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Zugewandt und behutsam im Umgang mit Traumata Traumata und ihre Folgen sind nicht nur für den Umgang mit Geflüchteten ein brennendes Thema. Dieser Band liefert das Grundwissen, um sich traumaerfahrenen Menschen kompetent und rücksichtsvoll zuzuwenden. Nicht selten kommen psychiatrisch Tätige unwissentlich mit Traumafolgestörungen in Kontakt. Umso wichtiger ist es, für typische Traumafolgen sensibilisiert zu sein, um missverständliche Verhaltensweisen einordnen zu können. Dieses Buch informiert leicht verständlich und kompakt über Trauma-Ursachen, -folgen und -bewältigungsmuster. Es zeigt Unterstützungsmöglichkeiten auf und hilft, Retraumatisierungen zu vermeiden, ohne die eigenen Belastungen aus dem Blick zu verlieren. So finden traumatisierte Menschen auch in psychiatrischen Settings einen »sicheren Raum«, insbesondere dadurch, dass sie einbezogen werden und ihr Expertentum anerkannt wird.
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Seitenzahl: 189
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PraxisWissen stellt in konzentrierter Form zentrale Aufgaben der psychiatrischen Versorgung dar. Fachlich bewährte therapeutische Grundsätze werden vermittelt und immer auch in ihrer praktischen Umsetzung gezeigt. So können psychiatrisch Tätige den Klientinnen und Klienten das geben, was sie für die Bewältigung psychischer Krisen brauchen.
Seite 17 Wenn eine Traumatisierung lediglich als Folge traumatischer Ereignisse verstanden wird, dann fehlt ein professioneller Ansatzpunkt zur Hilfeleistung. Es ist deshalb sinnvoll, Traumatisierungen immer als Wechselwirkung zwischen Erlebnis und Verarbeitung zu verstehen.
Seite 24 Unser Verständnis von Traumata und Traumafolgen ist zeit- und kulturabhängig – dessen sollten wir uns bewusst sein.
Seite 35 Eine Traumatisierung ist mit akuten und anhaltenden neurophysiologischen Veränderungen verbunden. Es hilft in der Arbeit mit traumatisierten Personen, sich dies immer wieder bewusst zu machen und nicht zu erwarten, dass eine Rückkehr in den Alttag schnell und einfach vollzogen und das Erlebte vergessen werden kann.
Seite 40 Der Wunsch, nicht an traumatische Erfahrungen erinnert zu werden, ist zum einen kaum erfüllbar, zum anderen verursacht der Versuch oft neues Leid durch immer größer werdende Einschränkungen im täglichen Leben. Hilfreich ist, diese Konsequenzen vorsichtig und verständnisvoll miteinander zu besprechen.
Seite 44 Traumatische Erlebnisse lösen bei vielen Betroffenen existenzielle Krisen aus, in denen das Selbstbild und das bisherige Denken über das Leben und die soziale Umwelt infrage gestellt sind. Diese Krisen können mit Methoden der Krisenintervention gut bearbeitet werden.
Seite 55 Wer in psychiatrischen Einrichtungen mit Patientinnen und Patienten arbeitet, die Kriegserfahrungen gemacht haben, Opfer von Gewalt wurden, Unfälle erlebten oder von schweren körperlichen Erkrankungen betroffen sind, sollte eine mögliche PTBS in Betracht ziehen, auch wenn andere Symptome aktuell im Vordergrund stehen.
PraxisWissen
Jens Gräbener
Traumasensible Arbeit in der Psychiatrie
JENS GRÄBENER, Diplom-Psychologe, Systemischer Therapeut und Psychologischer Psychotherapeut, leitet den Berliner Krisendienst/Region West. Er ist unter anderem Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention und freiberuflich in der psychotherapeutischen Weiterbildung in den Fachrichtungen Systemische Therapie und Verhaltenstherapie tätig.
Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von:
Michaela Amering, Andreas Bechdolf, Karsten Giertz, Caroline Gurtner, Klaus Obert und Tobias Teismann
Jens Gräbener
Traumasensible Arbeit in der Psychiatrie
PraxisWissen 15
1. Auflage 2024
ISBN (Print): 978-3-96605-231-3
ISBN E-Book (PDF): 978-3-96605-248-1
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-96605-249-8
Weitere Bücher zu psychiatrischen Störungen finden Sie im Internet:
www.psychiatrie-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2024
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.
Lektorat: Uwe Britten, Eisenach
Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf
Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein
Satz: Barbara Hoffmann, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
Vorbemerkung
Ein Trauma – was ist das?
Trauma als Ereignisqualität
Trauma als Interaktion zwischen Situation und Subjekt
Kontextabhängigkeit des Traumabegriffs
Körperliche oder seelische Ursache?
Reales Leiden oder vorgetäuschte Störung?
Erklärt das Erlebte allein die Folgen?
Realität oder Fantasie?
Umgang mit unterschiedlichen Traumabegriffen
Retraumatisierung
Was geschieht in einer traumatischen Situation?
Die »traumatische Zange«
Die neurophysiologische Ebene
Dissoziation und Gedächtnis
Psychische Beeinträchtigungen als Folgen traumatischer Erlebnisse
Die Akutphase
Die Posttraumatische Belastungsstörung
Zur Epidemiologie der PTBS
Beeinflussende Faktoren der PTBS
Andauernde Traumafolgestörungen – Komplexe PTBS
PTBS und komorbide Störungen
Zusammenhänge zwischen Trauma und psychischer Störung
Traumafolgen unterhalb der diagnostischen Schwelle
Veränderung der Sicht auf Welt und Identität
Veränderungen von Körperwahrnehmung und Körperselbst
Veränderungen im sozialen Umfeld
Verändertes Sicherheitsbedürfnis
Trauer
Traumabewältigung
Risikofaktoren der Traumabewältigung
Ebenen der Traumabewältigung
Protektive Faktoren der Traumabewältigung
Phasen der akuten Traumareaktion
Soziale Unterstützung bei der Traumabewältigung
Traumabewältigung und Reifung
Professionelle Hilfen
Interventionen nach akuter Traumatisierung
Traumatherapie
Indikation von Konfrontation und Stabilisierung
Wirksamkeit von Traumatherapie
Ambulante oder stationäre Traumatherapie?
Professionelle Interaktion mit traumatisierten Patienten
Die Bedeutung der professionellen Beziehung
Wie über ein Trauma sprechen?
Mögliche traumatische Übertragungen
Mögliche traumatische Gegenübertragungen
Grundprinzipien der Beziehungsgestaltung
Beiderseitiges Expertentum
Stigmatisierung traumatisierter Patientinnen und Patienten
Traumawiederholung
Traumatisierte Menschen mit Fluchterfahrung
Probleme im stationären Setting
Umgang mit Chronifizierung
Suizidalität und Selbstschädigung
Umgang mit Dissoziationen
Stabilisierung durch Imagination
Traumatisierung von Helferinnen und Helfern
Selbstfürsorge und institutionelle Fürsorge für Helferinnen und Helfer
Mit Verwundbarkeit umgehen lernen – Schlussbemerkung
Ausgewählte Literatur
Adressen
Wir leben in Zeiten, in denen sich das Wissen um psychische Traumata längst nicht mehr auf professionell tätige Fachleute beschränkt, sondern zu einem Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins geworden ist. Dies ist durchaus positiv zu bewerten, weil es die Chance bietet, dass traumatisierte Menschen sozial mehr Anerkennung erfahren – für das, was ihnen geschehen ist, und für die Leistung, die sie täglich erbringen müssen, um mit den Folgen umzugehen. Dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein um Trauma und seine Folgen mit der Zeit verändert, liegt aber unter anderem auch daran, dass wir im Hilfesystem zunehmend mit diesem Thema konfrontiert sind und Lösungen für und mit den Betroffenen finden müssen.
Die Arbeit mit traumatisierten Patientinnen und Patienten lenkt zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf Dinge, die für die meisten Menschen schwer zu ertragen sind – nicht selten auch für uns professionell Tätige. Diese Arbeit kann ungemein bereichern, sie kann aber auch belasten. In der Arbeit mit traumatisierten Menschen machen wir Grenzerfahrungen und stehen oft scheinbar ohnmächtig vor dem Trauma. Traumatisierte Patientinnen und Patienten unterscheiden sich in einem Punkt deutlich von anderen Patientengruppen: Sie haben etwas erlebt, was sie dauerhaft verändert hat, und zwar in einer Umwelt, die sich oft genug wenig oder gar nicht vom Lebensumfeld der professionell Tätigen unterscheidet. Ihre Symptome lassen sich auch nicht auf neurophysiologische Funktionsstörungen oder genetische Dispositionen reduzieren. Das, was diesen Menschen zugestoßen ist, könnte also auch uns zustoßen. Wie würden wir selbst reagieren? Könnten wir lernen, damit umzugehen? Was würde sich für uns und in uns verändern? Wie würde unser soziales Umfeld reagieren? In der Arbeit mit traumatisierten Menschen sind wir so immer auch in Kontakt mit eigenen Ängsten und eigener Verwundbarkeit, mit unseren Grenzen und manchmal auch mit eigenen traumatischen Erfahrungen.
Dieses Buch handelt vom Umgang mit traumatisierten Patientinnen und Patienten. Es versucht, Grundlagenwissen darüber zu vermitteln, was Traumata und Traumafolgen ausmacht. Es greift typische Probleme im professionellen Umgang mit traumatisierten Menschen auf und versucht, Strategien zur Lösung aufzuzeigen. Es soll verständlich machen, warum die Betroffenen so oft Angst vor ihren eigenen Erinnerungen haben, warum die Nähe-Distanz-Balance mit ihnen nicht immer einfach zu finden ist und warum gerade helfende Settings in der großen Gefahr der Retraumatisierung stehen. Es soll uns alle daran erinnern, dass wir bei scheinbarer Ohnmacht dennoch handlungsfähig und wirksam sind. Die besten professionellen Strategien können aber nicht verhindern, dass traumatisierte Menschen professionell Tätige mit ihrem Leid und ihrer Geschichte berühren. Das ist gut so, denn berührbar zu sein und zu bleiben ist eine wesentliche Voraussetzung und Ressource im Umgang mit traumatisierten Patientinnen und Patienten.
Im Buch wird kein »typischer« traumatisierter Mensch definiert, weil es diesen nicht gibt. Zum einen unterscheiden sich die Erlebnisse traumatisierter Patientinnen und Patienten erheblich voneinander. Zum anderen werden diese Erlebnisse individuell verarbeitet, abhängig von den zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen. Mit traumatisierten Menschen umzugehen bedeutet deshalb immer, jeden als Individuum mit eigener Geschichte, eigenen Bedürfnissen und eigenen Bewältigungsstrategien zu sehen und verstehen zu müssen.
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an psychiatrisch Tätige, die in ihrem professionellen Arbeitskontext auf traumatisierte Patientinnen und Patienten treffen. Es ist somit nicht speziell für Traumatherapeutinnen und Traumatherapeuten gedacht. Darüber hinaus kann es hilfreich sein für all jene, die außerhalb des Arbeitsfeldes Psychiatrie beruflich mit traumatisierten Menschen arbeiten: in Beratungsstellen, in der Jugendhilfe, in Krisendiensten etc. Es soll dabei helfen, Ängste abzubauen: vor traumatisierten Patientinnen und Patienten, vor deren Symptomen und Problemen sowie vor der Auseinandersetzung mit erschreckenden Lebensgeschichten. Ich möchte Mut machen, traumatisierten Menschen offen zu begegnen und ihnen soziale Unterstützung zuteil werden zu lassen. Diese professionelle soziale Unterstützung ist ein wesentlicher Wirkfaktor in der Traumabewältigung und -heilung.
Zuletzt: Dieses Buch richtet sich nicht in erster Linie an Betroffene. Es enthält Fallbeispiele, die – beim Vorliegen entsprechender eigener Erfahrungen – als Trigger wirken können. Dies sollten sich Betroffene vor dem Lesen bewusst machen.
Jens Gräbener, Herbst 2023
Traumatisierte Patientinnen und Patienten verbindet eine Gemeinsamkeit: ein erlebtes Trauma. Um verstehen zu können, was mit Menschen geschieht, die traumatische Ereignisse verarbeiten müssen, ist es notwendig, sich zunächst mit der Natur eines Traumas zu beschäftigen. Dazu gehört, sich bewusst zu machen, welche Ereignisse im engeren Sinn traumatisch sein können und welche nicht. Die so entstehenden Traumakonzepte können voneinander abweichen, und zwar zwischen Behandelnden, aber selbstverständlich auch zwischen Behandelnden und ihren Patientinnen und Patienten.
BEISPIEL
Vor einigen Jahren lernte ich in einer psychiatrischen Klinik einen Patienten mit der Diagnose einer rezidivierenden Depression kennen. Dieser Mann war mit der Art der Behandlung unzufrieden – er werde als Depressiver behandelt, dabei sei er in Wahrheit traumatisiert und wolle demzufolge auch traumatherapeutisch behandelt werden. Es stellte sich heraus, dass der Patient vor einigen Jahren seine Wohnung verloren hatte, nachdem er mit der Miete in Verzug geraten war und Post des Vermieters ignoriert hatte. Eines Morgens klingelte es an der Tür und der Räumungsbeschluss wurde vollstreckt. Der Patient leistete keinen Widerstand, er erlebte keinen körperlichen Übergriff oder Beleidigungen und geriet zu keiner Zeit in Gefahr. Rückblickend zeigten sich keine Symptome einer Traumafolgestörung, ein deutlicher Zusammenhang zur depressiven Störung war für mich ebenfalls nicht zu erkennen.
Als ich fragte, warum er denn gezielt nach Traumatherapie suche, erklärte er mir, er fühle sich noch immer durch die Räumung ungerecht behandelt. Er sei nie über dieses Erlebnis hinweggekommen und wolle, dass vom Therapeuten anerkannt werde, dass er damals zum Opfer gemacht worden sei. Meinem vorsichtigen Einwand, dass diese Situation nicht den Traumakriterien in den Klassifikationssystemen entspreche und er für mich auch keine erkennbaren Symptome einer Traumatisierung zeige, begegnete der Patient mit den Worten: »Ich entscheide doch wohl selbst darüber, was für mich ein Trauma ist und was nicht!«
Wie andere ursprünglich medizinische oder psychologische Termini hat der Begriff »Trauma« Einzug in unsere Alltagssprache gehalten und dabei seine ursprüngliche Bedeutung teilweise verloren. Im medizinischen Kontext kann der Begriff mit »Verletzung« übersetzt werden. Ein Schädel-Hirn-Trauma beispielsweise benennt die umschriebenen, erkennbaren Folgen einer Einwirkung auf den Körper, unabhängig vom Erleben der Betroffenen. Wenn traumatisierte Patientinnen und Patienten über ihre Erlebnisse oder das, was diese bei ihnen hinterlassen haben, sprechen, so benutzen sie häufig Metaphern, die diesem Bedeutungszusammenhang entstammen. Dann hat ein Erlebnis »eine Wunde« in der Seele gerissen, als Ergebnis sind »Narben« entstanden, eine alte Verletzung wird wieder »aufgerissen« etc. Mit diesen und anderen Formulierungen wird ein subjektives Erleben beschrieben. Ein seelisches Trauma kann nicht von außen, unabhängig vom Erleben des Betroffenen, diagnostiziert werden.
Im Alltagsgebrauch werden heute bisweilen bereits alltägliche Erlebnisse und Belastungen mit dem Etikett »traumatisch« versehen. Zu Recht wird kritisiert, wenn in den Medien, in der Werbung und in der öffentlichen Diskussion der Traumabegriff inflationär verwendet wird. So wurde beispielsweise noch im Jahr 2022 für ein Steuererklärungsprogramm mit dem Slogan »Hast Du auch ein Steuererklärungstrauma?« geworben. Beileibe nicht alles, was heute »Trauma« genannt wird, ist tatsächlich eines. Der Respekt gegenüber traumatisierten Menschen und ihren Erlebnissen gebietet es, mit dem Begriff bewusst und achtsam umzugehen, auch und gerade durch professionell Tätige. Voraussetzung dafür ist natürlich eine Definition, das heißt die Beantwortung der Frage: Was ist ein seelisches Trauma?
Jürgen Margraf und Franz Müller-Spahn (2009, S. 845) definieren in Übereinstimmung mit dem DSM-IV-TR ein psychisches Trauma als »äußerst belastendes Ereignis, das durch Konfrontation mit drohendem oder tatsächlichem Tod, ernsthafter Verletzung oder Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen und in der Regel intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen gekennzeichnet ist«. In diesem Kontext wird ein Trauma primär als Ereignis verstanden. Zugleich wird definiert, welche Qualitäten diesem Ereignis anhaften müssen, um als traumatisch eingestuft zu werden. Darüber hinaus enthält die Definition Hinweise auf durch das Ereignis ausgelöste emotionale Reaktionen, ohne dass diese zwangsläufig auftreten müssen.
In der Beschreibung der Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in der ICD-10 nennt die WHO (Dilling u. a. 2015, S. 207) ähnliche Kriterien für ein Trauma. Auch hier wird ein Trauma mit einer Situation bzw. einem Ereignis gleichgesetzt, auf das in der Regel emotional reagiert wird (hier: tiefe Verzweiflung). Als Beispiele für traumatische Ereignisse werden genannt: »Eine von Naturereignissen oder Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge des gewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein.« Auch in dieser Definition ist der Versuch erkennbar, objektive Kriterien für ein Trauma anhand der Kategorisierung von Situationen zu schaffen, die letztlich eine Aussage darüber erlauben, ob ein Trauma erlebt wurde oder nicht. › PTBS, Seiten 21, 45 ff.
Die genannten Situationen unterscheiden sich allerdings erheblich voneinander: Ein Verkehrsunfall hat für die meisten Menschen eine andere Bedeutung und hat andere Auswirkungen als Folter oder Vergewaltigung. Aus diesem Bewusstsein heraus werden Traumata bzw. traumatische Ereignisse nach Andreas Maercker (2013) auf zwei Dimensionen unterschieden.
Dauer Die erste Dimension unterscheidet nach der Häufigkeit, in der traumatische Ereignisse erlebt wurden. Typ-I-Traumata sind einmalige, kurz einwirkende Ereignisse. Unter Typ-II-Traumata werden entweder mehrfach auftretende oder lang andauernde traumatische Ereignisse verstanden.
Ursache Die zweite Dimension unterscheidet hinsichtlich der Ursachenzuschreibungen für das Ereignis zwischen akzidentiellen (»zufälligen«) Traumata (Unfälle, Naturkatastrophen) und von Menschen verursachten (»man-made«) Traumata.
Beide Dimensionen sind miteinander kombinierbar. Die Kategorie »Medizinisch bedingte Traumata« verweist auf Forschungsergebnisse zur Entwicklung von Traumafolgestörungen nach Mitteilung lebensbedrohlicher Diagnosen, aufgrund akuter Erkrankung oder als Folge medizinischer Eingriffe.
Eine solche Differenzierung traumatischer Ereignisse erscheint grundsätzlich sinnvoll. Tatsächlich unterscheiden sich die Situationen erheblich voneinander. Darüber hinaus haben die Kategorien prognostischen Wert – grundsätzlich ist die Gefahr von Traumafolgeschäden bei Typ-II-Traumata höher als bei Typ-I-Traumata und bei interpersoneller Traumatisierung höher als bei akzidentieller Traumatisierung.
Traumafolgen bis hin zu Traumafolgestörungen können sowohl bei akzidentieller als auch bei menschengemachter Traumatisierung auftreten. Zwar erhöht die Anzahl der Traumata das Risiko einer Folgestörung,manchmal aber reichen bereits einzelne Erlebnisse aus. Ein Vergleich von Betroffenen nach Schweregrad des Erlebten ist deshalb nicht nur nicht sinnvoll, er kann zum Übersehen massiver Belastungen bei auf den ersten Blick scheinbar weniger gravierenden Erlebnissen führen.
Bezüglich der Dimension der Ursachenzuschreibungen handelt es sich allerdings nur scheinbar um objektive Unterscheidungsmerkmale. So kann beispielsweise der Einsturz des Daches einer Eissporthalle unter der Schneelast sowohl als Unfall (akzidentiell) als auch als Folge menschlicher Fehler (Planung, Kontrolle, Bauausführung etc.) und damit als »man-made« attribuiert werden. Die Kategorie »man-made« differenziert darüber hinaus nicht danach, ob es sich um einen nahestehenden Menschen oder um einen Unbekannten handelt. Diese Unterscheidung kann für Betroffene von großer Bedeutung sein, wobei die Studienlage nicht eindeutig ist. In einigen Studien zeigen sich bei Opfern von Vergewaltigung und Überfällen gravierendere Folgen, wenn es sich um einen ihnen fremden Täter handelt, in anderen Studien bei Opfern, die ihren Täter kannten. Patricia A. Resick (2003) nennt eine geringere bzw. verspätete Bereitschaft zur Nutzung des Hilfesystems durch von Vergewaltigung betroffene Frauen als Folge der Bekanntschaft zum Täter.
Auch hinsichtlich medizinisch bedingter Traumata unterscheidet Andreas Maercker zwischen zufällig auftretenden Komplikationen und der Dimension »menschengemacht«. Hier nennt er komplizierte Behandlungsfälle nach angenommenen Behandlungsfehlern als Beispiel. Tatsächlich kommt es in Deutschland jedes Jahr aber nicht nur zu angenommenen, sondern in relevantem Ausmaß auch zu tatsächlichen Behandlungsfehlern, attestiert durch unabhängige Gutachten. Der Medizinische Dienst Bund kommt entsprechend einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2022 für den Vorjahreszeitraum auf mehr als 3500 festgestellte Behandlungsfehler in Deutschland, bei mehr als 3000 Fällen mit durch sie entstandenem Schaden. Die Dunkelziffer dürfte noch einmal deutlich höher liegen.
Zu den hier erfassten Behandlungsfehlern kommen sexuelle Übergriffe durch Behandelnde, mit einem sehr hohen Schädigungspotenzial. Werner Tschan (2005) geht – gestützt auf Befragungen von Patientinnen und Patienten – davon aus, dass 10 Prozent aller Mitarbeitenden im professionellen Gesundheitssystem mindestens einmal einen sexuellen Übergriff (Penetration, sexuelle Handlungen, sexuell gefärbte Äußerungen, Dating) an ihren Patientinnen und Patienten begehen. Monika Becker-Fischer und Gottfried Fischer (2014, S. 43 f) schätzen die Zahl der sexuellen Übergriffe in Deutschland im Rahmen von Psychotherapie pro Jahr auf mindestens dreihundert in kassenfinanzierten Verfahren und auf mindestens weitere dreihundert in anderen therapeutischen Verfahren. Sie verweisen auf Schätzungen US-amerikanischer Haftpflichtversicherer, wonach 20 Prozent der Therapeuten und Therapeutinnen mindestens einmal in ihrem Berufsleben eine sexuelle Beziehung zu Patientinnen bzw. Patienten aufnehmen. Der Anteil derer, die dies wiederholt tun, wird als hoch eingeschätzt.
Eine Reduktion des Traumabegriffs auf scheinbar objektivierbare Situationsmerkmale allein ist nicht hinreichend, es fehlt dann die Ebene des individuellen subjektiven Erlebens. Verschiedene Menschen reagieren auf dieselbe Situation durchaus unterschiedlich, abhängig unter anderem von ihren sonstigen Erfahrungen. So wird eine in der Notfallmedizin geschulte Unfallzeugin das Erlebnis eines Autounfalls mit Schwerverletzten oder Toten möglicherweise anders verarbeiten als andere Zeugen desselben Unfalls und dieses Erlebnis möglicherweise nicht einmal als traumatisch empfinden.
Gottfried Fischer und Peter Riedesser (2009) greifen die Ebene des subjektiven Erlebens auf und verstehen Trauma wie folgt: »Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (S. 395). Auch in dieser Definition wird also zunächst auf den Bedrohungscharakter eines Erlebnisses hingewiesen.
Als weiterer grundlegender Aspekt von Traumata kommt dann die in der Situation subjektiv erlebte Diskrepanz zwischen Bedrohung und Bewältigungsmöglichkeiten hinzu. Diese Erweiterung eröffnet den Blick darauf, warum Menschen dieselbe Situation vollkommen unterschiedlich einschätzen können und warum bei einigen von ihnen Traumafolgen auftreten und bei anderen nicht. Zuletzt verweist diese Definition auf die Langzeitwirkung von Traumatisierung in Bezug auf grundlegende Einstellungen zur eigenen Person und zur Umwelt. Ein Trauma endet für viele Betroffene nicht mit dem Ende der Situation, selbst dann nicht, wenn sie scheinbar außer Gefahr sind. Ebenso wie die Traumatisierung ist auch die Traumaverarbeitung also ein Prozess. › Bewältigung, Seiten 80 ff.
Wenn eine Traumatisierung lediglich als Folge traumatischer Ereignisse verstanden wird, dann fehlt ein professioneller Ansatzpunkt zur Hilfeleistung. Es ist deshalb sinnvoll, Traumatisierungen immer als Wechselwirkung zwischen Erlebnis und Verarbeitung zu verstehen, denn die Verarbeitung ist veränderbar und kann sozial unterstützt werden – von professionell Tätigen, aber auch von der sonstigen sozialen Umwelt der Betroffenen.
Traumatisierungserfahrungen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Verändert haben sich die Kontexte, in denen Traumatisierung geschieht, die ätiologischen Erklärungsansätze für die beobachteten Symptome sowie die Art und Weise, wie mit Betroffenen umgegangen wurde und wird. Dieser Umgang warf zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche, sich wiederholende Fragestellungen auf, die auch heute noch von Bedeutung sind.
Mit dem Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert stieg die Zahl der Verkehrsunfälle an, und mit ihnen nahmen psychische Unfallfolgen zu. Mediziner widmeten sich der Frage, ob diese – auch wenn keine sichtbaren körperlichen Schäden erkennbar waren – nicht doch eine somatische Ursache haben müssten. In dieser Zeit entstand der Begriff des »railway spine« (»Eisenbahnrückgrat«). Die anhaltenden psychischen Symptome nach dem Unfall wurden in diesem Konzept als Folge einer körperlichen Erkrankung verstanden, und zwar einer zellulären Veränderung im Rückgrat infolge des Erschreckens über den Unfall.
Auch wenn sich diese spezifische ätiologische Theorie nicht durchsetzte, die Frage, welche Rolle körperliche Prozesse und Veränderungen bei Traumatisierungen spielen, ist auch heute noch aktuell. Wird ein Trauma eher als somatisch bedingt verstanden, so ist es sinnvoll, nach Interventionsmöglichkeiten auf dieser Ebene zu suchen, zum Beispiel in Form medikamentöser Behandlung von Traumafolgen. Wird ein Trauma eher als seelische Erschütterung verstanden, so erscheinen Interventionen sinnvoll, die die Seele wieder in ein Gleichgewicht bringen können, beispielsweise durch soziale Unterstützung und Psychotherapie. Die Psychotraumatologie schließlich verbindet beide Ebenen miteinander und versteht Traumatisierung sowohl als ein seelisches als auch als ein körperliches Geschehen.
Geht man davon aus, dass traumatische Erlebnisse wie Unfälle neben den körperlichen auch seelische Folgeschäden hinterlassen, dann stellt sich etwa die versicherungsrelevante Frage, ob für diese auch Schadenersatz geleistet werden muss oder nicht. Im 19. Jahrhundert lehnten einige Eisenbahngesellschaften Entschädigungsansprüche nach Unfällen und psychischer Traumatisierung ab. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass keine körperlichen Folgeschäden des Unfalls vorlägen.
In Deutschland setzte sich zur selben Zeit ein Ätiologiekonzept durch, das Traumafolgen als Auswirkung mikroskopischer Veränderungen im Gehirn aufgrund einer anhaltenden seelischen Erschütterung verstand – das Konzept der »traumatischen Neurose« des Neurologen Hermann Oppenheim. Oppenheim beschrieb Symptome wie Desorientiertheit, Aphasie und Schlafstörungen nach Unfällen (Zobel 2006). Weil Betroffene wegen dieses Konzepts aber Anspruch auf Rentenversicherungsleistungen erwarben, brach unter Gutachtern ein Streit darüber aus, ob die Symptome der Patientinnen und Patienten glaubhaft oder mit Aussicht auf finanzielle Leistungen lediglich vorgetäuscht seien. Aus dieser Zeit stammt der Begriff der »Rentenneurose«. Das Reichsversicherungsamt entschied schließlich, dass eine »traumatische Neurose« keine Rentenansprüche begründe.
Auch heute können Menschen, die Symptome einer Traumatisierung zeigen, in den Verdacht geraten, damit primär strategische Ziele zu verfolgen, beispielsweise um sich einen begrenzten Aufenthaltsstatus zu sichern oder um Entschädigungsansprüche geltend zu machen. So haben psychiatrische Gutachter und Gutachterinnen immer wieder mit der Fragestellung zu tun, ob bei einer Patientin oder einem Patienten ein »chronisches Rentenbegehren« vorliegt. Werden bei ihnen psychische Traumafolgen anerkannt, stellt sich auch dann oft noch die Frage, als wie gravierend diese bewertet werden. Bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz wurde diskutiert, ob eine PTBS für die Frage der Berufsunfähigkeit den Folgen körperlicher Verwundung im Einsatz gleichzusetzen ist.
Der Begriff der »Rentenneurose« als Beschreibung des Vortäuschens von Symptomen zur Erlangung finanzieller Leistungen hat sich bis heute erhalten. Günter H. Seidler (2013) nennt zwei noch immer angewandte Strategien zur Abwendung der hohen Kosten, die durch Gewaltfolgen entstehen: die fehlende Anerkennung bzw. Leugnung der psychischen Folgen sowie die Beschuldigung der Geschädigten als zumindest Mitverantwortliche.
Im Ersten Weltkrieg fielen in großer Zahl Soldaten mit Traumafolgestörungen auf, die im Englischen mit Begriffen wie »shell shock« oder »soldier’s heart« belegt wurden. Auch bei deutschen Soldaten wurden ähnliche Symptome beobachtet: Betroffene wurden als »Grabenzitterer« oder »Kriegszitterer« bezeichnet. Diese Beobachtungen führten unter Wissenschaftlern zur Diskussion darüber, ob die Kriegserlebnisse allein diese Symptome hervorrufen konnten oder ob nicht eher von einer prämorbiden Störung bzw. schwacher Konstitution ausgegangen werden müsse. Diese Argumentation basierte auf der Annahme, dass ein mental gesunder Mensch jegliche Belastung verarbeiten könne. Dementsprechend wurde vielen Betroffenen von Gutachtern und Behandlern wahlweise Schwäche oder Simulation unterstellt und diese Soldaten wurden nicht selten aversiv »therapiert« – mittels Elektroschocks, Drohungen, Demütigungen und Bestrafungen (Herman 2018).
Eine ähnliche Diskussion wurde in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges um die Überlebenden der Konzentrationslager geführt. Auch hier ging es – im Kontext der Frage nach Schadenersatz durch die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des NS-Systems – darum, ob die Erlebnisse im Konzentrationslager allein zu einer dauerhaften psychischen Beeinträchtigung führen könnten oder ob von einer vorherigen Schädigung auszugehen sei. Die dominierende medizinische Meinung in Deutschland bestand zunächst darin, dass Folgeschäden als Ausdruck bereits vor der KZ-Haft bestandener Vorschädigung anzusehen seien, Erlebnisse in einem Konzentrationslager allein also keinen bleibenden seelischen Schaden hinterlassen könnten. Es gab allerdings auch Gegenstimmen: Der in die USA emigrierte Psychoanalytiker Kurt Eissler veröffentlichte 1963 einen Aufsatz mit dem provozierenden Titel: Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?