Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter - Katharina Schulte - E-Book

Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter E-Book

Katharina Schulte

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Beschreibung

Ungefähr ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland macht interpersonelle Gewalt- oder Vernachlässigungserfahrungen. In der Folge besteht ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung einer Traumafolgestörung, wie etwa einer posttraumatischen Belastungsstörung, Anpassungsstörung, depressiven Störung oder Angststörung. Das Buch erläutert, wie Traumafolgestörungen entstehen, wie sie diagnostiziert werden können und welche evidenzbasierten Behandlungsmethoden existieren.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort zur Buchreihe

1 Klassifikation und Erscheinungsbild

1.1 Klärung von Begrifflichkeiten

1.2 Klassifikation von Traumafolgestörungen im engeren Sinne

1.2.1 Akute Belastungsreaktion

1.2.2 Anpassungsstörung

1.2.3 Posttraumatische Belastungsstörung

1.2.4 Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

1.3 Klassifikation von Traumafolgestörungen im weiteren Sinne

1.3.1 Anhaltende Trauerstörung

1.3.2 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters

1.3.3 Bindungsstörung mit Enthemmung

1.4 Erscheinungsbild im Entwicklungsverlauf

1.4.1 Altersunterschiede im Erscheinungsbild der PTBS

1.4.2 Traumafolgestörungen im Entwicklungsverlauf

1.5 Überprüfung der Lernziele

2 Epidemiologie, Verlauf und Folgen

2.1 Risiko- und Schutzfaktoren für das Auftreten von Traumafolgestörungen

2.1.1 Risikofaktoren

2.1.2 Schutzfaktoren

2.1.3 Prävalenz in verschiedenen Altersstufen

2.2 Verlauf

2.2.1 Verlauf der PTBS

2.2.2 Verlauf der dissoziativen Störung

2.3 Überprüfung der Lernziele

3 Komorbidität und Differenzialdiagnostik

3.1 Komorbidität

3.2 Differenzialdiagnostik

3.2.1 Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen

3.2.2 Anpassungsstörungen

3.2.3 Anhaltende Trauerstörungen

3.2.4 Depressive Störungen

3.2.5 Angststörungen

3.2.6 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen

3.2.7 Störungen des Sozialverhaltens

3.2.8 Dissoziative Störungen

3.2.9 Psychotische Störungen

3.3 Überprüfung der Lernziele

4 Diagnostik

4.1 Erstgespräch und Anamnese

4.1.1 Das Erstgespräch

4.1.2 Anamnese

4.1.3 Psychopathologischer Befund

4.2 Diagnoseinstrumente

4.2.1 Fragebögen

4.2.2 Diagnostische Interviews

4.2.3 Testverfahren

4.2.4 Verhaltensbeobachtung

4.3 Diagnosestellung und Integration diagnostischer Informationen

4.4 Problemanalyse auf Makro- und Mikroebene

4.5 Indikation und Behandlungssetting

4.6 Rückmeldung der Diagnostik

4.6.1 Rückmeldung der Diagnostik an Kinder

4.6.2 Rückmeldung der Diagnostik an Jugendliche

4.7 Überprüfung der Lernziele

5 Störungstheorien und -modelle

5.1 Bedingende Faktoren für Entstehung und Aufrechterhaltung

5.2 Rahmenmodell der Ätiologie von Traumafolgen

5.2.1 Risiko- und Schutzfaktoren

5.2.2 Ereignisfaktoren

5.2.3 Aufrechterhaltende Faktoren

5.2.4 Gesundheitsfördernde Faktoren und Ressourcen

5.2.5 Posttraumatische Prozesse und Resultate

5.3 Zwei-Faktoren-Modell

5.4 Furchtstrukturmodell

5.5 Kognitives Störungsmodell

5.5.1 Negative Interpretation

5.5.2 Spezifika des Traumagedächtnisses

5.5.3 Anhaltend wahrgenommene Bedrohung

5.6 Social-Facilitation-Modell der Traumafolgen

5.7 Anwendung eines Störungsmodells auf ein Fallbeispiel

5.7.1 Psychoedukation mit Kind (Madeleine, 12 Jahre, siehe Fallbeispiel)

5.7.2 Psychoedukation mit Eltern (Madeleine, 12 Jahre, siehe Fallbeispiel)

5.8 Überprüfung der Lernziele

6 Psychotherapie

6.1 Beispiel für einen Therapieantrag

6.2 Behandlungsplanung

6.2.1 Voraussetzungen

6.2.2 Rahmenbedingungen

6.2.3 Therapieziele

6.2.4 Methoden und Vorgehen

6.3 Therapiebausteine

6.3.1 Phase der Stabilisierung

6.3.2 Phase der Traumabearbeitung

6.3.3 Phase der Integration

6.4 Umgang mit schwierigen Therapiesituationen

6.4.1 Amnesie: Die Kinder oder Jugendlichen haben unvollständige Erinnerungen

6.4.2 Vermeidung: Die Kinder oder Jugendlichen vermeiden die Konfrontation

6.4.3 Belastung und Dissoziation: Es kommt zu ausgeprägter Belastung oder dissoziativem Erleben während oder nach der Therapiesitzung

6.4.4 Fehlen einer Bezugsperson: Es findet sich keine Bezugsperson, die an der Therapie teilnehmen kann

6.4.5 Belastete Bezugspersonen: Die Eltern oder engen Bezugspersonen sind selbst stark belastet oder zeigen ungünstige Reaktionen gegenüber den Kindern

6.4.6 Sprachbarriere: Die Behandlung erfolgt mit Unterstützung einer Sprachmittlung

6.5 Verhaltenstherapeutische Behandlungsmanuale

6.5.1 Spezifisch für Kinder und Jugendliche entwickelte Interventionen

6.5.2 Für das Kindes- und Jugendalter angepasste Interventionen

6.6 Überprüfung der Lernziele

7 Psychotherapieforschung

7.1 Empirische Evidenz zur Behandlung der PTBS

7.1.1 Therapieverfahren

7.1.2 Therapiemethoden und -techniken

7.1.3 Behandlungssetting

7.1.4 Behandlungsformat

7.1.5 Adjuvante Verfahren

7.2 Zusammenfassung der empirischen Evidenz

7.3 Überprüfung der Lernziele

8 Rechtliche Aspekte

8.1 Aufklärung und Einwilligung

8.2 Schweigepflicht

8.3 Kindeswohlgefährdung

8.4 Offenbarungsbefugnis

8.5 Kindschaftsrecht

8.6 Opferentschädigungsgesetz

8.7 Ärztliches Attest und Beweissicherung

8.8 Vereinbarkeit von Therapie und Strafverfahren

8.9 Psychotherapeutische Versorgung geflüchteter Kinder und Jugendlicher

8.10 Überprüfung der Lernziele

9 Zusammenfassung und Ausblick

9.1 Zusammenfassung

9.2 Ausblick

9.2.1 Identifikation von Kindern mit PTBS

9.2.2 Psychotherapieforschung

9.2.3 Behandlung komplexer posttraumatischer Belastungsstörungen

9.2.4 Interdisziplinäre Kooperation zur Versorgung

9.2.5 Dissemination evidenzbasierter Psychotherapie

9.3 Überprüfung der Lernziele

10 Literaturverzeichnis

11 Weiterführende Literatur

Stichwortverzeichnis

Klinische Psychologie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Verhaltenstherapeutische Interventionsansätze

Herausgegeben von Tina In-Albon, Hanna Christiansen und Christina Schwenck

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/klinische-psychologie-und-psychotherapie

Die Autorinnen

Dr. rer. nat. Katharina L. Schulte ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (M.Sc. Psychologin) und habilitiert in der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Erlangen zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen und Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen.

Dr. rer. nat. Katharina Szota ist Klinische Psychologin (M. Sc.) und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie vertritt gegenwärtig die Professur für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Goethe-Universität Frankfurt und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philipps-Universität Marburg.

Katharina L. SchulteKatharina Szota

Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter

Diagnostik und Behandlung von Folgen interpersoneller Gewalt und Vernachlässigung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041468-6

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041469-3epub: ISBN 978-3-17-041470-9

Geleitwort zur Buchreihe

Klinische Psychologie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Verhaltenstherapeutische Interventionsansätze

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind weit verbreitet und ein Schrittmacher für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen im Erwachsenenalter. Für einige der für das Kindes- und Jugendalter typischen Störungsbereiche liegen empirisch gut abgesicherte Behandlungsmöglichkeiten vor. Eine Besonderheit in der Diagnostik und Therapie von Kindern mit psychischen Störungen stellt das Setting der Therapie dar. Dies bezieht sich sowohl auf den Einbezug der Eltern als auch auf mögliche Kontaktaufnahmen mit dem Kindergarten, der Schule, der Jugendhilfe usw. Des Weiteren stellt die Entwicklungspsychopathologie für die jeweiligen Bände ein zentrales Kernthema dar.

Ziel dieser neuen Buchreihe ist es, Themen der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie in ihrer Gesamtheit darzustellen. Dies umfasst die Beschreibung von Erscheinungsbildern, epidemiologischen Ergebnissen, rechtliche Aspekte, ätiologischen Faktoren bzw. Störungsmodelle, sowie das konkrete Vorgehen in der Diagnostik unter Berücksichtigung verschiedener Informanten und das konkrete Vorgehen in der Psychotherapie unter Berücksichtigung des aktuellen Wissenstandes zur Wirksamkeit.

Die Buchreihe besteht aus Bänden zu spezifischen psychischen Störungsbildern und zu störungsübergreifenden Themen. Die einzelnen Bände verfolgen einen vergleichbaren Aufbau wobei praxisorientierte Themen wie bspw. Fallbeispiele, konkrete Gesprächsinhalte oder die Antragsstellung durchgehend aufgenommen werden.

Christina Schwenck (Gießen)Hanna Christiansen (Marburg)Tina In-Albon (Landau)

Die Herausgeberinnen

Prof. Dr. Tina In-Albon, Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Koblenz-Landau. Leitung der Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche und des Studiengangs zur Ausbildung in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Universität Koblenz-Landau.

Prof. Dr. Hanna Christiansen, Professur für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Philipps-Universität Marburg; Leiterin der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie-Ambulanz Marburg (KJ-PAM) sowie des Kinder- und Jugendlichen-Instituts für Psychotherapie-Ausbildung Marburg (KJ-IPAM).

Prof. Dr. Christina Schwenck, Professur für Förderpädagogische und Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Justus-Liebig-Universität Gießen. Leiterin der postgradualen Ausbildung Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie.

1 Klassifikation und Erscheinungsbild

Fallbeispiel

Die 6;4-jährige Meike stellt sich gemeinsam mit ihrer Mutter in einer ambulanten Praxis wegen ausgeprägten Trennungsängsten und Regressionen der Sauberkeitsentwicklung vor. Vor zwei Monaten sei herausgekommen, dass der neue Freund der Kindsmutter Meike regelmäßig geschlagen und sie in ihr Zimmer gesperrt habe, sobald die Kindsmutter nicht zu Hause gewesen sei. Die Kindsmutter arbeite im Schichtdienst und ihr Freund habe sich dann um Meike gekümmert. Dass etwas nicht in Ordnung sei, sei der Kindsmutter aufgefallen, als Meikes Spielen deutlich aggressiver geworden sei und sie immer wieder die gleichen Situationen, in denen ein Vater seine Kinder geschlagen habe, nachgespielt habe. Meike habe angefangen, wieder einzunässen und einzukoten und wolle nicht mehr alleine in ihrem Zimmer sein. In Trennungssituationen klammere sich Meike an ihre Mutter, bekomme Wutanfälle und starke Bauchschmerzen. Den Schulbesuch und das Treffen mit Freund*innen verweigere sie, obwohl sie früher sehr gerne sowohl in die Schule als auch zu ihren Freund*nnen gegangen sei. In einem Gespräch, in dem die Kindsmutter explizit nachgefragt habe, habe sich Meike letztendlich ihrer Mutter anvertraut. Die Kindsmutter habe sich umgehend von ihrem Freund getrennt.

Lernziele

Sie können zentrale Begrifflichkeiten wie Trauma oder interpersonelle Gewalt erklären.

Sie kennen die diagnostischen Kriterien für Traumafolgestörungen nach ICD-10 und ICD-11.

Sie kennen das alterstypische Erscheinungsbild von Traumafolgestörungen von der frühen Kindheit bis zum Jugendalter bzw. jungen Erwachsenenalter.

Im Folgenden sollen zunächst einige zentrale Begrifflichkeiten geklärt werden, die zur Diskussion von Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter nach interpersoneller Gewalt und Vernachlässigung im Rahmen des Buches benötigt werden.

1.1 Klärung von Begrifflichkeiten

Der Begriff eines psychischen Traumas ist nicht einheitlich definiert, das Wort stammt jedoch von dem Griechischen und bezeichnet eine Wunde. Ein Grundgedanke ist, dass es sich bei einem Trauma um eine Verletzung und einer daraus resultierenden Wunde an der menschlichen Seele handelt (Pausch & Matten, 2018). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte 1991 ein Trauma als ein »kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß (...)« (ICD-10; Weltgesundheitsorganisation, 1993, S. 124). Eine Situation wird dann als traumatisch oder potenziell traumatisierend definiert, wenn es zur Konfrontation mit dem plötzlichen Tod oder einer Todesgefahr von sich selbst oder einer nahestehenden Person kommt oder wenn die persönliche Unversehrtheit durch eine Form der Gewalt verletzt wird (Maercker & Hecker, 2016). Traumatische Ereignisse können einmalig und kurz (Trauma Typ 1) oder länger und immer wiederkehrend (Trauma Typ 2) auftreten (Terr, 1991).

Wichtig

Traumata aus Kindersicht: Entscheidend ist die subjektive Wahrnehmung des Kindes von einer Situation, die als lebensbedrohlich für sich oder nahestehende Personen erlebt wird, nicht die objektive Erwachsenensicht.Beispiel: Die 5-jährige Pauline beobachtet ihre Eltern (von denen unbeabsichtigt) beim Geschlechtsverkehr und entwickelt eine Traumafolgestörung. Für sie, die nicht aufgeklärt war, hat sich ihre Mutter in Lebensgefahr befunden.

Unter interpersoneller Gewalt werden Ereignisse verstanden, die von Menschen bewusst verursacht werden. Gewöhnlich werden drei Formen der Gewalt an Kindern und Jugendlichen unterschieden, körperliche Gewalt, emotionale Gewalt, und sexualisierte/sexuelle Gewalt.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (DGKJP) bezeichnet als körperliche Gewalt die direkte Gewalteinwirkung auf das Kind durch Schlagen, Verbrennen, Verätzen, Schütteln, aber auch die Schädigung durch Intoxikation (DGKJP, 2003).

Häufig in Verbindung mit anderen Gewalthandlungen tritt emotionale, auch seelische oder psychische Gewalt genannt, auf. Zu emotionaler Gewalt zählen feindliche Ablehnung, Ausnutzung, unangebrachtes Verhalten beispielsweise dem Kind gegenüber, fehlende emotionale Reaktionen, beabsichtigtes Verursachen von Ängsten, Kontrollieren des Denkens, Fühlens und der Körperfunktionen, Verhinderung der Psychohygiene und der kognitiven und medizinischen Versorgung sowie das Verwehren lebenswichtiger Schutzfunktionen (May & Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention und Prophylaxe, 2006).

Der ehemalige Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen »Kindesmissbrauchs« (UBSKM) beschreibt sexualisierte Gewalt als »jede sexuelle Handlung, die an Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können« (Rörig, 2021, Abschnitt 1). Hierzu gehören beispielsweise Vergewaltigungen, sexuelles Berühren von Kindern und Jugendlichen über oder unter der Kleidung oder das Onanieren vor einem Kind oder Jugendlichen.Handlungen können als grundlegende Differenzierung in zwei Kategorien eingeteilt werden: Handlungen mit direktem Körperkontakt (»hands-on«) und Handlungen ohne direkten Körperkontakt (»hands-off«). Alle genannten Akte werden als sexualisierte Gewalt bezeichnet, wenn der*die Täter*in diese Handlungen ausführt oder er*siesie das Kind oder die*den Jugendliche*n dazu verleitet, entsprechend manipuliert oder zwingt, diese Akte selbst zu vollführen (z. B. orale Befriedigung des Täters bzw. der Täterin).

Darüber hinaus können Traumafolgestörungen nach Vernachlässigung auftreten. Bei Vernachlässigung wird zwischen körperlicher und emotionaler Vernachlässigung unterschieden. Körperliche Vernachlässigung zeichnet sich durch eine nicht hinreichende Versorgung und Gesundheitsfürsorge [aus], die zu massiven Gedeih- und Entwicklungsstörungen führen kann (DGKJP, 2003). Hierzu zählen unter anderem unzureichende Nahrung, das Unterlassen von Besuchen in (zahn-)‌ärztlichen Praxen, fehlende oder verschmutzte Kleidung oder das Alleinlassen von Kindern.

Emotionale Vernachlässigung beschreibt ein nicht hinreichendes oder ständig wechselndes und dadurch nicht ausreichendes emotionales Beziehungsangebot (DGKJP, 2003), wie z. B. das Kind verbal abzuwerten, mit körperlicher Bestrafung zu drohen oder kalt und abweisend zu behandeln.

Als Traumafolgestörungen können einerseits psychische Störungen bezeichnet werden, die eine Konfrontation mit einem traumatischen oder stark belastenden Ereignis voraussetzen, oder in weiterem Sinne auch psychische Störungen, die sehr häufig, jedoch nicht ausschließlich in Folge traumatischer Ereignisse entwickelt werden.

1.2 Klassifikation von Traumafolgestörungen im engeren Sinne

1.2.1 Akute Belastungsreaktion

Eine vorübergehende Störung, die sich als Reaktion auf eine außergewöhnliche körperliche oder psychische Belastung entwickelt und innerhalb von Stunden oder Tagen nach dem Ereignis wieder verschwindet, wird als akute Belastungsreaktion bezeichnet. Die individuelle Vulnerabilität und die bestehenden Bewältigungsstrategien (Copingmechanismen) spielen eine Rolle bei der Entwicklung und dem Schweregrad der Störung. Beginnend mit einer Art Taubheit mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkter Aufmerksamkeit, einer gestörten Reizverarbeitung und Desorientierung, zeigen die typischen Symptomatiken ein wechselndes und gemischtes Bild. Ein weiterer Rückzug aus der Umgebung (bis zum dissoziativen Stupor, siehe F44.2) oder Unruhe und Hyperaktivität (wie Fluchtreaktion oder Fugue) kann auf diesen Zustand folgen. Außerdem zeigen sich in der Regel vegetative Anzeichen von Panik, wie Herzrasen, Schwitzen und Erröten. Überwiegend treten die Symptome innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis auf und verschwinden innerhalb von zwei bis drei Tagen, häufig innerhalb von Stunden. Auch kann es in dieser Episode zu einer teilweisen oder vollständigen Amnesie (siehe F44.0) kommen (World Health Organization, 2019).

Die akute Belastungsreaktion besteht als solche im ICD-11 nicht mehr. Sie wird bei den »Gesundheitsbeeinflussenden Faktoren« eingeordnet, da diese eine normale Reaktion auf einen Stressor widerspiegelt, die sich normalerweise innerhalb weniger Tage nach dem auslösenden Ereignis zurückbildet (Maercker & Eberle, 2022).

Diagnostische Kriterien für Akute Belastungsreaktion nach ICD-10 (F43.0)

A.

Erleben einer außergewöhnlichen psychischen oder physischen Belastung

B.

Erleben einer außergewöhnlichen psychischen oder physischen Belastung

C.

Es gibt zwei Symptomgruppen. Die akute Belastungsreaktion wird unterteilt in:F43.00 leicht: nur Symptome aus Gruppe 1.F43.01 mittelgradig: Symptome aus Gruppe 1. und zwei Symptome aus Gruppe 2.F43.02 schwer: Symptome aus Gruppe 1. Und vier Symptome aus Gruppe 2 oder dissoziativer Stupor (F44.2).

Die Kriterien B, C und D der generalisierten Angststörung (F41.1);

a)

Rückzug von erwarteten sozialen Interaktionen,

b)

Einengung der Aufmerksamkeit,

c)

offensichtliche Desorientierung,

d)

Ärger oder verbale Aggression,

e)

Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit,

f)

unangenehme oder sinnlose Überaktivität,

g)

unkontrollierbare und außergewöhnliche Trauer (zu beurteilen nach den jeweiligen kulturellen Normen)

D.

Wenn die Belastung vorübergehend ist oder gemildert werden kann, beginnen die Symptome nach frühestens 8 Stunden abzuklingen. Hält die Belastung an, beginnen die Symptome nach höchstens 48 Stunden nachzulassen.

E.

Häufiges Ausschlusskriterium: Derzeit liegt keine andere psychische oder Verhaltensstörung vor (außer F41.1 Generalisierte Angststörung und F60 Persönlichkeitsstörungen). Das Ende der Krankheitsepisode einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung muss mehr als 3 Monate zurückliegen.

Diagnostische Kriterien für Akute Stressreaktion nach ICD-11 (QF47)1

Z-Verschlüsselung unter »Sonstigen Faktoren, welche die Gesundheit beeinflussen«

1.2.2 Anpassungsstörung

Eine Symptomatik mit Zuständen subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, durch welche das soziale Funktionieren und die Leistungsfähigkeit behindert werden, nennt man eine Anpassungsstörung. Hierbei müssen die Symptome nach einer prägenden Lebensveränderung oder nach einem belastenden Erlebnis während des Anpassungsprozesses an diese entstehen. Bei der Entstehung und der Ausprägung der Symptomatik sind eine entscheidende Prädisposition und Vulnerabilität relevant. Entscheidend ist, dass sich das Krankheitsbild ohne eine auslösende Belastung nicht entwickelt hätte. Die Anzeichen variieren und zeigen sich sowohl in einer depressiven Symptomatik als auch in einer Angstsymptomatik oder einer übermäßigen Sorge. Auch eine gemischte Symptomatik ist möglich. Darüber hinaus kann ein Gefühl entstehen, den Alltag nicht mehr meistern zu können (World Health Organization, 2019). Auch Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen im Rahmen einer Anpassungsstörung als zusätzliches Symptom auftreten (Schmidt & Poustka, 2006).

Vor der ICD-11 diente die Anpassungsstörung vor allem dem Zweck einer Restkategorie bzw. einer Ausschlussdiagnose und weniger einer vollwertigen Störung. Mit der Revision der ICD-11 wurde die Anpassungsstörung grundlegend überholt und gilt erstmals als vollwertige Diagnose. Die Subtypen der Anpassungsstörung in der ICD-10 wurden abgeschafft und sind spezifisch definierten Symptomen als diagnostischen Merkmalen gewichen. In der ICD-11 werden sogenannte Präokkupationen, d. h. gedankliches Verhaftetsein mit dem belastenden Erlebnis, als Kernsymptom der Anpassungsstörung definiert. Hiermit sind wiederehrende und aufdrängende Kognitionen, die an das Erlebnis erinnern, gemeint. Ein weiteres Kriterium ist Anpassungsschwierigkeiten, was mit einer Unfähigkeit, sich zu erholen, zu vergleichen ist. Ebenso Merkmal ist ein Interessenverlust gegenüber Beziehungen zu anderen, der Schule oder Arbeit oder der Freizeit. Betroffene können zudem von Konzentrations- oder Schlafproblemen berichten. Als Zeitkriterium bestehen weiterhin höchstens sechs Monate, es sei denn, das belastende Ereignis besteht über einen längeren Zeitraum.

Gemäß der ICD-11 kann sich eine Anpassungsstörung unterschiedlich über die Lebensspanne manifestieren. Im Kindesalter kann es häufiger zu Trotzverhalten, Schmerzsyndromen oder regressiven Reaktionen wie Bettnässen oder Schlafstörungen und in der Pubertät zu Substanzkonsum oder erhöhter Risikobereitschaft kommen.

Diagnostische Kriterien für Anpassungsstörung nach ICD-10 (F43.2)

A.

Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats.

B.

Symptome und Verhaltensstörungen (außer Wahngedanken und Halluzinationen) wie sie bei affektiven Störungen (F3), bei Störungen des Kapitels F40–F48 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) und bei den Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen. Die Kriterien einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt. Die Symptome können in Art und Schwere variieren. Das vorherrschende Symptom sollte mit der fünften Stelle weiter differenziert werden (F42.2X)F43.20 Kurze depressive ReaktionF43.21 Längere depressive ReaktionF43.22 Angst und depressive Reaktion gemischtF42.23 Mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen GefühlenF43.24 Mit vorwiegender Störung des SozialverhaltensF43.25 Mit gemischter Störung von Gefühlen und SozialverhaltenF43.28 Mit sonstigen spezifischen deutlichen Symptomen

C.

Die Symptome dauern nicht länger als 6 Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei einer längeren depressiven Reaktion (F43.21). Bis zu einer Dauer von 6 Monaten kann die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt werden.

Diagnostische Kriterien für Anpassungsstörung nach ICD-11 (6B43)2

A.

Identifizierbares Ereignis oder Geschehen innerhalb des letzten Monats

B.

Präokkupationen (Gedankliches Verhaftetsein):(1) wiederholte, belastende und unwillkürliche Gedanken an das Ereignis, (2) kreisende Gedanken oder Grübeln bezüglich des Ereignisses während mind. eines Monats an der Mehrzahl der Tage oder (3) Auftreten von Stress bei Erinnerung an das Ereignis

C.

Fehlanpassungs- und weitere Symptome:(1) Konzentrations- und Schlafstörungen, (2) mangelndes Selbstvertrauen bei Ausübung früherer gewohnter Tätigkeiten oder (3) Leistungsabfall

D.

Ausschluss von häufig auftretenden psychischen Störungen wie affektive Störungen oder PTBS

E.

Klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen

1.2.3 Posttraumatische Belastungsstörung

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine psychische Störung, die nach extrem belastenden Erlebnissen auftreten kann. Die Symptomatik kann in vier grundlegende Symptombereiche eingeteilt werden:

Wiedererleben: Symptome des Wiedererlebens zeigen sich unter anderem durch Intrusionen (belastendes Widererleben des traumatischen Geschehens im Wachzustand oder Schlaf). Bei Kindern zeigt sich dies durch wiederholtes und wenig lustbetontes Nachspielen der traumatischen Situation (American Psychiatric Association, 2013). Als weiteres Symptom der PTBS können Flashbacks (subjektiver Eindruck, das traumatische Erlebnis aktuell wieder zu durchleben) auftreten.

Vermeidung traumabezogener Reize: Situationen, Orte oder Personen, die an das Trauma erinnern, werden beabsichtigt oder unbeabsichtigt vermieden.

Negative Veränderungen von Kognitionen und Emotionen: Betroffene zeigen ein deutlich vermindertes Interesse an Dingen, die vor der Traumatisierung von Bedeutung waren. Sie erleben ein Gefühl der Entfremdung von anderen und der Emotionslosigkeit oder emotionalen Taubheit. Dysfunktionale Überzeugungen, beispielsweise die eigene Sicherheit oder Zukunft betreffend, können auftreten.

Symptome der erhöhten autonomen Erregung: Hierunter fallen eine übermäßige Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit, eine erhöhte Reizbarkeit und Aggressivität, Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen, sowie Konzentrations- und Gedächtnisprobleme

Diagnostische Kriterien für posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 (F43.1)

A.

Die Betroffenen sind einem kurz- oder langanhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.

B.

Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.

C.

Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.

D.

Entweder 1. oder 2.1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:

a)

Ein- und Durchschlafstörungen

b)

Reizbarkeit oder Wutausbrüche

c)

Konzentrationsschwierigkeiten

d)

Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz)

e)

Erhöhte Schreckhaftigkeit

E.

Die Kriterien B, C und D treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden.)

Diagnostische Kriterien für die posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-11 (6B40)3

A.

Sehr bedrohliches oder schreckliches Ereignis oder eine Serie von Ereignissen

B.

Entweder 1 oder 2(1) Intrusive Erinnerungen, Flashbacks oder (2) Alpträume, meist in Verbindung mit emotionaler Belastung oder physischen Reaktionen

C.

Entweder 1 oder 2Vermeidung von (1) Gedanken und Erinnerungen oder (2) Aktivitäten, Situationen und Personen, die an das Ereignis erinnern

D.

Entweder 1 oder 2(1) Wahrnehmung anhaltender Bedrohung oder (2) erhöhte Schreckhaftigkeit

A.

Funktionale Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen oder anderen Bereichen

1.2.4 Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

In der klinischen Praxis wurden Folgen von andauerndem oder wiederholtem traumatischen Stress beobachtet, die über die bekannten PTBS Symptome hinaus auch die Selbstorganisation betreffen (Herman, 2015). Die auf diesen Beschreibungen aufbauende Forschung führte zur Definition eines empirisch gestützten Störungsbilds, das schließlich im ICD-11 als komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) aufgenommen wurde (Maercker et al., 2013).

Die Diagnose ist hierarchisch strukturiert, da im ersten Schritt die Erfüllung der PTBS Kriterien vorausgesetzt wird und im zweiten Schritt spezifische Kriterien für die kPTBS. Diese spezifischen Symptome werden als Schwierigkeiten in der Selbstorganisation (SSO) bezeichnet. Sie umfassen

anhaltende und umfassende Defizite in der Emotionsregulation,

das Erleben eines eingeschränkten Selbstbewusstseins, sowie

Schwierigkeiten in der interpersonellen Beziehungsgestaltung (Maecker et al., 2013).

Wenngleich das Störungsbild deutlich häufiger nach Erleben wiederholt oder langanhaltend erlebter interpersoneller Gewalt, gerade bei Beginn in der Kindheit, auftritt (Cloitre et al., 2009, 2013), können die Symptome prinzipiell auch durch mehrere Einzelereignisse verursacht werden (Elliott et al., 2021).

Diagnostische Kriterien für komplexe Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-11 (6B41)4

A.

Sehr bedrohliches oder schreckliches Ereignis oder eine Serie von Ereignissen, meist langanhaltende oder wiederholte Ereignisse, aus denen eine Flucht schwierig oder unmöglich ist (z. B. Folter, Sklaverei, wiederholte sexuelle und körperliche Gewalt)

B.

Entweder 1 oder 2(1) Intrusive Erinnerungen, Flashbacks oder (2) Alpträume, meist in Verbindung mit emotionaler Belastung oder physischen Reaktionen

C.

Entweder 1 oder 2Vermeidung von (1) Gedanken und Erinnerungen oder (2) Aktivitäten, Situationen und Personen, die an das Ereignis erinnern

D.

Entweder 1 oder 2(1) Wahrnehmung anhaltender Bedrohung oder (2) erhöhte Schreckhaftigkeit

E.

Funktionale Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen oder anderen Bereichen

Zusätzlich zu Diagnose der kPTBS

Entweder 1 oder 2(1) erhöhte Reizbarkeit und Wut oder (2) verminderte emotionale Schwingungsfähigkeit

Entweder 1 oder 2(1) anhaltendes negatives Selbstbild, das dazu führt, dass die Person sich als beschädigt oder wertlos wahrnimmt oder (2) tiefgreifende und anhaltende Gefühle von Scham, Schuld und Versagen

Entweder 1 oder 2Anhaltenden Schwierigkeiten, (1) Beziehungen aufrecht zu erhalten oder (2) sich anderen nahe zu fühlen

Good to know: Traumaentwicklungsstörung

Parallel zur oben beschriebenen Entwicklung der kPTBS, die durch Studien mit Erwachsenen gestützt wurde, fanden Bemühungen statt, die Symptomatik von Kindern und Jugendlichen nach wiederholten Traumatisierungen in ihrem Entwicklungsprozess durch ein eigenes Störungsbild besser abzubilden. Nach van der Kolk (2005) soll die sogenannte Traumaentwicklungsstörung oder Developmental Trauma Disorder (DTD) nach der Exposition mit mehreren oder langandauernden ungünstigen Ereignissen (Erleben von schwerer körperlicher Gewalt, emotionaler Gewalt oder wiederholten Trennungen von primären Bezugspersonen) über mindestens ein Jahr mit Beginn in der Kindheit auftreten. Sie umfasst neben posttraumatischen Belastungssymptomen unterschiedliche Symptome aus den Bereichen der affektiven oder physiologischen Dysregulation, Aufmerksamkeits- und Verhaltensdysregulation, Selbst- und Beziehungsdysregulation (van der Kolk, 2005).

In Abgrenzung zur kPTBS handelt es sich bei der DTD um eine tiefgreifende und durch Störungen des neurologischen Entwicklungsprozesses resultierende Beeinträchtigung in den Fähigkeiten zur Selbstregulation (Morelli & Villodas, 2022). Sie wurde bisher nicht in ICD-11 oder DSM-5 aufgenommen. Weitere Studien sollten untersuchen, ob die DTD die Symptomatik im Kindes- und Jugendalter besser abbildet als die kPTBS (Ford et al., 2022).

1.3 Klassifikation von Traumafolgestörungen im weiteren Sinne

Im Folgenden sollen beispielhaft drei Störungsbilder dargestellt werden, die im weiteren Sinne ebenfalls als Traumafolgestörungen verstanden werden können, da sie mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit nach traumatischen Ereignissen wie interpersonellen Gewalterfahrungen auftreten. Es handelt sich um keine vollumfängliche Darstellung aller mit traumatischen Erfahrungen assoziierter Diagnosen.

1.3.1 Anhaltende Trauerstörung

Die Diagnose der anhaltenden Trauerstörung wurde neu in die ICD-11 aufgenommen. Bei Vorliegen einer anhaltenden Trauerstörung tritt nach dem Tod einer nahestehenden Person (bei Kindern z. B. eines Elternteils oder Geschwisters) eine andauernde und tiefgreifende Trauerreaktion auf, die durch ein starkes Verlangen nach der verstorbenen Person verbunden mit intensivem emotionalem Schmerz charakterisiert ist, z. B. durch

Traurigkeit, Schuld, Wut,

Leugnen, Beschuldigen anderer Personen oder des Selbst,

Schwierigkeiten, den Tod zu akzeptieren,

Unfähigkeit zur Empfindung positiver Gefühle,

Emotionale Taubheit

Diagnostische Kriterien für Anhaltende Trauerstörung nach ICD-11 (6B42)5

Die anhaltende Trauerstörung ist eine Erkrankung, welche nach dem Tod eines (Ehe-)‌Partners, Elternteils, Kind oder einer anderen nahestehenden Person, zu einer anhaltenden und durchdringenden Trauerreaktion führt, die charakterisiert wird durch

starkes Verlangen nach dem Verstorbenen oder

anhaltende Präokkupation (Beschäftigung) mit dem Verstorbenen begleitet von starkem emotionalem Schmerz, z. B.

Trauer, Schuld, Wut, Verleugnung, Vorwürfe,

Schwierigkeiten den Tod zu akzeptieren,

Gefühl, einen Teil seiner selbst verloren zu haben,

Unfähigkeit, positive Stimmung zu erleben,

emotionale Taubheit,

Schwierigkeiten mit anderen sozial zu interagieren oder anderen Aktivitäten nachzugehen).

Die Trauerreaktion hält atypisch lange nach dem Verlust an (mehr als 6 Monate) und überschreitet klar erwartbare soziale, kulturelle oder religiöse Normen der eignen Kultur und des Kontextes. Trauerreaktionen, die bereits länger anhalten und sich innerhalb eines normalen Zeitraumes des gegebenen kulturellen und religiösen Kontextes befinden, werden als normale Trauerreaktionen betrachtet ohne Diagnosestellung.

Die Störung verursacht deutliche Beeinträchtigungen im persönlichen, familiären, sozialen, schulischen bzw. Arbeitskontext oder andere Funktionseinbußen.

1.3.2 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters

Reaktive Bindungsstörungen treten in den ersten fünf Lebensjahren auf und sind durch anhaltende Auffälligkeiten im sozialen Beziehungsmuster des Kindes charakterisiert. Diese sind von einer emotionalen Störung begleitet. Die Symptome bestehen aus Furchtsamkeit und Übervorsichtigkeit, eingeschränkten sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, gegen sich selbst oder andere gerichteten Aggressionen, Unglücklichsein und in einigen Fällen Wachstumsverzögerung. Das Syndrom tritt als direkte Folge schwerer elterlicher Vernachlässigung oder Gewalt oder häufigen Wechseln in den Milieuverhältnissen auf.

Diagnostische Kriterien für Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters nach ICD-10 (F94.1)

A.

Beginn vor dem 5. Lebensjahr

B.

Deutlich widersprüchliche oder ambivalente soziale Reaktionen in verschiedenen sozialen Situationen (mit Variationen von Beziehung zu Beziehung)

C.

Emotionale Störung mit Verlust emotionaler Ansprechbarkeit, sozialem Rückzug, mit aggressiven Reaktionen auf eigenes Unglücklichsein oder das anderer, und/oder ängstliche Überempfindlichkeit

D.

Nachweis, dass soziale Gegenseitigkeit und Ansprechbarkeit möglich ist, durch Elemente normalen Bezogenseins in der Interaktion mit gesunden Erwachsenen

Diagnostische Kriterien für Reaktive Bindungsstörung nach ICD-11 (6B44)6

Die reaktive Bindungsstörung ist durch ein stark abweichendes Bindungsverhalten in der frühen Kindheit gekennzeichnet, das im Kontext ausgeprägt unangemessener Versorgung des Kindes auftritt (z. B. schwere Vernachlässigung, Misshandlung, institutionelle Deprivation). Auch wenn eine angemessene primäre Bezugsperson neu verfügbar ist, richtet sich das Kind nicht an die primäre Bezugsperson, um Trost, Unterstützung und Pflege zu bekommen, zeigt selten gegenüber irgendeinem Erwachsenen ein Verhalten der Suche nach Sicherheit und reagiert nicht, wenn Trost angeboten wird. Die reaktive Bindungsstörung kann nur bei Kindern diagnostiziert werden und die Kennzeichen der Störung entwickeln sich während der ersten fünf Lebensjahre. Die Störung kann jedoch nicht vor dem Alter von einem Jahr diagnostiziert werden (oder einem Entwicklungsalter von weniger als 9 Monaten), wenn die Fähigkeit für selektive Bindungen noch nicht voll entwickelt sein dürfte, oder im Kontext einer Autismus-Spektrum-Störung.

1.3.3 Bindungsstörung mit Enthemmung

Ein spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster, das während der ersten fünf Lebensjahre auftritt mit einer Tendenz, trotz deutlicher Änderungen in den Milieubedingungen zu persistieren. Dieses kann z. B. in diffusem, nichtselektivem Bindungsverhalten bestehen, in aufmerksamkeitssuchendem und wahllos freundlichem Verhalten und kaum modulierten Interaktionen mit Gleichaltrigen. Vermehrt zeigen sich zudem emotionale und Verhaltensstörungen.

Diagnostische Kriterien für Bindungsstörung mit Enthemmung nach ICD-10 (F94.2)

A.

Diffuse Bindungen als ein anhaltendes Merkmal während der ersten 5 Lebenjahre (nicht notwendigerweise bis in die mittlere Kindheit andauernd). Die Diagnose fordert ein relatives Fehlen selektiver sozialer Bindungen mit:

1.

der normalen Tendenz, beim Unglücklichsein Trost bei anderen zu suchen;

2.

abnormer (relativer) Wahllosigkeit bei der Auswahl der Personen, bei denen Trost gesucht wird.

B.

Wenig modulierte soziale Interaktionen mit unvertrauten Personen.

C.