wohl »im Anfang der Civilisation« ihren Ackerbau heben, »aber noch nie hat sich dadurch eine große Nation zu Reichthum, Civilisation und Macht erhoben«, hielt er fest. Umgekehrt sei gerade der Rohstoffimport aber zentral für den Fortschritt der Industrienationen: Rohstoffe dienten nicht bloß als »Productivstoffe oder Nahrungsstoffe«, sondern hauptsächlich auch als »Reizmittel« für die industrielle Produktion.16 Sie waren also, in Lists Verständnis, nicht nur eine materielle Voraussetzung, sondern gleichsam der Motor für technologische Innovation.

Während die Wirtschaftspolitik Gegenstand kontroverser Theorien war, sah man die »internationale Arbeitsteilung« als naturgegeben an. Jedes Volk setze sein »Naturkapital« selbstverständlich da ein, wo es angesichts der Umstände günstig sei, schrieb ein deutscher Kulturhistoriker 1856.17 Man war sich zwar uneinig, inwiefern der globale Gütertausch nach dem Prinzip des Freihandels organisiert werden sollte oder wie stark die einzelnen Nationen ihren Import und Export durch Zölle und Begünstigungen regulieren sollten, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Klar war hingegen, dass einem Land, das aufgrund seiner natürlichen Ausstattung nur Rohstoffe exportierte, keine Schutzmaßnahmen 14zugestanden wurden. Im Gegenteil: Viele dieser Länder wurden im Zuge des europäischen Imperialismus mit Waffengewalt »unter Schutz« gestellt.

England verwaltete Ende des 19. Jahrhunderts den indischen Subkontinent, Ceylon (heute Sri Lanka), Hongkong, Malaysia und Singapur – hinzu kam eine Reihe von Protektoraten. Die Holländer besaßen Niederländisch-Indien (Indonesien), Frankreich kontrollierte Vietnam, Kambodscha und Laos. Im Winter 1884/85 fand in Berlin auf Einladung von Reichskanzler Otto von Bismarck die Kongokonferenz statt. Die Kongoakte, das Schlussdokument der Konferenz, war die Grundlage für die europäische Kolonisierung Afrikas. Sie hielt unter anderem fest, dass nur jene Macht das Recht auf Erwerb einer Kolonie habe, die diese dann auch tatsächlich in Besitz nehme. Dem kamen die imperialen Mächte lückenlos nach: Zwischen 1885 und 1914 wurde fast der gesamte afrikanische Kontinent unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt.18 In Asien verfolgte auch Japan, das sich nach seiner wirtschaftlichen Öffnung Mitte des 19. Jahrhunderts schnell industrialisierte, eine imperialistische Politik. 1895 nahm es Formosa (heute Taiwan) in Besitz, 1910 annektierte es Korea, 1931 besetzte es die Mandschurei, und während des Zweiten Weltkrieges fielen Französisch-Indochina, Niederländisch-Indien, Malaysia, Singapur, Borneo, Hongkong, die Philippinen und zahlreiche Inselgruppen im Pazifik unter japanische Herrschaft.19

Das Paradox des Imperialismus des 19. Jahrhunderts liegt darin, dass der Nord-Süd-Handel als naturgegeben angesehen und gleichzeitig mit aller zur Verfügung stehenden Technik-, Finanz- und Staatsgewalt überhaupt erst hergestellt wurde. Der damals erfundene und bis heute gängige Begriff der »internationalen Arbeitsteilung« täuscht darüber hinweg, dass der globale Güteraustausch nie in einem koor15dinativen Sinn arbeitsteilig organisiert war, und schon gar nicht zwischen souveränen Nationen. Auch und gerade eine dezidierte Freihandelsnation wie England strebte nach einer umfassenden Kontrolle über die »internationale Arbeitsteilung«. Es gehöre zu Englands Staatsmaximen, so List, »die Versorgung der Colonien und unterworfener Länder mit Manufacturwaaren dem Mutterlande ausschließlich vorzubehalten, dagegen aber denselben ihre Rohstoffe und besonders ihre Colonial-Producte vorzugsweise abzunehmen«.20

Die imperialen Mächte Europas beeilten sich, dem englischen Beispiel zu folgen. Ein deutscher Afrikaforscher schrieb 1892, Deutschland habe bisher vor allem zur Erweiterung der geografischen Kenntnisse fremder Erdteile beigetragen, »während England es sich angelegen sein ließ, ein Stückchen herrenloser Erde nach dem andern als Kolonie in Besitz zu nehmen«. England investiere seine überschüssigen Kapitalien in seinen überseeischen Gebieten und ziehe jährlich etwa »eine Milliarde Zinsen« daraus. Ganz Europa versorge es mit Rohstoffen von dorther. Deutschland hingegen gingen durch Auswanderung »ungeheure Summen an Kapital und Arbeitskraft unwiederbringlich ans Ausland verloren«. Lange habe es gedauert, ehe man zu der Überzeugung gelangt sei, »dass das einzige Mittel zur Erhaltung derselben in Erwerbung von Kolonien bestand«.21

Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren, wie der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel schreibt, das »Schwellenjahrzehnt« der globalen Neuordnung. Immer mehr europäische und nordamerikanische Großunternehmen erschlossen ausländische Märkte, und es fand in großem Stil ein Kapitalexport nach Übersee statt. Die Durchsetzung von Dampfschiffen im Hochseeverkehr und die telegrafische Verkabelung aller Kontinente verursachten einen »Verdich16tungssprung« der Weltwirtschaft.22 Schiffe stellten als »Go-Betweens« die globalisierte Welt durch Mobilisierung von Waren, Wissen und Menschen erst her.23 Mit Schiffen verlegte man auch die ersten Telegrafenkabel im Meer. Und die Telegrafie wiederum war, dem Historiker Roland Wenzlhuemer zufolge, ebenso sehr ein Instrument imperialer Kontrolle, wie sie den Handel beförderte und es den Briten ermöglichte, zuvor schwer zugängliche Regionen für den Export von Waren und Kapital zu erschließen. »In einem imperialen Setting ist es fast unmöglich, zwischen territorialen und ökonomischen Interessen, zwischen administrativen und finanziellen Absichten zu unterscheiden.«24

Das ist die Kontrastfolie, sozusagen der wirtschaftspolitische und geistesgeschichtliche Resonanzraum dieses Buches: Das große Ziel der imperialistischen Staaten war es, den politischen und den ökonomischen Raum in Übereinstimmung zu bringen. Die »internationale Arbeitsteilung«, also der globale Austausch von Rohstoffen, Industrieprodukten, Kapitalinvestitionen und Zinsen, sollte so weit wie möglich staatlich kontrolliert werden. Staatsmacht und Wirtschaft waren direkt aufeinander bezogen, Kapitalismus und Imperialismus gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine enge, reziproke Verbindung ein. »Indem wir die kapitalistischen Motive des modernen Imperialismus uns vergegenwärtigen, bestimmen wir gleichzeitig die Bedeutung des Imperialismus für die Entwicklung des Hochkapitalismus«, schrieb Werner Sombart 1927. Man habe damals die Idee einer »freischwebenden Konkurrenz von Einzelwirtschaften« aufgegeben zugunsten einer starken Staatsgewalt – nicht nur im Inneren, sondern vor allem auch »im Verkehr mit dem Auslande«, wo der Staat erst zu seiner »formidablen Größe« erwachsen sei.25

Etwas ging allerdings sowohl beim kolonialistischen Pro17jekt als auch in der Historiografie über den New Imperialism gern vergessen: Nicht Staaten handeln mit Waren, sondern Unternehmen. Nicht Länder exportieren oder importieren Waren, sondern Handelshäuser. Und diese Handelshäuser hatten zwar irgendwo ihren Firmensitz; niemand schrieb ihnen allerdings vor, ausschließlich oder bevorzugt den eigenen Heimmarkt zu beliefern. Auf der Ebene der wirtschaftlichen Akteure erweist sich die »internationale Arbeitsteilung« als viel fragmentierter und komplexer, als die Geschichte des europäischen Imperialismus suggeriert. Dass die größtmögliche Kongruenz von wirtschaftlichem und politischem Raum von Vorteil – ja gar die unabdingbare Voraussetzung – für wirtschaftlichen Erfolg sei, war eine Illusion; wenn auch eine Illusion mit weitreichenden sozialen und politischen Folgen.

Kaufleute, Zwischenhändler, Reeder, Bankiers, Börsenmakler, Lageristen, Diplomaten und Analysten: Sie waren die Architekten der »internationalen Arbeitsteilung«. Sie reisten in die Ferne, investierten Kapital, kauften Waren, verschifften sie und verkauften sie in einer anderen Ecke der Welt wieder – nach Möglichkeit mit Profit. »Letztlich basiert der Kapitalismus nicht nur auf Institutionen und Regeln, und auf Machtverhältnissen, sondern auch auf Kapitalisten«, so der Wirtschaftshistoriker Patrick Fridenson.26 Diese kaufmännischen Unternehmer agierten nicht immer entlang imperialer Strukturen. Die neuen Formen territorialer Macht über Ressourcen, die in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts aufkamen, wirkten nicht exkludierend. Wenn die Kongruenz von politischem und ökonomischem Raum ein Vorteil war, dann konnte dieser Vorteil nicht konsequent nationalisiert werden, das heißt, er kam allen zugute, die sich privat an der wirtschaftlichen Expansion beteiligten. Um diese Protagonisten ausfindig zu machen, reicht es nicht, 18den Armeen, den Schiffen und den Warenströmen zu folgen. Man muss auch dem Kapital folgen.

Follow the money

Zahlreiche im globalen Handel tätige Handelsfirmen waren nicht Importeure oder Exporteure, sondern Zwischenhändler. Domiziliert in Drittstaaten, betrieben sie Welthandel im wahrsten Sinn des Wortes: Sie vermittelten Waren zwischen entfernten Märkten. Um staatliche Grenzen kümmerten sie sich wenig oder besser gesagt: Die Grenzüberschreitung war Kern ihres Geschäfts.

Transithandel (merchanting trade) ist sozusagen die höchste Steigerungsform einer globalisierten kapitalistischen Wirtschaft.27 Völlig losgelöst von nationalen Interessen und mit einem Minimum an personellem Aufwand am Hauptsitz wurden und werden in aller Welt Geschäfte abgewickelt. Transithandel ist internationaler Zwischenhandel, das heißt Ein- und Ausfuhr zwischen verschiedenen Ländern durch Dritte, oder wie es ein Betriebswirtschaftler formulierte: Der Transithandelsbetrieb »schaltet sich in den Warenverkehr zweier fremder Volkswirtschaften ein bzw. stellt durch seine Aktivität eine vorher nicht existente Marktverbindung zwischen dritten Volkswirtschaften her«.28 Beim Transithandel erhalten die Käufer die Ware direkt aus dem Ursprungsland, bezahlen sie aber an die Handelsfirma in einem Drittstaat, die sie ihrerseits beim Produzenten bereits bezahlt hat. Waren und Kapital nehmen also unterschiedliche Wege: die Waren den direkten, das Geld den triangulären. Aus Sicht des Landes, in dem solche Handelsfirmen ihren Sitz haben, handelt es sich dabei um einen Dienstleistungsexport.

Die Schweiz ist ein Paradebeispiel einer mächtigen Dienst19leistungsnation in diesem Sinn. Als kleines Land im Herzen Europas, das über keine nennenswerten Rohstoffvorkommen verfügt, keinen direkten Zugang zum Meer hat, nie eigene Kolonien besaß und nie eine imperialistische Politik verfolgte, wies sie bereits im 19. Jahrhundert einen bedeutenden Zwischenhandel auf und wurde an der Wende ins 21. Jahrhundert zur weltweit größten Drehscheibe des globalen Rohstoffhandels. Das Domizil des Stammhauses einer Transithandelsfirma sei für den Transithandel »an sich unwesentlich«, hieß es 1947 im Handbuch des Bank-, Geld- und Börsenwesens der Schweiz. Es habe sich aber gezeigt, dass die Schweiz zu den Staaten gehöre, die sich »für den Sitz von Transithandelsfirmen eignen«.29 Für das Warengeschäft mochte der Sitz der Firma an sich unwesentlich sein. Für den Zahlungsverkehr und die ganze Organisation des Geschäfts spielte er aber, wie wir sehen werden, eine nicht unerhebliche Rolle.

Beim Transithandel kommen die Waren nicht in das Land, in dem der Transithändler seinen Sitz hat, Transithandel ist also zu unterscheiden von der Wiederausfuhr (dem Re-Export). »Die Rohstoffe werden über die Welthandelsplätze London, Amsterdam, Hamburg, Bremen, Antwerpen, Genua, Triest gehandelt und lediglich der Kopf dieser Unternehmen ist schweizerisch«, schrieben die Transithändler 1938 erklärend ans Handelsregister in Bern. »Ihre Ware transitiert nicht durch die Schweiz, sondern ihre Ware wird im Welthandel verschifft und verkauft.«30 Ein Wirtschaftshistoriker formulierte es so: Schweizerische Transithandelsfirmen »kaufen in den Ländern A, B, C usw. und verkaufen in den Ländern X, Y, Z. Ihre Ware transitiert beispielsweise von Indien nach England, Deutschland usw., während der Ertrag zum größten Teil der Schweiz zufließt.«31 Der Transithändler bemüht sich folglich auch nicht wie der Importeur um die Beschaffung von Rohwaren für die heimische Industrie. »Dem 20Transithandel ist der Handel weit mehr Selbstzweck«, hielt ein Staatswissenschaftler 1958 fest. »Dank seiner Organisation ist dieser Handelszweig befähigt, die Nachfrage- und Angebotssituation außerhalb seines Domizillandes zu übersehen und gewinnbringend auszunützen. Er kann auf weltweiter Basis als Transmission der Vorteile nationaler Spezialisierung und internationaler Arbeitsteilung wirken.«32

Für die Schweiz handelte es sich also um eine rein statistische Durchfuhr, wobei die Statistik, die diese Art von Handel hätte messen können, lange Zeit nicht existierte und bis heute schwer zu erstellen ist. Da die Waren beim internationalen Zwischenhandel nie in das Domizilland der Handelsfirma kommen, werden sie dort zollrechtlich auch nicht erfasst. Dienstleistungen blieben in den Außenhandelsstatistiken unsichtbar, man ist für Zahlen auf die Selbstdeklaration der Firmen angewiesen. Bis in die Nachkriegsjahre hat man sich nicht einmal dafür interessiert bzw. es gab keine Grundlage für eine systematische Erhebung. Die Schweizerische Nationalbank erstellt erst seit 1947 eine Leistungsbilanz.33

Erste Zahlen zum Transithandel liegen dennoch bereits aus der Zwischenkriegszeit vor. 1934 führte Fritz Mangold, Professor für Statistik an der Universität Basel und Leiter des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs, eine systematische Umfrage unter den Schweizer Transithandelsfirmen durch. Es war eine Auftragsarbeit der Branche selbst: Mit der Enquête Mangold wollten die Firmen im Kontext der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise auf ihre prekäre Lage aufmerksam machen. Mangold wies auf die große Wissenslücke hin, die sich um diesen Wirtschaftszweig auftat. »Es ist seltsam, dass der schweizerische Handel, welcher Art er auch sein mag, in allen wirtschaftswissenschaftlichen Darstellungen der Schweiz über der Landwirtschaft, der Industrie usw. 21vernachlässigt oder bloß in einer Erläuterung unseres Warenverkehrs mit dem Auslande abgetan wird.«34 Selbst in Julius Landmanns Die schweizerische Volkswirtschaft von 1925 fehle eine Darstellung des Handels. Die Betriebszählung von 1929 habe immerhin zwischen Groß- und Kleinhandel unterschieden. Es gebe allerdings eine Form des Großhandels, die auch die Betriebszählung nicht erfasst habe: den Transithandel.

In mühsamer Kleinarbeit förderte Mangold ein gigantisches Geschäft zutage. Aufgrund der ausgefüllten Fragebogen berechnete er für das Börsencrash-Jahr 1929 Erträge aus dem Transithandel von 39,7 Millionen Franken und für 1930 noch von 34 Millionen Franken (ein Franken entspricht heute etwa 88 Cent). In den Jahren 1924 bis 1928 seien die Erträge wesentlich höher gewesen. Man müsse natürlich berücksichtigen, dass die Firmen selbst ihm die Daten über ihren Betrieb ausgehändigt hätten. Direkte Einsicht in die Geschäftsbücher hatte Mangold nicht. Aber selbst wenn die errechneten und geschätzten Beträge um einige Millionen heruntergesetzt würden, verblieben Aktivsaldi, »von denen weder Dr. [Traugott] Geering noch die übrigen Herren, die Zahlungsbilanzen für die Schweiz aufgestellt haben, eine Ahnung hatten«.35 Die Branche müsse den Vergleich mit anderen Erwerbszweigen nicht scheuen. An die Zahlungsbilanz lieferten der Verkehr mit elektrischer Energie 21 Millionen, das Versicherungsgeschäft 22 Millionen, die internationalen Transporte 30 Millionen, der Veredelungsverkehr 37 Millionen, und nur das Bankengeschäft gleich viel wie der Transithandel: 40 Millionen Franken.36

Im Jahr 1929 hatten 56 befragte Transithandelsfirmen insgesamt 157 Millionen Franken Eigenkapital investiert (im Vergleich: die Seidenindustrie 123 Millionen, die Uhrenindustrie 117 Millionen). Den übrigen Kapitalbedarf deckten 22die Firmen mit Bankkrediten, in erster Linie mit Rembourskrediten zur Rohstofffinanzierung (also Wechselkrediten mit Warenbelehnung).37 Die Bankumsätze von 53 befragten Firmen lagen 1929 bei über einer Milliarde Franken und 1930 noch bei 963 Millionen, wobei diese Zahlen, wie Mangold betonte, Minima darstellten und infolge sinkender Rohstoffpreise und der Abnahme des Handels im Vergleich zu früheren Jahren »sehr stark« abfielen.38 Für das Jahr 1929 berechnete er für 58 Firmen einen Bruttoumsatz von 984 Millionen Franken; für 1930 noch 872 Millionen Franken. Teuerungsbereinigt wären das heute etwa 6,2 (1929) bzw. 5,6 Milliarden Franken (1930). In den Jahren vor dem Börsencrash seien die Umsätze deutlich höher gewesen. »Nach Mitteilungen einzelner Firmen müssten für die vorhergehenden Jahre mindestens 450 Millionen Franken zugezählt werden […]. Darnach würden die Bruttoumsätze in den Jahren 1923-1929 um 1,3-1,4 Milliarden Franken betragen haben, und die Ausgaben wären demzufolge auch wesentlich größer gewesen.«39 Teuerungsbereinigt ist man dann bei etwa neun Milliarden Franken pro Jahr.

Der Ökonom Emil Gsell, der 1955 die nächste Erhebung unter Transithändlern durchführte, veröffentlichte keine Angaben zu den Einnahmen – die man nun lieber verschwieg – und bezifferte nur den Umsatz der Branche: Er betrug damals hochgerechnet rund fünf Milliarden Franken, gleich viel wie der Umsatz der gesamten Exportindustrie.40 Zwischen 1947 und 1989 stiegen die Einnahmen aus dem Transithandel um den Faktor zehn (wenn man der Zahlungsbilanz der Schweizerischen Nationalbank vertraut).41 Das große Wachstum kam nach der Jahrtausendwende: Zwischen 2001 und 2011 stiegen die Einnahmen von 1,2 Milliarden auf zwanzig Milliarden Franken. Im Gegensatz zum Finanzsektor setzte sich das Wachstum beim Transithandel auch nach der Finanzkri23se von 2008 fort, und 2010 überholte der Transithandel den Bankensektor bei den Einnahmen aus dem Dienstleistungsexport.42

Was nach einem kometenhaften Anstieg aus dem Nichts aussieht, dürfte in der Tat der zweite Teil einer U-Kurve sein. Um diesen Wirtschaftszweig zu verstehen, müsse man in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgehen, sagte Georges André, Inhaber der Lausanner Getreidehandelsfirma André & Cie., 1946 in einem Referat, »in diese glückliche Epoche des freien Waren-, Kapital- und Personenverkehrs«.43 Der schweizerische Transithandel wuchs zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg rasant, Schweizer Firmen gehörten damals international zu den Schwergewichten. Die Umsätze blieben auch in den zwanziger Jahren auf hohem Niveau. Erst mit der globalen Finanzkrise und den politischen Maßnahmen, mit denen man den Außenhandel in den frühen dreißiger Jahren gegen die Abwertung ausländischer Währungen abzusichern versuchte, sanken sie. Viele Firmen machten Verluste oder gingen gar Konkurs. Die Krise führte zu einem Rückgang des Transithandels in der Schweiz, wobei global aufgestellte Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit einfach zunehmend an ausländische Tochterfirmen delegierten. Auch die Kapitalverkehrskontrollen der Nachkriegszeit erschwerten das Geschäft, bis neue Institutionen wie die 1951 geschaffene Europäische Zahlungsunion zu einem erneuten Wachstum der Branche führten. Der von der Schweiz aus getätigte Transithandel stieg nun kontinuierlich, zunächst verhalten, nach dem Ende des Kalten Krieges und im Zeitalter des globalen Finanzkapitalismus dann exponentiell – ein Wachstum, das vor allem auf den Zuzug ausländischer Unternehmen zurückging.

Für viele Rohstoffe ist die Schweiz der größte Handelsplatz. Nach neuesten Berechnungen beträgt der Weltmarktanteil beim Rohöl 40 Prozent, beim Weizen ebenfalls 40 Pro24zent, beim Zucker 45 Prozent, beim Kaffee 55 Prozent und bei den Metallen 60 Prozent.44 Etwa 500 in der Schweiz niedergelassene Unternehmen sind im Rohstoffhandel tätig.45 Ein Börsengang ist für Handelsfirmen bis heute nicht zwingend erforderlich, solange Banken mit gewaltigen Summen ihr Geschäft finanzieren. Selbst die Genfer Firma Mercuria, die kleinste der fünf großen Schweizer Rohölhändler (Vitol, Glencore, Trafigura, Gunvor, Mercuria), benötigt Kreditlinien von über 50 Milliarden Dollar, an denen sich zahlreiche internationale Banken beteiligen.46

Der Nichtregierungsorganisation Public Eye (damals noch Erklärung von Bern) kommt das Verdienst zu, erstmals auf das gigantische Ausmaß dieses Sektors hingewiesen zu haben. Da sich verschiedene Rohstofffirmen nach der Finanzkrise auf den globalen Finanzmärkten kapitalisierten und in der Folge einen offiziellen Jahresbericht veröffentlichen mussten, konnte sie Zahlen ermitteln, die zuvor nicht greifbar waren. In Rohstoff: Das gefährlichste Geschäft der Schweiz nahm das Autorenkollektiv die Branche unter die Lupe und lancierte eine öffentliche Diskussion zu den Risiken, die mit der enormen Konzentration im Rohstoffsektor einhergehen.47 2012 widmete die Schweizerische Nationalbank dem Transithandel erstmals ein eigenes Kapitel in ihrem Jahresbericht zur Zahlungsbilanz und bestätigte das starke Wachstum nach der Jahrtausendwende. 2013 verfasste das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten, das Außenministerium der Schweiz, im Auftrag des Bundesrates einen Grundlagenbericht Rohstoffe. Der Grund für die bedeutende Stellung der Schweiz im weltweiten Rohstoffhandel, heißt es darin, sei in der »langen Tradition dieses Sektors hierzulande« sowie in einem »für Unternehmen aller Sektoren günstigen Umfeld« zu sehen.48 Beide Aussagen gilt es im Folgenden zu differenzieren.

25Bis Ende 2014 wurden die Einnahmen aus dem Transithandel gemäß den internationalen Richtlinien als »Einnahmen aus dem Export von Diensten« verbucht. Ab dem Berechnungsjahr 2015 passte die Schweizerische Nationalbank die Leistungsbilanz dem neuen Standard des Internationalen Währungsfonds (IWF) an und erfasst nun die Differenz aus Käufen und Verkäufen aus dem Transithandel als »Nettoausfuhr von Waren«. Die Anpassung zeugt vom Willen, tatsächlich zu erfassen, was von wem woher gekauft und wohin verkauft wird, den physisch nicht stattfindenden Transit also statistisch zu simulieren. Der Transithandel bleibt aber ein Dienstleistungsexport. Man misst also nicht Warenströme, sondern Gewinne und Verluste in der Schweiz domizilierter Unternehmen.

Historiografische Unsichtbarkeit

Angesichts der Primärfunktion des globalen Handels für die Industriemoderne sind wir erstaunlich schlecht über ihn informiert. Die Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde wirtschaftshistorisch vor allem mit Blick auf die industrielle Produktion untersucht. Es existiert eine umfangreiche Literatur über die großen Industrien, über Fabrikationsabläufe und administrative Routinen, die rechtliche und soziale Absicherung der Arbeiterschaft, das Zusammenspiel von Forschung und Entwicklung, die Automatisierung der Produktion und die Konjunkturen staatlicher Wirtschaftspolitik.49 Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Geschichte eher das Sichtbare als das Unsichtbare reflektiert. Sie habe sich, wie David Edgerton schreibt, mehr um die Arbeiter gekümmert, weniger um die bürgerliche Elite; mehr um die Fabriken, weniger um das Kapital.50 Wenn die Geschichte des globalen Handels 26untersucht wurde, dann vorwiegend für die Frühe Neuzeit. Ab dem 19. Jahrhundert scheint der Handel nicht mehr interessant gewesen zu sein, ganz als ob das Verschieben von Waren mit dem Ausbau des Transportwesens zum vernachlässigbaren Automatismus geworden wäre.

Über den globalen Transithandel wissen wir so gut wie nichts. Das ist insbesondere für die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, wo der Transithandel seit 150 Jahren zu den großen Wirtschaftszweigen gehört, bemerkenswert. Wenn der Schweizer Handel untersucht wurde, dann als Außenhandel. Die Außenhandelsstatistiken gehören in der Schweiz zu den wenigen lückenlos geführten nationalen Statistiken: Daten über den Import und Export gehen bis ins Jahr 1884 zurück. Offizielle Daten über andere Formen der internationalen Wirtschaftsverflechtung wurden erst viel später erhoben;51 entsprechend generierten sie auch kaum historische Untersuchungen.52 Das Referenzwerk für die Geschichte des Transithandels in der Schweiz ist bis heute Der schweizerische Grosshandel in Geschichte und Gegenwart von Isaak Iselin, Herbert Lüthy und Walter Schiess aus dem Jahr 1943.53

Außerhalb des Schweizer Kontexts stammen Untersuchungen zum globalen Handel vorwiegend aus der Geschichte des Imperialismus, aus der Theoriebildung zum Nord-Süd-Konflikt und aus der wirtschaftsgeografischen Forschung zu globalen Wertschöpfungsketten. Sie alle haben bei vielen Verdiensten allerdings auch strukturelle Defizite. Der imperialismuszentrierte Zugang bleibt in einem Narrativ verhaftet, das von den damaligen Akteuren zwar mit Verve vertreten wurde, das aber zu keiner Zeit mit den tatsächlichen Wirtschaftsverhältnissen übereinstimmte, und mit dem man insbesondere die Kontinuitäten über das imperiale Zeitalter hinaus verpasst.54 Ein Kleinstaat wie die Schweiz, in dem 27man nie auf eine Konvergenz zwischen wirtschaftlichem und politischem Raum hinarbeitete, rückt dabei gar nicht erst ins Blickfeld.

Auch Zentrum-Peripherie-Modelle sind kaum geeignet, den Dienstleistungsexport von Drittstaaten zu erfassen. Die Dependenztheorie verfestigte in den sechziger Jahren ein bipolares Modell, das die Welt analog zu den Theoretikern des 19. Jahrhunderts in Industriestaaten und rohstoffexportierende Länder einteilte, im Gegensatz zu diesen aber nicht mehr optimistisch davon ausging, dass die »internationale Arbeitsteilung« überall zu Wohlstandsgewinnen führe, solange jedes Land mit den Waren handelt, bei denen es einen komparativen Kostenvorteil hat, sondern darlegte, dass der Gütertausch langfristig zugunsten der Industrienationen ausfalle.55 Bei aller empirischen Evidenz wurden die Mängel der Dependenztheorie bald offensichtlich: Zahlreiche Industrienationen exportierten auch Rohstoffe oder exportierten zwar Industriegüter, wurden aber nicht reich damit, während es durchaus rohstoffexportierende Nationen gibt, die ihrerseits reich wurden. Institutionelle, politische und soziale Unterschiede wurden in der Dependenztheorie nivelliert.

Als Antwort auf diese Mängel lenkte man die Aufmerksamkeit in den achtziger und neunziger Jahren weg von den einzelnen Staaten und hin zu den konkreten Warenflüssen. Nicht mehr nationale Wirtschaften, die sich irgendwie zu einer globalen Wirtschaft zusammenfügen, standen nun im Fokus, sondern »Warenketten« oder »globale Wertschöpfungsketten«.56 Der von den beiden Sozialhistorikern Immanuel Wallerstein und Terence Hopkins entwickelte Commodity Chain Approach ist ein streng sequentielles Modell, bei dem Gewinne im Wertschöpfungsprozess zuverlässig von Orten an der Peripherie in die hochindustriali28sierten Zentren verschoben werden. Den zentralen Beobachtungsrahmen bilden die einzelnen »Knotenpunkte« einer Warenkette, die – so die Theorie – aufgrund von Kostenvorteilen an bestimmten Orten entstehen. Eine kompetitive Konkurrenz definiert die eigene Position im »Weltsystem« und implizit auch die Position aller anderen.57 Hopkins und Wallerstein sprachen von »Kette und Schuss« (warp and woof).58 Das Gewebe, das daraus entsteht, muss man sich höchst ungleichmäßig gewoben vorstellen: Zentren erlangen im Gegensatz zu Peripherien und Semiperipherien – die dritte Kategorie sollte die duale Dependenztheorie durchbrechen und erweitern – eine dauerhaft bessere Position im Welthandelssystem.

Allerdings hat auch der Commodity Chain Approach Nachteile. Der Blick auf die Warenketten verstellt den Blick auf die Kapitalströme, die nicht zwingend parallel zu diesen verlaufen. Die Warenkette und ihre Knotenpunkte stellt man sich zudem als angebots- oder nachfragegetrieben vor, womit man einem positivistischen Wirtschaftsverständnis huldigt. Und die Vorstellung eines kompetitiven Konkurrenzkampfes um Positionen geht davon aus, dass es das natürliche Ziel der Akteure sei, ihre Stellung zu verbessern (up- und downgrading innerhalb der Kette). Schließlich verkennt der systemtheoretische Zugang die nicht linearen und von zahlreichen nichtökonomischen Faktoren abhängigen Handlungskontexte der globalen Wirtschaft. Wallerstein, der sich an Karl Polanyi anlehnte, überging damit ein zentrales Motiv von Polanyis Wirtschaftstheorie, nämlich dessen Kritik an einem Abstrahieren (einer »Entbettung«) der ökonomischen Strukturen von ihren sozialen und politischen Kontexten, was in der Vorstellung verselbständigter Marktmechanismen mündet.59

Obwohl Wallerstein und Hopkins betonen, dass das inter29state system der »internationalen Arbeitsteilung« historisch gewachsen sei und aus zahlreichen Bausteinen bestehe, »einschließlich Diplomatie, die Vorschriften betreffend Exterritorialität, die Protokolle, in denen zwischenstaatliche Rahmenabkommen ausgestaltet werden, und die zahlreichen staatenübergreifenden Institutionen«, interessieren sie sich nicht primär dafür, sondern halten fest: »Vor allem aber ist das zwischenstaatliche System eine Matrix der gegenseitigen Anerkennung der (beschränkten) Souveränität aller Staaten, eine Struktur, die den Schwächeren (mehr oder weniger) von den Stärkeren aufgezwungen wird«.60 Wer »Macht hat«, diktiert gegen unten die Preise. Dienstleister in Drittstaaten kommen in diesem hegemonialen System nicht vor. »Dienstleistungen sind der missing link in der Forschung zu globalen Warenketten«, stellten die Ökonomin Eileen Rabach und die Soziologin Eun Mee Kim bereits 1994 fest.61

Erst wenn man nicht nur den Warenströmen, sondern auch den Kapitalströmen folgt, und wenn man die Rolle des Vermittlers in den Blick nimmt, der aus einem Drittstaat heraus globale Geschäfte tätigt, rückt ein gigantischer Sektor der globalen Wirtschaft in den Blick, der sonst unsichtbar bleibt: der Dienstleistungsexport. Mit statistischen Daten lässt sich der Transithandel historisch weder beziffern noch verstehen. Man kann jedoch Verfahren und die Beziehungen untersuchen, die ihm zugrunde liegen, und zwar nicht nur die Beziehungen nach außen, in die Welt, sondern auch die Beziehungen nach innen – zu politischen Entscheidungsträgern, zu Interessenverbänden und Juristen.

30Globale Schweiz – transnationale Geschichte

Sozial- und Wirtschaftshistoriker fokussieren seit Längerem auf die starke wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz. Was man heute small, open economy nennt, ist in Wirklichkeit ein expansives Unterfangen, »klein« mit Blick auf die Wirtschaft somit ein trügerischer Begriff.62 »Die schweizerischen Auslandskaufleute bilden fast überall einen nur quantitativ kleinen Kreis von sehr erheblichem wirtschaftlichem und sozialem Gewicht«, schrieb der Soziologe Richard Behrendt bereits 1932. In Ägypten und Indien stehe ein erheblicher Teil des Baumwollanbaus unter Schweizer Einfluss, in Argentinien die politisch bedeutsame Elektrizitätsindustrie, und auch andernorts sei der Einfluss von Schweizern beachtenswert – »zwischen der Skylla des nordamerikanischen und der Charybdis des englischen Imperialismus bietet sich hier die enge, aber solide Insel der schweizerischen politischen Indifferenz«.63

Entsprechend den Berechnungen des Wirtschaftshistorikers Paul Bairoch hatte zwischen 1913 und 1938 kein Land der Welt einen höheren Kapitalexport pro Kopf als die Schweiz.64 In der Gesamtsumme war das Auslandskapital zwar geringer als dasjenige von Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA,65 aber die Schweiz mischte als Wirtschaftsmacht bei den Großen mit. Einen Grundstein dafür legte der Handel mit dem umliegenden Europa seit der Frühen Neuzeit. Kapital aus diesem Handel wurde im späten 18. Jahrhundert in die Gründung von Industriebetrieben investiert, was zu einer starken Außenhandelsverflechtung führte, vorab mit Luxusprodukten im Textilbereich. Während der napoleonischen Kriege verboten Frankreich und später auch Italien die Einfuhr von Baumwollgewebe aus der Schweiz. Da sich die Schweizer Industriellen nicht auf 31einen genügend großen Heimmarkt abstützen konnten, blieb ihnen nur das Erschließen neuer Märkte in Übersee.

Entfernte Absatzmärkte spielten also eine entscheidende Rolle für die frühe Industrialisierung der Schweiz.66 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts absorbierten Länder des globalen Südens ein Drittel der Schweizer Exporte. Die Schweiz sei, so die Historiker Thomas David und Bouda Etemad, »vielleicht das einzige Land der ›entwickelten Welt‹, welches seine industrielle Revolution erfolgreich verwirklicht hat, indem es sich auf ferne Absatzmärkte stützte«.67 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging der Export nach Übersee (also in Länder, die man später »Dritte Welt« nennen würde) zwar etwas zurück, und im 20. Jahrhundert oszillierte er noch zwischen 8 und 22 Prozent. Die Schweiz blieb aber pro Kopf der Bevölkerung weltweit an der Spitze beim Export von Industriegütern in den globalen Süden und übertraf damit sämtliche Kolonialmächte.68

Zu diesem Güterexport kam ein namhafter Kapitalexport hinzu. In kein anderes Land des globalen Südens investierte die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg so viel wie in den belgischen Kongo: von 1945 bis 1967 insgesamt 240 Millionen Franken in fest verzinste Staatsanleihen. Anleihen hatte die Schweiz auch in den niederländischen Antillen (63,9 Millionen), in Argentinien (30,5 Millionen), Peru (97,4 Millionen), Portugal (26 Millionen) und Spanien (39 Millionen). Zahlreiche sogenannte »Entwicklungsländer« hatten zudem bei Schweizer Banken Kredite aufgenommen und zahlten für dieses Kapital jährliche Zinsen von bedeutendem Ausmaß.69

Richard Behrendt sprach 1932 angesichts der enormen wirtschaftlichen Verflechtung von einem Schweizer Imperialismus.70 Auch der Politologe Roland Ruffieux argumentierte 1983, die internationalen Beziehungen der Schweiz seien von einem ökonomischen Imperialismus geprägt ge32wesen – er sprach von einem »colonialisme oblique« (einem quer verlaufenden Kolonialismus) privater Investoren und Financiers.71 Andere sprachen von einem »sekundären Imperialismus«, einem »Business-Imperialismus« oder einem »impérialisme feutré« (einem gedämpften Imperialismus). Thomas David und Bouda Etemad haben vorgeschlagen, von »wirtschaftlichem Opportunismus« zu sprechen.72 Das Ringen um einen adäquaten Begriff steht symptomatisch für die Erkenntnis, dass die Schweiz auf wirtschaftlicher Ebene auf eine Weise mit der Welt verflochten war, die weit über eine Imprägnierung mit kolonialistischem Gedankengut und eine Beteiligung an den imperialistischen Manövern der Großmächte hinausging.73

Staatliche Akteure und zahlreiche Schweizer Unternehmer hatten handfeste Interessen in Übersee – sowohl in kolonialisierten wie auch in nichtkolonialisierten Ländern, und sowohl vor, während und nach dem Zeitalter des europäischen Imperialismus. Statt von einer »kolonialen« oder »postkolonialen Schweiz« zu sprechen (womit man vor allem auf kolonialistische Praktiken, Werte und Symbole zielt), oder von einem »schweizerischen Imperialismus« (was eine offizielle Machtpolitik suggeriert), geht es mir hier viel grundsätzlicher um das Verhältnis von politischen und ökonomischen Räumen. Gestützt auf die Institutionen und den Rechtsrahmen einer Nation tätigten Transithändler globale Geschäfte. Das bedeutet nicht, dass ihr Aktionsradius die ganze Welt abdeckte. Aber im Gegensatz zu Unternehmen, die vor allem in einem lokalen, regionalen oder nationalen Markt tätig sind, war und ist die Grenzüberschreitung eine Grundoperation ihres Geschäfts.

Der Transithandel lässt sich folglich nur mit einem transnationalen Zugang erfassen.74 Ist die Nation also einfach eine Art Zwischenstufe zwischen dem Regionalen und dem Glo33balen? Tatsächlich haben Historiker – mit Rückgriff auf Jacques Revels Begriff der jeux d'échelles (Skalenspiele) – von »nested scales« gesprochen, von ineinander verschachtelten Größenordnungen und einer Interdependenz zwischen lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Aspekten.75 Der englische Begriff ist allerdings etwas unglücklich, da er dazu verleitet, die einzelnen Ebenen als gefestigte Parameter anzusehen. Ein solches Babuschka-Prinzip widerspricht sowohl der Logik alltäglicher Erfahrung als auch der Vielschichtigkeit historischer Ereignisse. Es suggeriert eine Hierarchie zwischen den verschiedenen Stufen, dabei müsste man eher Relationen unterschiedlicher Reichweite untersuchen.76 Die Historikerin Patricia Clavin hat es so formuliert: Transnationale Geschichte ist die Geschichte von Menschen, die Verbindungen herstellen.77 Man müsste ergänzen: Sie ist die Geschichte von Menschen, die die Möglichkeitsbedingungen für das Herstellen von Verbindungen gestalten.

Wie ein Unternehmen, so ist auch eine Nation ein zu einem bestimmten Zeitpunkt installierter und kontinuierlich modifizierter Sinn-, Handlungs- und Rechtszusammenhang, der in einem bestimmten Verhältnis zu lokalen und transnationalen Entwicklungen steht. In vielen Hinsichten war der nationale Rahmen für die hier untersuchten Transithandelsfirmen irrelevant. In bestimmten Bereichen – und sie nehmen im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht ab, sondern zu – ist die Nation aber von Bedeutung, da hier die rechtlichen, steuertechnischen und außenpolitischen Rahmenbedingungen für global agierende Firmen geschaffen wurden. Die Soziologin Saskia Sassen schrieb 1999, eines der zentralen Merkmale der Rolle des Staates gegenüber der globalisierten Wirtschaft sei es, die Schnittstelle zwischen nationalem Recht und ausländischen Akteuren zu verhandeln, seien die34se nun Firmen, Märkte oder supranationale Organisationen. Das Resultat dieses Verhandelns nenne man gewöhnlich »Deregulierung« – ein problematischer Begriff, da er lediglich den Rückzug des Staates aus der Regulierung seiner Wirtschaft fasse, statt seine konkrete Gestaltungsmacht.78

Nicht einmal die neoliberalen Denker – darunter prominent die Mitglieder der von Friedrich August von Hayek 1947 ins Leben gerufenen Mont Pèlerin Society – hatten je vor, den Staat oder die gesellschaftlichen Regeln, auf denen alles Wirtschaften basiert, abzuschaffen. Die »Globalisten« (wie Quinn Slobodian sie nennt) wollten die Regeln in erster Linie umbauen. Nicht mehr Vollbeschäftigung war ihr Ziel, sondern Wachstum.79 Der Titel des Buches von Hayek, das die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den späten siebziger Jahren an einem Meeting der konservativen Partei mit den Worten »Das ist es, woran wir glauben!« auf den Tisch schlug, lautet bezeichnenderweise The Constitution of Liberty (dt.: Die Verfassung der Freiheit).80 Eine Verfassung ist ein verbindlicher Rechtsrahmen. Es ging um die Änderung des Rechtsrahmens, nicht um seine Abschaffung.

Die Idee einer »freien Wirtschaft«, die sich autonom entfalten würde, wenn man erst einmal alle politischen Interventionen einstellt, ist eine Chimäre.81 Mehr noch: »Die Wirtschaft« oder »der Markt« als abstrakte Sphären existieren nicht.82 Auch in ihrer freisten Form war die kapitalistische Wirtschaft immer ein präkonfigurierter, organisierter Raum. Das gilt für die Globalisierungsphase ab 1880 und den europäischen Imperialismus genauso wie für den Protektionismus der Zwischenkriegszeit, den Multilateralismus der Nachkriegszeit und den Finanzkapitalismus des späten 20. Jahrhunderts. Es ist schwer zu entscheiden, wie viel »Markt« und wie viel »Politik« in einem Geschenk an den japanischen Kaiser, einem bilateralen Handelsvertrag, einem 35Obligationenrecht, einem Bankkredit, einer Schürfkonzession oder einem Steuerprivileg vorhanden sind. Die Vermutung, die diesem Buch zugrunde liegt, lautet: Es ist mehr Politik – und das heißt: mehr aktive Gestaltung –, als wir gemeinhin annehmen.

Nicht nur Handelsrestriktionen, Kontingente und Kapitalverkehrskontrollen, sondern auch ein weitgehend ungehinderter Transfer von Waren und Kapital basieren auf juristischen und technologischen Instrumenten und auf einem erfinderischen politischen Handeln, das diese Möglichkeit erst installiert hat. Die Veränderungen im globalen Handel betreffen also weniger die Frage nach der »Reinheit« des Marktes – die Frage, wie »frei« der Markt spielte oder wie stark er politisch reguliert und eingeschränkt wurde –, sondern die Frage, welche spezifische Form der organisierte Kapitalismus im Zusammenspiel von privaten Beziehungen, gesetzlichen Bestimmungen, technologischen Verfahren, asymmetrischer Information und geopolitischen Umwälzungen zu unterschiedlichen Zeiten angenommen hat.

In einer global verflochtenen Weltwirtschaft betreibt jede Nation mit ihrem Rechtskanon und ihrer Außenpolitik auch Wirtschaftspolitik und umgekehrt. Untersucht man diesen Prozess nicht als »Deregulierung«, sondern als fortlaufende Regulierung einer Schnittstelle, lohnt es sich, eine Langzeitperspektive einzunehmen. Die Nation erscheint dann nicht mehr als gefestigter Container, sondern eher als eine Art Prozessor, der – von den Beteiligten immer wieder neu »programmiert« – fortlaufend die nationalen Rahmenbedingungen für die transnationalen Kapitalströme definiert.

Der Staat, diese »kollektive Fiktion«,83 ist also keine stabile Voraussetzung. Er ist der abstrakte Begriff für das Zusammenspiel unterschiedlicher politischer Kräftefelder, für die Summe der Handlungen von Funktionsträgern, die in sei36nem Namen agieren und damit auch den Möglichkeitsraum für wirtschaftliches Handeln definieren. Konkrete Akteure trafen in konkreten Situationen Entscheidungen. Sie waren die Schöpfer globaler Waren- und Finanzströme und gleichzeitig ihrerseits ein Produkt der gesellschaftlichen und geopolitischen Konstellationen, innerhalb derer sie agierten. Es gilt, und das ist eine der großen Schwierigkeiten der historischen Forschung, den zeitgenössischen Protagonisten weder zu viel noch zu wenig Gestaltungsmacht zuzutrauen.

Die Geschichte nicht rückwärts schreiben

Geschichte ist, nach Aristoteles, eine Erzählung darüber, was Menschen getan und erlitten haben. Isaiah Berlin verallgemeinerte das einmal radikal: Geschichte ist, was Historiker tun.84 Historische Ereignisse existieren nie und für niemanden unmittelbar, das heißt, es gibt keine singulären, isoliert zu betrachtenden historischen Tatsachen. Alles, was geschehen ist, ist nur mittelbar (durch überlieferte Quellen) zugänglich und wird aus einer bestimmten Perspektive (einer Problematisierung) erst als »Tatsache« konstruierbar. Die Arbeit der Historikerin besteht salopp gesagt darin, das von Menschen ganz unterschiedlich erlittene und handelnd gestaltete Chaos vergangenen Lebens unter Begriffe zu ordnen. Das Resultat dieser Arbeit ist eine Erzählung, ein Narrativ.85

Mein Narrativ über den Aufstieg und Wandel des Welthandels in der Moderne und über die Nichtkongruenz von Geld- und Warenströmen deckt einen langen Zeitraum ab. Es reicht, in der Terminologie Eric Hobsbawms, vom »Zeitalter des Kapitals« über das »Zeitalter des Imperialismus« bis zum »Zeitalter der Extreme«. Die Perspektive gleicht einer Filmkamera mit Schwenkfunktion und variierendem Zoom: 37Das Panoramabild wechselt mit Nahaufnahmen, die einordnende Analyse mit erzählenden Passagen. Ich bin exemplarisch vorgegangen, nicht systematisch, und ich habe mich bemüht, die Ereignisse immer wieder in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Dazwischen liegen die Lücken – Weggelassenes, Angedeutetes und nicht berücksichtigte alternative Blickwinkel. Ich erhebe keinen Anspruch auf Kohärenz in Bezug auf einen einzelnen Rohstoff, eine einzelne Firma, eine Nation oder eine Kolonie, geschweige denn auf den Welthandel insgesamt. Ich beleuchte einen Wirtschaftszweig: den Transithandel eines eng mit der Welt verflochtenen Kleinstaates.

Die Quellenlage ist höchst fragmentiert. Infolge der großen Transformation des Sektors und der Geschäftsaufgabe verschiedener Handelshäuser sind in den vergangenen Jahren einzelne Firmenarchive zugänglich geworden, so das Archiv der Firma Volkart, das Archiv der Basler Handelsgesellschaft und das Archiv der Firma Desco von Schulthess. Ebenfalls Zugang hatte ich zu den Unternehmensarchiven von Diethelm & Co., Ed. A. Keller und Siber Hegner, die heute zur Holding Diethelm Keller Siber Hegner (DKSH) gehören. Das Archiv des Lausanner Getreidehändlers André & Cie. hingegen wurde nach der Abwicklung der Firma, die 2001 in Konkurs ging, vernichtet,86 und die nach wie vor im Baumwollhandel tätige Winterthurer Firma Reinhart pflegt die in der Branche traditionelle Unnahbarkeit. Im Wirtschaftsarchiv in Basel ist dafür das Archiv des 1934 gegründeten Verbands Schweizerischer Transit- und Welthandelsfirmen zugänglich.

Methodisch liegt diesem Buch eine schlichte, aber nicht triviale Überzeugung zugrunde: Ideen, also kollektive Vorstellungen und Begriffe über die Welt, prägen gesellschaftliche Institutionen und gesellschaftliches Handeln (und da38mit auch wirtschaftliches Handeln). Umgekehrt fördern bestimmte soziopolitische Verhältnisse bestimmte diskursive Traditionen und Deutungsweisen. Beide – Ideen und Taten – sind in ihrem historischen Kontext zu verstehen und nicht als Vorläufer einer Entwicklung, die wir uns in der Retrospektive zwar als Kontinuum imaginieren können, die für die zeitgenössischen Protagonisten aber völlig unabsehbar war und immer auch anders hätte verlaufen können.

Gerade Wirtschaftswissenschaftler sind der Verlockung ausgesetzt, Geschichte »rückwärts« zu schreiben. Die Suche nach einer Erklärung für den Reichtum oder die Armut von Nationen steht beispielhaft für diese Tendenz. Man fokussiert auf reich gewordene Nationen und sucht dann in ihrer Vergangenheit nach den entscheidenden Parametern, die zu diesem Reichtum geführt haben. Das Resultat neigt leicht zu einem Determinismus, in dem die Präsenz oder Absenz einer Anzahl Bedingungen zu Reichtum oder Armut führt, in einem Prozess, der sich scheinbar schlüssig von der Vergangenheit in die Gegenwart entfaltet.87

Der Historiker Herbert Butterfield hat diese Art Geschichtsschreibung »the whig interpretation of history« genannt.88 Wer in die Vergangenheit schaut, um retrospektiv zwischen reaktionären (tory) und progressiven (whig) Kräften, zwischen den Bösen und den Guten, zwischen den Erfolgreichen und den Abgehängten zu unterscheiden, wer also im Wissen darum, wie es schließlich herausgekommen ist, Richter spielt, bezieht die Vergangenheit unbotmäßig auf die Gegenwart. Dagegen helfe nur ein Hineindenken in die zeitgenössischen Vorstellungs- und Handlungsrealitäten: »Die grundlegende Voraussetzung aller Versuche, die Menschen der Vergangenheit zu verstehen, muss der Glaube sein, dass wir in gewissem Maß in Vorstellungswelten eindringen können, die anders sind als unsere.«89

39Das heißt, die Historikerin muss – wie die ins Ausland reisenden Kaufleute – zuerst fremd werden, um dort, in der Fremde einer vergangenen sozialen und politischen Realität, die Dinge in ihrer zeitspezifischen Relation und Relevanz zu verstehen versuchen. Die Frage nach dem single most important factor für Wachstum, Wohlstand und Erfolg führt in die Irre. Nie ist ein einzelner Faktor oder eine einzelne Branche für historischen Wandel verantwortlich, sondern immer das ganze Setting – oder in den Worten Butterfields: »Es ist nichts weniger als die Gesamtheit der Vergangenheit, mit ihrer Komplexität an Bewegungen, ihrem Gewirr von Problemlagen und ihren verschlungenen Interaktionen, welche die Gesamtheit der komplexen Gegenwart hervorgebracht hat«.90 Der wirtschaftliche Wachstumsprozess ist zudem keineswegs spannungsfrei. Wachstum tendiert zur Destabilisierung von Strukturen, wie der Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler festgehalten hat, es verändert das gesellschaftliche Gefüge und tangiert politische Machtverhältnisse. Wenn man angesichts dieses Destabilisierungspotenzials dennoch den Begriff »Wachstumsgesellschaft« verwenden möchte, dann als »soziales System, das dazu neigt, strukturelle Störungen wachstumsträchtig zu beheben«.91

Dieses Buch liefert also keine Erklärung dafür, wieso die Schweiz so reich geworden ist. Damit würde man sowohl den Handelssektor überbewerten als auch eine deterministische Logik der Entwicklung unterstellen. Die lange Tradition des Schweizer Transithandels beruht auf einem umfassenden Wandel sämtlicher Parameter, mit Ausnahme dieses einen: der Nichtkongruenz von Geschäftssitz und Geschäft. Die große Frage ist: Wie kann man aus diesem »Stoff der Geschichte«, der, wie Paul Veyne schrieb, eine »sehr menschliche und wenig ›wissenschaftliche‹ Mischung von materiellen Ursachen, von Zwecken und Zufällen« ist, ein Narrativ 40fabrizieren? Wie findet man die Fabel, dieses »Stück Leben, das sich der Historiker nach seinem Geschmack herausgreift und in dem die Tatsachen ihre objektiven Zusammenhänge und ihre relative Bedeutung haben«?92 Wie misst man die Distanz ab zwischen dem aktuellen Transithandelsland Schweiz und einer Reihe disparater und auf nicht triviale Art miteinander verknüpfter Ereignisse, die ihm vorausgegangen sind? Die Geschichte des Schweizer Transithandels handelt weder von heroischen Taten noch von wirtschaftlichen Automatismen. Sie handelt von einem grenzüberschreitenden Kapitalismus, der das hervorgebracht hat, was man seit etwa 1900 »Weltwirtschaft« nennt.

412. Kaufleute und Investoren

Der internationale Handel ist für die Schweiz nicht zufällig von herausragender Bedeutung. Und die Schweiz ist nicht zufällig von herausragender Bedeutung für den internationalen Handel. Schon ein kurzer Blick in die Geschichte des Landes verdeutlicht, dass die Schweiz stets auf den Handel mit anderen Weltregionen angewiesen war und dass umgekehrt die Entwicklung des Handels wesentlich von eidgenössischen Besonderheiten profitierte: von Söldnerkompanien und Durchmarschrechten (die mit Handelsprivilegien aufgewogen wurden), von Staatsanleihen und privatem Investitionskapital, von der politischen Neutralität, von Steuerprivilegien und von der Unversehrtheit durch Kriege. Früh entstand in der Schweiz ein besonderer Schlag Mensch: der Kaufmann.

Autarkie war für das Land, das keine nennenswerten Rohstoffe besitzt und von dessen Territorium sich gerade einmal acht Prozent als Siedlungsfläche eignen,1 nie eine Option. Seit der Frühen Neuzeit bestanden Handelsbeziehungen mit dem umliegenden Europa. Importiert wurden Getreide und Salz, zu den Ausfuhren gehörten Käse und Vieh.2 Das Hauptexportprodukt aber waren Söldner – der einzige Rohstoff, der in der armen Gegend im Überfluss vorhanden war. Die in fremden Diensten stehenden Reisläufer waren nicht nur eine Einnahmequelle für arme Familien, sie dienten den eidgenössischen Kantonen im Ausland auch als Sicherheit. Der Solddienst war eine frühe Form von Dienstleistungsexport, und damit jener Form von transnationalem Geschäft, mit der das Land noch heute seine Zahlungsbilanz ausgleicht.

Die Offiziere der Schweizer Söldnertruppen kamen aus 42sogenannten »regimentsfähigen« Familien und profilierten sich in fremden Diensten meist für eine politische Karriere nach ihrer Rückkehr. Die Söldner rekrutierte man aus armen Bauersfamilien. Obwohl ihre Auslagen für die Uniformen relativ hoch waren, kehrten viele mit kleinen Gewinnen in die Heimat zurück. Zweifellos am meisten profitierten vom Soldgeschäft aber die Militärunternehmer, die beträchtliche private Vermögen anhäuften. Sie sicherten sich für die Vermittlung von jungen Männern in fremde Heere oft auch lukrative Gegengeschäfte. So handelte der Walliser Großunternehmer Kaspar Jodok Stockalper (1609-1691) als Tauschgeschäft zu seinen Söldnerkompanien im Ausland den Salzpreis herunter und konnte so den regionalen Salzhandel monopolisieren.3

Eine Klausel des als »Ewiger Frieden« bezeichneten Friedensvertrages von 1516 sicherte den Schweizer Kaufleuten in Frankreich zudem eine Befreiung von jeder Neuerung der Zölle zu. Bis Ende des 18. Jahrhunderts legten sie diese Klausel im Sinne einer vollständigen Zoll- und Steuerfreiheit aus. »Wenn die Schweizer den französischen Unterthanen in allen Rechten und Vortheilen gleichgestellt sein wollten, so waren sie doch keineswegs geneigt, deren Pflichten auf sich zu nehmen«, schrieb ein Historiker 1881. Sie beanspruchten »vollkommene Exemption von allen Arten von Steuern und Auflagen«, mit ausdrücklicher Betonung, »dass der Vertrag allgemein auf alle Waaren ohne Unterscheidung laute«.4 In Frankreich waren Schweizer Söldner und Kaufleute außerdem vom Droit d'aubaine des Ancien Régime ausgenommen, das es dem König erlaubte, die Güter verstorbener Fremder auf seinem Territorium zu konfiszieren. Via Frankreich handelten Schweizer Kaufleute mit Spanien und dem gesamten spanischen Kolonialreich. »In den Messen von Beaucaire trafen schweizerische und spanische Kaufleute zusammen, 43und im Freihafen von Marseille sammelte sich eine Kolonie schweizerischer Kaufleute, für die der Handel mit dem spanischen Reich die Hauptaufgabe war«, so Isaak Iselin, Herbert Lüthy und Walter Schiess.5

Zu diesem expansiven Handel kam ein grenzüberschreitender Geldverkehr hinzu. Das Kapital, das in Form von Pensionen für vermittelte Söldnertruppen in die Schweizer Kantone floss, das Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Italien mitbrachten und das Privatleute im Handel erwirtschafteten, wurde bereits in der Frühen Neuzeit zu einem großen Teil wieder im Ausland angelegt. Auch die Regierungen von Bern, Freiburg, Solothurn, Zürich und Schaffhausen betrieben einen regen Kapitalexport, dessen Zinsen in die jeweiligen Staatskassen flossen. Als Deutschland nach dem Westfälischen Frieden von 1648 die letzte große Zahlung leisten musste, waren die helvetischen Orte die letzten Geldgeber Europas – die lender of last resort.