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Frühe Gewalterfahrungen können schwerwiegende Auswirkungen auf die direkt Betroffenen, aber auch auf die nächste Generation haben. Die transgenerationale Weitergabe von Misshandlungserfahrungen wird in diesem Buch aus epigenetischer, interaktioneller, neuropsychologischer, endokrinologischer und neuroradiologischer Perspektive beleuchtet. Die aktuellen wissenschaftlichen Hintergrundinformationen werden anhand von klinischen Fallbeispielen mit Leben gefüllt. Der letzte Teil des Buches fokussiert evaluierte Präventions- und Interventionsansätze als Anregung für die therapeutische Praxis.
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Seitenzahl: 89
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Herausgegeben von
Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke
Eva Möhler
Zur Psychodynamik und Neurobiologiedysfunktionaler Eltern-Kind-Beziehungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Paul Klee, Und es ward Licht, 1918/akg-images
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2566-641X
ISBN 978-3-647-99936-4
Vorwort zur Reihe
Vorwort zum Band
Einleitung
1Mutter-Kind-Interaktion und Bindung
2Elterliche Kompetenzen und kindliche Entwicklung
3Phänomenologie und Epidemiologie des Misshandlungstraumas
4Neurobiologie des Misshandlungstraumas
5Misshandlung und Transmission
5.1Misshandlung und Interaktion
5.2Endokrinologische Transmissionsmechanismen
6Fallbeispiel 1
6.1Anamnese
6.2Familienanamnese
6.3Entwicklungsanamnese
6.4Diagnostik
6.5Behandlung
6.6Interpretation
7Fallbeispiel 2
7.1Anamnese
7.2Familienanamnese
7.3Entwicklungsanamnese
7.4Diagnostik
7.5Behandlung
7.6Interpretation
8Präventionsansätze und Interventionsmöglichkeiten
8.1Mentalisierungsbasierte Behandlung
8.2Training der emotionalen Regulation für Mutter und Kind
8.3Videofeedback nach dem Konzept der emotionalen Verfügbarkeit
9Schlusswort
Literatur
Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich.
Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten und Patientinnen hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.
Themenschwerpunkte sind unter anderem:
–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.
–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internetbasierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.
–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.
–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.
–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie.
–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.
Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.
Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke
Frühe Gewalterfahrungen können nicht nur für die Betroffenen selbst nachhaltige traumatische Folgen haben, sondern sich auch auf die nächste Generation erstrecken, wenn die Opfer von Misshandlungen durch das Trauma in ihrer eigenen Elternschaft beeinträchtigt sind. Der Mechanismus wird als transgenerationale Weitergabe von Interaktions- und Misshandlungserfahrungen bezeichnet. Einer »Transmission von Trauma« wird zunehmend Bedeutung zugemessen und auch empirisches Forschungsinteresse entgegengebracht.
Die frühkindliche Bindung zur primären Bezugsperson schafft nicht nur günstige Entwicklungsbedingungen für das Kind, sie hat direkte Einflüsse auf die Funktionstüchtigkeit des kindlichen Gehirns und führt dazu, dass wichtige Strukturen zur emotionalen Regulation sich überhaupt herausbilden können. Den frühen Interaktionen kommt also eine große Bedeutung für die Entwicklung des kindlichen Selbst zu. So führen frühe Mangelzustände an Fürsorge und Zuwendung zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit stressbedingter psychosomatischer Erkrankungen. Eltern besitzen intuitive Kompetenzen im Umgang mit dem Säugling, die jedoch durch frühe Gewalterfahrungen bei den Betroffenen beeinträchtigt werden können. Mütter mit schweren Traumatisierungen neigen eher zu emotional überschießenden Reaktionen mit erhöhter Impulsivität. Das Misshandlungstrauma führt zu vermehrten vegetativen Erregungszuständen und kann sogar dazu Anlass geben, dass das normale kindliche Schreien zum Trigger für traumatische Erinnerungen wird. Fehlinterpretationen des kindlichen Verhaltens und falsche Vorstellungen über die kindlichen Bedürfnisse können dann die Folge sein.
Die Autorin, die selbst mehrere Forschungsprojekte zu diesem Thema durchgeführt hat, gibt einen Überblick über den derzeitigen Wissensstand zum Thema transgenerationaler Einflüsse von Misshandlungstraumata auf die Interaktion mit dem Kind, insbesondere den emotionalen Dialog, wobei eine Reduktion der elterlichen emotionalen Verfügbarkeit und eine signifikant höhere Ausprägung von unsicheren Bindungsmustern nachweisbar sind. Es steigt die Gefahr, dass traumatisierte Mütter ihre Kinder emotional und/oder körperlich misshandeln. Dem Kind können schon früh Tätereigenschaften zugeschrieben werden, die schließlich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung durch Identifikationsprozesse negative Einflüsse auf das kindliche Selbst ausüben. Solche verhinderbaren Übertragungen gewaltsamer Erlebnisse fordern geradezu eine verstärkte Prävention.
Zur intergenerationalen Transmission werden zwei eindrucksvolle Fallbeispiele geliefert, die eine Weitergabe traumatischer Erfahrungen plastisch vermitteln. Die Deutung der mütterlichen Projektionen auf das Kind steht dabei im Mittelpunkt. Eine typische Selbstwertstörung misshandelnder Eltern kommt ebenfalls zum Ausdruck.
Präventionsansätze und Interventionsmöglichkeiten haben das »Be-eltern der Eltern« zum Ziel. So sollen die intuitiven Kompetenzen verbessert, der traumatische Hintergrund aufgehellt und die malignen Deutungen und Fehlzuschreibungen gegenüber dem kindlichen Verhalten verbessert und der Realität entsprechender gestaltet werden. Mentalisierungsbasierte Ansätze, Trainingsansätze zur emotionalen Regulation und videobasierte Ansätze zur Verbesserung der emotionalen Verfügbarkeit werden vorgestellt. Einer weiteren Verbreitung der Praxis einer Eltern-Kind-Behandlung wird das Wort geredet, denn noch ist eine breite gesellschaftliche Akzeptanz nicht gegeben und die Notwendigkeit solcher präventiver Maßnahmen bei den Krankenkassen nicht hoch im Kurs.
Ein spannendes Buch, das ein gravierendes gesellschaftliches Problem auf den Punkt bringt und für alle therapeutisch Tätigen bedeutungsvoll sein kann.
Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke
Dieses Buch fokussiert die Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe von Interaktions- und Misshandlungserfahrungen und ist aus der langjährigen wissenschaftlichen und klinischen Arbeit mit misshandlungserfahrenen Eltern und Kindern erwachsen. Frühe Gewalterfahrungen können schwerwiegende und lang anhaltende Auswirkungen auf die direkt Betroffenen, aber auch auf die nächste Generation haben.
Dabei wird zunächst die Bedeutung der transgenerationalen Interaktion für die seelische Entwicklung übersichtsweise dargelegt und im folgenden Kapitel die besondere Phänomenologie und Prävalenz des Misshandlungstraumas in den Blick genommen. Die bedeutsamen Komponenten der gesunden Mutter-Kind-Interaktion werden dafür am Anfang in einer kurzen Übersicht aufgeführt, damit die im anschließenden Kapitel dargestellten Abweichungen – vor allem die für den Misshandlungskontext spezifischen – verständlicher werden. Aufgrund der hohen Transmissionsrate interaktioneller Besonderheiten von einer in die nächste Generation, die insbesondere im Fall von Misshandlung eine frühe Prä- oder Intervention erfordert, hat sich die Forschung in jüngster Zeit mit den Abweichungen von Endokrinologie, Entwicklung und Interaktion im Misshandlungskontext beschäftigt, die in den folgenden Abschnitten dargestellt werden. Die neuen Befunde und Ergebnisse eigener DFG-Projekte mündeten dabei in die multizentrische Studie UBICA (Understanding and Breaking the Intergenerational Cycle of Abuse), welche vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird und die transgenerationale Weitergabe von Misshandlungserfahrungen über zehn Jahre hinweg aus epigenetischer, interaktioneller, neuropsychologischer, endokrinologischer und neuroradiologischer Perspektive untersucht.
Diese wissenschaftlichen Hintergrundinformationen werden im darauffolgenden Kapitel anhand eines Fallbeispiels mit Leben gefüllt: Dem Kind wird eine Täterrolle zugeschrieben – durch eine Psychodynamik, die im Folgenden erörtert wird. Ein weiteres Fallbeispiel illustriert einen anderen möglichen psychodynamischen Weg: Das Kind der misshandelten Mutter wird in eine Opfer- und Täterrolle gebracht. Hier sind ähnliche, aber nicht identische Mechanismen am Werk, deren Erläuterung deutlich macht, dass Gewalterfahrungen unterschiedliche Wege von einer in die nächste Generation nehmen können.
Abschließend werden Möglichkeiten von Prävention und Intervention geschildert, die dringend ausgebaut werden müssen, um den – aus wissenschaftlicher Sicht vorhersehbaren und epidemiologisch so häufigen – Misshandlungskreislauf zu durchbrechen.
Der letzte Teil des Buches fokussiert daher dringend notwendige Präventions- und Interventionsansätze, die im Sinne des Kinderschutzes möglichst frühzeitig, niederschwellig und flächendeckend implementiert werden sollten.
Die Geburt eines Kindes bedeutet einen Wendepunkt im Leben einer Frau. Erfährt das Kind während des ersten Lebensjahres, dass es sich auf die Nähe und Fürsorge der Bezugsperson verlassen kann und diese auf das Kind angemessen eingeht, entwickelt es eine sichere Bindungsbeziehung zu dieser Person.
Die Bezugsperson wird bei Kindern mit einer sicheren Bindung als eine verlässliche Basis angesehen. Zum einen können sie sich von der Mutter bzw. der Bezugsperson entfernen, zum anderen jederzeit in bedrohlichen Situationen zurückkehren, um Schutz und Geborgenheit zu erfahren. Somit ist eine Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten gewährleistet (Aschersleben, 2006). In Anbetracht dessen, dass die Bindungsqualität die Handlungsweise des Kindes determiniert, ist wohl anzunehmen, dass die Beziehung zwischen Bezugsperson und dem Säugling die erste und wahrscheinlich wichtigste Beziehung im Leben eines Menschen ist. Es ist somit zu erwarten, dass die weitere Entwicklung des Kindes in allen Bereichen dadurch beeinflusst wird. Die frühkindliche Bindung setzt die Grundsteine für die spätere Entwicklung, und Dornes (1993) hat beschrieben, dass die Zuneigung einer Mutter einen enormen Einfluss auf die Funktion des menschlichen Babygehirns hat. Umgekehrt haben das Kind und die seelische Situation einer Mutter auch Einfluss auf die Interaktion und das mütterliche Bonding (Möhler, Brunner, Wiebel, Reck u. Resch, 2006a). Bonding bedeutet positives emotionales Empfinden der Mutter gegenüber dem Kind.
Es kann sich zwischen Mutter und Kind allerdings keine sichere Bindung entwickeln, wenn das Kind in bedrohlichen Situationen auf sich allein gestellt ist und die Reaktionen der Bindungsperson nicht einschätzen kann, keine angemessene Fürsorge der Bezugsperson und kein stabiles, feinfühliges Pflegeverhalten erfährt (Gloger-Tippelt u. König, 2009). So werden die Zurückweisung, Nichtbeachtung und Vernachlässigung der kindlichen Signale als Hintergrund eines vermeidenden Bindungsmusters aufseiten des Kindes betrachtet, und eine unzuverlässige und unbeständige Betreuung wird mit dem ambivalenten Muster in Verbindung gebracht (Gervai, 2009). Für ein desorganisiertes Bindungsmuster werden unter anderem ein extrem ambivalentes Agieren der Bezugsperson und plötzlich ängstigendes oder ängstliches Verhalten gegenüber dem Kind als Auslöser angesehen (Buchheim, Strauß u. Kächele, 2002).
Gemäß vielen Untersuchungen (z. B. Engfer u. Gavranidou, 1987; Kumar, 1997) wird die Hirnentwicklung von Säuglingen ganz entscheidend von der Elternliebe geprägt. Wo sie fehlt, kann sich das Nervensystem nicht optimal entwickeln. Frühe Bindungserfahrungen des Kindes haben einen großen Einfluss auf seine physiologischen Systeme, da sie unreif und empfindlich sind. Insbesondere können bestimmte biochemische Systeme einen unliebsamen Weg nehmen, wenn die frühen Erfahrungen problematisch sind. Sowohl die Stressreaktion als auch andere Neuropeptide des emotionalen Systems können ungünstig beeinflusst werden.